"Glaubst du an Zauberei?"
"Hier? In echt?"
"Ja."
"Warum?"
"Du beantwortest die Frage nicht, oder?" Ich lächelte. Nein, er würde nicht antworten. "Weil du damit anfangen solltest."
"Bist du eine Hexe? Mit Zauberstab und Besen und einem spitzen Hut? Verwandelst du mich jetzt in einen Frosch, weil ich so vorlaut bin?" Er lächelte und kam mir so nahe, dass uns nur noch wenige Zentimeter trennten. Ich reckte den Hals um ihm in die Augen sehen zu können.
"Warum gerade ein Frosch?"
"Weil Märchenprinzen immer in Frösche verwandelt werden." Er beugte den Kopf um mich zu küssen, doch ich wich zurück.
"Nathen, das ist kein Witz. Ich meine es ernst. Ich habe vielleicht keinen spitzen Hut oder einen Besen, aber... Ich bin trotzdem nicht normal."
"Natürlich nicht, du bist etwas besonderes." Ich lächelte, obwohl seine Komplimente mich von meinem eigentlichen Vorhaben ablenkten. Ich musste es ihm jetzt sagen. Er hatte nicht verdient, dass ich ihn weiter anlog.
"So meine ich das nicht. Ich weiß nicht, ob das, was ich mache wirklich Zauberei ist, aber es ist nicht normal. Es... Es ist eine Gabe. Eine sehr gefährliche und mächtige Gabe. Ich weiß nicht, wie ich es sonst bezeichnen könnte."
"Wovon sprichst du?" Aha, jetzt hörte er mir richtig zu.
"Ich kann Dinge verändern. Einfach indem ich mich darauf konzentriere. Ich kann es nicht erklären, ich kann dir nicht sagen warum ich das kann. Ich kann es einfach."
"Wie? Ich verstehe dich nicht. Ist alles in Ordnung? Gabriella?" Ich schluckte. Wenn ich es ihm nicht erklären kann, muss ich es ihm zeigen.
"Schau." Ich zeigte auf das Glas Wasser, das noch immer auf dem Tisch stand. Ich sah ihn kurz an, um mich zu vergewissern, dass er das Glas und nicht mich beobachtete. Dann konzentrierte ich mich. Es wäre leichter, wenn ich das Wasser berühren würde, aber ich wollte nur eine kleine Veränderung vornehmen, dass würde auch ohne Kontakt funktionieren. Und vor unseren Augen wurde das Wasser rot. Am Anfang war die Farbe kaum wahrzunehmen, aber am Schluss war das Wasser rot wie Wein. Vielleicht hätte ich es in Wein verwandeln sollen. Aber dann hätte ich es berühren müssen, weil ich die chemische Zusammensetzung verändert hätte...
"Wow. Ich... Hast du das gemacht?"
"Ja." Ich schluckte und wandte mich wieder ihm zu. Hoffentlich hatte er keine Angst vor mir. Aber er sah immer noch auf das Wasser.
"Wie?"
"Ich weiß es nicht."
"Hast... Kannst du das mit allem machen? Alles zu allem verändern?"
"Ja." Endlich sah er mich wieder an.
"Seit wann kannst du das?" Er schluckte. Ich versuchte die Angst in seinen Augen zu finden, die ich erwartet hatte. Aber alles was ich fand waren Distanz und Verunsicherung.
"Keine Ahnung." Ich zuckte mit den Schultern. "Vielleicht schon immer. Ich kann mich nicht erinnern, es jemals nicht gekonnt zu haben."
"Ich... Hast du...". Er biss sich auf die Lippe. Dann schloss er die Augen. Was würde er sagen, bei dem er mich noch nicht einmal ansehen konnte? "Hast du meine Gedanken manipuliert, meine Gefühle verändert?" Wie meinte er das? Glaubte er etwa ich hätte...
"Nein! Nein, natürlich nicht. Soetwas würde ich nie tun und... Ich kann es auch gar nicht. Gedanken und Gefühle sind nicht greifbar, nicht materiell. Das heißt sie sind außerhalb meiner Reichweite. Unantastbar."
"Das heißt es ist echt? Alles was ich empfinde... Für dich empfinde, ist echt?"
"Ja." Ich wollte noch mehr sagen, aber sein Blick wurde anders. Er leuchtete wieder, seine braunen Augen sahen mich wieder an wie vorher, intensiv, verliebt. Ich musste mich darauf konzentrieren einzuatmen.
"Das hier ist echt?" Er hob die Hand und strich mir vorsichtig die Haare zurück, legte die Hand in meinen Nacken, zog mich zu sich heran. Dann küsste er mich, ganz vorsichtig, als hätte er Angst ich könnte ihn verletzen. Aber ich reagierte natürlich wie immer. Schloss die Augen, legte die Arme um ihn, presste meinen Körper an seinen, öffnete die Lippen. Ich konnte gar nicht anders. Wenn er mich berührte, setzte mein Kopf einfach aus, mein Herz stockte und stolperte und mein Körper übernahm die Führung. So war es einfach, ich konnte nichts dafür. Irgendwann löste er sich von mir, und das wäre noch viel schlimmer, wenn er nicht genauso nach Luft schnappen würde wie ich.
"Dann ändert das nichts." Und dann lächelte er.
"Du akzeptierst das einfach so?", fragte ich irritiert nach. Natürlich hatte ich auf diese Reaktion gehofft, aber das er keine Angst vor mir hatte, dass er nicht einmal hinterfragte was ich ihm gerade erzählt und gezeigt hatte, sondern dass er es einfach so hinnahm - das hatte ich wirklich nicht erwartet.
"Ich will dich nicht verlieren." Er zuckte mit den Schultern, was gerade irgendwie fehl am Platz schien. "Wollten wir nicht ins Kino?"
"Doch." Ich lächelte zurück, schnappte mir meine Sachen und wir gingen.
Mir war klar, dass ich ihm irgendwann auch den Rest der Geschichte erzählen müsste, aber nicht jetzt. Noch nicht. Dazu war dieser Moment viel zu kostbar.
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"Eine solche Gabe muss man nutzen. Na los Gabriella, mach deinen Papa stolz. Du musst das Papier hier nur in hundert Dollar verwandeln."
"Das ist nicht richtig." Ich schüttelte den Kopf. Jetzt wurde mir klar, dass ich träumte, denn in Wirklichkeit hatte ich nie widersprochen. Niemlas.
"Mach es für deinen Papa. Nur noch dieses eine Mal." Ich schüttelte den Kopf, versuchte mich zu wehren, als mein Vater mich zwang das Papier zu berühren.
Die Szene wechselte.
"Kannst du das Kupfer in dem Kasten fühlen?" Fragte mein Papa. Ja, ich konnte es in meinen Fingerspitzen prickeln fühlen wenn ich danach suchte. Widerwillig nickte ich. "Gut, dann verwandle es in Plastik. Oder in Gummi. So wie die Drähte die ich dir gestern gegeben habe. Du hast hübsche Schleifen daraus gemacht." Und ich tat was er sagte. Ich habe immer getan, was mein Papa gewollt hat.
Ich fuhr in meinem Bett auf. Es war nicht gut, dass ich immernoch davon träumte. Es war jetzt acht Jahre her, seit mein Vater mich gezwungen hatte, alle Sicherheitsvorkehrungen außer Kraft zu setzen um die Bank auszurauben. Immer wieder hatte ich Papier für ihn in Geld verwandelt. Immer und immer wieder. Erst mit dreizehn hatte ich mich endlich getraut davon zu laufen. Das war jetzt drei Jahre her, aber ich hatte immernoch Angst, dass er mich fand. Ich schaltete das Licht an - mein Wecker zeigte 4:21.
Mir war klar dass ich nicht mehr schlafen konnte. Automatisch griff ich zu meinem Handy, um Nathen zu schreiben. Aber ich hielt inne. Whatsapp zeigte mir an, dass er zuletzt um 21:25 Uhr online war. Er schlief bestimmt noch. Ich legte mein Handy zurück. Was konnte man um halb fünf machen, ohne das ganze Haus oder zumindest den Flur, in dem man schlief, zu wecken? Ich schielte zu Shila hinüber, aber sie schlief tief und fest wie immer. Vielleicht könnte ich duschen. Aber wenn ich erwischt würde, gab das Ärger... Egal. Ich musste mich ablenken.
Also stand ich auf, schlich zum Schrank, suchte mein Handtuch, und stahl mich aus dem Zimmer.
Kurz darauf stand ich unter dem angenehm warmen Wasserstrahl ganz hinten im Badezimmer. Es tat so gut. Als würde ich die bösen Erinnerungen weg waschen.
Aber ich konnte nicht ewig hier stehen. Irgendwann stellte ich das Wasser ab, und stieg aus der Dusche. Der schwierige Teil der ganzen Aktion kam erst noch. Um halb fünf war noch keine Aufseherin wach, aber um fünf... Miss Carlson brach vielleicht gerade zu ihrem Morgenspaziergang auf, sie könnte mich sehen...
Aber ich kam unbemerkt ins Zimmer zurück. So wie eigentlich immer. Shila schlief auch noch - ihren Schlaf hätte ich gerne.
Ich zog mir die Decke bis zum Hals um die Wärme der Dusche solange wie möglich zu bewahren. Dann sah ich wieder auf mein Handy. Nathen hatte vor zwei Minuten geschrieben.
'Bist du wach?'
'Ja', antwortete ich und fügte einen lächelnden Smiley hinzu.
'Dann konntest du auch nicht schlafen?'
'Nein.'
'Das liegt bestimmt am Vollmond.' Ich schluckte. Ich hatte ihm immer noch nicht von meinen Albträumen und von deren Ursache erzählt. Was sollte ich antworten? Ich wollte ihn nicht anlügen. Nicht mehr.
'Vielleicht', tippte ich. Kurz zögerte ich und überlegte, ob ich es wirklich absenden sollte, aber ich entschied, dass mir nichts besseres einfallen würde und klickte auf Senden.
'Wie lange hast du heute Unterricht?'
'Nur bis um 14:00 Uhr.'
'Lust auf Eis?'
'Immer.' Keine Ahnung wie er das anstellte, aber Nathen brachte mich immer zum Lächeln.
'Dann hole ich dich ab. Ok?'
'Klar! Ich freu mich.' Ich schickte ein Herz hinterher und bekam auch sofort eins zurück. Ich legte das Handy zur Seite. Vielleicht konnte ich doch noch einmal einschlafen. Nach fünf Minuten brummte mein Handy wieder.
'Bist du noch da?'
'Glaubst du ich bin ausgeflogen?'
'Vielleicht. Oder du bist eingeschlafen.'
'Nein, noch nicht.'
'Ich wünschte ich wäre jetzt bei dir.'
'Ja, ich auch.' Ich auch.
Ich hätte nie gedacht, dass eine andere Person so gemütlich sein könnte. Aber mein Kopf lag so gut auf seiner Schulter. Meine Finger passten genau zwischen seine. Es war perfekt. Er war perfekt.
Es klingelte, als ich schon beinahe eingeschlafen war. Ich sah auf die Uhr - halb neun. In anderthalb Stunden musste ich zurück im Internat sein.
"Erwartest du Besuch?", fragte ich.
"Niemanden außer dich." Ich lächelte. Nathen machte Anstalten aufzustehen.
"Derjenige geht doch auch wieder. Bleib hier", bat ich ihn. Doch er küsste mich nur schnell aufs Haar, sagte "Es geht bestimmt ganz schnell" und war fort. Das war der Nachteil daran, dass Nathen schon eine eigene Wohnung hatte.
Ohne ihn an meiner Seite war meine Position ziemlich umgemütlich, also setzte ich mich ein wenig aufrechter hin. Bei der Gelegenheit klopfte ich auch die Kissen auf und richtete die Decke. Ich hörte Nathen an der Tür leise mit jemandem sprechen, verstand aber leider nichts. Er kam bestimmt gleich zurück.
Das kam er auch, aber er war leider nicht allein. Ihm folgte ein Mann in dunklem Anzug. In der Hand hatte er eine Marke, wie von der Polizei. Ganz kurz dachte ich, mein Vater hätte ihn geschickt um mich zu finden. Mein Herz schlug schneller, aber dann wurde mir klar, dass mein Vater niemals zur Polizei gehen könnte - die würde ihn sofort festnehmen.
"Dieser Herr hier möchte gerne mit dir reden", sagte Nathen. Ich sah ihn fragend an, aber sein Blick blieb mir verschlossen. Er war jedoch definitiv nicht glücklich darüber, dass der Mann hier war. Er kam zu mir, setzte sich neben mich und nahm besitzergreifend meine Hand. Es war ein deutliches Zeichen an den Beamten, dass er mich nicht allein lassen würde. Ich war froh, dass er hier war.
"Guten Abend. Mein Name ist Snight. Ich komme vom IMS. Ich würde gerne mit Gabriella Eileen Leek sprechen. Sind Sie das?" erklärte er. IMS hatte ich ja noch nie gehört.
"Ja." Ich schluckte und wiederholte lauter: "Ja."
"Können wir vielleicht unter vier Augen miteinander sprechen?" Nathen verkrampfte. Er wollte mich nicht allein lassen.
Ich schüttelte den Kopf. "Ich habe keine Geheimnisse vor Nathen." Sofort packte mich das schlechte Gewissen, weil das nicht hundertprozent stimmte. Aber er würde doch wohl nicht mit mir über meinen Vater reden wollen, oder?
"Sind sie sicher? Gar keine Geheimnisse?" Ich schluckte und wich dem stechenden Blick des Beamten aus.
"Kommen sie zur Sache", antwortete Nathen an meiner Stelle.
"Es geht um ihre besondere... Fähigkeit." Was? Wie? Ich meine...
"Was meinen sie?", fragte Nathen. Er hatte sich viel besser im Griff als ich. Ich brachte keinen Ton heraus.
"Das weiß ihre Freundin bestimmt." Er sprach das Wort Freundin aus wie ein Schimpfwort.
"Erklären sie sich." Jetzt hatte Nathen einen Ton angeschlagen, der keinen Widerspruch duldete. Selbst Mr Snight erkannte das.
"Miss Leek hat eine außergewöhnliche Gabe. Sie kann Dinge verändern, allein durch die Kraft ihrer Gedanken. Wussten Sie das?"
"Die Frage lautet, woher Sie davon wissen", antwortete Nathen kalt. Es war klar, dass er beweisen wollte, dass er es sehr wohl wusste.
"Ich komme vom IMS - der Institution of Magical Security. Ich weiß über jede magische Gabe Bescheid." Eine Behörde für Magie? Überhaupt - Magie? Was ich konnte war doch keine wirkliche Magie, es war nur... Konzentration.
"Was wollen Sie?", fragte Nathen. Hoffentlich bekam er endlich eine Antwort.
"Wir möchten Miss Leek ausbilden. Ihre Gabe kann uns sehr nützlich werden, vor allem wenn sie darin geschult wird sie zu verwenden." Nützlich?
"Sie möchten, dass sie ihrer Behörde beitritt?"
"Nein, Sie verstehen mich falsch."
"Dann erklären Sie endlich etwas, verdammt noch mal!" Ich glaube, Nathen erschrak selbst, als er merkte wie laut er geworden war.
Anstatt zu einer Antwort anzusetzen, setzte sich der Beamte uneingeladen auf einen Stuhl.
"Würden Sie mir vielleicht ein Glas Wasser bringen?", fragte er. Geht's noch? Der Kerl tat ja fast so, als wäre er hier zu Hause. Zu meiner Überraschung stand Nathen tatsächlich auf und lief in die Küche. Es war als hätten die beiden ein Kompromiss geschlossen, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte. Ich schwieg, bis Nathen wiederkam. Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden.
"Was wollen Sie von mir?"
"Nanana. Nicht so hastig. Um das zu erklären muss ich sehr weit ausholen. Vor allem, da Sie ja scheinbar nicht einmal selbst an die Existenz von Magie glauben." Mr Snight nahm das Glas entgegen, das Nathen ihm reichte.
"Dann fangen Sie an. Wir hören zu." Nathen nahm wieder neben mir Platz.
"Magie existiert auf dieser Welt in vielen verschiedenen Formen. Und weit mehr Menschen als Sie vielleicht glauben, sind dazu in der Lage Magie zu nutzen. Das heißt allerdings nicht, dass sie es auch tun. Schätzungsweise jeder fünfzehnte Bürger, trägt die Magie in sich. Aber nur jeder zehnte davon weiß davon. Sie fragen sich jetzt mit Sicherheit, was das mit Ihnen zu tun hat. Eine ganze Menge muss ich sagen. Sie gehören zu dem kleinen Teil der Bevölkerung, der Magie zu nutzen weiß. Und noch dazu haben Sie eine sehr mächtige Gabe. Daher hält das IMS es für wichtig Sie zu schützen. Vor Missbrauch aber auch vor tätlichen Angriffen, die Neider womöglich auf Sie ausüben könnten. Das steht außer Frage. Doch wir würden Sie auch gerne ausbilden. Das heißt, Ihnen zeigen wie Sie ihre Gabe noch effektiver einsetzen können. Sie sind natürlich zu nichts verpflichtet und würden diese Schulung kostenlos empfangen. Sie können das Programm jederzeit abbrechen. Es liegt allein in Ihrer Hand." Erklärte der Beamte.
