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Akt 1

Linkin Park tönte eigentlich schon viel zu laut in meinen Ohren, aber ich stellte noch lauter als mein Lieblingslied kam. Leise und so konzentriert sang ich mit, dass ich erst gar nicht bemerkte, dass das Tor offen war. Erst 10 Meter weiter sprang ich von meinem Skateboard und rannte zurück. Tatsächlich. Das Tor war offen. Das Tor zu dem Haus. Dieses Haus stand schon seit über 20 Jahren leer, sagte mein Vater immer. Als wir noch kleiner waren, hatten ich und mein Bruder geglaubt es würde darin spuken. Es war immerhin ein perfektes Geisterhaus. Alt, fast schon eine Ruine, riesengroß mit einem Garten so groß wie ein Park und auf einer kleinen Anhöhe gelegen. Bis vor 200 Jahren hatte dort die herzogliche Familie von Wittenberg gelebt, aber dann waren sie gruseligerweise von einem auf den anderen Tag verschwunden. Mein Bruder hatte immer behauptet, dass wir eines Tages nachsehen würden, ob es wirklich spukte in dem Haus. Heute war mein Bruder ausgezogen um zu studieren und ich glaubte nicht mehr an Geistergeschichten.

Ich wusste nicht, was es war, dass mich zurück zu dem Tor zog und mich hindurchgehen lies. Ich wusste auch nicht, warum es so gruselig war, nachdem ich Linkin Park mitten im Refrain das Wort abgeschnitten hatte. Ich sah durch das dichte Blätterdach hinauf zur Sonne und dachte mir, dass in Gruselfilmen nie die Sonne schien. Ich ging den alten Weg entlang bis zum Haus. Die Tür war offen.

Ich stellte mein Skateboard neben die Tür. Was ich hier machte war Hausfriedensbruch. Aber galt das überhaupt, bei einem Haus das niemandem gehörte? Ich atmete tief durch und ging hinein. Hinter mir schloss ich die Tür, nur damit sie nicht von selbst zufallen konnte. Ich befand mich in einer riesigen, verstaubten Eingangshalle. Ich ging den roten Läufer entlang zu der großen Treppe und musste niesen, als ich dabei Staub aufwirbelte. Ich erschrak und hielt den Atem an, aber es waren keine Gespenster zu sehen. Warum sollten es auch? Es gab keine Gespenster. Ich sollte nicht so viele Horrorfilme schauen. Ich ging die Treppe nach oben. Jede einzelne Stufe knarrte als würde sie gleich unter mir einbrechen.

Oben war es viel heller als unten. Es gab einen langen Gang, von dem viele Zimmer abgingen. Am einen Ende war die Treppe – und ich – am anderen ein großes Fenster, das den Blick in die Baumwipfel freigab. Ich ging den Gang entlang. Nicht eine einzige Holzdiele knarrte hier. Erst vor der einzigen offenen Tür blieb ich stehen. Sie war nicht direkt offen im Sinne von ich wusste was dahinter war, aber sie war nur angelehnt. Ein kleiner Spalt war frei – was nicht viel half, da ich nur Dunkelheit sah. Es war totaler Irrsinn, aber ich stieß die Tür auf. Dann zuckte ich zusammen als ich kurz wieder an Horrorfilme dachte und mir vorstellte, wie mich ein Zombie ansprang. Aber es blieb ruhig. Noch nicht einmal die Angeln der Tür quietschten. Ich wollte warten, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber ich war so neugierig, dass ich das Zimmer betrat sobald ich die schweren Vorhänge auf der anderen Seite entdeckte. Ich lief hindurch und zog sie auf. Dann drehte ich mich um, um mich umzusehen.

Ich war in einem Schlafzimmer. Einem riesigen Schlafzimmer. Es gab einen Kleiderschrank, der die gesamte rechte Wand einnahm. Neben mir stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Und an der linken Wand stand ein riesiges Himmelbett. Und auf dem Himmelbett lag jemand. Ich schrie. Der Jemand bewegte sich nicht. Vielleicht war er tot. Aber Tote hätten bestimmt eine ungesündere Hautfarbe. Vielleicht war es eine Wachsfigur. Genau. Das musste es sein: nur eine Wachsfigur. Ich lachte schrill über mich selbst. Der Jemand bewegte sich immer noch nicht. Die Wachsfigur. Ich ging näher heran. Es war ein Junge. So um die 16, so wie ich. Er trug Make-Up. Und eine Perücke. Ich unterdrückte ein weiteres Lachen. Dann beugte ich mich über ihn um ihn genauer zu betrachten. Er hatte die Augen geschlossen. Ich spürte, wie mich etwas an der Wange kitzelte. Ich dachte erst es seien meine Haare, aber als ich versuchte sie zurückzustreichen war da nichts. Ich realisierte, dass es der Atem des Jungen sein musste, der mich kitzelte. So ein Quatsch. Wachsfiguren atmeten schließlich nicht. Oder schlief derjenige vielleicht nur? Aber dann wäre er bei meinem Geschrei bestimmt aufgewacht. Es war eben doch nur eine Wachsfigur.

Die Wachsfigur öffnete die Augen.

Ich schrie. Dieses Mal noch lauter als vorher. Die Wachsfigur setzte sich auf. Ich stolperte zurück bis ich die Wand im Rücken spürte. Scheiße. Jetzt befand sich dieser Psychopath zwischen mir und der Tür. Ich schrie immer noch.

„So schreit doch nicht so!“ rief die Wachsfigur. Ruckartig hielt ich die Klappe.

„Viel besser. So wollt ihr mir vielleicht euren Namen verraten?“ Der Junge sah mir ins Gesicht.

„Ri-Ricki.“ murmelte ich. Er hatte mich gehört. Dann glitt sein Blick an mir herunter. Er verdeckte seine Augen.

„Wie könnt ihr es wagen in einer solchen Kluft vor mir aufzutreten? Geht euch sofort etwas ehrenhaftes anziehen!“ Ich sah an mir herunter. Ich trug meinen knielangen schwarzen Rock, das schwarze T-Shirt mit den angedeuteten roten Sternen in der linken unteren Ecke, meine rot-schwarz karierten Halbhandschuhe und meine ausgelatschten roten Sneakers. Insgesamt mein Lieblings-Outfit.

„Das ist mein Lieblings-Outfit!“ empörte ich mich.

„Outfit? Was soll denn das sein?“ Der Typ verarschte mich doch.

„Na, meine Lieblings-Klamotten eben.“ antwortete ich leicht irritiert, als er nichts mehr sagte.

„Das nennt ihr Klamotten?“ Er sah mich wieder an.

„Ja?“ Was sollte es sonst sein?

„Na, sei es drum.“ Er schüttelte den Kopf und sah mir strikt in die Augen, anstatt auf die Beine. „So hättet ihr, Ricki, die Güte eines meiner Zimmermädchen zu rufen? Ich würde mich gerne ankleiden.“ Während er sprach, stand der Typ auf. Er trug so altmodische Sachen. Eine Clownshose, ein Hemd und einen Umhang. Und noch schlimmer Strumpfhosen. „Wie ich sehe, muss ich in meinen Klamotten geschlafen haben.“

Ich hielt es nicht mehr aus. Ich fing an zu lachen. Und ich lachte und lachte und lachte und konnte nicht mehr aufhören, da ich jedes Mal wieder lachen musste, wenn ich ihn ansah.

„So möget ihr mir vielleicht verraten, was ihr so amüsant findet?“ Er sah mich entrüstet an.

„Dich.“ brachte ich hervor und lachte noch mehr.

„Mich? Wie könnt ihr es wagen so mit mir zu sprechen, Magd? Ich bin Nikolai Friedrich Ludwig von Wittenberg. Niemand spricht so mit mir! Und schon gar keine einfache Bauersfrau!“

Ich sah ihn an. Er hatte sich gerade als den ältesten Sohn des letzten Herzogs von Wittenberg bezeichnet. Ich lachte wieder los.

„So hört sofort auf zu lachen!“ Er runzelte die Stirn, als ich nicht gehorchte. Mittlerweile tat mir vor Lachen schon der Bauch weh. Ich setzte mich auf einen der Stühle um mich zu beruhigen. Da fiel mir zum ersten Mal auf, dass er mich im Plural ansprach.

„Sag mal, aus welchem Jahrhundert kommst du eigentlich?“

„Was soll diese Frage? Wir schreiben das Jahr 1813, das weiß jedes Kind. Naja, ein Bauernmädchen besitzt vielleicht nicht so viel Intelligenz...“

„1813?“ fragte ich. Das war das Jahr, in dem der Herzog und seine Familie verschwanden... Gruselig.

„Ja natürlich. Als ich mich gestern schlafen legte, war es der 15 Mai 1813. Zwei Wochen nach meinem Geburtstag.“

„Dann musst du 200 Jahre lang geschlafen haben. Wir sind nämlich in 2013.“ erklärte ich ihm. Heute war der 16 Mai. Noch gruseliger.

„200 Jahre?“ Er schien nachzudenken. „Aber natürlich! Der Fluch der alten Hexe! Das ich kurz nach meinem 16. Geburtstag sterben sollte! Was bin ich froh, dass es die gute Fee gegeben hat, die den Fluch abschwächen konnte... Stellt euch vor, ich wäre tot!“

„Das fällt mir nicht schwer...“ sagte ich so leise, dass er es nicht hörte. „Du meinst, du bist Dornröschen?“ Ich lachte wieder los.

„Dornröschen? Was soll das sein?“

„Na Dornröschen eben. Jedes Kind kennt das Märchen von Dornröschen.“ Außer Dornröschen selbst.

„Ich nicht.“ Okay. Langsam wurde es wirklich gruselig. Aber richtig. „Ich bin also im 21. Jahrhundert? Das ist grandios!“ Irgendwie fing ich an, diesen Kerl zu mögen. Und vor allem ihm zu glauben. Krank, oder?

„Ja. Du bist im 21. Jahrhundert. Was hältst du davon, wenn ich dich mit zu mir nehme, damit du dich umziehen kannst? Eigentlich sollte ich dich in eine Psychiatrische Klinik bringen, aber irgendwie...“ Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Sind denn Anstandsdamen anwesend?“

„Anstandsdamen? Äh, nein. Meine Eltern sind bis Montag verreist.“

„Dann darf ich euch nicht begleiten. Das wäre unanständig. Was würden die Leute von mir denken?“

"Wir sind hier im 21. Jahrhundert. Da ist das ganz normal. Komm jetzt." Ich wollte wirklich, dass er mitkam - warum auch immer. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn mit. Er wehrte sich, aber ich ließ nicht los. Er durfte mir auf keinen Fall entwischen, sonst landete er doch noch in der Psychiatrie. Ich meine "Hallo, ich bin Dornröschen, schön sie kennen zu lernen..."? An der Tür ließ ich ihn kurz los um mir mein Skateboard zu schnappen und sofort blieb Nik (ich würde ihn nur Nik anstatt Nikolai Altkopf Soundso nennen) stehen.

"Wohin gehen wir?" Fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust, als hätte er Angst ich könnte noch einmal seine Hand nehmen.

"Zu mir. Habe ich doch gesagt." Ich verdrehte die Augen.

"Warum?"

"Damit du dir etwas anziehen kannst, das nicht laut Volltrottel schreit." Hatte ich das nicht schon gesagt?

"Hmm. Und es ist wirklich in Ordnung, wenn ich euch begleite?"

"3 Dinge, die du dir merken solltest: Erstens, hör auf mich im Plural anzusprechen und sag einfach du; zweitens, hör auf so viele Fragen zu stellen und drittens, ja verdammt es ist in Ordnung!" Dieser Kerl brachte mich zur Weißglut.

"Gut, dann werde ich euch, ich meine dir, folgen." Na endlich. Ich ging den Weg entlang zurück zu dem Tor und sah mich ganze drei Mal um, ob Nik mir auch wirklich folgte. Als er die Straße erblickte, wurden seine Augen groß.

"Unglaublich. Es hat sich alles verändert."

"Du hast 200 Jahre lang geschlafen, hast du erwartet, dass da alles so bleibt wie es war?" Er war wieder stehen geblieben und damit er sich wieder fortbewegte musste ich ihn am Umhang gepackt hinter mir herziehen.

Akt 2

Vor meinem Haus blieb ich stehen. Nik sah erstaunt an den Wänden hinauf.

"Das ist ein sehr großes Haus für eine Bauersfrau." Meinte er erstaunt. "Und es hat kein Strohdach."

"Heutzutage ist das ein ganz normales Haus, klar?" Ich war etwas gereizt, weil ich meine verdammten Schlüssel schon wieder nicht fand. Im Haus neben an öffnete sich die Tür. Erst schenkte ich dem keine Beachtung, aber dann sprach Timo mich an.

"Na, hast du dem Theater seine Requisiten geklaut, Riciel?" Fragte er.

"Halt die Klappe, Timmy." Ich hatte meine Schlüssel gefunden. Ich war froh, dass Nik nichts sagte, aber vermutlich hatte er Timos Aussage sowieso nicht verstanden. Timmy war 13 Jahre alt und eine totale Nervensäge. Er wusste, dass ich es hasste mit meinem richtigen Namen angesprochen zu werden und tat es deshalb so oft wie möglich.

"Ach komm schon. Sei nicht immer so fies zu kleinen Jungs wie mir."

"Verzieh dich." Ich hatte die Haustür endlich aufbekommen und zog Nik hinter mir in den Flur. Dann schlug ich Timo die Tür vor der Nase zu.

"Riciel?" Fragte Nik.

"Das ist mein richtiger Name, aber ich hasse ihn. Er ist so schrecklich altmodisch und großspurig und überhaupt ganz grässlich." Antwortete ich. Bis heute hatte ich nicht verstanden, wie meine Eltern auf diesen Namen gekommen waren. Mein Bruder hatte einen normalen Namen: Alex. Aber ich musste ja unbedingt Riciel heißen.

"Ich finde ihn sehr schön." Meinte Nik.

"Das ist doch der beste Beweis." Ich ging in die Küche. "Ehm. Ich lass dich für zwei Minuten allein um dir Klamotten von meinem Bruder zu holen. Und vielleicht ein Abschminktuch. Schaffst du es für diese Zeit nichts anzufassen?"

"Na hör mal! Ich bin kein Kind mehr!" Jaja. Ich wollte es ja nur gesagt haben. Wortlos machte ich mich davon. Im Zimmer meines Bruders war es wie immer stockdunkel. Ich machte Licht und ging zum Kleiderschrank. Er war so gut wie leer, weil mein Bruder quasi alle seine Klamotten mitgenommen hatte, aber ich fand noch ein weißes T-Shirt mit Aufdruck, schwarze Jeans und ein paar Chucks. Hoffentlich hatte Nik die richtige Schuhgröße. Auf dem Rückweg in die Küche schnappte ich mir noch zwei Abschminktücher im Bad.

Als ich ihn die Küche kam stand Nik vor dem Kühlschrank und hielt seine Hand hinein. Ich legte die Klamotten auf den Tisch und trat hinter ihn.

"Es ist ganz kalt in diesem Schrank." Stellte er fest.

"Das soll es auch sein, immerhin ist es ein Kühlschrank." Wie lange gab es eigentlich schon Kühlschränke - oder Strom überhaupt?

"Wie funktioniert das? Wozu ist es gut?"