"Und was haben Sie davon?", fragte ich. Nichts bekam man umsonst oder ohne Gegenleistung. Und sie wollten mich schützen? Wo waren sie, als mein Vater meine Gabe missbraucht hat? Als er mich täglich dazu gezwungen hat, das Gesetz zu brechen? Als er mich so lange Papier in Geldscheine hat verändern lassen, bis ich vor Erschöpfung zusammengebrochen bin?
"Wir erwarten nichts von Ihnen. Wir würden uns nur Ihre zukünftige Unterstützung erhoffen." Aha.
"Wie soll diese Unterstützung aussehen?", fragte Nathen. Es schien mir fast, als hätte er das alles besser verstanden als ich.
"Das können wir jetzt noch nicht sagen. Aber es werden Momente, Stunden und Tage kommen, in denen wir jede magische Hilfe brauchen können."
"Das klingt für mich sehr nach Verpflichtung", erklärte ich. Ich würde nichts von meinem Leben aufgeben. Rein gar nichts. Und wenn sie mir noch so viel zeigen würden, es wäre egal. Ich wollte gar nich wissen, wie ich 'meine Gabe noch effektiver einsetzen' konnte. Nie wieder würde ich sie für irgendetwas verwenden. Ich besaß sie, aber ich versuchte, so gut es ging ohne sie zu leben. Und ich hatte mir vorgenommen, dass das auch so bleiben würde.
"Vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal." Mr Snight erhob sich. Er stellte sein leeres Glas vor sich auf den Tisch und kramte dann in seiner Tasche. Er zog ein Bündel Visitenkarten hervor und löste eine heraus. Er hielt sie mir hin, aber als ich keine Anstalten machte, sie an mich zu nehmen, gab er sie Nathen. "Melden Sie sich jederzeit." Es wurde deutlich, dass sein Besuch jetzt beendet war. Nathen erhob sich und brachte ihn zur Tür.
Ich kauerte mich auf dem Sofa zusammen und versuchte diese Begegnung zu vergessen. Aber es war, als säße Mr Snight mir noch immer gegenüber. Sein Gesicht schwebte vor meinem inneren Auge hin und her. Und sein stechender Blick durchbohrte mich, als wüsste er genau, was ich alles getan hatte.
"Was denkst du darüber?", fragte Nathen, als er wieder vor mir stand. Er zeigte mir die Visitenkarte.
Jonathan Snight
Special Agent IMS
Büro: Katherine Kahn
New York
Tel: 002541397731
"Ich... Ich will das nicht. Nicht..." Ich wusste nicht warum, aber plötzlich wurde alles schwarz. Und ich fiel.
Ich kam zu spät zurück ins Internat. Es war egal, weil es meine erste Verwarnung war. Es war egal, weil ein Eintrag wegen Verspätung nichts war. Nichts. Nicht. Nicht noch einmal. Ich schloss die Augen und versuchte so den Schwindel zu vertreiben, der mich seit dem Besuch von Mr Snight immer wieder befiel. Waren diese Treppen schon immer so steil gewesen?
Endlich. Mein Zimmer. Nur noch die Tür aufsperren und...
"Und? Habt ihr es getan?" Shila. Warum war sie noch wach? Sie saß entgegen ihrer Gewohnheit aufrecht im Bett und sah mich erwartungsvoll an.
"Was?", fragte ich perplex.
"Naja, du weißt schon... Es." Als ich immer noch nichts verstand, fügte sie verunsichert hinzu: "Du warst doch bei Nathen, oder?"
"Ja, war ich." Ich schob den Riegel wieder vor die Tür und begann damit mich bettfertig zu machen.
"Aber ihr habt nicht... Oh. Ich dachte nur, weil du zu spät bist und sonst bist du nie zu spät, deshalb..." Sie schluckte, als sie begriff, dass ich noch immer keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. "Naja. Jetzt bist du ja da. Gute Nacht." Sie legte sich hin und noch bevor ich das Licht ausgeschaltet hatte hörte ich sie leise schnarchen.
Es war egal, was sie versucht hatte zu sagen. Ich hatte es Nathen erzählt. Hatte ihm endlich alles erzählt. Von meinem Vater, von dem Papier, von der Bank, davon, wie ich weggelaufen bin. Er hat mich nicht weggeschickt. Er hat nicht die Polizei gerufen. Er hat mich einfach in den Arm genommen. Hat nichts gesagt - aber das musste er nicht. Er war da, so wie er immer für mich da war. Ich brauchte ihn so sehr. Vor allem jetzt, wo das alles noch mehr wieder hochkam, wegen diesem Mr Snight.
Ich würde nicht lernen, meine Gabe zu nutzen. Ich wollte sie vergessen. Das alles vergessen. Unterstützung. Ich würde meine Gabe nicht nutzen. Nie mehr. Nie wieder.
Nathen verstand das. Zum Glück. Aber ich wusste auch, dass er die Visitenkarte behalten hatte. Es war wirklich, als hätte er einen geheimen Pakt mit Mr Snight geschlossen. Er respektierte ihn, wohingegen ich Angst vor ihm hatte. Aber ich würde ihn ja nicht wieder sehen, also konnte ich ihn vergessen. Hoffentlich besser, als ich meinen Vater vergessen konnte.
Natürlich konnte ich nach so einem Abend nicht einschlafen. Es war wie ein Fluch. Ich wollte nicht darüber nachdenken, aber ich konnte Mr Snight, das IMS und sein Angebot nicht vergessen. Es hatte sich in meinem Kopf festgesetzt und der Gedanke daran kehrte immer wieder zurück wie ein Boomerang. Ich schaffte es einfach nicht, mich darunter hinwegzuducken. Immer und immer wieder traf er mich.
Wenn ich es lernen würde... Vielleicht würde soetwas dann nie wieder geschehen. Vielleicht war es etwas Gutes. Vielleicht könnte ich etwas ändern. Nicht verändern aber ändern. Etwas bewegen. In der Welt. In den Familien. Für die Kinder, die unter etwas leiden müssen. Für die Menschen. Ich könnte etwas Gutes tun. Endlich etwas tun, auf das meine Mutter stolz wäre. Das war alles was ich wollte. Dass sie sah, wie ich wirklich war und stolz darauf war.
Was wäre wenn ich das Angebot annahm? Was wäre schon dabei? Mr Snight hat gesagt, ich müsste nichts zahlen, mich für nichts revanchieren. Es war alles nur freiwillig. Ich könnte es versuchen. Vielleicht könnte ich es dann alles besser verstehen.
Als mein Wecker klingelte, fiel mir erst auf, dass ich die ganze Nacht gegrübelt hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Aber zu verstehen... Wissen verlieh Macht. Wenn ich dieses Wissen besaß würde nie wieder jemand diese Macht über mich haben. Ja, ich wäre endlich frei. Frei.
Frei.
Frei von allem. Vielleicht von allen bösen Erinnerungen, von diesem Zwang. Von der Angst.
Ich musste es versuchen.
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"Ich freue mich sehr, dass Sie ihre Meinung geändert haben." Fast hätte ich es Mr Snight geglaubt, aber nur wenn er gelächelt hätte.
"Können wir anfangen?" Ich war definitiv schlecht gelaunt. Das war vermutlich meine Art, meine Angst zu verstecken. Seit ich weggelaufen war, hatte ich meine Gabe so selten wie möglich benutzt. Am Anfang vor allem um Papiere zu fälschen, damit die Schule mich aufnahm. Später dann nur noch, weil ich nicht mehr sicher war, ob ich es überhaupt noch konnte. Es war mir immer komisch vorgekommen, das auszuprobieren, aber ich war stets zu neugierig gewesen, als dass meine Angst gesiegt hätte. Und dann schließlich, als ich es Nathen gezeigt hatte.
Es war mal wieder, als würde er meine Gedanken lesen, denn er drückte tröstend meine Hand.
"Sind Sie sicher, dass Mr Wright bei ihrem Unterricht anwesend sein soll?" Es war das sechste Mal, dass Mr Snight diese Frage stellte. Ja, ich wollte Nathen dabei haben. Ich brauchte ihn.
"Ja."
"Dann folgen Sie mir. Ich bringe Sie zu ihrer Lehrerin." Ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als ich erfuhr, dass nicht der kalte Mr Snight mich unterrichten würde. Jetzt war ich sehr gespannt, ob die Frauen des IMS auch graue Anzüge und Militärhaarschnitte trugen.
Mr Snight führte uns durch das riesige Gebäude immer wieder Treppen hoch und wieder runter. Durch gefühlt hundert tausend Gänge und an einer Millionen Türen vorbei. Irgendwann blieb er jedoch tatsächlich stehen.
"In drei Stunden kommt jemand und holt Sie wieder hier ab." Und damit drehte er sich um und ging den ganzen Weg wieder zurück.
"Na dann mal los", meinte ich skeptisch.
"Du schaffst das schon", antwortete Nathen und klopfte.
"Herein!", klang es aus dem Zimmer heraus und wir gingen hinein.
Ich blieb erst einmal geschockt stehen. Dieses Zimmer war ganz anders als ich erwartet hatte. Die Fenster waren weit geöffnet, die Fensterrahmen bunt angemalt. Der Schreibtisch war mit Akten beladen, aber auch bunt angemalt. Der Ventilator lief und brachte ein Windspiel zum Klingen. Die Aktenschränke waren geöffnet und es standen Kerzen und Räucherstäbchen darin. Auf dem Boden lagen Decken, Felle und Kissen bereit. Das ganze war so schrill und bunt, dass ich das Gefühl hatte in den Siebzigern gelandet zu sein.
Und die Frau, die mitten im Zimmer im Schneidersitz auf dem Boden saß, machte den Flower Power Effekt perfekt: Sie trug weite Schlaghosen, eine bunte Tunika mit undefinierbarem Muster, eine lange Kette und ein Haarband in der blond gefärbten Dauerwelle. Sie lächelte wie die Sonne - breit, hell und strahlend.
"Hallo. Ich bin die Sam, deine Tutorin. Die anderen hier nennen mich immer Lehrerin, aber das würde dann ja deine Freiheit einschränken." Sam machte eine Grimasse, als wären Lehrer das schlimmste der Welt - womit sie nicht so falsch lag, "Ihr seid bestimmt die Gabriella und der Nathen. Setzt euch. Wollt ihr etwas zu trinken?" Wir schüttelten etwas geflasht den Kopf und setzten uns. "Hmm, schade eigentlich. Ich habe gerade so guten Früchtetee gemacht..." Es würde mich nicht wundern, wenn diese Frau Veganerin und Mitbegründerin von Greenpeace und der WWF war.
"Also, wollt ihr dann gleich anfangen, oder sollen wir uns erst ein bisschen kennenlernen?"
Ich räusperte mich um zu antworten: "Was werde ich denn lernen?"
"Alles mögliche. Heute würden wir erst einmal mit dem grundlegenden Sachwissen beginnen. Geschichte, Geografie und Biologie, wahrscheinlich auch ein wenig Ökonomie. In Ordnung?"
"Ich dachte, ich lerne hier meine Gabe einzusetzen?" Das klang ja wie der Stundenplan meiner Albträume!
"Natürlich wirst du das, Schätzchen! Aber es wird doch langsam auch Zeit, dass ihr mehr über die euch umgebende, magische Welt erfahrt. Wo fange ich am besten an..." Sam stand auf und zog ein Buch aus dem Regal. Bei der Gelegenheit drückte sie auch jedem von uns eine Teetasse in die Hand.
Das Buch, das die Frau aus dem Regal gezogen hatte war ein Bilderbuch. Sie öffnete die erste Seite und begann zu erzählen...
"Die Magie entstand vor langer Zeit, lange bevor es die ersten Menschen gab. Sie wurde geachtet und geschätzt, als die ersten Menschen dann schließlich auftauchten. Mann nannte die Magier und Hexen der damaligen Zeit Schamanen. Sie sollten Krankheiten heilen und die Zukunft vorraus sagen. Sie stellten lange eine Verbindung zu den Göttern her. Doch irgendwann begannen sich die Menschen vor der Magie zu fürchten. Sie unterstellten Magiern, mit dem Teufel in Kontakt zu stehen und nur Böses zu wollen. Die Zeit der Hexenverfolgungen begann. Magier und Hexen mussten sich verstecken, doch viele wurden dennoch auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Aber auch viele Unschuldige mussten leiden. Um das zu beenden, versteckten Hexen und Magier ihre Kräfte. Seitdem gibt es nur wenige Menschen, die von der Magie unter ihnen wissen. So wie Nathen hier." Sam lächelte ihn an. Die ganze Zeit über hatte sie die Seiten in dem Buch umgeblättert, sodass zu jedem Teil der Geschichte ein passendes Bild erschien. Sie setzte von neuem an und blätterte weiter.
"Aber die Magier und Hexen waren immer auch Krieger. Sie mussten alles bekämpfen, was die Magie an Bösem hervorgebracht hatte. Oftmals kämpften sie untereinander, was durchaus auch als Kriege in normalen Büchern auftauchte. Heutzutage kämpfen wir aber fast nur noch gegen Nachtgeister." Sie blätterte um und zeigte uns ein Bild von einem großen, dürren Mann in schwarzer Kutte, mit weißer Haut, schwarzen langen Haaren, die seinen Kopf wie eine Kapuze umschlungen und rot leuchtenden Augen. Womöglich war es aber auch nur der Wiederschein der Flammen, die um ihn herum empor züngelten. Er blickte dem Betrachter direkt in die Augen und mir lief ein Schauer über den Rücken. "Die ersten Nachtgeister wurden in der Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges von sich bekämpfenden Magiern geschaffen, damit sie, anstatt der Magier selbst, in den Kampf zogen. Doch schon bald verloren Hexen und Magier die Kontrolle über ihre Geister, die sich zusammenschlossen und sich gegen ihre Meister stellten. Hexen und Magier haben größtenteils daraus gelernt und seit dieser Zeit wurden nur noch wenige Nachtgeister von ihnen geschaffen. Doch Nachtgeister besitzen eine eigene Intelligenz und sie haben gelernt, selbst neue Krieger zu schaffen. Die wichtigste Aufgabe des IMS besteht darin, diese Nachtgeister zu bekämpfen und Jungmagiern oder Junghexen, wie dir, zu zeigen, wie sie sich gegen Nachtgeister wehren können, die noch immer Jagd auf sie machen." Sam schloss das Buch. "Das wäre unsere erste einführende Geschichtslektion. Noch Fragen?"
"Können diese Geister gefährlich für Gabriella werden?", fragte Nathen.
"Ja, deswegen ist es ja so wichtig, dass sie lernt besser mit ihrer Gabe umzugehen." Antwortete Sam. Aha, bei ihr klang das schon viel eindringlicher als bei Mr Snight.
"Warum sind sie gefährlich?", fragte Nathen weiter.
"Wie gesagt, sie machen Jagd auf Hexen und Magier. Um sich dafür zu rächen, dass sie einst unter Knechtschaft standen." Nathen runzelte die Stirn, als ob das für ihn keinen Sinn ergab, aber ich fand es recht logisch: Angriff ist die beste Verteidigung.
"Ok. Dann können wir jetzt bestimmt weitermachen, oder?", fragte ich. Dann nippte ich schnell an meinem Tee. Er war gar nicht mal schlecht, mittlerweile allerdings kalt.
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"Also dann. Ich zeige euch jetzt eine Weltkarte, auf der ihr die Verteilung der Magie sehen könnt. Die ändert sich ständig, aber so kann das IMS leicht überwachen, ob irgendwo ungewöhnlich viel konzentrierte Magie auftritt." Sam holte eine kleine, unscheinbare Dose aus dem Regal. Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, öffnete sie sie. Ein Globus erschien über der Dose, wie eine Projektion - nur in 3D. "Es gibt mehrere hundert von diesen Dosen. Vor etwa fünfzig Jahren wurden sie von einem Magier geschaffen, der in der Lage war Gedanken und Erinnerungen in Dosen einzuschließen. Kommt ruhig näher und seht es euch an." Nathen und ich rückten näher heran. Der Globus drehte sich langsam aber stetig und nach ein paar Minuten hatten wir die ganze Welt umrundet. "Dort wo mehr Menschen leben tritt in der Regel mehr Magie auf. Wie in Amerika und Europa im Vergleich zu Asien. Die einzige Ausnahme bildet China: dort geht immer mehr und mehr Magie verloren. Die strikten Regeln, der blinde Gehorsam, die ganze Diktatur blockiert sie. In Indien hingegen kann sich die Magie frei entfalten. Viele unserer besten Magier kommen aus Indien." Sam wartete ein paar Sekunden, dann zoomte sie mit zwei Fingerspitzen einen Ort auf dem Globus heran. "Seht ihr? Hier ist New York. Es scheint, als würde hier viel Magie auftreten, aber die meisten Gaben hier sind so schwach, dass die Menschen noch nicht einmal wissen, dass sie sie besitzen. Die Karte sieht sie trotzdem." Sam zoomte noch näher heran, in einen der Stadtteile New Yorks. "Und hier sind wir. Dieser leuchtend rote Punkt ist das Hauptquartier des IMS. Sehr viel New Yorker Magie ist hier konzentriert."
"Hat jeder, der hier arbeitet, eine Gabe?", fragte Nathen.
"Nein, aber die meisten schon. Vielmals auch kleinere Gaben wie meine, ich kann in die Zukunft sehen. Leider nicht weiter als fünf Minuten." Sam machte ein bekümmertes Gesicht, sprach dann aber weiter als wäre nichts gewesen, "Es gibt aber auch Mitarbeiter, die selbst keine Magie besitzen. So wie Mr Snight. Seine Frau war eine ziemlich starke Hexe und als sie von Nachtgeistern getötet wurde, trat Mr Snight dem IMS bei. Wegen dem Tod seiner Frau ist er so... Distanziert." Oh. Plötzlich wirkte das Verhalten von Mr Snight auf mich gar nicht mehr so unhöflich. Der arme Mann.
"Kommt, ich will euch etwas zeigen." Sagte Sam und stand schon wieder auf. Sie klappte die Dose zu, stellte sie zurück an ihren Platz und wartete an der Tür auf uns. Uns blieb nichts anderes mehr übrig als ihr zu folgen.
Sie führte uns in die Richtung, aus der ich und Nathen gekommen waren. Nur durch andere Gänge. Schon nach wenigen Minuten standen wir vor einer Tür, an der wir mit Mr Snight mit Sicherheit auch vorbei gekommen waren, aber er hatte bestimmt einen Umweg von hier zu Sam genommen.
"Das hier ist sozusagen das Gehirn des IMS Gebäudes. Hier wird überwacht, was im Gebäude so passiert - aber wirklich nur überwacht." Sam öffnete die Tür und wir gingen hinein. Wir betraten einen riesen großen Raum mit dutzend Tischreihen à keine-Ahnung-wie-viele Computer. Vor jedem Arbeitsplatz saß konzentriert ein Arbeiter und starrte gespannt auf den Bildschirm. An einem Ende des langen Saals war eine große Leinwand angebracht. Auf ihr war ein 3D-Bild des IMS Gebäudes zu sehen, auf dem ebenfalls lauter rote Punkte hin und her liefen. Wir gingen näher zu dem Bild hin. "Hier könnt ihr sehen, wie die Magie innerhalb dieses Gebäudes verteilt ist. Alissa, zeig mal, wo wir stehen." Sam hatte eine Frau angesprochen, die an dem Arbeitsplatz saß, der uns am nächsten war. Das Bild drehte sich und zeigte diesen Raum. Jetzt war jeder hier im Raum als roter Punkt dargestellt - naja, nicht ganz jeder: Nathen und zwei, drei andere fehlten, da sie keine magische Gabe hatten. "Hier, Gabriella. Das bist du. Deine Gabe ist wirklich sehr, sehr mächtig. So mächtig, dass sie alle hier im Raum versammelten überstrahlt. Und du bist noch nicht einmal unterrichtet worden." Sam zeigt auf den größten Punkt von allen auf dem Bildschirm. Das sollte ich sein?
"Das verstehe ich nicht." Gab Nathen zu.
"Hmm. Stell dir einen Rohdiamanten vor. Er ist schon viel wert, aber so richtig schön wird er erst, wenn er geschliffen wird. So ist das mit der Magie. Sie ist so schon sehr mächtig, aber erst wenn der Träger weiß, wie er sie voll ausnutzen kann, kann sie sich richtig entfalten. Jetzt verstanden?" Nathen nickte benommen. Wir verließen den Raum und gingen zurück in Sams Zimmer. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich so mächtig sein sollte. So beeindruckend war meine Gabe doch gar nicht, oder? Es war doch nur Konzentration.
"Heute fangen wir mit deiner praktischen Ausbildung an", sagte Sam. Ich nickte, weil ich mit ziemlicher Sicherheit kein Wort herausbringen würde. Nathen drückte meine Hand und ich war mal wieder froh, ihn dabei zu haben. "Ich muss erst einmal austesten, was du alles kannst, bevor wir daran arbeiten können es zu verbessern." Sam breitete ein paar Sachen vor mir aus: eine Uhr, ein leeres Blatt Papier, Farbe, eine Kerze und einen Würfel. "Fangen wir mit der Farbe an. Kannst du das blau in rot verwandeln?" Ich sah auf das kleine Töpfchen. Leuchtend blau blickte es zurück, doch ich stellte mir vor, wie es in rot aussähe und es änderte vor unseren Augen die Farbe. "Sehr gut. Jetzt die Uhr. Kannst du die Zeiger verstellen?"
"Nein," ich schüttelte den Kopf, "dabei bewege ich etwas. Ich kann aber nur verändern, was schon da ist." Ich hatte oft genug versucht eine Uhr schneller laufen zu lassen - vor allem im Unterricht.
"Hmm, ok... Dann versuchen wir das später noch einmal." Ich wollte widersprechen, aber Sam ließ mir gar keine Chance dazu, "Machen wir mit der Kerze weiter." Ich wollte schon wieder widersprechen, aber eigentlich musste ich ja nur das Wachs erhitzen. Das hieß, ich müsste nur die Luft erhitzen, die es umgab... Noch während ich darüber nachdachte, leuchtete eine Flamme auf.
"Sehr gut. Und jetzt der Würfel. Ich will, dass die sechs oben liegt. Aber du darfst den Würfel nicht drehen." Sie legte den Würfel vor mich - mit der eins nach oben. Ich musste also die Form des Würfels quasi verändern, und in den Löchern das Weiß zu Schwarz färben...
"Darf ich ihn berühren?" Fragte ich.
"Ja, aber ich muss ihn weiterhin sehen können." Ich nickte und legte eine Fingerspitze auf den Würfel. Dann konzentrierte ich mich und veränderte ihn. Als ich meinen Finger wieder wegnahm, lag die Sechs oben.
"Erinnere mich daran, nie wieder mit dir Mensch-Ärgere-Dich-Nicht zu spielen." Meinte Nathen. Ich lächelte.
"Wirklich erstaunlich. Jetzt kommt etwas eher... Hmm Spannendes. Ich will, dass du nur mit deinen Gedanken die Mona Lisa auf dieses Blatt malst. Geht das?" Die Mona Lisa auf ein Blatt zu projezieren, war fast das selbe wie Geld zu fälschen. Oder Schulzeugnisse. Oder Abstammungsurkunden. Nur dass ich dieses Mal keine Vorlage hatte. Ich sah das Blatt an. Merkte es mir genau. Dann schloss ich die Augen und stellte mir die Mona Lisa vor. Jedes Detail: der dunkle Hintergrund mit den bewaldeten Hügeln, ihr Kleid, ihre kleine Nase, die langen Haare, die braunen Augen und natürlich ihr geheimnisvolles Lächeln. Dann rief ich mir das Blatt in Erinnerung. Als ich beide Bilder vor mir hatte, schob ich sie übereinander. Es war gar nicht so einfach, dabei nicht ein Detail zu vergessen. Als ich spürte wie Nathen meine Hand losließ, öffnete ich die Augen. Ich hatte die Mona Lisa auf ein Blatt Papier gemalt.
Fast hätte ich vor Stolz gelächelt, aber dann wurde mir klar, dass es nichts war, worauf ich stolz sein konnte. Das war Kunstfälschung. Illegal. Gesetzwidrig. Wie ein Bankraub.
"Das war sehr beeindruckend. Du musst darauf achten, dass niemand deine Gabe ausnützt. Und du Nathen, du passt auf, dass sie selbst sie auch nicht ausnützt." Nathen nahm wieder meine Hand. Ob als Reaktion auf Sams Worte, oder weil er mich trösten wollte, weiß ich nicht. Sam nahm das Blatt an sich. "Das verbrennen wir wohl lieber, oder? Auch wenn es eine Schande ist, etwas so schönes zu zerstören. Ihr könnt gehen. Kathrin erwartet euch schon." Wir standen auf, bedankten uns und gingen. Tatsächlich stand vor der Tür schon eine weitere Beamte bereit, um uns aus dem Gebäude zu begleiten.
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"Bist du dir wirklich sicher, dass du das machen willst?" Fragte Nathen zum hundertsten Mal.
"Ja." Die selbe Antwort wie immer.
"Bist du dir sicher? Ich meine, vor drei Monaten wolltest du noch nicht einmal vom IMS unterrichtet werden - und jetzt willst du für sie auf Geisterjagd gehen?" Ja, nein, ja, keine Ahnung. Es ist so wie es ist. Ich möchte helfen. Ich habe in drei Monaten so viel gelernt.
"Nathen, ich weiß. Aber ich kann jetzt so viel mehr als früher. Hier." Ich streckte leicht die Hand in Richtung Uhr aus, konzentrierte mich und sie begann rückwärts zu ticken. Ich musste kaum noch etwas berühren, um es zu verändern. Nur noch, wenn ich die chemische Zusammensetzung neu ordnete, dann brauchte ich Kontakt. Farben, Formen - alles kein Problem. Und auch die Uhren liefen so, wie ich es wollte.
"Ich weiß, ich weiß. Ich mache mir nun mal trotzdem Sorgen." Er sah mich mit seinen Rehaugen an und fast hätte ich gesagt, dass ich doch nicht gehe. Aber nur fast.
"Das ist auch total süß von dir. Trotzdem musst du mich gehen lassen. Ich schaffe das." Bloß nicht schwach werden. Schön konzentriert bleiben. Du wirst ihn jetzt nicht küssen. Nein, nein.
Ich gab Nathen einen schnellen Kuss, wenn auch nur auf die Wange.
"Na gut. Kannst du wenigstens die Uhr wieder richtig laufen lassen? Keine Ahnung wie ich erklären sollte, dass sie plötzlich rückwärts läuft." Ich lächelte und machte meinen Zauber rückgängig. Dann schulterte ich meinen Rucksack.
"Ich bin bald zurück." Versprach ich.
"Das hoffe ich doch. Immerhin musst du pünktlich im Internat sein, sonst... Du warst einfach zu oft zu spät in den letzten Wochen." Nathen grinste mich an, aber es war nicht wie sonst. Ich konnte in seinen Augen sehen, dass er Angst um mich hatte. Ich blieb stehen und sah ihn an. Ich konnte gar nicht anders. So war es immer gewesen. Ich vergaß einfach alles, wenn er in der Nähe war. Immer, ganz egal wo. Deswegen konnte er nicht mitkommen: sonst wäre ich nicht mehr konzentriert. Mal ganz abgesehen davon, dass es viel zu gefährlich für ihn war.
Nathen kam mir wieder näher und küsste mich. Es war ein sanfter, süßer Kuss, aber er machte mich traurig. Was, wenn es wirklich das letzte Mal war, dass ich ihn sah?
"Ich liebe dich", flüsterte ich. Hatte ich das gerade wirklich laut gesagt? Einfach so? Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, da waren die drei Worte schon gesagt. Nathen sah mich an. Stumm, erstaunt, gebannt, verliebt. Dann zog er mich näher zu sich heran und küsste mich gleich noch mal. Er sagte sie nicht, die drei Worte. Er sagte auch nicht: "Ich dich auch." Er genoss einfach den Moment. Meine Worte. Sein Moment. Unsere Geschichte.
"Dann bleib hier", meinte er schließlich.
"Nein. Aber ich komme wieder." Ich riss mich von ihm los und ging. Es schien mich fast zu zerreißen, aber ich wartete seit zwei Wochen darauf, dass sie mich endlich mit auf die Jagd nahmen. Wenn ich jetzt nicht ging, würde ich wohl niemals gehen.
Ich weiß nicht, ob Nathen mir hinterher blickte, als ich die Straße zur U-Bahn Station hinunter ging. Ich weiß nicht, was er gedacht hat in diesem Moment. Aber ich weiß, dass ich die Wahrheit gesagt hatte: Ich liebte ihn.
"Achtung!" Ich ließ mich zur Seite fallen - gerade noch rechtzeitig, denn dort, wo ich eben noch gestanden hatte, steckte jetzt das Schwert eines Nachtgeistes im Boden. Der zog es jetzt wieder heraus und kam grinsend auf mich zu. Und ich lag verdammt wehrlos auf dem Boden, weil ich mich fallen gelassen hatte, anstatt zur Seite zu springen, so wie ich es gelernt hatte. Ich wusste, ohne mich umzusehen, dass die anderen, die mit mir auf die Jagd gegangen waren, viel zu weit weg waren, um mir zu helfen. Vermutlich waren sie gerade selbst in Kämpfe verwickelt und Sam hatte mir nur eine Warnung zurufen können, weil sie den Angriff vorhergesehen hatte.
Der Nachtgeist war nur noch einen Schritt von mir entfernt. Es wurde Zeit, dass ich mir etwas einfallen ließ. Er hob das Schwert.
Aber natürlich! Das Schwert! Ich richtete meine Hand auf die Waffe und konzentrierte mich. Ich hatte mehrere Möglichkeiten. Ich könnte es schrumpfen, bis es nur noch so groß war, wie ein Zahnstocher. Ich könnte es so schwer machen, dass mein Gegner es fallen ließ. Beides würde die Waffe unbrauchbar machen.
Ich entschied mich für den dritten Weg. Ich streckte die Klinge so weit, dass der Nachtgeist das Schwert plötzlich nicht mehr am Griff sondern an der Klinge hielt. Er schrie auf und ließ das Schwert fallen. Von seiner Hand tropfte Blut.
Ich nutzte den Moment der Überraschung, sprang auf und schnappte mir das Schwert. Noch bevor dem Nachtgeist sein Fehler klar wurde, hatte ich schon zugestochen. Er löste sich in schwarzen Rauch auf.
Ich ließ die Klinge fallen und schnappte mir meine eigene vom Boden. Dann sah ich mich um. Der Kampf war so gut wie vorbei. Ich konnte sehen, wie sich der Rauch von Sams Gegner in der Luft verteilte und sie zu Stephen eilte um ihm zu helfen. Wir hatten eine Menge Spuren im Waldboden hinterlassen. Überall lagen abgebrochene Zweige und Äste, viele davon mit Blut bespritzt. Der Boden war übersäht mit Löchern, die unsere Waffen hineingeschlagen hatten.
Als der letzte Nachtgeist sich mit einem Aufschrei in Rauch auflöste, sah ich auf. Dabei flog mein Blick über den Boden und entdeckte etwas glitzerndes. Ich vergewisserte mich schnell, ob mit den Anderen alles in Ordnung war und machte mich dann auf die Suche danach.
Es dauerte eine Weile, bis ich es wiederfand. Umso überraschter war ich, als sich herausstellte, dass es nur eine bronzene Münze war. Ich hob sie auf und stellte erstaunt fest, wie schwer sie war. Eigentlich müsste sie viel leichter sein. Ich taste mit meinem sechsten Sinn das Material ab. Ich war froh, dass ich den während meiner Ausbildung entwickelt hatte. Er konnte mir immer sagen, aus was für einem Material ein Gegenstand bestand. Das war ziemlich hilfreich um meine Gabe einzusetzen.
Dieses Mal verriet er mir, dass die Münze wirklich aus Bronze war. Nur in ihrer Mitte war sie hohl. Und in dieser Höhle befand sich das, was sie so schwer machte. Ich versuchte herauszufinden, was es war, aber ich kannte das Material nicht. Eigenartig.
"Hey, Gabriella! Was ist denn?", rief Stephen mir zu.
"Ich hab was gefunden!", antwortete ich. Dann drehte ich mich und ging zu ihnen.
"Habt ihr eine Ahnung, was das ist?", fragte ich und gab die Münze an Stephen weiter. Der machte große Augen.
"Das ist eine Drachme. Hast du noch nie eine gesehen?" Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte auch noch nie von einer gehört.
"Ist das nicht eine alte griechische Währung?"
"Ja, danach wurde diese Art hier benannt, weil sie sich so ähnlich sehen. Aber das hier ist etwas magisches. Die Nachtgeister benutzen sie, um Befehle und sonstige Nachrichten weiter zu geben", erklärte Stephen, "Es ist sehr selten, dass wir eine zu Gesicht bekommen. Die Nachtgeister hüten sie normalerweise wie ihren Augapfel und nehmen sie mit in den Tod. Diese hier muss einer während dem Kampf verloren haben." Stephen gab die Drachme an Sam weiter.
"Ihre Informationen sind mit einem Zauber geschützt, sodass nur derjenige sie erfahren kann, der die richtigen Worte kennt." Ich nickte. Das wusste ich, dass Nachtgeister Wortmagie verwendeten. So wie die Zauberer in Kindergeschichten brauchten sie einen Spruch um zaubern zu können.
"Kennen wir diese Worte?", fragte ich und dachte dabei an die dicken Wälzer in der Bibliothek die voller Nachtgeister Sprüche waren.
"Es gibt hundert verschiedene Formeln um eine Drachme zu öffnen. Und jede lässt sich mit nur einer bestimmten öffnen. Ich kenne ein paar davon, aber ich bezweifle, dass ich in der Lage bin ausgerechnet an die hier enthaltenen Informationen zu gelangen", meinte Sam, "Wir sollten sie mitnehmen, vielleicht gelingt es ja ein paar anderen Magiern im IMS." Sam wollte die Drachme schon einstecken.
"Willst du es nicht wenigstens versuchen?", fragte ich enttäuscht. Ich wüsste nur zu gern, was für Informationen das waren. Und ich wusste nur zu gut: wenn wir die Drachme erst einmal abgegeben hatten, würden wir sie nie wieder sehen. Ein Versuch konnte ja nicht schaden.