"Es hält die Lebensmittel länger frisch. Woher soll ich bitte wissen, wie es funktioniert? Frag meinen Physik-Lehrer, der weiß es bestimmt."

"Wann kann ich ihn fragen?"

"Wenn du... Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst nicht so viele Fragen stellen?"

"Doch, aber..." ich wandte mich ab.

"Das sind die Klamotten. Die wirst du dir wohl selbst anziehen können, oder?" Ich wartete seine Antwort nicht ab. Stattdessen drückte ich ihm die Abschminktücher in die Hand. "Und mach dir vorher das Gesicht sauber. Vergiss außerdem nicht die Perücke abzunehmen. Die lässt dich aussehen wie den toten Großvater meiner Cousine. Ich bin nebenan, komm einfach rüber wenn du soweit bist." Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen um ins Wohnzimmer zu gehen. Dort fiel ich aufs Sofa. Was hatte ich mir da mit diesem Kerl nur eingehandelt? Der war doch total krank! Ich mein das Märchen von Dornröschen war schon immer das einer hübschen Prinzessin gewesen und nicht das eines begriffsstutzigen Herzogs in Strumpfhosen. Tief durchatmen Ricki. Vielleicht wurde es ja ganz lustig mit ihm. Aus der Küche war nichts zu hören, aber ich ging nicht nachsehen. Er würde sich ja wohl allein umziehen können.

"Ist das so richtig?" Fragte Nik, als er in der Tür auftauchte. Er trug die Turnschuhe, die Jeans und das T-Shirt. Er hatte das T-Shirt in die Hose gesteckt, und ich musste schon wieder ein Lachen unterdrücken. Ich sagte ihm, was er falsch gemacht hatte. Er sah zwar etwas skeptisch aus, tat aber, was ich ihm geraten hatte. Und er sah gar nicht so schlecht aus. Er war groß, muskulös. Seine Hautfarbe war ohne Make-Up gesund, sogar leicht gebräunt. Seine Haare waren dunkelbraun und hingen wirr um seinen Kopf herum. Aber in einer Art von Wirr, die total gut und gewollt aussah. Manche Models würden stundenlang in der Maske sitzen um so auszusehen.

"Wow." Entfuhr es mir leise.

"Was heißt Wau?" Fragte Nik.

"Nicht so wichtig. Emm... Was willst du sehen?" Ich versuchte ihn abzulenken.

„Alles.“ Seine Augen leuchteten. Welch präzise Angabe.

„Okay, was hältst du davon, wenn wir im Einkaufcenter anfangen?“

„Was ist ein Einkaufcenter?“

„Das ist so ein großes Gebäude mit ganz vielen Läden und da kann man lauter Kram kaufen und Leute treffen und Kaffee trinken...“ Koffein war genau das, was ich jetzt brauchte.

„Das klingt sehr amüsant.Würdest du mich dorthin geleiten?“ Bald würde ich ihm eine scheuern, wenn er so weiter redete, ich sah es kommen.

„Natürlich, und jetzt halt die Klappe.“ Ich stand auf, schnappte mir sein Handgelenk und zog ihn mit.

„Welche Klappe?“ Aaaaaaaaaarrrrrrgh!!! Als wir bei meinem Skateboard ankamen, fiel mir auf, dass wir das unmöglich zu zweit fahren konnten. Dann mussten wir eben den Bus nehmen. Der kam in sieben Minuten.

 

Der Bus kam. Ich stieg ein.

"Zwei mal zum Einkaufcenter bitte." Ich zählte das Geld ab und legte es hin.

"Zwei mal?" Der Busfahrer sah mich an.

"Natürlich."

"Dann sag dem Kerl er soll endlich einsteigen. Ich bin schon spät dran." Er tippte in seinen Computer und die Tickets wurden gedruckt. Ich drehte mich um und sah, wie Nik vor der Tür stand und mit großen Augen den Bus anstarrte. Hatte er eine Kutsche mit vier Pferden erwartet? Ich verdrehte die Augen, packte sein Handgelenk und zog so stark daran, dass er in den Bus stolperte. Dann nahm ich die Fahrkarten und zog ihn hinter mir her durch den Bus. Er sah sich die ganze Zeit erstaunt um und zuckte zusammen, als eines der Mädchen seinen Blickkontakt suchte und die Beine übereinander schlug. Dumme Ziege.

Ich ließ mich auf einen der hintersten Plätze fallen und zog Nik neben mich.

"Guck nicht so dumm wie ein Auto!" Er starrte mich verständnislos an. Natürlich er wusste ja nicht was ein Auto war.

„Ein Auto ist wie eine Kutsche. Nur ohne Pferde. Und etwas schneller. Es fährt mit einem Motor und äh... Keine Ahnung wie der funktioniert. Das hier ist ein Bus. Eine Art öffentliches Auto, in das jeder einsteigen darf.“ versuchte ich zu erklären. Als der Bus anfuhr zuckte er zusammen, sagte aber nichts.

„Wie unhygienisch!“ Ach herrje, hoffentlich fiel er nicht in Ohnmacht. Wenigstens stellte er keine weiteren dummen Fragen. Die anderen Mädchen im Bus – zwei Stück um genau zu sein, und die schienen auch noch beste Freundinnen zu sein (uäääh), da sie dieselbe Flechtfrisur hatten – tuschelten die ganze Zeit miteinander und schielten zu Nik herüber. Hin und wieder lachten sie auch laut auf und warfen einen Teil ihrer Haare zurück. Arrogante Zicken. Nik ignorierte sie würdevoll, was ihnen ganz recht geschah. Anscheinend sah er noch besser aus, als ich im ersten Moment gedacht hatte.

Da er auf der anderen Seite gespannt aus dem Fenster sah und die vorbeihuschenden Bäume beobachtete, konnte ich ihn in Ruhe betrachten. Er hatte ein spitzes Kinn, das aber nicht unvorteilhaft hervorsprang. Seine Nase war gerade, vielleicht ein wenig klein für sein Gesicht. Seine Lippen waren sogar von der Seite erstaunlich rot. Und der Leberfleck unter seinem rechten Auge – der wie ich jetzt erkannte, echt war und kein Schönheitspflästerchen – war der einzige Makel seiner reinen Haut. Seine grauen Augen blickten aufmerksam. Immer wieder fielen im die Haare hinein und er warf sie mit einer lässigen Bewegung zurück. Was die beiden anderen Mädchen regelmäßig als Anlass für entzückte Seufzer sahen. Als Nik den Kopf wandte blickte ich schnell nach vorn.

„Wo fahren wir hin?“ fragte er. Vorsichtig sah ich ihn wieder an. Er schien nicht bemerkt zu haben, dass ich ihn beobachtet hatte und wenn, dann lies er es sich nicht anmerken.

„Ins Einkaufcenter, habe ich doch schon gesagt.“

„Das ist wahr. Was gedenken wir dort zu tun?“ Ich ballte die Hand im Schoß zur Faust um ihm keine zu klatschen.

„Wir werden Kaffee trinken gehen. Vielleicht eigene Klamotten für dich besorgen.“

„Gibt es dort gute Schneider?“

„Ja, Ausgezeichnete. Wir können das selbe T-Shirt sofort zehn Mal kaufen. Keine Wartezeiten.“ Ich verdrehte die Augen, aber diese Geste kannte er vermutlich nicht.

„Keine Wartezeiten? Das ist unmöglich!“

„Ist es nicht.“ Er stellte noch ein paar weitere Fragen, aber ich ignorierte ihn.

Als wir am Einkaufscenter hielten, packte ich Nik gleich an der Hand anstatt zu warten bis er von allein aufstand. Als wir an dem Schnepfen vor uns vorbei liefen, hielt ich unsere verschränkten Finger demonstrativ in die Höhe. Sofort schnappten ihre Münder zu und sie funkelten mich böse an. Nik bekam davon nichts mit - sein Blick war schon ganz gefesselt von den Leuchttafeln an der Außenseite des Einkaufscenters.

"Was ist das?" Fragte er, als wir direkt davor standen.

"Werbung." Antwortete ich. Er wollte schon die nächste Frage stellen, aber ich unterbrach ihn. "Nein. Ich weiß nicht wie es funktioniert. Ich weiß auch nicht, wie Licht funktioniert oder eine Heizung."

"Aber..." setzte er an.

"Nein. Stell einfach keine Fragen mehr." Hoffentlich hielt ihn das für eine Weile still.

Wir betraten das Gebäude.

Akt 3

Seit wir das Einkaufscenter betreten hatten, hatte Nik seinen Mund nicht mehr zu. Das verlieh ihm ein leicht dümmliches Aussehen, aber die Mädchen drehten sich trotzdem zu ihm um und tuschelten. Ich sah ihn kaum an. Ich hatte Angst sonst laut loslachen zu müssen wegen seinem Gesichtsausdruck - oder noch schlimmer: ihm genauso dümmlich anzuhimmeln wie die anderen Mädchen. Das wollte ich auf keinen Fall riskieren.

Als erstes brauchte ich Koffein. Also ging ich in mein Lieblingscafé mit Nik. Ein paar Mädchen beobachteten neidisch wie wir uns setzten.

"Was darf es sein?" Fragte die Bedienung höflich an Nik gewandt, für den Fall er wollte mich einladen. Der hatte aber natürlich mal wieder keine Ahnung, was sie von ihm wollte.

"Zwei Milchkaffee." Antwortete ich an seiner Stelle. Die Bedienung nickte nur und ging davon.

"Mach endlich den Mund zu, sonst fliegen Fliegen rein." Sagte ich schließlich zu ihm. Sofort schloss er den Mund.

"Das... Das ist alles so groß. Und es sind so viele Menschen hier." Sein Kopf wanderte von rechts nach links und zurück. Ich sah mich ebenfalls um. Das Einkaufszentrum war so gut wie leer. Und dann sah ich Joe, eine Freundin von mir, die gern und viel redete. Ich versteckte mich hinter der Getränkekarte, in der Hoffnung sie würde mich nicht sehen. Sie ging vorbei. Glück gehabt. Und dann kam unser Milchkaffee. Ich packte zwei Stück Zucker hinzu und trank einen Schluck. Ich verbrannte mir die Zunge, aber das war egal: ich liebte Kaffee und in diesem Moment hatte ich wirklich einen nötig.

Nik verzog das Gesicht als er sich über seine Tasse beugte. "Was ist das? Es riecht... Ungebührlich." Ich hatte das Gefühl, er hätte sich verkniffen "Es stinkt." Zu sagen. Ich wünschte er hätte es getan.

"Kaffee." Gab es Anfang des neunzehnten Jahrhunderts noch keinen Kaffee? "Probiere mal, das wird dir gut tun." Er sah zwar skeptisch aus, hob die Tasse aber zu den Lippen um an dem Getränk der Götter zu nippen, wobei er den kleinen Finger altmodisch abspreizte. Hoffentlich sah das keiner. Und wenn doch würde er hoffentlich denken Nik hätte eine Wette verloren oder so.

"Das ist ganz bitter." Meinte er schließlich. Ich schob ihm die Zuckerwürfel zu.

"Dann tu ein bisschen Zucker dazu, rühr um und probier noch mal."

"Das ist Zucker?" Er starrte die Schale entgeistert an. "Diese Schale muss ein Vermögen wert sein! Kannst du dir das leisten?"

Ich seufzte. "Weißt du, heute gibt es Flugzeuge, die den Zucker billig importieren können. Deswegen ist er jetzt gar nicht mehr so teuer." Ich biss mir auf die Zunge. Verdammt jetzt würde er gleich fragen...

"Was sind Flugzeuge?" Hab ich es nicht gesagt?

"Das sind so riesige Maschinen mit denen Menschen fliegen können. Es gibt Flughäfen wo sie landen und starten, aber ich weiß nicht, wie das funktioniert." Erklärte ich.

"Würdest du mir so einen Flughafen mal zeigen?"

"Vielleicht." Ich lächelte. In Zukunft vielleicht. Als er immer noch nichts tat, sondern mich anstarrte als hätte ich den Verstand verloren, ließ ich zwei Stück Zucker in seinen Kaffee fallen. "Probier noch mal." Er nippte an seinem Getränk.

"Besser." Entschied er. Ich entschied, ihn zu einem Kaffee-Liebhaber zu erziehen.

Als wir ausgetrunken hatten, bezahlte ich. Nik starrte das Geld an, als wäre es was besonderes. Ach ja, richtig: im 19. Jahrhundert gab es den Euro noch nicht. Wahrscheinlich war er noch mit tauschen groß geworden - zwei Kaffee = ein halbes Huhn oder so. Ich gab ihm ein paar Scheine und Münzen. "Damit bezahlen wir heute," sagte ich, während wir zu einem Klamottenladen liefen, "das ist unser Geld. Es nennt sich Euro und ist... Wertvoll. Das heißt: nicht kaputt machen." Er nickte und ich zeigte ihm, dass er es falten konnte um es in seine Jeanstasche zu stecken. Er wird schon vorsichtig sein.

Als wir den Laden betraten, verzog Nik schon wieder das Gesicht. Ich sah mich um - ganz automatisch hatte ich den Lieblingsladen meines Bruders gewählt. Wenn er auch nur ein Wort sagte...

"Was ist das denn?" Fragte er und zeigte auf einen Kapuzenpullover. Aaaaaaargh!

"Das nennt sich Pullover. So was trägt man heute." Ich zog ihn zu den Umkleiden. "Sitz." Sagte ich und zeigte auf einen Hocker in einer der Kabinen. "Und keinen Mucks." Dann suchte ich ihm ein paar Klamotten zusammen. Dabei versuchte ich nicht auf den Preis zu achten, denn ich wusste, dass ich mir den kommenden Einkauf eigentlich nicht leisten konnte. Am Ende hatte ich einen ganzen Berg im Arm, über den ich kaum noch drüber schauen konnte."

Ich drückte Nik den Stapel in die Hand. "Anprobieren." Kommandierte ich und zog den Vorhang zu. Das würde er schon schaffen. Nach jedem Umziehen zeigte er sich, vielleicht wollte er mich besänftigen. Als wir durch waren sagte ich: "Und jetzt such dir die Sachen raus, die dir gefallen." Er verzog schon wieder das Gesicht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er gucken würde, wenn er den schrecklichen Auflauf meiner Tante essen müsste. Ich verkniff mir ein Grinsen.

"Kann ich nicht lieber meine alten Klamotten..." Schlug er vor.

"Nein auf keinen Fall." Unterbrach ich ihn. Das kam ja wohl nicht in die Tüte, dass er so herumlief, wie ich ihn gefunden hatte. Er seufzte und suchte sich zwei Hemden und eine schwarze Hose raus. Für meinen Geschmack ein bisschen zu brav, aber ich musste auch zugeben, dass es ihm hervorragend stand... Halt, stopp. Ich hängte den Rest zurück. Dann gingen wir zur Kasse um zu bezahlen. Ich hatte ihm den Kommentar zu dem Kapuzenpullover (den mein Bruder zufällig besaß) noch nicht verziehen, und ignorierte seine Frage nach der Musik (die er "Krach" nannte - hallo, es lief gerade Linkin Park!).