"Ich weiß nicht... Es wäre nicht richtig, die Behörde zu übergehen."
"Ach komm schon Sam. Du machst dir doch sonst auch nichts aus Vorschriften", kam Stephen mir zu Hilfe. Er war groß und bullig und seine Gabe war es, kilometerweit hören zu können, wenn er das wollte. Er war schon zweiunddreißig, aber immer noch für jeden Spaß zu haben.
"Na schön. Wenn ihr meint, werde ich es versuchen", stimmte Sam zu. Sie legte die Münze in ihre offene linke Handfläche und begann mit der ersten Formel. Sie schien wirklich einfach, weil sie nur aus fünf Wörtern bestand, aber ich kannte sie nicht. Aber ich hatte mich bis jetzt auch kaum mit Wortmagie auseinander gesetzt.
Die Drachme blieb still. Sam versuchte es mit der nächsten Formel und mit der nächsten. Beim siebten Versuch tat sich tatsächlich etwas.
Stephen stürmte wie ein Wirbelwind durch das Gebäude, wie ein wütender Wirbelwind um genau zu sein. Wenn er eins hasste, dann angelogen und betrogen zu werden. Und wir fühlten uns wirklich sehr betrogen. Daher konnten weder Sam noch ich ihm seine Gefühle verdenken. Aber er musste doch nicht unbedingt jeden anschreien, dem wir begegneten. Sam lief so schnell sie konnte um mit ihm mitzuhalten und ihn zu beruhigen, aber ich hatte irgendwie nicht die Kraft dazu.
Nachdem wir die Nachricht gehört hatten, die in der Drachme verwahrt wurde, war Stephen fuchsteufelswild geworden. Sam hingegen hatte mal wieder ihren ruhigen Charakter bewiesen und so gut wie gar nicht reagiert, sondern stattdessen versucht Stephen zu beruhigen. Und ich, tja, ich hatte nur eins: Angst.
"Ich verlange sofort eine Erklärung!" Schrie Stephen zum gefühlt 164sten Mal. Er wusste genau so gut wie ich, dass es vermutlich nur eine Person gab, die uns diese Erklärung geben konnte und es daher nichts half, jeden anzuschreien, aber er konnte es einfach nicht lassen. Wir waren schon fast beim Büro des Direktors angekommen. Er musste den Lärm, den Stephen veranstaltete schon längst gehört haben.
"Wir müssen sofort mit Direktor Millers sprechen." Verlangte Stephen von der Sekretärin.
"Es tut mir leid, aber das ist im Moment nicht möglich. Er sitzt in einer wichtigen Besprechung." Antwortete diese ohne auch nur von ihrem Bildschirm aufzusehen. Stephen raufte sich die Haare.
"Eine wichtige Besprechung? Das ich nicht lache! Ich kann ihn doch mit seiner Frau sprechen hören!" Meinte Stephen nur. Die Sekretärin wurde leichenblass im Gesicht - ein deutliches Zeichen dafür, dass er richtig lag. Und dann drehte er sich einfach um und stürmte in das Büro des Direktors. Sam und ich zögerten nur einen kurzen Moment, bevor wir ihm folgten.
Das Büro war ein typisches Büro: Schreibtisch, Fensterfront, graue Aktenschränke, Computer, Telefon (mit Kabel!) und orangene Wände. Hinter dem Schreibtisch saß ein sichtlich überraschter Direktor Millers auf seinem Gesundheitsstuhl. Ich schloss die Tür hinter mir.
"Ich rufe zurück." Sagte Direktor Millers, als er sich wieder gefangen hatte und legte auf. Er war ein Mann in den Mittfünfzigern mit grauen Haaren und Kotletten, der aber außer Lachfalten nicht viele Falten im Gesicht hatte. Seine dunkelblauen Augen waren dafür bekannt, mehr zu sehen als andere. Was vielleicht an seiner Gabe lag, jede Lüge sofort als solche zu erkennen. Insgesamt sah er George Clooney gar nicht so unähnlich.
"Direktor Millers! Ich verlange sofort eine Erklärung!" Rief Stephen. Wenn er sich nicht zügelte wusste bald das ganze Haus bescheid, auch ohne übermenschliche Ohren.
"Bitte beruhigen Sie sich doch erst einmal. Setzen sie sich. Möchten Sie eine Tasse Tee?"
"Nein, ich möchte eine Erklärung!"
"Stephen, bitte! So hat das doch keinen Sinn." Schaltete Sam sich ein. Stephen sah sie an und schien tatsächlich zu verstehen. Er ließ sich geschlagen auf einen Stuhl fallen. Mr Millers warf Sam einen dankbaren Blick zu.
"Ich hätte allerdings gerne eine Tasse Tee." Meinte Sam und setzte sich auf den zweiten Stuhl.
"Und Sie, junge Dame?" Ich zuckte leicht zusammen, schüttelte aber dann den Kopf.
"Nun gut." Direktor Millers stand auf, ging zu einem Regal, nahm zwei Tassen heraus, goss heißes Wasser aus einer Thermoskanne hinein und schnappte sich schließlich noch zwei Teebeutel und zwei Löffel. Er reichte eine Tasse an Sam weiter. Ich lächelte, als ich sah, was auf seiner eigenen stand: Ohne Papa ist alles doof. Wie süß.
"Was ist denn nun geschehen?" Fragte er.
"Wir waren auf der Jagd." Begann Sam. "Wir sind vier Nachtgeistern in den Wald gefolgt und haben sie dort zum Kampf gestellt. Sie schienen noch ziemlich jung und es war kein großes Problem sie zu töten." Direktor Millers nickte und zeigte damit, dass er aufmerksam zuhörte. Er rührte in seinem Tee und pustete hinein, verlor uns dabei aber nicht eine Sekunde lang aus den Augen. "Nach dem Kampf, hat Gabriella das hier gefunden." Sam legte die Drachme auf den Tisch.
"Eine Drachme." Der Direktor stellte seine Tasse ab und streckte die Hand nach der Münze aus. "Es ist ein seltenes Glück, eine zu finden." Sam nickte nur. Ansacheinend war sie der Ansicht, dass es jetzt an mir war, weiter zu erzählen.
"Wir waren ziemlich neugierig, was sie wohl für Informationen enthält." Ich schluckte, denn eigentlich war es bestimmt verboten eine Drachme zu öffnen. "Deshalb haben wir ein paar Formeln ausprobiert und eine hat tatsächlich gewirkt."
"Tatsächlich?" Der Direktor schien überrascht, "Was besagt die Drachme?"
"Hören sie selbst." Meinte ich nur. Sam verstand und sagte ihre Formel noch einmal auf.
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Wie beim ersten Mal fing die Drachme blau zu leuchten an. Eine Art Nebel erhob sich um sie und schien die Münze schweben zu lassen. Als die Drachme zu vibrieren begann, hörten wir die Worte, die mir einen Schauer über den Rücken gejagt und mir schließlich auch Angst gemacht hatten.
"Hallo meine Mitbrüder. Ich muss euch leider mitteilen, dass unsere Spione immer noch nicht ausmachen konnten, ob das IMS Maßnahmen gegen das was kommt, ergreift. Es ist mittlerweile sicher, dass zumindest Direktor Millers davon weiß, doch er scheint bisher nichts dagegen zu unternehmen. Wir sehen uns daher gezwungen, den Kampf mit den Hexen und Magiern zu suchen, um zu verhindern, dass sie uns mit ihrer Unwissenheit im Weg stehen. Seid mutig im Kampf! General Ende."
Ich hatte eine Gänsehaut auf den Armen, noch bevor die Münze wieder auf dem Tisch gelandet war.
"Spione! Sie haben Spione im Gebäude? Das ist eine Katastrophe!" Meinte Direktor Millers.
"Jetzt hören sie schon auf! Darum geht es doch jetzt gar nicht!" Rief Stephen. Ach herrje, Wutausbruch die Zweite.
"Sie haben angekündigt, offen gegen uns in den Kampf zu ziehen. Wir müssen sofort alle Einheiten informieren." Fuhr Mr Millers ungerührt fort. Stephen riss endgültig der Geduldsfaden. Er packte den Direktor über den Tisch am Kragen.
"Hören sie endlich auf mit diesen Ausweichungen! Erzählen sie endlich, von was dieser Nachtgeist gesprochen hat!"
"Ich habe keine Ahnung, was..."
"Verkaufen sie mich nicht für dumm! Reden sie endlich!" Langsam bekam sogar ich Angst vor Stephen. Ich hatte ihn noch nie so erlebt, sondern immer gedacht, dass er ein sehr sanftmütiger Mensch war.
"Na gut, na gut!" Der Direktor hob abwehrend die Hände und Stephen ließ ihn langsam wieder los. "Ich rede ja."
"Na da sind wir aber mal gespannt." Murmelte Stephen und Sam trat ihm auf den Fuß, doch Mr Millers überging das ganze einfach.
"Vor etwa einem Monat, haben unsere Magier eine Kraftquelle in Ost-Asien entdeckt, die langsam aber stetig immer größer wird. Da wir nicht genau wissen, was es ist, oder wer, oder was es vorhat, haben wir beschlossen es erst einmal zu beobachten. Außerdem wurde abgemacht, Stillschweigen über die Sache zu bewahren um eine Panik zu verhindern."
"Und was haben sie unternommen?" Fragte ich. Wenn es eine mögliche Gefahr darstellte, musste man doch versuchen, es auszukundschaften.
"Nichts. Wir haben nichts getan und auf den nächsten Hinweis gewartet. Und den haben Sie uns gerade geliefert." Antwortete Mr Millers.
"Wie meinen sie das?" Verlangte Sam zu wissen.
"Dank der Nachricht, die Sie abfangen konnten, wissen wir nun, dass die Nachtgeister mit der Kraftquelle unter einer Decke stecken. Jetzt fällt es uns leichter, sie einzuschätzen und die Ausmaße einer möglichen Jagd abzuschätzen." Und dann stand Direktor Millers auf, schnappte sich die Drachme und ließ uns allein in seinem Büro zurück.
"Ich kann einfach nicht glauben, dass sie noch immer keine Anweisungen dazu ausgegeben haben!" Erklärte ich zum hundertsten Mal.
"Wenn du noch länger so hin und her läufst, habe ich bald einen Graben im Boden." Meinte Nathen nur. Ich blieb stehen, weil das mal wieder so ein Kommentar war, den ich überhaupt nicht erwartet hätte. Nathen aber grinste mich nur an, also setzte ich mein unruhig-durch-den-Raum-tigern fort.
"Es ist jetzt zwei Monate her, dass wir die Drachme gefunden haben. Zwei Monate! Und noch immer ist keine Jagd in die Mongolei aufgebrochen."
"Jetzt reg dich nicht so auf. Vielleicht..." Begann Nathen, doch ich unterbrach ihn mal wieder: "Ich soll mich nicht so aufregen? Wir sind gestern von neun Nachtgeistern gleichzeitig angegriffen worden! Wir haben Glück, dass sie alle noch unerfahren und hungrig waren, sonst hätten wir weitaus mehr Verletzungen als ein paar Schnittwunden ab bekommen." Nathen zuckte zusammen und mir tat fast leid, was ich gesagt hatte. Vor allem weil 'ein paar Schnittverletzungen' ziemlich untertrieben war - mein Arm hatte mit elf Stichen genäht werden müssen. Ich war froh, dass die Schmerztabletten so gut wirkten. Aber Nathen war der Meinung, dass die Jagd viel zu gefährlich für mich geworden war und dass ich besser nicht mehr jagen sollte. Auch diese Diskussion hatten wir noch nicht abgeschlossen.
"Vielleicht gab es ja in diesen zwei Monaten neue Informationen, die besagen, dass die Kraftquelle nicht gefährlich ist." Beendete Nathen seinen Satz schließlich. Ich blieb nun endgültig stehen und gab meinen Protest auf. Stattdessen seufzte ich nur.
"Na komm. Du hast noch eine halbe Stunde, bevor du wieder ins Internat musst." Nathen klopfte einladend auf den Platz neben sich. Ergeben ließ ich mich auf das Sofa fallen.
"Über was denkst du nach?" Fragte ich Nathen.
"Das verrate ich nicht, sonst fängt das ganze Hin-und-her-Gelaufe von vorn an."
"Dann hast du auch an Direktor Millers gedacht?"
"Du auch?" Ich nickte, was gar nicht so einfach war, während mein Kopf an seiner Schulter lag.
"Dein Gerede hat mich extrem neugierig gemacht. Und ehrlich gesagt, würde ich gern mehr über die Kraftquelle erfahren." Antwortete Nathen.
"Und wie willst du das anstellen? Die einzige Möglichkeit wäre, jemanden zu finden, der uns davon erzählt. Und das ist unmöglich." Verzwickte Sackgasse.
"Und wenn wir uns einfach mal auf einer Karte ansehen, wie viel Macht diese Quelle hat?" Schlug Nathen vor.
"Und wo kriegen wir die Karte her? Im IMS gibt es keine Bibliothek für magische Gegenstände, aus der ich einfach mal etwas ausleihen kann." Das wäre aber mal eine angebrachte Investition...
"Aber hat Sam nicht ungefähr zwölf von diesen Schachteln? Meinst du, meinst du sie würde eine davon vermissen, wenn wir sie für zwei Tage ausborgen?" Hatte Nathen gerade wirklich vorgeschlagen, was ich glaube, dass er vorgeschlagen hat?
"Du meinst, wir sollen eine stehlen?"
"Nur ausleihen. Wir bringen sie ja wieder zurück und es ist ja auch nicht für lange. Wir wollen nur einen Blick darauf werfen." Ich zögerte, aber eigentlich war die Entscheidung schon getroffen.
"Gut, ich bin einverstanden. Wahrscheinlich bemerkt Sam sowieso nicht, dass etwas fehlt." Das wird mich eine Menge Mut kosten. Und eine wirklich gute Freundin, wenn sie das herausfand.
"So, was hältst du davon, wenn wir eine kleine Pause machen? Eine Tasse Tee tut meinem geschundenen Geist mit Sicherheit gut." Sam stand auf. Geschundener Geist war gut, ich hatte üble Kopfschmerzen. Seit zwei Stunden übte ich schon mit Sam. Wir versuchten, ob ich Gegenstände auch ohne Kontakt schwerwiegend verändern konnte, aber es wollte einfach nicht klappen. Wahrscheinlich hatte selbst meine Kraft ihre Grenzen.
"Ach so ein Mist." Sam fluchte eigentlich nur selten. Ich unterdrückte ein Lachen, als ich sah, wie wütend sie ihre Heißwasserkanne anstarrte. "Das Wasser ist leer. Ich geh schnell neues holen, ja? Hol du doch schon Mal die Tassen aus dem Schrank." Und schon war sie aus dem Raum gerauscht.
Ich stand seufzend auf und holte die Tassen aus dem Schrank. Dann warf ich einen schnellen Blick in mein Tablettendöschen. Leer - mal wieder. Die Kopfschmerzen gehörten zu den Albträumen. Ich hatte schon lange aufgehört zu hoffen, dass ich sie wieder los wurde.
Wie lange war Sam jetzt schon weg? Sie war bestimmt schon auf dem Rückweg von der Kantine. Ich lehnte mich gegen den Schreibtisch und sah mich im Raum um. Das tat ich oft, weil ich jedes Mal etwas neues entdeckte. Dieses Mal entdeckte ich nichts neues, sondern etwas, das ich total vergessen hatte. Die Dosen mit den Weltkarten.
Wir wollten uns doch eine... Ausborgen! Hatte ich noch genug Zeit, eine einzustecken? So eine Gelegenheit bekam ich vermutlich nicht noch einmal... Ich ging zurück zum Schrank, schnappte mir die hinterste Dose und konnte sie gerade noch in meine Tasche stecken, bevor Sam zurück kam.
"Also, heute wieder Früchtetee? Ach, was für eine Frage - ich habe ja sowieso nichts anderes." Sie lachte und schenkte uns ein. "Ich glaube, heute sollten wir den Tee etwas länger ziehen lassen. Mach mal bitte die Fenster auf, damit ein wenig frische Luft hereinkommt." Ich gehorchte, in der Hoffnung, dass eine kühle Brise meine Kopfschmerzen und vor allem mein schlechtes Gewissen vertreiben würde.
"So, das braucht jetzt erst mal ein paar Minuten." Erklärte Sam, nachdem sie die Tassen gefüllt hatte, "Bis dahin können wir uns endlich mal wieder unterhalten."
"Worüber denn?" Fragte ich lachend und ließ mich wieder auf den Boden sinken.
"Keine Ahnung, woran denkst du denn gerade?" Ich dachte daran, dass ich dabei war eine gute Freundin zu betrügen und zu belügen, dass ich etwas gestohlen hatte und das ich jetzt hier saß und so tat, als hätte ich eben nichts getan. Aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen.
"Ich habe an unsere letzte Jagd gedacht." Flunkerte ich.
"Ja, das war ziemlich knapp." Wir schwiegen bedrückt. "Es... Es war ziemlich mutig von Stephen sich zwischen mich und diesen Nachtgeist zu stellen. Er hat mir damit das Leben gerettet." Sam hatte recht. Wir sind von dieser Horde Nachtgeister angegriffen worden und während wir schon frontal mit zwei kämpften tauchte hinter uns immer wieder ein dritter auf, um uns von hinten zu durchbohren. Meistens haben wir es rechtzeitig gemerkt nur einmal... Da hat Sam nicht gut genug aufgepasst, aber Stephen umso besser. Das hätte ihn fast seinen linken Arm gekostet, den er immer noch in einer Schlinge trug. Er wird ihn wochenlang nicht bewegen können.
"Das hättest du für ihn auch getan."
"Aber wenn ich dabei... Gestorben wäre hätte ich keine Witwe und keine kleine Tochter zurück gelassen."
"Das hätte es nicht weniger traurig gemacht." Versuchte ich sie zu überzeugen.
"Ach, wir sollten wirklich das Thema wechseln. Und unseren Tee trinken." Sie reichte mir meine Tasse. "Wusstest du, dass ich am Freitag mit Grayson Smithe aus der Asienabteilung essen gehe?" Keine Ahnung wer Grayson Smithe war.
"Nein. Wer hat denn wen eingeladen?"
"Na, ich ihn natürlich! Er hat dann erst mal nur gestottert." Sam kicherte.
"Und wohin geht ihr essen?" Fragte ich, obwohl ich eigentlich nur noch weg wollte. In meinem Kopf stritten sich zwei innere Stimmen miteinander. Das klang ungefähr so: "Du hast Sam bestohlen!" "Nein, habe ich nicht!" "Hast du wohl!" "Die Dose ist nur geliehen! Ich werde sie zurück geben." "Aber Leihen ist nur, wenn man vorher fragt." "Gar nicht wahr." "Doch wahr." "Nein!" "Doch!" Und so weiter. Das war wirklich nicht so witzig. Und es fiel mir aus diesem Grund enorm schwer Sam bei ihren Erzählungen zu zuhören.
"Ok, bereit. Und du?" Fragte Nathen. Mein schlechtes Gewissen pochte in meinem Kopf und gab einfach keine Ruhe. Vielleicht verzieh Sam mir meinen Diebstahl, wenn ich die Dose nicht öffnete... So ein Quatsch, jetzt hatte ich die Dose schon, jetzt würden wir es auch durchziehen.
"So bereit, wie ich es eben sein kann." Ok, jetzt musste ich die Dose nur noch öffnen. Ganz langsam, bloß keine Hektik. Der Globus erschien genauso, wie damals, als Sam mir zum ersten Mal die magische Welt gezeigt hatte. Wir mussten noch nicht einmal hinzoomen um die große Kraft in der Mongolei auszumachen. Es war ein Land, in dem es zwar einen großen prozentualen Anteil an Magie gab, aber eben nicht so viele Menschen. Da fiel ein großer, konzentrierter, rot leuchtender Punkt leicht auf.
"Wow. Das, das muss ganz schön mächtig sein. Wie steht es im Vergleich zu New York?" Fragte Nathen. Ich versuchte die Projektion so zu drehen und anzuhalten, dass New York und die Mongolei zu sehen waren. Das war gar nicht so einfach, weil die beiden Orte so weit auseinander lagen. Ich musste die Karte etwas strecken, bis es funktionierte.
Es konnte an der Entfernung liegen oder daran, dass New York sowieso von viel rot umgeben war, aber es sah fast so aus, als wäre dieser Punkt in der Mongolei noch leuchtender als New York City.
"Siehst du das auch?" Flüsterte ich.
"Das der Punkt in der Mongolei heller leuchtet als New York? Ja, ja das sehe ich auch." Ich schluckte.
"Aber... Aber das heißt dann ja, dass diese große Gefahr jetzt schon mächtiger ist, als das IMS! Wie... Wie ist das möglich?"
"Ich weiß es nicht. Aber ich fürchte, dass die Gefahr immer größer wird, desto länger die Behörde noch wartet. Sie müssen jetzt handeln - nicht morgen." Erläuterte Nathen kühl.
"Ja, vermutlich hast du recht. Ich... Ich muss gleich morgen mit Sam reden und mit Stephen und... Und dann müssen wir zu Direktor Millers und... Und..." Ich stockte. Wenn ich mit Sam hierüber sprechen wollte, musste ich ihr sagen, dass ich sie bestohlen hatte. Und dann würde sie nicht mehr meine Freundin sein. Und sie würde mich anzeigen. Und sie würde nicht mehr meine Freundin sein.
"Hey, hey ist schon gut. Wir machen das gemeinsam, okay? Zusammen schaffen wir das." Nathen nahm mich in den Arm und strich mir behutsam über die Wange. Erst als ich seine feuchten Finger sah, merkte ich, dass ich weinte. Das kam in letzter Zeit irgendwie viel zu oft vor. Ich weinte und kaum war es Nathen gelungen mich zu trösten ging es schon wieder los. Das war doch echt dämlich. Was würde ich machen, wenn ich Nathen nicht kennen würde? Zu einem ewig haltenden Zimmerbrunnen mutieren?
"Tut mir leid." Verlegen wischte ich mir die Tränen weg und löste mich langsam von Nathen.
"Schon okay. Du hast einfach viel um die Ohren. Viel zu viel, wenn du mich fragst. Die sollen dir mal zwei Wochen frei geben. Seit deinem ersten Mal, warst du jede Woche mindestens ein Mal auf der Jagd. Meistens sogar zwei Mal." Nathen wollte nicht, dass ich auf die Jagd ging. Er machte sich Sorgen. Und das war so süß, dass ich jedes Mal, wenn er wieder darauf zu sprechen kam - was ziemlich oft vorkam - rot anlief.
"Aber ich möchte doch auf die Jagd gehen. Das... Ich möchte es ja gern." Es war bestimmt das 3768 Mal, dass ich versuchte, ihm das zu erklären.
"Ja, ich weiß, ich weiß. Aber es passt mir trotzdem nicht." Und schon lächelte ich wieder. Keine Ahnung, wie Nathen das immer anstellte.
Wir waren mal wieder auf der Jagd. Versteckt hinter ein paar Büschen schlichen wir uns immer näher an die fünf Nachtgeister heran, die mitten im Wald rund um ein Lagerfeuer saßen. Das allein war ja schon verantwortungslos genug, aber zwei der Nachtgeister standen im Designeranzug da. Die hatten wohl nicht vor, lange zu bleiben - was nur bedeutete, dass wir uns beeilen mussten.
Als wir nah genug heran waren um die ganze Szene zu überblicken und sogar zu hören, was die Geister sagten, blieben wir stehen. Eigentlich ist die Bezeichnung Nachtgeister ziemlich irreführend. Nachtgeister sind nämlich weder durchsichtig noch können sie durch Wände gehen noch können sie fliegen - außer sie haben gerade einen dazu passenden Zauber ausgesprochen natürlich. Sie sind auch nicht tot. Eigentlich sind sie den Menschen ziemlich ähnlich. Sie haben zwar alle helle Haut, aber unterschiedliche Haar- und Augenfarben. Sie sind verschieden groß und haben verschieden ausgeprägte Magiefertigkeiten. Wenn man nicht wusste, worauf man achten sollte, konnte man sie glatt für Menschen halten.
"Hey, Gabriella! Bist du jetzt endlich fertig mit träumen? Können wir anfangen?" Fragte Stephen und pikste mich mit dem Finger in die Seite. Es war zwar nicht fest, aber ich erschrak dermaßen, dass ich beinahe umfiel. Sam kicherte leise. Ich war froh, dass ich meistens mit diesen Beiden auf die Jagd gehen durfte - wir waren ein richtig gutes Team geworden.
"Entschuldigung. Ich bin einfach immer noch sauer auf Direktor Millers." Dieser... Dieser Mistkerl! Er wusste schon ewig, wie stark die Kraft in der Mongolei war und er wusste auch, dass sie mit der Zeit immer stärker wurde. Aber er wollte noch immer nichts unternehmen. Ich hätte ihn in der Luft zerreißen können! Das Einzige, was mich ein wenig getröstet hatte war, dass Sam mir überhaupt nicht böse gewesen war.
"Das sind wir alle." Wir schwiegen betreten. Es war gerade vermutlich so gar nicht der richtige Zeitpunkt um das auszudiskutieren. Und eben weil wir schwiegen hörte ich zum ersten Mal richtig, was die Nachtgeister sagten.
"...rum kommst du damit erst zu uns, anstatt direkt zum General zu gehen?" Fragte einer der Nachtgeister. Ich sah auf, konnte allerdings nicht feststellen, welcher es gewesen war. Allerdings war ziemlich offensichtlich, wen er angesprochen hatte, denn alle sahen zu einem Nachtgeist hin. Er war blond und ziemlich klein und wand sich unter den anklagenden Blicken der Anderen. Er schien mir auch nicht sonderlich mächtig, aber das konnte täuschen.
"Ich... Ich war mir einfach nicht sicher, ob das wichtig genug ist um den General damit zu belästigen." Sagte der Blonde so leise, dass ich mich anstrengen musste um ihn zu verstehen.
"Wichtig genug! Sag mal wie verblödet bist du eigentlich? Eine Prophezeiung nicht wichtig genug!" Einer der anderen Nachtgeister warf die Hände in die Höhe, nur um sich kurz darauf die Haare zu raufen.
"Ich werde gleich zu ihm gehen..."
"Ja mach das." Die Versammlung schien sich aufzulösen und ich hörte, wie der Nachtgeist, der mir am nächsten war und Anzug und Krawatte trug, murmelte: "Und deswegen habe ich wichtige Geschäftstermine abgesagt..."
"Jetzt!" Rief Stephen und wir sprangen auf, um die Geister zu erwischen, bevor sie sich davon machten.
Der kleine Blonde steckte sich etwas in den Ärmel, drehte sich auf der Ferse herum und rannte davon, als er uns sah. Ich machte mich daran ihn zu verfolgen. Er war ziemlich langsam, anscheinend war er es nicht gewohnt zu rennen. Schnell war ich nah genug heran um ihn sprechen zu hören. Ich wurde wachsam, denn er konnte alles mögliche als Zauber ausgesprochen haben. Ich sah auf. Ein dicker Ast brach ab und fiel genau auf mich zu. Ich musste noch nicht einmal anhalten, um ihn auf Zahnstochergröße zu schrumpfen. Ich zuckte leicht zusammen, als er mich traf, aber das hielt mich nicht weiter auf.
Ich war jetzt nah genug an dem Nachtgeist heran um ihn mit dem Schwert zu erreichen. Er schien das zu bemerken und schickte sich an, sein Tempo tatsächlich noch einmal zu steigern. Nicht mit mir, Freundchen! Ich bewegte den Arm und schlitze seinen Hemdsärmel auf. An seinem Aufschrei erkannte ich, dass ich vermutlich mehr als nur den Ärmel getroffen hatte. Der Nachtgeist taumelte kurz und das gab mir genug Zeit um mich auf ihn zu stürzen und zu durchbohren.
Das dumme an dieser Durchbohren-Sache war, dass der Widerstand auf den ich mich gestürzt hatte zu Rauch wurde und ich statt auf dem Nachtgeist mit voller Wucht auf dem Waldboden landete. Autsch, das würde wohl blaue Flecken geben. Als ich mich aufrichtete, sah ich das Stück Papier da liegen. Schnell war mir klar, dass es das Stück war, dass der Nachtgeist sich in den Ärmel geschoben hatte. Es musste herausgefallen sein, als ich seinen Arm aufgeschlitzt habe.
Ich hob es auf und versuchte dabei so gut wie möglich meine brennenden - weil aufgeschürften - Handflächen zu ignorieren. Das Papier war zwei Mal gefaltet und kam mir zwar alt, aber ausgesprochen gut erhalten vor. Vorsichtig faltete ich es auseinander. Sechs Zeilen waren darauf geschrieben.
Im Osten rüstet sich des Feindes Kraft,
Im Westen ein Krieg wird neu entfacht.
Um zu bewahren euer aller Leben,
Freund und Feind müssen die Hände sich geben.
Nur durch unmögliche Liebe wird die Welt gerettet,
Einer der Freunde im Tode sich bettet.
Ich wusste zwar nicht, was das bedeuten sollte, aber als ich es las lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Vielleicht wurden ja Sam und Stephen daraus schlau. Sam und Stephen! Die kämpften gerade zu zweit gegen die restlichen vier Geister - ich musste zu ihnen zurück. Und zwar sofort. Hoffentlich war noch nichts passiert. Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es in meine Hosentasche. Dann rannte ich zurück zu der Feuerstelle.
Ich hatte mir wohl umsonst Sorgen gemacht. Als ich ankam säuberten Stephen und Sam gerade ihre Schwerter am feuchten Gras.
"Wir müssen das Feuer löschen, bevor es einen Waldbrand auslöst." Meinte Stephen gerade.
"Das mache ich schon." Meinte ich. Ich sah mir das Feuer genauer an. Wie konnte ich das Holz verändern, ohne es zu berühren, aber so, dass es nicht mehr brannte? Ich sah hoch. Über dem Feuer war ein Blätterdach und ich spürte deutlich, dass sich auf den Blättern Regenwasser gesammelt hatte. Ich verkleinerte die Blätter und während das Wasser nach unten fiel, vergrößerte ich die Tropfen, sodass ein ganzer Wasserfall zischend die Flammen erstickte.
"Da bist du ja! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, aber Stephen meinte, dir ginge es gut, weil er dich atmen hören konnte." Sam lächelte mich an.
"Ja, ich hab den fünften Nachtgeist verfolgt. Ihr scheint ja mit den anderen Vier ganze Arbeit geleistet zu haben." Antwortete ich.
"Das war nicht weiter schwer. Das waren richtige Schwächlinge." Stephen trat zu uns. "War deiner auch so?"
"Ja." Ich nickte, "Aber er hat das hier verloren." Ich zog das Papier aus der Tasche und reichte es den Beiden. Sie steckten sofort die Köpfe zusammen und begannen zu lesen.
"Das klingt ja gruselig." Sagte Sam und schüttelte sich. "Dein Nachtgeist hat nicht zufällig gesagt, was das ist, oder?"
Ich schüttelte bedauernd den Kopf. "Ich hatte gehofft, ihr wüsstet es vielleicht."
"Nein. So etwas habe ich noch nie gesehen." Stephen gab mir das Papier zurück. "Aber warte mal. Haben die Nachtgeister nicht von einer Prophezeiung gesprochen? Vielleicht ist es ja das."
"Eine Prophezeiung? Und was soll das bedeuten?" Fragte ich zurück.
"Keine Ahnung, aber das lässt sich doch bestimmt heraus finden." Stephen grinste so geheimnisvoll wie die Mona Lisa lächelte.
"Aber wir dürfen es auf keinen Fall den anderen Magiern vom IMS zeigen. Schon gar nicht Direktor Millers." Ergänzte Sam.
"Wieso nicht?" Fragte ich.
"Na, weil wir es sonst erstens nie wieder sehen und zweitens vermutlich nie eine Erklärung bekommen." Antwortete sie.
"Und wie wollt ihr dann herausbekommen, was es damit auf sich hat?" Ich verstand es wirklich nicht. Für das IMS arbeiteten die klügsten Menschen die ich kannte. Ohne sie konnten wir doch überhaupt nichts herausfinden. Es war ja nicht so, als stünde irgendwo ein Buch, dass dir alle Fragen beantwortet. Ein Buch, natürlich!
"Ich denke, wir sollten unserer Bücherei einen Besuch abstatten." Sam grinste Stephen an. Dann sahen Beide mich an.
"Ich bin dabei." Und es war beschlossene Sache.
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"Okay, und wonach genau sollen wir suchen?" Fragte ich. Jetzt waren wir in der Bibliothek und standen vor hunderten Regalen und wussten trotzdem nicht weiter. Ich wünschte, ich hätte Nathen doch noch angerufen, vielleicht hätte er ja eine Idee, aber Sam hatte gesagt, dass diese Sache bestimmt schneller ging, als Nathen mit der U-Bahn herkommen konnte.
"Kann ich Ihnen helfen?" Fragte die Bibliothekarin. Erschrocken wirbelten wir drei herum und hatten schon beinahe die Schwerter gezückt, als wir Ms Matthew erkannten. Sie war das genaue Gegenteil einer klischeehaften Bibliothekarin - sie war jung, blond, groß, trug keine Brille und keine karierten Röcke. Sie machte nie 'Psssst' oder spuckte dich dabei voll. Das einzige, was vielleicht an die traditionelle Bibliothekarin erinnerte, war ihr ständiges Bedürfnis hilfreich zu sein.
"Nein, vielen dank." Antwortete Stephen etwas zu spät. Ms Matthew wollte sich schon abwenden, als Sam sie zurück hielt.
"Doch, vielleicht schon. Wir möchten gerne nachschlagen, worum es sich bei etwas handelt. So ähnlich, wie wenn ich wissen wollte was 'Wortmagie' ist. Wo könnte ich das nachschlagen?" Das klang extrem kompliziert formuliert, aber ich glaube, Sam hatte die Situation treffend beschrieben.