"Kannst du mir bitte das Geld geben?" Fragte ich ihn. Er fischte es mit einer lässigen Bewegung aus der Hosentasche - wo hatte er denn das gelernt? Dann sah er die Verkäuferin an. Ich dachte mir nichts dabei, als er hart schluckte, immerhin war sie ziemlich hübsch. Na gut, nichts war gelogen. Aber meine sadistischen Gedanken richteten sich weniger gegen Nik als gegen die Verkäuferin. Aber dann rannte Nik davon. Einfach, ohne ein Wort, aus der Tür hinaus auf den Gang. Ich stutzte, dann sagte ich zu der Verkäuferin: "Können sie das bitte zurück legen? Danke!" Und dann rannte ich Nik hinterher. Ich hatte ihn auch schnell eingeholt, weil er rannte wie ein Pinguin auf Stöckelschuhen (sah echt witzig aus).

"Was soll das?" Fragte ich ihn, als er immer noch nicht anhielt.

"Ich erinnere mich jetzt wieder!" Aha, sehr aufschlussreich.

"Woran?" Puh, ich sollte dringend wieder öfter joggen gehen.

"An die letzten Stunden bevor ich eingeschlafen bin." Toll. Ja und? Konnte er sich nicht mal klar ausdrücken?

"Und was war bevor du eingeschlafen bist?" Endlich, er wurde langsamer.

"Ich erinnere mich an die Frau, die dem Schneider geholfen hat, die Kleider für mich zu nähen. Sie hat mich drei Mal mit ihrer Nadel gestochen." War das im Märchen nicht eine Spindel und drei Tropfen Blut oder so?

"Ja, und?"

"Es war die Frau aus der Schneiderei von gerade eben." Meinte er das ernst? Ich sah ihm ins Gesicht. Er meinte es ernst. Ich musste schon wieder lachen. Irgendwann sogar stehen bleiben um mir den schmerzenden Bauch zu halten.

"Das ist nicht witzig!" Nik stampfte mit dem Fuß auf wie ein beleidigtes Kleinkind, was mich natürlich noch mehr zum lachen brachte. "Ich befehle dir, dass du sofort damit aufhören sollst!" Langsam ging mir die Luft aus, also versuchte ich mich zu beruhigen und atmete tief ein.

"Okay. Das soll also heißen die Verkäuferin ist die böse Fee?" Ich gluckste schon wieder los. Das war einfach zu komisch.

"Ja!" Er meinte es wirklich ernst. Ricki, dieser Kerl war nett zu dir, versuch ihn nicht auszulachen. "Da! Da ist sie!" Schrie er zeigte hinter mich und rannte schon wieder los. Ach verdammt. Ich sah mich um. Tatsächlich. Die Verkäuferin aus dem Laden kam direkt auf mich zu. Es war ein dummer Reflex, aber ich drehte mich um und rannte Nik durch das Gewirr der Straßen unserer kleinen Innenstadt hinterher. Ich verlor ihn immer wieder aus den Augen, aber dann tauchte er plötzlich wieder auf, als er irgendwelche Touristen umstieß. Wenigstens war mein Weg so schon mal frei. Dann bog Nik in eine kleine Straße ein.

"Warte, Nik! Nein! Das ist eine..." Ich stand hinter ihm. "... Sackgasse."

"Warum geht es hier nicht weiter?" Weil wir vor einer Mauer stehen, du Idiot. Es war genau wie in diesen schlechten Horrorfilmen, in denen die Menschen vor den Zombies flüchteten, am Ende in einer Sackgasse landeten, und schließlich zwischen ein paar Mülltonnen gefressen wurden. Ich hörte schnelle Schritte näher kommen. Gleich würde die Verkäuferin um die Ecke kommen und...

"Schnell ihr zwei, hier rein!" Neben uns war eine Tür geöffnet worden. Eine kleine, junge Frau mit hellblonden Haaren winkte uns zu sich. Wir überlegten nicht lange sondern folgten ihrer Aufforderung. In dem Moment, als sie die Tür hinter uns schloss, bog die Verkäuferin um die Ecke. Wir standen mit angehaltenem Atem in der dunklen Wohnung und warteten, bis sie wieder fort war.

"Wir sind ihnen sehr dankbar für ihre Hilfe." Meinte ich schließlich, als mir das Schweigen zu peinlich wurde. Anstatt zu antworten, machte die Frau das Licht an. Wir befanden uns in einer schönen großen Wohnung, die heller war, als ihre graue Außenfassade vermuten ließ.

"Mein Name ist Serafina. Ich bin..." Begann sie, doch Nik schien seine guten Manieren vergessen zu haben und unterbrach sie: "Ich kenne dich! Du bist meine Patentante!" Ja, sicher. Weil sie auch bestimmt zweihundert Jahre alt war. Sie sah eher aus wie zweiundzwanzig. Ich unterdrückte ein Kichern.

"Ja, Nikolai." Ach verdammt. "Ich bin froh dass ihr entkommen seid."

"Soll das heißen, die Verkäuferin ist wirklich die böse Fee?" Fragte ich. Plötzlich war das überhaupt nicht mehr witzig.

"Ja, leider." Serafina seufzte. Das war doch alles nicht real.

"Jetzt sag bloß noch, dass du die gute Fee bist, die den Fluch abgeschwächt hat."

"Ja, die bin ich." Sie sah mich ganz ernst an und ich fing schon wieder an zu lachen. Morgen hatte ich bestimmt Bauchmuskelkater.

Akt 4

Ja, ich weiß es war unhöflich sie auszulachen, aber mal ehrlich - eine Fee? Ich bin keine sieben mehr.

"Du glaubst nicht mehr an Märchen, oder?" Fragte Serafina.

"Nein," ich schüttelte den Kopf, "ich bin sechzehn und gehe auf eine Mädchenschule. Bei meinem Kleiderstil kann ich mir nicht auch noch leisten an Märchen zu glauben. Sonst bin ich die wenigen Freunde, die ich habe auch noch los." Traurig, aber wahr.

"Ja, aber du solltest dringend damit anfangen. Die Märchenfiguren hier brauchen nämlich deine Hilfe." Hmm, irgendwie wäre das lustiger, wenn sie nicht gelächelt hätte. Ich sagte nichts. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich, Prinzessin Riciel, reite zu eurer Rettung? Bestimmt nicht.

"Wollt ihr etwas trinken? Ich habe Cola da." Sie winkte uns ins Wohnzimmer.

"Was ist Cola?" Fragte Nik. Er nervte. Serafina war viel normaler, irgendwie realer und deswegen auch glaubwürdiger. Oh Gott - ich sollte einen Psychiater aufsuchen, wenn ich einer Fremden glaubte, dass sie eine Fee war.

"Ein neumodisches Getränk. Wirklich lecker." Antwortete Serafina (endlich kannte ich jemanden, dessen Name so schrecklich altmodisch war wie meiner). Sie servierte uns und wies uns an, auf dem Sofa Platz zu nehmen, während sie selbst sich einen Stuhl heranzog. Ich trank einen Schluck. Noch mehr Koffein.

"Ich muss dir unsere Geschichte erzählen, damit du verstehst, was hier eigentlich los ist." Serafina stellte ihr Glas ab. Nik hatte schon fast das ganze Glas ausgetrunken. "Fang bitte nicht an zu lachen, ja? Es ist überaus wichtig, dass du mir zuhörst." Ich nickte, aber das konnte sie nicht sehen, weil sie etwas in einem Regal suchte. Als sie sich wieder umdrehte hielt sie eine große, blaue Schachtel in der Hand, die sie an mich weitergab, bevor sie sich wieder setzte. "Mach sie auf." Forderte sie, mit einem Lächeln im Gesicht und ihrem Glas in der Hand. Also hob ich vorsichtig den Deckel, in der halben Erwartung darunter einen Zauberstab oder so zu finden.