"Natürlich in den 'Grimmschen Definitionsbüchern für Hexen und Magier'. Die stehen im dritten Regal links - ihr könnt sie gar nicht verfehlen." Ms Matthew lächelte und schlich zurück zu ihrem Schreibtisch. Grimm? Sowie die märchenerzählenden Gebrüder Grimm, die laut meinem Lehrer in Deutschland außerdem für ihre Arbeiten im Bereich der Grammatik geschätzt wurden? Was haben die denn mit Magie am Hut?
Die Definitionsbücher gab es aber tatsächlich. Sie füllten ganze drei Regalbretter und auf jedem Buchrücken stand "Grimmsche Definitionsbücher" und darunter dann die Buchstaben, mit denen die Wörter in diesem Band begannen. So wie bei jedem Lexikon. Das ging los mit "Aal - Axt" und endete mit "Xym - Zyt". Ich hatte absolut keinen blassen Schimmer davon, welches Wort mit Xym- oder Zyt- anfing. Aber das war ja auch egal. Wir suchten nur nach einer Definition: Prophezeiung. Stephen zog einen grünen Band heraus auf dem "Paa - Pto" stand. Er legte den dicken Wälzer auf einen kleinen Lesetisch und begann zu blättern.
"Ich habe es: Prophezeiung." Rief er nach kurzer Zeit aus. Wir beugten alle drei die Köpfe über das Buch und begannen zu lesen: Prophezeiung: Pro-phe-zei-ung; die; zu dem Verb pro-phe-zei-en: etwas vorhersagen; Prophezeiung beschreibt entweder den Akt des Vorhersagens oder das, was vorhergesagt worden ist; in der magischen Welt sind Prophezeiungen seit der frühen Antike bekannt. In Griechenland wurden sie von den Orakeln [siehe hierzu auch Orakel im Grimmschen Definitionsbuch für Hexen und Magier Obe - Paa] ausgesprochen. Die meisten bezogen sich auf die damalige Zeit und haben sich bereits erfüllt. Doch einige wichtige beziehen sich auf Ereignisse in der fernen Zukunft und müssen noch erfüllt werden. Aus diesem Grund wurden sie aufgeschrieben, doch leider ging ein Großteil bei einem Brand 1666 in London verloren. Das was gerettet werden konnte trugen die modernen Hexen und Magier zu dem "Großen Band der Prophezeiungen der antiken Welt" zusammen.
"Heißt das, dass dieses Stück Papier wertvoll ist?" Fragte ich ungläubig. Eigentlich hatte ich fragen wollen, ob das jetzt heißt, dass das, was auf dem Papier steht noch wahr werden muss. Oder ist es schon wahr geworden? Ich hoffe einfach, dass es schon passiert ist, weil irgendwo in meinem Kopf diese Stimme war, die mir sagte, dass die Prophezeiung mich betraf. Aber das wollte ich nicht. Wirklich nicht.
"Ja, vermutlich." Antwortete Stephen. Dann stand er auf und räumte das Buch weg.
"Glaubt ihr, dass dieses Prophezeiungsbuch auch hier ist? Oder dass unsere Prophezeiung darin steht?" Fragte ich nach ein paar weiteren Minuten.
"Es gibt nur einen Weg das heraus zu finden." Meinte Sam und obwohl ich so gar keine Lust hatte das heraus zu finden, stand ich auf und folgte den Beiden durch die Bücherei. Stephen schien sich ziemlich gut auszukennen und es dauerte nicht lange bis wir das Buch tatsächlich fanden. Stephen holte es heraus und legte es wieder auf einen Lesetisch. Wir blätterten es Seite für Seite durch, doch unsere Prophezeiung stand nicht drin. Genau wie ich befürchtet hatte.
"Ich glaube noch immer nicht, dass ich zugestimmt habe, dem Direktor nichts von der Prophezeiung zu erzählen - das ist doch irsinnig!" Beschwerte ich mich bei Nathen.
"Das kommt uns vielleicht doof vor, aber Sam und Stephen arbeiten doch schon so lange beim IMS. Die werden schon wissen was sie tun." Antwortete er.
"Und was wenn nicht?"
"Jetzt beruhige dich doch endlich! Sonst müssen wir Eis essen gehen."
"Soll das eine Drohung sein?" Eis essen war nicht wirklich das, was ich unter Bestrafung verstand.
"Wohl eher ein Versprechen." Nathen lächelte.
"Wir waren doch letzte Woche erst Eis essen."
"Ja und? Müssen wir jetzt deswegen den ganzen Tag in meiner Wohnung hocken?" Ich ließ mich auf das Sofa fallen.
"Als ob dich das stören würde." Nathen setzte sich neben mich.
"Stimmt. Aber wenigstens bist du jetzt nicht mehr wütend." Er grinste. Wie dumm konnte ich sein, mal wieder nicht zu merken wie er mich manipuliert hatte? Ich schlug mit einem Kissen nach ihm, aber er hielt mich einfach fest.
"Ich verstehe einfach nicht, was es bringt, die Prophezeiung geheim zu halten."
"Ich denke einfach, dass sie womöglich eine Panik auslösen könnte. Sie ist schon ziemlich deutlich." Das selbe Argument hatte Sam auch gebracht. Es war ja nicht so, dass ich den Punkt nicht verstand, sondern eher so, dass mir das nicht Grund genug war.
"Du meinst wegen: ein Krieg wird neu entfacht und einer der Freunde im Tode sich bettet? Ach, das stimmt doch bestimmt nicht. Das IMS wäre doch nie so dumm, den Nachtgeistern offen den Krieg zu erklären."
"Ich weiß nicht. Immerhin sind die Nachtgeister in letzter Zeit ziemlich agressiv. Oder vielleicht betrifft diese Zeile ja gar nichts magisches. Du hast doch gehört, dass man Prophezeiungen weder interpretieren soll noch kann."
"Wozu sollte man diese hier auch interpretieren? Wirkliche Rätsel gibt sie nicht auf."
"Findest du? Also mir sind alle sechs Zeilen ein Rätsel. Vielleicht wissen wir, was die Worte bedeuten, aber wir wissen einfach nicht vor was sie uns warnen sollen."
"Du glaubst es ist eine Wahrnung?"
"Nicht direkt. Laut den Brüdern Grimm wird die Prophezeiung ja auf jeden Fall wahr. Aber ich denke, dass der Sinn der Prophezeiungen war, die Menschheit auf das Kommende vorzubereiten." So hatte ich das bisher noch nie gesehen. Wenn Nathen Recht hatte, dann hieß das im Grunde, dass uns die Prophezeiungen auf den Tod eines geliebten Menschen vorbereiten sollten. Ich wünschte, ich hätte eine gehabt als meine Mutter starb.
"Worüber denkst du nach?" Fragte Nathen nach einer Weile.
"Über meine Mutter." Sofort umschlossen Nathens Arme mich noch fester.
"Ich bin sicher, sie wäre stolz auf dich."
"Meinst du?" Nathen nickte, "Ich weiß nicht. Ich habe Angst."
"Ich auch. Aber deshalb sind wir ja zu zweit. Gabriella, hey, sieh mich an. Du bist nicht allein."
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"Mami, guck mal! Ich kann mein Wasser rosa machen. Das ist so hübsch." Ich zupfte meine Mutter am Ärmel, bis sie sich zu mir herunterbeugte und in mein Glas sah. Sie war wie ein perfekter Engel. Goldene Locken umspielten ihr Gesicht, ihre grünen Augen sprühten vor Lebensfreude und ihr Mund verzog sich immer zu einem Lächeln wenn sie mich ansah. Ich hatte sie so lieb.
"Das hast du toll gemacht, mein Engel. Aber was hatten wir gesagt?"
"Wenn wir nicht zu Hause essen soll ich das Wasser unsichtbar lassen." Ich zog eine Schnute. Rosa war meine absolute Lieblingsfarbe als ich sechs war und manchmal wollte ich nur etwas trinken, wenn das Wasser rosa war.
"Na also. Mach es bitte wieder rückgängig. Und was hatten wir noch gesagt? Es heißt nicht unsichtbar sonder?"
"Durchsichtig. Aber ich will kein dummes, durchsichtiges Wasser trinken." Ich stampfte mit dem Fuß auf, weil ich dieses Wort einfach nicht richtig aussprechen konnte. Ich hatte als Kind Probleme mit den ch- und s-Lauten.
"Gabriella Eileen. Du hast gehört, was deine Mutter gesagt hat."
"Aber Granny! Ich will..."
"Nein. Mach dein Wasser wieder durchsichtig." Meine Grandma. Sie sah von oben zu mir herunter. Ich blickte in die gleichen Augen wie noch gerade eben bei meiner Mutter oder wenn ich in den Spiegel sah. Doch Grannys Augen waren streng und wenn sie wie jetzt die Augenbrauen zusammen zog, dann wusste ich, dass sie keinen Widerspruch dulden würde. Also setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl, machte die Veränderung rückgängig und schmollte. Ich würde heute kein Wort mehr mit Granny wechseln.
"Mum, musst du immer so streng zu ihr sein? Sie ist doch noch ein Kind." Wandte sich meine Mami an Granny.
"Ja. Sie ist langsam alt genug um zu wissen, dass sie vorsichtig sein muss. Sie hat nun mal eine Gabe und die müssen wir schützen. Du weißt doch wie das ist."
"Ja, Mum. Ich wünsche mir für Gabriella nur so sehr etwas anderes."
"Ich weiß. Das tun wir alle."
Die Szene verschwamm, als ich wach wurde. Grannys letzte Worte hörte ich nur, weil ich mich noch an sie erinnern konnte.
Es war dunkel im Zimmer, aber ich konnte Shila atmen hören. Müde rieb ich mir die Auge und sah auf die Uhr. 6:04 Uhr und das an einem Samstag. Ich wünschte, ich könnte noch einmal einschlafen, aber das war unmöglich. Ich hatte von meiner Mum geträumt. Das an sich war nichts besonderes, sondern, dass ich von Granny geträumt hatte. Ich hatte sie total vergessen. Ich hatte vergessen, was sie für ein Armband trug, hatte den Geruch ihres Parfums vergessen, die Lachfalten um ihre Augen, die verrieten, dass sie nicht immer streng war. Ich hatte vergessen, dass auch sie eine Gabe gehabt hatte. Ich hatte vergessen, dass ich sie überhaupt gekannt hatte. Kein Wunder, denn dieses Essen war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte. Kurz darauf starb meine Mutter und mein Vater hat mich von allem, was ich gekannt hatte fortgebracht.
Jetzt wurde mir klar, dass für Granny damals nicht der Tod meiner Mutter das schlimme gewesen war, sondern wie sie gestorben war. Als Kind hatte ich das nie verstanden, aber meine Mutter und Granny hatten immer Angst davor gehabt, dass sie wegen ihrer magischen Fähigkeiten sterben würden. Aber dann starb meine Mutter bei einem Autounfall und ich war verschwunden. Das muss schrecklich für sie gewesen sein.
Ich wünschte, ich könnte Granny besuchen, aber ihr Name fiel mir nicht ein. Sie war vielleicht schon tot und ich hatte sie nie wieder gesehen.
Und dann fing ich leise zu weinen an.
"Ich gehe morgen wieder mit Sam und Stephen auf die Jagd. Der Direktor schickt jetzt immer mehr Teams aus, weil die Berichte über Angriffe immer mehr werden."
"Und ihr müsste schon wieder ran? Ihr wart doch gestern erst dran. Und ihr hattet extremes Glück, dass niemand verletzt worden ist. Kann Millers nicht jemand anderen schicken?" Fragte Nathen.
"Er kann schon, aber wenn ich sage, dass ich noch mal einen Tag Pause brauche schickt er mich das nächste Mal mit einem anderen Team mit. Und ich fühle mich bei Stephen und Sam einfach am sichersten." Ich wusste, dass diese Diskussion damit ein Ende hatte. Meine Sicherheit ging für Nathen über alles und wenn er mich schon nicht davon abhalten konnte auf die Jagd zu gehen, dann wollte er, dass ich wenigstens so sicher wie möglich war. Wir landeten jedes Mal an diesem Punkt, wenn wir in den letzten Wochen diese Diskussion führten.
"Na schön. Du hast Recht. Aber sei bitte, bitte vorsichtig."
"Bin ich doch immer." Der Abspann des Films, den wir uns angesehen hatten begann, aber ich hatte mal wieder nichts von der Handlung mitbekommen. Stattdessen hatten Nathen und ich schon wieder über die Prophezeiung gerätselt. Nur leider waren wir wie immer zu keinem Ergebnis gekommen.
Seufzend stand ich auf und begann, die Unordnung auf dem Tisch etwas zu ordnen. Ich stand gerade auf um das schmutzige Geschirr in die Küche zu bringen, als Nathen sagte: "Lass nur, das kann ich später auch noch machen."
"Ist schon gut. Das mache ich schon. Bleib sitzen." Erstaunlicherweise tat Nathen einmal was ich ihm sagte. Ich ließ einmal schnell Wasser über die Teller laufen, bevor ich richtig mit spülen anfing. Nathen hatte nämlich leider keine Geschirrspülmaschine, aber das hätte sich bei einem Ein-Mann-Haushalt sowieso kaum gelohnt.
Ich war schon fast mit abtrocknen fertig, als es klingelte.
"War das die Tür?" Fragte ich erstaunt und sah durch die halb offene Tür zu Nathen. Der hatte sich mittlerweile auf dem Sofa ausgestreckt, aber er schien genauso überrascht wie ich.
"Ja. Schon." Er runzelte die Stirn und richtete sich auf. Dann zuckte er ratlos die Schultern und ging zur Tür. Es war extrem selten, dass Nathen Besuch bekam. Entweder es war ich oder seine Kumpel, aber wir hatten uns angewöhnt vorher eine SMS zu schicken, damit wir bei nichts störten. Der letzte unangekündigte Besuch war Mr Snight gewesen. Und das war etwas über sechs Monate her.
Ich legte die letzten Gabeln in die Schublade trocknete meine Hände ab und ging ins Wohnzimmer. Komisch, warum war Nathen denn noch nicht zurück? Vielleicht war es einer dieser lästigen An-der-Tür-Versicherungsverkäufer. Die sollten ja gerade auch wieder ihre Runden drehen. Ich lauschte aber es war nichts zu hören. Ich war schon auf dem Weg zur Tür um nachzusehen, was los war, als sie hereinkamen.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. Fünf Leute kamen ins Wohnzimmer. Zwei lächelten siegessicher, einer eher entschuldigend. Aber die beste Entschuldigung konnte nicht entschuldigen, dass der Vierte Nathen ein Messer an die Kehle hielt.
Ich überlegte fieberhaft was ich tun könnte. Das erste was mir einfiel, war das Messer zu schrumpfen. Aber zwei weitere der Nachtgeister - sie waren zwar ziemlich gut als Menschen getarnt, aber ich erkannte sie trotzdem - hielten Nathen ihre Schwerter in den Rücken. Ich könnte einen Impuls aussenden, der alle ihre Klingen gleichzeitig schrumpfen ließ, aber das würde meine Eigene mit einschließen, da sie neben mir in meiner Tasche steckte. Dann wäre ich genauso wehrlos wie die Nachtgeister und nichts wäre gewonnen. Ich könnte mein Schwert schnappen und auf sie los gehen, aber meine Chancen alle vier Nachtgeister zu töten, bevor einer von ihnen Nathen die Kehle durchschnitt schätzte ich auf verschwindend gering bis null - und das reichte mir nicht. Die Nachtgeister waren extrem gut vorbereitet gekommen. Das alles wurde mir innerhalb weniger Sekunden klar, denn dafür hatte ich trainiert. Eine Situation erleben - erfassen - beurteilen. Das konnte dir im Kampf das Leben retten.
"Eine Bewegung und er ist tot." Sagte der Nachtgeist, der Nathen das Messer an die Kehle hielt. "Setzen Sie sich." Ich schluckte. Ich wusste, dass ich keine Wahl hatte, aber mein Kopf suchte immernoch verzweifelt nach einem Ausweg. Trotzdem ließ ich mich langsam auf das Sofa sinken. "Sehr gut." Fuhr der Nachtgeist fort, "Kathryn, stell doch bitte den Kristall auf den Tisch." Der Nachtgeist, der bis jetzt noch keine Waffe gezückt hatte - eine Frau in den mittleren Jahren mit braunen Haaren aber ergrautem Haaransatz - nahm ihren Rucksack von den Schultern und holte einen großen, weißen Kristall heraus. Sobald sie ihn abgestellt hatte sprach sie eine Formel, die ich nicht kannte bis der Kristall kurz aufleuchtete. "Danke. Falls Sie es nicht wissen, Gabriella, dieser Kristall unterdrückt nun jegliche magischen Aktivitäten in diesem Raum bis Kathryn ihn wieder deaktiviert. Sie wird jetzt mit Karim und Cedric die Wohnung durchsuchen, nur um sicher zu gehen, dass wir allein sind. Und Sie rühren sich nicht vom Fleck, ja?" Anscheinend war der, der sich jetzt mit Nathen mir gegenüber setzte der Anführer. Ich nickte vorsichtig. Nathen sah mich an und wenn ich ihn nicht so gut kennen würde, könnte man sagen er sei ruhig. Doch ich wusste, dass er Angst hatte - genau wie ich.
"Mein Name ist übrigens Asael. Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir sind nicht hier um jemanden zu verletzen. Wir wollen nur reden." Mein Blick glitt anklagend zu dem Messer an Nathens Hals. Ich hatte durchaus registriert, dass wir nur noch zu dritt im Raum waren. Ich hatte auch schon ausprobiert, ob Asael die Wahrheit über den Kristall gesagt hatte. Hatte er. Meine Tasche lag jetzt Meter von mir entfernt, aber das Messer war kaum einen Zentimeter von Nathens Ader weg. Ich wusste, dass ich wohl kaum eine bessere Chance zum Angriff bekommen würde, aber es war einfach zu riskant. Meine einzige Chance war, dass die Nachtgeister einen Fehler machten. Und das wagte ich kaum zu hoffen. Ich konnte nicht sicher sein, aber ich glaubte das diese Nachtgeister nicht so jung waren, wie die meisten, denen ich bisher begegnet war. Ich schätzte Asael auf um die hundert, aber das war nur geraten. Unsterblichen sah man ihr Alter nur selten an.
"Ja, das mit den Drohungen tut mir leid, aber es ist die einzige Möglichkeit um Sie davon abzuhalten uns sofort umzubringen." Asael suefzte, als würde er es wirklich bedauern. "Ich bin wegen der Prophezeiung hier."
"Woher wissen Sie davon?" Fragte ich. Mir war eine Möglichkeit eingefallen, uns zu retten, aber selbst dafür musste Asael unaufmerksam sein. Nur für ein paar Sekunden.
"Wir beobachten das IMS nicht nur von außen. Ein Vogel hat mir ein Lied davon gesungen."
"Spione?" Das war nichts neues für mich. Neu war eher, dass uns jemand gehört hatte, wenn wir über die Prophezeiung gesprochen hatten.
"Ja, natürlich. Also, was besagt die Prophezeiung?" Er sah mich aufmerksam an.
"Lassen sie Nathen los und ich sage es Ihnen." Das war riskant, aber ich brauchte Zeit. Ich musste ihn von mir ablenken nur ganz kurz. Er lachte nur.
"Sagen Sie es mir und wir können darüber reden." Er sah mich an, grinsend, da er wusste, dass ich ihm nichts entgegen zu setzen hatte. Mein Blick glitt durch den Raum, immernoch auf der Suche nach Rettung.
"Wir wissen gar nicht, was sie besagen soll. Außerdem kann ich sie nicht auswendig." Das war eine glatte Lüge. Schon seit ich sie das erste Mal gelesen hatte, gingen mir die sechs Zeilen nicht mehr aus dem Kopf.
"Das ich nicht lache. Wollen Sie, dass ihr Freund stirbt?" Ich schluckte. Da! Das war die Idee. Aber auch nur wenn es funktionierte. Asael hatte gesagt, der Kristall unterdrückte alle magischen Impulse in diesem Raum, aber was ist mit den anderen? Es war den Versuch auf jeden Fall wert.
Ganz langsam begann ich die Prophezeiung aufzusagen, wobei ich versuchte Nathen nicht anzusehen, der mich mit seinem Blick davon abhalten wollte. Aber im Kopf suchte ich nach allen möglichen Kabeln und Drähten in der Wohnung. Und noch bevor ich am Ende angekommen war, gingen nach einander die Klingel, das Telefon, die Feuermelder, Nathens Wecker und der Dunstabzug an. Es war ein Heidenlärm. Aber es zeigte die gewünschte Wirkung. Asael ließ mich aus den Augen.
Ich fischte mein Handy aus der Tasche und drückte auf die Notfalltaste, die das IMS in alle Telefone hat einbauen lassen. Damit Agenten schnellstmöglich um Hilfe bitten konnten. Bevor Asael begriff, dass ich das Chaos ausgelöst hatte, war das Handy wieder verstaut.
"Mach das sofort aus!" Schrie er und drückte seine Klinge dabei noch ein wenig mehr gegen Nathens Hals. Auf einen Schlag wurde es totenstill. Ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören.
Ich hatte zwar die SOS-Taste gedrückt, aber mir war klar, dass wir noch lange nicht gerettet waren. Sobald die Nachtgeister die Agenten vom IMS nämlich bemerkten, würden sie Nathen die Kehle durchschneiden. Das musste ich dann irgendwie verhindern. Und ich musste verhindern, dass hier jemand starb, bevor das IMS ankam. Ich musste Asael am Reden halten.
"Was wollen Sie mit der Prophezeiung?" Fragte ich.
"Die Welt retten. Sie müssen wissen, dass wir schon lange davon ausgehen, dass Nachtgeister und Magier sich zusammen tun sollten. Diese Prophezeiung ist der Beweis. Mit ihr könnte es uns gelingen noch mehr von dieser Ansicht zu überzeugen."
"Das verstehe ich nicht." Gab ich zu.
"Um zu bewahren euer aller Leben, Freund und Feind müssen die Hände sich geben. Das heißt, dass die Welt nur gerettet werden kann, wenn Nachtgeister und Hexen und Magier sich wieder vertragen."
"Womöglich, aber es könnte sich auch auf ganz andere Feinde beziehen. Wir wissen ja nicht einmal, ob die Prophezeiung überhaupt unsere heutige Zeit betrifft." Entgegnete ich, obwohl ich mich eigentlich darauf konzentrierte wo die drei anderen Nachtgeister sich im Raum positionierten und ob sie alle Fluchtmöglichkeiten versperrten. Taten sie.
"Sie wissen das vielleicht nicht, wir schon."
"Wie das?" Wie viel Zeit wohl schon vergangen war? Bestimmt waren schon Agenten auf dem Weg hierher.
"Meine Freunde und ich arbeiten eng mit einer Hexe zusammen. Sie war früher beim IMS, ist aber schon vor Jahren ausgestiegen, da sie und die Behörde unterschiedliche Ansichten haben. Ihr Name ist Rhonda Meyer und sie kann in die Zukunft sehen. Also manchmal zumindest."
"Und sie hat gesehen, dass Nachtgeister und Magier sich zusammen tun müssen." Das war immer noch keine Zeitangabe.
"Ja, aber das ist schon länger her. Wir sind hier, weil sie gesehen hat, dass sich diese Prophezeiung erfüllen wird. Und zwar schon bald."
"Ach. Und was genau hat sie gesehen?"
"Wie jemand, den sie kennt, die Prophezeiung aufsagt und dann sagt: es hat sich alles genau so erfüllt."
"Aber dann kanntet ihr die Prophezeiung ja schon."
"Leider ist Rhondas Gedächtnis, was ihre Visionen betrifft, nicht so gut. Es hält maximal 10 Sekunden. Und was sie in dieser Zeit nicht aufschreibt, ist nunmal weg." Das war interessant. Also würde sich die Prophezeiung sich bald erfüllen. Das hieß, dass ich Recht gehabt hatte mit meinem Gefühl. Hoffentlich behielt ich nicht auch damit Recht, dass die Zeilen mich betrafen.
"Woher kennt ihr sie?"
"Wir haben sie kennen gelernt, als sie das letzte Mal auf die Jagd ging. Da hat sie versucht uns zu töten."
"Ach wirklich? Und ihr habt euch mit ihr angefreundet?"
"Ja, ihre Argumente haben mich einfach überzeugt. Und damit meine ich nicht ihr Messer. Aber das ist schon Jahre her." Asael lachte.
"Wie alt sind Sie?" Fragte ich vorsichtig, weil mir keine andere Frage mehr einfiel.
"101 Jahre. Ein törichter Magier erschuf mich kurz nach der Titanic-Katastrophe, damit ich ihn beschützen würde, falls ihm etwas zustieß. Als ob wir niedere Diener wären, die für die Zauberer die Kugeln einfangen." Er schüttelte verstört den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte, also schwieg ich. Aber ich hatte Glück, denn Asael sprach von selbst weiter: "Rhonda ist da viel angenehmer. Sie behandelt uns wie Gleichgestellte und schätzt unseren Rat. Deswegen bin ich auch bereit ihr zu helfen. So wie jetzt gerade, um die Prophezeiung herauszufinden. Und mit ihr werden wir dann noch mehr Nachtgeister und Magier zur Zusammenarbeit überreden. Und dann retten wir die Welt." Ja, sicher. Und danach fliegt ihr auf den Mond und gewinnt dort eine große Schlacht gegen Marsmännchen. Und währenddessen erfindet ihr das Popcorn neu. Ganz bestimmt.
So reagierte ich im ersten Moment auf Asaels Äußerung, da eine Zusammenarbeit von Magiern und Nachtgeistern mir einfach so unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich vorkam. Aber dann sah ich in sein enthusiastisches Gesicht und mir wurde klar, dass er es ernst meinte. Und auch, dass es vielleicht nicht einmal so dumm war. Ich meine, es passte genau auf die Prophezeiung: erst bekämpfen sich Nachtgeister und Magier extrem stark - genau das passierte ja im Moment - und danach müssen sie sich aber vertragen um die Welt zu retten. Es passte ganz genau.
Noch während ich über diese ganze Freund-Feind-Sache nachdachte, hörte ich Holz splittern. Obwohl ich im ersten Moment genauso überrascht war wie die Nachtgeister, erholte ich mich schneller wieder. Immerhin wusste ich, dass Agenten des IMS unterwegs waren. Ich sprang auf und nutzte den Überraschungsmoment um Asael das Messer zu entwinden. Nathen reagierte genauso schnell und stieß dem Nachtgeist seinen Ellenbogen in die Leber. Der ließ ihn los und Nathen schnappte sich mein Schwert aus meiner Tasche. Es war wirklich gut gewesen, ihn immer mit zum Training zu nehmen.
So schnell ich eben noch reagiert hatte, so langsam war ich jetzt. Viel zu spät wurde mir klar, dass die Nachtgeister nicht getötet werden sollten. Sie hatten wichtige Informationen, die wir dringend brauchen konnten. Die vier Agenten, die zu unserer Rettung kamen hatten schon zwei der Besucher durchbohrt, ehe mir auch nur einfiel, sie aufzuhalten. Unter den jetzt toten Nachtgeistern war auch Kathryn gewesen und ich spürte fast, wie der Bann des Kristalls sich mit ihr in Luft auflöste. Wir hatten Glück, dass es ein personenbezogener Zauber gewesen war. Sofort begann ich damit, die Messer zu schrumpfen. Rein aus Gewohnheit begann ich mit den Klingen der Nachtgeister. Wie sich heraus stellen sollte, war das keine gute Idee, denn jetzt lösten sie sich, ohne überhaupt eine Chance zur Gegenwehr zu haben, in Luft auf.
"Alles in Ordnung?" Fragte einer der Männer, die soeben die Wohnung gestürmt hatten.
"Ja." Ich schluckte meinen Ärger hinunter. Die Nachtgeister hätten mir noch viel erzählen können, dessen war ich mir sicher. Aber jetzt war die Chance vorbei, weil ich Dussel mal wieder genau das getan hatte, was man von mir erwartete: die Klingen der Feinde als erstes zu schrumpfen.
"Wir haben diesen Vorfall bereits gemeldet, aber Sie werden den Bericht mit Ihren Aussagen vervollständigen müssen."
"Ja. Wir melden uns morgen. Bitte lassen sie uns allein." Nathen sprach ganz ruhig, aber irgendetwas war an seiner Stimme, das mich aufhorchen ließ. Die Agenten sahen etwas erschrocken aus, aber sie verließen widerstandslos die Wohnung.
"Was war das denn?" Fragte ich und drehte mich zu Nathen um, der sich hinter mir aufgebaut hatte, um mir schützend die Hände auf die Schultern legen zu können.
"Ich glaube, das war der Hinweis, auf den wir gewartet hatten."
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Es war gerade mal zwei Stunden her, dass Asael und die Nachtgeister in Nathens Wohnung aufgetaucht waren, aber wir waren nicht untätig gewesen. Gleich nachdem die Agenten gegangen waren, hatten wir Stephen und Sam angerufen. Die waren auch sofort gekommen, allerdings hatte Stephen seine Jüngste mitbringen müssen, weil seine Frau mit dem Sohn und dessen Freunden unterwegs war. Die kleine Jasmina spielte jetzt mit ihren Puppen im Wohnzimmer, während wir in der Küche saßen und versuchten die neuen Informationen zu ordnen.
Der ganze Küchentisch klebte schon voller Klebezettel, die wir noch irgendwie dem Schema auf dem A2-Papierbogen vor uns zuordnen mussten. Es war wie ein Puzzle, und ich hatte das Gefühl, dass uns nur noch ein Teil fehlte, bis sich der Rest von selbst lösen würde. Aber wir konnten dieses eine Teil einfach nicht finden.
"Mir raucht der Kopf. Können wir mal Pause machen?" Fragte Sam.
"Mir auch, aber es kann doch nicht sein, dass wir nicht weiterkommen, obwohl wir so viele neue Informationen haben." Meinte Stephen, bevor er schnell einen Blick zu seiner Tochter warf.
"Wir haben irgendwas vergessen. Ich bin mir ganz sicher, dass da was war, aber ich komme einfach nicht drauf." Warum viel es mir nur so schwer, mich daran zu erinnern, über was ich mit Asael gesprochen hatte? Nathen ging es nicht anders, aber immerhin hatte er zu diesem Zeitpunkt ein Messer an seinem Hals gespürt. Was hatten wir vergessen?
Zum hundertsten Mal glitt mein Blick über all die bunten Zettelchen. Hundert Jahre alt, Kristall zum Magie unterdrücken, Spione wissen von Prophezeiung, Nachtgeister und Menschen müssen sich zusammen tun. Auf diesen letzten Punkt hatte Asaels Argumentation abgezielt, deshalb stand es ganz unten in unserem Schema. Aber irgendetwas fehlte einfach, um den Weg dorthin nachvollziehen zu können. Mal ganz abgesehen davon, dass es mir schien, als wäre das nicht der letzte Baustein.
"Gehen wir es also noch mal durch. Damit Asael Nathen nicht umbringt, hast du ihn am Reden gehalten. Du hast ihm Fragen gestellt. Was waren das für Fragen?" Begann Stephen von vorn.
"Asael wollte, dass ich die Prophezeiung aufsage, da habe ich ihn gefragt warum. Er meinte um Nachtgeister und Magier zusammen zu tun. Ich habe ihn gefragt wie alt er ist, er sagte 101 Jahre und erzählte mir von seiner Erschaffung. Und er sprach von dieser Hexe, mit der er zusammen arbeitet."
"Hexe?" Fragte Stephen überrascht nach.
"Ja. Er hat gesagt, dass er mit einer Ex-Agentin des IMS zusammenarbeitet. Hatte ich das nicht gesagt?" Ich überflog noch einmal die Notizen. Tatsächlich, die Hexe hatte ich noch mit keinem Wort erwähnt. Komisch.
"Das ist es was wir vergessen haben! Natürlich! Hat Asael nicht auch ihren Namen erwähnt?" Nathen war wieder voll bei der Sache, ich konnte fast sehen, wie sein Gehirn nach dem Namen suchte.
"Er hat ihren Namen erwähnt?" Sams Stift flog schon fast über das Papier.
"Ja, irgendetwas mit R und ein häufiger Nachname." Ergänzte ich. Wir brauchten diesen Namen. Das war das Schlüsselteil. Wir mussten es einfach finden.
"War es nicht Rachel Mayer oder so?" Fragte Nathen.
"Rachel? Nein, aber so ähnlich. Warte, ich komme gleich drauf... Rhonda! Ihr Name war Rhonda Meyer." Ich lehnte mich zurück, extreme Erleichterung pochte durch meinen Körper, wie Adrenalin, nur eher stressabbauend.
"Bist du sicher?"
"Ja, ich bin sicher." Ich war zu hundert Prozent sicher, dass das der Name war, den Asael erwähnt hatte. Aber ich hatte ein eigenartiges Gefühl des Déjà-vu. Als hätte ich diesen Namen heute nicht zum ersten Mal gehört.
"Wir müssen zu ihr." Meinte Nathen.
"Was? Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Du willst einfach so zu einer fremden Hexe fahren, die ein paar Nachtgeister dazu angestiftet hat dir ein Messer an den Hals zu halten? Nein, dieses Risiko will ich nicht eingehen. Wir müssen endlich mit Direktor Millers sprechen." Warf ich ein.
"Hey, um mich brauchst du dir doch keine Sorgen machen." Nathen sah mich ganz sanft an und mein Widerspruch blieb mir im Hals stecken.
"Wir sollten eben nicht mit Direktor Millers sprechen. Er stiftet die Agenten gerade zu einer Hetzjagd auf die Nachtgeister an. Nie im Leben glaubt der uns, dass wir uns zusammen tun sollten. Ganz abgesehen davon, dass er uns die Köpfe einschlägt, wenn er hört, dass wir ihm die Prophezeiung verschwiegen haben." Sagte Sam, "Ich bin auch dafür, dass wir Rhonda einen Überraschungsbesuch abstatten."
"Ich auch." überstimmte Stephen mich endgültig. Wir würden also wohl einen Ausflug machen.