Stattdessen lag in der Schachtel ein Buch. Ein in braunes Leder gebundenes Buch. Erst als ich es heraus nahm, konnte ich den eingeprägten Titel erkennen. "Sammlung Grimmscher Märchen, 1807". Vorsichtig schlug ich es auf. Der Geruch von altem Papier stieg mir in die Nase. Ich dachte daran, wie mein Bruder mir diese Märchen früher immer vorgelesen hatte und lächelte. Doch Serafinas Stimme holte mich zurück in die Gegenwart.

"Das ist das Märchenbuch, aus dem wir hier her gekommen sind. Ich weiß nicht wie oder warum, aber ich weiß, dass es uns auch wieder zurück schicken kann. Wenn eine Märchenfigur das Buch berührt, wird sie zurück in die Geschichte gesogen. Deswegen brauchen wir deine Hilfe. Nur du kannst Evanadora dazu bringen, es zu berühren, ohne selbst verloren zu gehen. Ich habe die ersten hundert Jahre, die ich in dieser Welt gelebt habe, damit zu gebracht es zu finden. Und dann musste ich warten, bis Nikolai wieder aufwacht. Es ist ein großes Glück, dass wir mit dir schon jemanden gefunden haben, der uns helfen kann. Ich möchte zurück in meine Welt."

"Woah. Stopp. Ich habe noch nicht zugestimmt euch zu helfen. Außerdem ist das ziemlich schwer zu glauben. Märchenfiguren fallen nicht einfach aus Büchern heraus. Sie existieren gar nicht." Sagte ich. Was war eigentlich Evanadora für ein schrecklicher Name?

"Tut mir leid, ich habe vielleicht ein wenig zu weit vor gegriffen. Aber wir brauchen wirklich deine Hilfe. Diese Welt ist nicht unsere, und umso mehr Zeit ich hier verbringe, desto mehr habe ich das Gefühl... Dass meine Zauberkräfte schwinden. Ich verblasse allmählich." Serafina machte ein bekümmertes Gesicht und mein sarkastischer Verstand machte noch nicht einmal den Versuch, das ganze ins Lächerliche zu ziehen. Sie sah so ehrlich aus - also glaubte ich ihr.

"Na schön. Was muss ich tun?" Fragte ich.

"Du willst uns helfen?"

"Besser das, als das ich für den Rest meines Lebens ein schlechtes Gewissen habe. Oder mich mit ihm herumschlagen muss." Da war er wieder, der Sarkasmus. Ich war ganz froh, dass Nik gerade sein zweites Glas Cola austrank und deswegen nicht antworten konnte. Aber vermutlich hatte er sowieso nicht verstanden, dass ich von ihm redete. Serafina aber lächelte.

"Ich bin dir wirklich sehr dankbar. Ich habe auch schon eine Idee, wie wir Evanadora aus ihrem Versteck locken können." Sie sah mich bedeutungsvoll an. Es war wichtig, was sie sagen würde. "Wir werden Nik zu ihr schicken und den Beiden folgen." Nik spukte einen Teil der Cola wieder aus. Es tropfte von seiner Nase, was es mir noch schwerer machte, ihn ernst zu nehmen, als er sagte: "Ich soll mich gefangen nehmen lassen? Aber dabei könnte ich verletzt werden! Auf keinen Fall werde ich dem zustimmen." Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und schüttelte ihn dann angeekelt. Ich nahm in aller Seelenruhe einen Schluck aus meinem Glas. Schielte schnell zu Serafina herüber und wusste, dass wir beide das selbe dachten.

"Ich denke, Nikolai, dass du keine Wahl hast." Daraufhin sagte er nichts mehr.

 

Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer war, jemanden zu verfolgen. In Filmen wirkte es immer ganz leicht. Die Figuren dort stiegen sogar in der U-Bahn in den selben Waggon und wurden nicht entdeckt. Ich musste Nik und Evanadora nur aus dem Laden hinaus folgen, im Parkhaus beobachten, in welches Auto sie ihn stieß, wieder nach oben rennen, Serafinas Roller starten und den silbernen Volvo an der Ampel wieder einholen. Aber ich wurde einfach das Gefühl nicht los, dass sie wusste, dass ich sie verfolgte.

Nach etwa zehn Minuten fuhr sie in ein privates Parkhaus. Ich fluchte und stellte den Roller auf der anderen Straßenseite ins Parkverbot. Auch egal. Dann betrat ich das niedrige, alte Gebäude.

Es war eine Bibliothek. Eine kleine, alte Bibliothek, in der sich in jede Ecke ein Regal drängte. Und in jedes Regalfach mindestens ein Buch zu viel. Hier roch es genau so, wie das Märchenbuch gerochen hatte, dass ich in einer Tasche bei mir trug. Ich hatte es vorher einmal durchgeblättert und war am Dornröschenmärchen hängen geblieben. Es war richtig gruselig gewesen. Dort wo Niks, Evanadoras oder Serafinas Name hätte stehen sollen, war nur weiße Fläche. Als hätte man sie ausradiert. Auch in den Illustrationen fehlten sie. Es war richtig eigenartig.

Noch viel eigenartiger kam mir aber vor, was ich hier tat. Ich meine, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass die drei wirklich Märchenfiguren waren? Uns selbst wenn, wie sollte ich denn dann eine mächtige Hexe besiegen können? Evanadora wusste bestimmt, wie sie mich besiegen und sich das Buch zu eigen machen konnte ohne darin zu verschwinden. Die Bösen wissen so was immer.

Ich ging durch die Reihen der Regale, suchte nach weiteren Ausgängen, Treppen, Falltüren, Geheimverstecken. Ich fand nur eine einzige Tür und die führte in die Tiefgarage. Schon bald zog ich irgendein Buch aus dem Regal und begann zum Schein darin zu blättern. Ich bekam so wenig davon mit, dass es auch auf chinesisch hätte sein könne - ich hätte es nicht bemerkt. In einem Comic hätte ich es vermutlich falsch herum in der Hand.

Ich hörte, wie die Tür zur Tiefgarage aufging und etwas schweres über den roten Teppichboden gezogen wurde. Dann fiel sie wieder ins Schloss. Für einen Moment war es totenstill und dann wurde mir klar, dass die Tür nicht einfach ins Schloss gefallen war - jemand hatte sie abgeschlossen. Und das selbe Geräusch eines herumgedrehten Schlüssels war auch vom Haupteingang hinter mir gekommen. Jemand hatte mich eingeschlossen.

Ich ließ das Buch fallen und begann zu rennen. Ich rüttelte an der Tür, weil ich es einfach nicht glauben konnte. Verschlossen. Hinter mir lachte jemand und ich fuhr herum. Mit dem Rücken zur Tür bot ich eine tolle Angriffsfläche für Evanadora. Sie stand nur etwa zwei Meter vor mir, sah mich an und lachte. Hinter ihr lag Nik bewusstlos auf dem Boden.

"Hast du wirklich gedacht, ich würde dich nicht bemerken, Riciel?" Ich konnte sie jetzt schon nicht ausstehen. Aber das Beste, das man tun kann, wenn man in Gefahr ist, ist sich dumm zu stellen. Mit etwas Glück meldet sich dann ein Beschützerinstinkt beim Gegenüber. Hoffte ich.

"Woher kennen Sie meinen Namen?" Fragte ich also ganz unschuldig zurück und versuchte so zu tun, als hätte ich Nik nicht gesehen.

"Ach bitte. Erspare uns das Geplauder. Wir wissen beide, weshalb du hier bist, und was du in der Tasche hast."

"Ich möchte noch mehr Bücher über Märchen ausleihen, für meine kleine Schwester. Woher wissen sie das?" Ich öffnete die Tasche und zog das Buch heraus. Wenn ich ganz schnell vorsprang, dann würde Evanadora das Buch vielleicht berühren und darin verschwinden...

"Aaah! Pack das sofort wieder ein du freches Gör'! Was fällt dir eigentlich ein dieses wertvolle Stück Magie einfach in bloßen Händen zu halten? Man sollte dich sofort auf dem Scheiterhaufen verbrennen!"

"Hier in meiner Welt, werden nur Hexen verbrannt!" Rief ich und tat das wohl dümmste, das ich in diesem Moment tun konnte: ich warf das Buch nach der Hexe. Die duckte sich weg und ich verfehlte Evanadora um Längen. Jetzt hatte ich kein Druckmittel mehr. Und keine Waffe. Und Nik war immer noch bewusstlos.

Evanadora lachte. "Und was willst du jetzt tun, Schätzchen?" Fragte sie. Ich rannte los.

Auf meinem Weg kreuz und quer durch die Bücherei zog ich überall Bücher aus den Regalen und warf sie hinter mir auf den Boden um Evanadora den Weg zu versperren. Allerdings schien sie das nicht zu behindern, denn sie war dicht hinter mir und feuerte irgendwelche explosionen-verursachende Bälle auf mich ab. Wenn sie an mir vorbei zischten stellten sich die Härchen auf meinen Armen auf und wenn sie hinter mir einschlugen stolperte ich und konnte mich oft gerade noch so vor dem Umfallen retten. Nach ein paar Minuten Hetzjagd ging mir langsam die Luft aus. Als ich mich umsah wurde mir auch klar warum: die Bücherei brannte.

Und ich stellte fest, dass Bücher sehr gut brannten. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Das Märchenbuch! Ich musste es finden. Aber in welcher Richtung war denn überhaupt der Eingang?

Der Rauch wurde immer dichter und ich musste husten. Ich versuchte mich zu orientieren, aber die Bücherei versank in Chaos. Nichts stand mehr an der selben Stelle wie zuvor. Also duckte ich mich so gut es ging unter dem Rauch weg und rannte in irgendeine Richtung. Keine Ahnung, wo Evanadora war. Außer dem Prasseln des Feuers konnte ich nichts mehr hören - keine Schreie, keine Schritte, kein Gelächter. Vermutlich war Nik noch immer bewusstlos.

Verdammt ich war in einer Sackgasse gelandet. Vor mir eine Wand, neben mir jeweils ein Bücherregal, hinter mir das Feuer und der Rauch. Ich drehte mich um, um mich irgendwie hindurch zu kämpfen, als ich Evanadora durch eine Lücke zwischen den Büchern erspähte. Sie kam genau auf mich zu.

Akt 5

Na klasse. Da war er wieder: der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich zu viele Horrorfilme sah. In meinem Kopf liefen tausend verschiedene Szene, die aber immer blutig, schmerzhaft und tödlich für mich endeten. Das war nicht unbedingt eine Hilfe bei meinem Versuch mich zu rationalem Denken zu zwingen. Rationales Denken! Ich wurde von einer zweihundert Jahre alten Hexe verfolgt, die irgendwie aus einem Märchenbuch entkommen war. Das war alles andere als ein rationales Problem.

Und dann wurde mir klar, dass Filme schauen nicht unbedingt etwas schlechtes war. Keine Ahnung in was für einem Film es gewesen war - vielleicht war es auch eine Serie - aber ich hatte einmal gesehen wie sich irgendein Held durch die Bücherregale hindurch schob, naja eher sprang. Und ich wusste bereits, dass diese Regale keine Rückwand hatten, also...

Ich holte tief Luft um mich für die Krabbelei bereit zu machen. Keine gute Idee, wie mir klar wurde, als ich einen schrecklichen Hustenanfall bekam. Meine Augen tränten, meine Lunge brannte und das Ausatmen tat komischerweise noch mehr weh als das Einatmen. Ich hörte wie sich Evanadoras Schritte beschleunigten - sie rannte jetzt und das konnte nur eins bedeuten: sie wusste wo ich war.

Mir ging also die Zeit aus und ich tat ausnahmsweise einmal etwas kluges. Ich dachte nicht lange nach, sondern holte ein wenig Schwung und hechtete auf eines der Regalbretter zu. Dabei schlug ich mir schwer das Knie an, aber ansonsten traf ich recht gut. Bücher purzelten auf der anderen Seite zu Boden und ich hinterher. Ich würde es sicher nicht weiterempfehlen, kopfüber aus einem Regal zu fliegen.

Das ganze machte natürlich noch viel mehr Lärm als mein Husten und Evanadora war noch immer hinter mir her. Ich sprang also auf das nächste Regal zu ohne auf mein pochendes Knie zu achten. Schmerzen spürte ich keine. So ging es Regal für Regal weiter und obwohl ich so schnell machte wie möglich, hatte ich das Gefühl, Evanadora würde aufholen.

Gerade wollte ich durch das nächste Regal springen, als ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnahm. Als ich genauer hinsah, entpuppte sie sich als bewusstloser Nik, der an einer Stelle lag, an der der Rauch noch nicht ganz so dicht war. Überhaupt brannte hier weniger. Der Ausgang konnte nicht weit sein. Ich musste zu Nik und dann zum Ausgang - wir mussten hier raus. Aber Evanadora stand plötzlich da und versperrte mir den Weg.

"Jetzt habe ich dich." Sie lächelte breit, doch es wirkte unecht und boshaft. Ich wich zurück, fiel schließlich über die Bücher am Boden. Ich tat das einzige, was mir in diesem Moment einfiel um mich zu verteidigen und was ich vor kurzem als ziemlich dämlich erachtet hatte.

Meine Hände schlossen sich um die ersten zwei Bücher die sie erreichen konnten und schossen vor. Ich bewarf Evanadora schon wieder mit Büchern und wieder verfehlte ich sie weit.

"Hatten wir das nicht schon?" Fragte sie. Ich wich noch einmal zurück, schnappte nach weiteren Büchern und verfehlte noch einmal. "Glaubst du wirklich, das hilft noch etwas? Früher oder später geht dir die Munition aus. Wahrscheinlich eher früher." Sie kam immer noch näher und ich fragte mich, warum sie der Sache nicht einfach ein Ende bereitete. In einem letzten Aufruhr der Verzweiflung warf ich noch mal nach Evanadora. Und alle guten Dinge sind tatsächlich drei: dieses Mal traf ich. Evanadora sank stöhnend in sich zusammen, fiel zu Boden - und verschwand. Und mit ihr verschwanden der Rauch und das Feuer, die Bücher flogen zurück an ihre Plätze und die Türen entriegelten sich. Ihr Zauber war aufgehoben.

Ich rappelte mich auf und humpelte zu Nik hinüber. Er atmete flach und war noch immer nicht bei Bewusstsein - aber er atmete. Vor Erleichterung fiel ich ihm um den Hals. Wie in einer schlechten Seifenoper musste er natürlich in genau diesem Moment aufwachen. Und den passenden Text hatte er auch parat.

"Riciel! Du verlierst deine Contenance!" Beschwerte er sich und ich wich zurück, als er zu Husten begann. "Was ist passiert?" Wollte er irgendwann wissen.

"Evanadora hat dich wie geplant entführt, ich bin ihr gefolgt. Sie hat dich bewusstlos in diese Bücherei gebracht, wo ich schon auf sie gewartet habe. Du hast den Kampf verschlafen." Erklärte ich.

"Wo ist sie?"

"Ich habe sie mit einem Buch am Kopf getroffen und sie ist..." Erst jetzt wurde mir klar, dass ich Evanadora wohl kaum mit einem Buch getötet hatte. Also sah ich mich um, wachsam, um zu sehen aus welcher Ecke sie hervorkriechen würde. Aber da war nichts, nur ein einzelnes Buch, das noch immer aufgeschlagen auf dem Boden lag. Als ich näher hinging, sah ich, dass es das Märchenbuch war. Ich hob es auf, blätterte bis zu Dornröschen und stellte fest, dass Evanadoras Name wieder auf den Seiten stand und die böse Fee wieder in den Zeichnungen vorkam. Durch puren Zufall hatte ich sie mit dem Märchenbuch erwischt, wobei sie natürlich sofort wieder darin verschwand. Erleichtert und überrascht über so viel Glück schloss ich die Augen. Es war vorbei.

"Sie ist zurück im Märchenbuch." Sagte ich, als ich spürte wie Nik hinter mich trat.

"Wirklich?"

"Ja. Es ist vorbei." Ich drehte mich um und fiel ihm um den Hals. Dieses Mal ließ er es geschehen, legte sogar selbst die Arme um mich. Wahrscheinlich war es wieder nur pures Glück, dass ich ihn dabei nicht mit dem Märchenbuch streifte, dass ich noch immer in der Hand hielt.

Ich spürte ein Kribbeln an meinem Rücken dort, wo er mich berührte, spürte die warme Spur, die sein Atem an meiner Wange zurück ließ. Ich versuchte gar nicht mehr zu leugnen, dass ich ihn süß fand. Stattdessen ließ ich vorsichtig die rechte Hand mit dem Buch sinken, ließ es zu Boden fallen und wollte ihn küssen.

Doch dieser dämliche Idiot wich zurück. Ich presste die Arme an meine Seite, drückte die Lippen fest aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Ich war mir sicher, dass ich puterrot anlief.

"Riciel, wie kannst du nur versuchen... Das würde deine Ehre beschmutzen!"

"Mein Name ist Ricki." Fauchte ich zurück, bückte mich und hob das Buch auf. Am liebsten hätte ich ihn einfach stehen lassen. Aber das brachte ich nicht ganz über mich. Stattdessen lief ich zur Tür, warf ihm ein bissiges "Komm" zu und stolzierte hinaus.

Epilog

Nik war ziemlich skeptisch, was die Fahrtüchtigkeit des Rollers anging, aber ich konnte ihn schließlich überzeugen hinter mir aufzusteigen. Ich war ziemlich überrascht, dass er nicht wieder absprang, als ich den Motor startete. Aber ich musste ihm vier mal sagen, dass er sich an mir festhalten sollte, damit er nicht herunter fiel. Es kränkte mich, dass er es am Ende nur mit Widerwillen tat.

Ich konnte eine ungeduldig wartende Serafina, die sich fast die Nase an der Fensterscheibe platt drückte, schon aus weiter Entfernung sehen. Kaum waren wir in die Auffahrt gefahren kam sie auch schon herausgerannt.

"Oh mein Gott! Ich bin so froh, dass ihr wieder da seid! Ist alles in Ordnung, ist jemand verletzt? Ist Evanadora..." Sie stockte.

"Wieder im Buch gefangen." Beendete ich ihren Satz, als ich vom Roller stieg. Nik sah aus, als wäre er hypnotisiert und würde gleich vom Roller fallen. Ich zog ihm leicht am Ärmel und er schaffte es abzusteigen.

"Wow. Das... Das ist großartig. Ich meine... Ich habe zwei Jahrhunderte lang versucht das zu erreichen und jetzt... Jetzt ist es geschafft." Sie lächelte und ich dachte schon, sie würde gleich in Tränen ausbrechen, aber sie beherrschte sich. Stattdessen bat sie uns herein.

Sie führte uns in die Küche und wies uns an, kurz zu warten. Dann verschwand sie hinter einer Tür und tauchte mit einer Flasche Sekt wieder auf.

"Das muss gefeiert werden." Meinte sie, lachte und reichte uns jeweils ein Glas. Sie schenkte sehr großzügig ein. Nik war fasziniert von der Kohlensäure in dem Getränk und beobachtete die aufsteigenden Bläschen so konzentriert, dass er ganz vergaß seine dämlichen Fragen zu stellen.

"Ich bin dir wirklich dankbar für das, was du getan hast." Sagte Serafina, "aber ich bin auch wirklich glücklich jetzt nach Hause zu können."

Ich antwortete nicht. Stattdessen fragte ich mich, wie ich die Welt wohl ab jetzt sehen würde, ab dem Zeitpunkt, an dem Nik wieder im Märchenbuch verschwunden wäre. Mein Verstand stellte fest, dass es ganz gut war, dass ich die Klamotten noch nicht bezahlt hatte. Aber etwas anderes in mir verkündete lauthals, dass es Lust auf Schokolade und tragische Liebesfilme haben würde. Ich kannte Nik noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden lang, aber ich wusste: er wird mir fehlen.

Um mich davon abzulenken wie dämlich und schmalzig das klang, trank ich mein Glas in einem Zug aus. Ich betrachtete die Wände, die orangefarbenen Schränke, stellte mir vor, was darin verstaut war, beobachtete den Sekundenzeiger der Uhr an der Wand und wartete geduldig ab, bis Serafina ihr Glas ebenfalls gelehrt hatte. Ganz kurz kam ein unangenehmes Schweigen auf.

"Lasst uns ins Wohnzimmer gehen." Wir folgten Serafina und Nik schwieg erstaunlicherweise noch immer.

"Hast du das Buch?" Serafina drehte sich vor dem Kamin zu mir um. Ich konnte Freude und Trauer in ihrem Blick sehen, aber ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, wie es war nach so langer Zeit nach Hause zurückkehren zu können. Vor allem in ein Zuhause, dass so anders war, als diese Welt. Ich holte das Buch aus meiner Tasche und hielt es mit beiden Händen fest.

"Gut." Serafina nickte, als wollte sie sich selbst Mut machen, "Sobald das Buch nicht mehr gebraucht wird, musst du es verbrennen, damit nicht noch mehr Märchenfiguren daraus hervorklettern können." Ich blickte in das prasselnde Feuer und nickte. Das machte Sinn. "Ich bin bereit." Serafina zögerte nur noch einen Bruchteil einer Sekunde, bevor sie die Hand auf das Buch legte und sofort verschwand.

Ich atmete tief durch und drehte mich zu Nik um. Eigentlich wollte ich nicht, dass er wieder ging, aber das hatte ich nicht zu entscheiden und das wusste ich. Nik sah das Buch lange an, bevor er den Mund aufmachte.

"Muss ich wirklich zurück?" Fragte er. Mein Herz machte einen Sprung, als die Hoffnung, er würde hier bleiben dummerweise in mir wuchs.

"Keine Ahnung. Aber ich muss das Buch auf jeden Fall verbrennen - ich habe echt keinen Bock, dass Evanadora wieder auftauchen könnte."

"Ich auch nicht." Gestand Nik, "Aber ich würde gerne hier bleiben. Diese Welt ist unglaublich und ich würde sie nur zu gerne sehen. Sie fasziniert mich - keine Kutschen, Strom, keine Anstandsdamen." Er sah mich an. "Ihre Menschen faszinieren mich." Er wurde rot und ich spürte, was er eigentlich hatte sagen wollen: du faszinierst mich. Schnell sah ich weg. Ich wollte nicht noch so eine peinliche Situation provozieren, wie die in der Bücherei.

"Wenn du bleiben willst... Dann musst du für immer bleiben." Nik sah mich an, dann das Buch und dann wieder mich.

"Dann bleibe ich für immer." Nik wandte sich ab. Ich betrachtete seine Silhouette und fragte mich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dann sah ich auf das Buch in meinen Händen und ich wusste, dass es die Entscheidung war, auf die ich gehofft hatte. Ich hielt die Luft an und tat das wohl Selbstsüchtigste, das je ein Mensch getan hat.

Ich warf das Buch ins Feuer.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.03.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine alte Theater-AG, dafür, dass ihr mich auf diese Idee gebracht habt. Auch wenn es uns nicht lange gab, es hat immer Spaß gemacht.

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