Seit dem Rad, war das Internet vermutlich die beste Erfindung des Menschen. Ich hatte keine Ahnung, wie wir Rhonda Meyer ohne online-Telefonbücher hätten finden sollen. Es war unglaublich, wie viele Rhonda Meyer es gab. Eine war Zahnärztin, die nächste vor 11 Jahren gestorben (die stand aber zum Glück nicht mehr im Telefonbuch), eine war Grundschullehrerin. Woher wir das wussten? Wir hatten jede Rhonda Meyer angerufen und so getan, als würden wir eine Umfrage durchführen. Die meisten hatten bereitwillig geantwortet. So hatten wir schließlich auch die richtige Rhonda gefunden: seit sieben Jahren in Rente, hatte bei einer Staatsbehörde gearbeitet und lebte in Georgia. In Gerogia. Nie im Leben schafften wir es an einem Tag nach Brunswick und zurück. Das heißt, ich müsste außerhalb des Internats übernachten. Dumm nur, dass das nur mit Erlaubnis der Erziehungsberechtigten ging. Das war nicht das Problem, eine Unterschrift konnte ich fälschen, aber ein Erziehungsberechtigter musste mich auch im Internat abholen.
Zum Glück hatte Sam die Idee, sich als meine Patentante auszugeben. Sie war die letzten Jahre in Afrika bei Ureinwohnern gewesen und man hatte sie nicht kontaktieren können, als meine Mum, also ihre Schwester starb. Jetzt hatte sie sich auf die Suche gemacht und wollte Zeit mit mir verbringen. Wir hofften nur, dass das auch funktionierte.
Ich hatte Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, meine Taufurkunde und eine Arbeitsbescheinigung gefälscht. Nur für den Fall, dass irgendwer nachfragte.
Gerade stand ich vor dem Büro der Direktorin und wartete darauf, dass Sam und sie ihr Gespräch beendeten. Ich hatte versucht mich zu setzen, aber ich konnte einfach nicht still halten. Jetzt lief ich schon seit geraumer Zeit Muster in den Teppich. Die Sekretärin sah mich durch ihre dicke Brille immer wieder missbilligend an, aber das war mir egal. Die alte Ziege sollte froh sein, dass ich ihre Haare nicht blau färbte. Was wenn ich einen Fehler gemacht hatte? Oder wenn die Urkunden die Sam jetzt bei sich trug, das Gegenteil von denen waren, die ich vor drei Jahren vorgelegt hatte? Oder wenn...
In diesem Moment ging die Tür wieder auf. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah zu, wie die Direktorin einer höflich lächelnden Sam - die sich extra die Haare hochgesteckt hatte und eine schicke weiße Bluse trug - die Hand schüttelte. Und diese letzten Sekunden, diese halbe Minute die ich warten musste, bis Sam und ich das Sekreteriat verlassen hatten, kam mir noch länger vor als die halbe Stunde, die ich zuvor gewartet hatte. Kaum waren wir auf dem Flur, platzte ich auch schon mit meiner Neugier heraus: "Und?"
Sam sah mich verschwörerisch an und weckte damit die Hoffnung in mir, dass es funktioniert hatte. Aber sie deutete dann nur mit dem Kopf auf einige Lehrkräfte, die in der Nähe standen und ging wortlos weiter. Das machte mich noch verrückt! Normalerweise plapperte sie wie wie ein Wasserfall und wenn ich wirklich etwas wissen wollte, hielt sie die Klappe.
Erst als wir auf dem Schulhof waren rückte Sam mit der Antwort heraus: "Also meine liebe Nichte. Wie es aussieht, wirst du das nächste Wochenende bei mir verbringen. Ich werde dir gleich das Gästebett..." Weiter kam sie gar nicht, denn ich fiel ihr stürmisch um den Hals.
"Das heißt aber, dass wir erst in vier Tagen loskönnen." Erinnerte Sam mich.
"Ja, und dann fahren wir noch vierzehn Stunden bis wir ankommen. Ist doch egal, hauptsache es klappt." Antwortete ich.
"Was ist denn mit dir los? Seit wann bist du so stürmisch?" Naja, ich war wohl weniger stürmisch, als einfach nur gut gelaunt. Seit ich nämlich gestern bei Nathen gewesen war, durchlebte ich ein andauerndes Hoch. Und zwar, weil er es gesagt. Ich meine, ich hatte es schon vorher gewusst, und er hatte es auch vorher schon ein paar Mal angedeutet oder umschrieben, aber... Es war doch noch mal etwas anderes. Es waren nur drei kleine Worte: "Ich liebe dich", doch sie gehören zu den schönsten, wichtigsten und wundervollsten, die ein Mensch sagen kann. Ich wollte diesen Moment von gestern nie mehr vergessen. Nie mehr.
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Das Gute daran, dass ich letzte Nacht vor Aufregung kaum geschlafen hatte, war, dass ich sechs Stunden der Fahrt verschlafen hatte. Das Schlechte daran, ich hatte einen verdammt steifen Hals.
"Ist außer mir noch jemand dafür, eine kleine Pause einzulegen?" Fragte Stephen, der am Steuer seines Kombi saß.
"Ja, ich!" Rief Sam neben mir. Sie hatte mir schon vor einer halben Stunde ins Ohr geflüstert, dass sie mal müsse. Warum sie danach nicht einfach nach einer Pause gefragt hatte, weiß der Geier.
Stephen nickte und fuhr an der nächsten Ausfahrt zu einer großen Raststätte ab. Wir hatten etwas mehr als die Hälfte geschafft. Ich hätte nie gedacht, dass acht Stunden so viel sein konnten. Wir waren durch New Jersey, Delaware, Maryland und Virginia gefahren und jetzt waren wir kurz nach Nashville, North Carolina. Und wir hatten noch mindestens sechs Stunden Fahrt vor uns.
Ich stieg ganz vorsichtig aus, aber das war gar nicht so einfach, wenn man den Hals nicht bewegen konnte. Ich konnte mir ein kleines "Aua" nicht verkneifen. Sam war schon ein paar Meter von uns entfernt - sie rannte fast zur Toilette.
"Fahrerwechsel?" Fragte Stephen und Nathen nickte. Wir hatten Stephen schon bei der letzten Pause gefragt, ob er tauschen wolle, aber er hatte abgelehnt. Jetzt sah er aber doch ziemlich müde auf. Jede Wette, dass er nach zehn Minuten auf dem Beifahrersitz eingeschlafen war.
"Wir haben erst kurz vor vier. Wenn wir weiter so gut vorankommen, sind wir schon gegen halb zehn bei Mrs Meyer."
"Vielleicht hätten wir uns doch vorher anmelden sollen. Sie ist immerhin eine alte Dame, womöglich schläft sie da schon." Meinte ich. Ich versuchte vergeblich, mir den Nacken ein wenig zu massieren. Aber das brachte - so wie immer, wenn man es selbst machte - nicht sonderlich viel.
"Kann sein, aber wir müssen es wohl oder übel darauf ankommen lassen. Wenn Sam nicht fast eine ganze Stunde zu spät gekommen wäre, hätten wir dieses Problem nicht."
"Ach komm schon Stephen. Reg dich nicht auf. Jetzt ist es nun mal so." Meinte Nathen, dann sah er mich kurz an und kam um das Auto herum zu mir. Er schob meine Hände weg und begann meinen Nacken zu massieren. Tat das gut.
"Du hast ja Recht." Lenkte Stephen ein. Dann drehte er sich um und lehnte sich an den Wagen. Er hielt nach Sam Ausschau, die wohl immernoch auf der Toilette war. Nathen nutzte diesen Moment um mir ganz schnell einen Kuss auf die Haut zu drücken. Ich lächelte. Er war einfach viel zu gut für mich.
Nach ein paar Minuten kam Sam zurück und es ging weiter. Nur dieses Mal saß Nathen am Steuer. Und meine Wette hätte ich gewonnen: Stephen schlief schon, als wir zurück auf die Interstate fuhren tief und fest.
"Ich bewundere dich dafür, dass du nie aufs Klo musst." Flüsterte Sam mir zu.
"Ich muss schon, nur eben nicht alle zwei Stunden." Erwiderte ich und wir begannen zu lachen. Nur wage nahm ich wahr, dass Nathen mich im Rückspiegel beobachtete.
Es war spät am Abend, als wir endlich in Brunswick ankamen. Die Straßenlaternen brannten alle schon und beschienen die kleinen weißen Häuser, die stark an ein Vorstadtklischee erinnerten. Immer schön aneinandergereiht mit einer Rasenfläche und Parkplätzen davor. Wir hatten gerade geparkt und standen jetzt in der Albany Street. Laut unseren Nachforschungen wohnte Rhonda Meyer in dem weißen Haus dort drüben, das, mit den angedeuteten Säulen rechts und links. Vor der Tür stand ein roter Fiat Mini und in einem der Zimmer brannte Licht. Es schien, als hätten wir Glück. Die alte Dame war noch wach.
Als wir uns dem Haus näherten, hörten wir zwei Stimmen streiten. Die eine gehörte mit Sicherheit Rhonda, doch die andere war die eines jungen Mannes. Ich verkniff es mir, durch das Fenster hinein zu sehen. Stephen klingelte.
Sofort wurde es still in Haus. Dann kamen langsam schlurfende Schritte zur Tür. Ich hörte, wie ein Schloss entriegelt wurde und dann ging die Tür einen Spalt weit auf. Die Kette lag noch vor.
„Ja bitte?“ Fragte eine Stimme. Ich reckte den Hals, um über Stephens Schultern sehen zu können, doch es war vergeblich.
„Guten Abend, Mrs Meyer. Wir kommen vom IMS und...“ Die Dame wollte die Tür schon wieder zu schlagen, doch Stephen war schneller. „Bitte, Madam, es geht um Asael und die Prophezeiung.“ Ich konnte fast hören, wie sie Stephen musterte. Dann schloss sie die Tür und entfernte die Kette. Wir traten ein.
Wir befanden uns in einem langen Flur, der an der Rückseite des Hauses in einer Terrassentür endete. Als ich eintrat und mich umsah, konnte ich gerade noch eine grauhaarige Dame in einem Zimmer verschwinden sehen. Wir folgten ihr schweigend.
Ich war ziemlich aufgeregt und versuchte mir jedes Detail genau einzuprägen. An der Wand hing ein Landschaftsbild von irgendwo in der Wüste. Es erschien mir ziemlich trist, doch vielleicht war Mrs Meyer ja dort aufgewachsen.
Als wir durch die kleine, dunkle Tür in das Wohnzimmer traten, erblickten wir den Mann, mit dem Rhonda gesprochen hatte. Es war ein Nachtgeist.
„Ich bezweifle, dass ich noch länger willkommen bin.“ Meinte er, nickte Rhonda zu und verschwand.
„Was wollen sie?“ fragte sie. Sie hatte sich am anderen Ende des Raumes mit verschränkten Armen aufgebaut. Trotz ihrer geringen Größe und dem rosa Morgenmantel, den sie trug, wirkte sie sehr autoritär und mir wurde klar, dass sie hier das Sagen hatte. Nichts geschah ohne ihre Zustimmung. Jetzt war ich an der Reihe. "Mein Name ist Gabriella Leek. Ich glaube, sie haben Asael zu mir geschickt um mehr über die Prophezeiung zu erfahren." Ich erwartete, dass Mrs Meyer meine Äußerung abstreiten würde, toben würde, uns hinaus schmeißen, nach Asaels Verbleib fragen. Doch nichts davon geschah. Rhonda war zu einer Säule erstarrt und ihre Augen lagen auf mir. Ich wartete, doch schon nach ein paar Sekunden wurde mir ihr Blick unangenehm. "Mrs Meyer?" Fragte ich vorsichtig. Es kam wieder Leben in sie und sie wandte sich ab.
"Ich habe Asael zu niemandem geschickt. Er meinte nur, er wüsste vielleicht, wie er an die Prophezeiung heran kommen könnte und verschwand. Er ist mein Freund, nicht mein Diener." Wir schwiegen betreten. Er war wohl die längste Zeit ein Freund gewesen. "Was ist geschehen?"
"Mrs Meyer, es tut uns schrecklich Leid ihnen mitteilen zu müssen, dass Asael und die anderen Nachtgeister gestorben sind." Zu meiner Überraschung lachte sie nur. Als sie sich umdrehte, sah sie Stephen an und sagte: "Das IMS hat noch nie um einen Nachtgeist getrauert. Also tun sie nicht so." Dann erst schien ihr die Bedeutung der Worte klar zu werden. "Asael ist tot?" Fragte sie. Sie hielt sich an einer Stuhllehne fest bis ihre Knöchel weiß wurden. Ich sah wie ihre andere Hand zitterte. "Bitte, erzählen sie mir die Geschichte." Und Nathen begann zu erzählen.
Während er sprach, sah ich mich genauer im Raum um. Er war genau so eingerichtet, wie man es von dem Wohn- und Esszimmer einer alten Dame erwarten würde. Es gab eine große Standuhr, ein ungemütlich aussehendes Sofa mit Blumenmuster, einen runden Esstisch aus dunklem Holz und einen kalten Kamin, in dem wohl schon seit Jahren kein Feuer mehr gebrannt hatte. Über dem Kaminsims hingen gerahmte Fotos, von der Familie, vermutete ich. Ich ging näher heran um sie mir anzusehen.
Es waren tatsächlich Familienfotos. Ein altes Hochzeitsbild, vermutlich von Mrs Meyer, dann ein paar Bilder von dem Hochzeitspaar in verschiedenen Lebensphasen: mit der Neugeborenen Tochter auf dem Arm, bei deren Einschulung, an einem Geburtstag, silberne Hochzeit. Schließlich ein Bild von ihrem Ehemann in einem Krankenbett. Er lächelte. Das letzte Bild an der Wand, war das einer jungen Frau, die ein lachendes Mädchen an der Hand hielt, das vielleicht vier Jahre alt war.
Als ich das Foto sah, erstarrte ich, denn ich erkannte meine Mutter darauf. Vorsichtig streckte ich die Hand danach aus. Bevor ich es jedoch berühren konnte hielt ich inne. Aus Angst, es wäre nur eine Illusion und könnte verschwinden. Ich blickte starr auf das Bild und es schien, als würde die Welt die Luft anhalten. Ich wusste nicht, wie lange ich so da stand, ob nur Sekunden oder Minuten, aber schließlich nahm ich das Bild von der Wand. Es löste sich nicht in Luft auf.
Mit zittrigen Fingern löste ich es aus dem Rahmen und drehte es um. Ich musste ein paar Mal tief durch atmen, bis ich die Beschriftung lesen konnte. In Erinnerung an meine geliebte Tochter Jasmin und meine Enkelin Gabriella, aufgenommen den 24.05.2001 Ich starrte auf die Buchstaben und versuchte zu begreifen. Das Blut rauschte in meinen Ohren und überdeckte alle anderen Geräusche, ich spürte mein Herz schlagen. Ich las die Worte noch einmal und noch einmal und noch einmal. Ich bemerkte erst, dass Nathen neben mich getreten war, als er mir die Hand auf den Arm legte. Wortlos gab ich ihm das Foto. Ich betrachtete ihn, als er die Worte las. Ich sah, wie seine Lippen sich bewegten, aber ich konnte ihn nicht hören. Doch ich konnte die Frage in seinen Augen lesen: Bist du das? Ist das deine Mutter? Ich nickte, wollte mich umdrehen, doch das Zimmer schwankte und wurde schwarz.
Als ich aufwachte lag ich auf der Couch, die wirklich so ungemütlich war, wie sie ausgesehen hatte. Ich sah mich um und sah nur Nathen. Er sah mich an. Ich sah ihn an. Ich wusste nicht, was ich sagen könnte.
„Wie geht es dir?“ fragte er schließlich.
„Besser.“ meinte ich und richtete mich auf. Ich ließ meine Arme ein wenig rotieren um meine Schultern zu lockern. Sogar im Sitzen fand ich dieses Sofa grässlich.
„Wir wussten nicht, wann du wieder aufwachen würdest, oder wen du dann sehen wolltest, deswegen haben wir alle rausgeschickt. Ich bin nur geblieben, falls irgendwas passiert.“ Ich nickte stumm. Das Bild von meiner Mutter lag vor mir auf dem Tisch. Ich sah es an und merkte, wie sich schon wieder alles begann zu drehen. Konzentration. Ganz langsam sah ich wieder klar. Es gab keinen Zweifel daran, dass es meine Mutter war. Und ich war das kleine Mädchen.
„Soll ich lieber gehen?“ Aber das war eigentlich unmöglich. Meine Mutter war tot und mein Vater hatte alle Bande zu meiner Vergangenheit mit ihr gekappt. Soweit ich weiß, gab es keine Fotos mehr, die uns zusammen zeigen. Woher sollte Mrs Meyer ein solches Foto haben? Und warum steht meine geliebte Tochter hinten darauf? Meine Großmutter...
„Gabriella?“ fragte Nathen.
„Was?“ Ich sah erschrocken auf.
„Willst du lieber allein sein? Soll ich gehen?“ fragte er noch einmal.
„Nein. Ich weiß nicht... Was ist hier los? Warum...?“ Ich sah wieder auf das Bild und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich hatte jahrelang versucht, ein Bild von meiner Mutter hinzubekommen. Aber es war nie richtig gewesen. Es hat sie nie wirklich gezeigt. Nur ein flaches Abbild von ihr, als hätte ich versucht eine Leiche darzustellen. Ich hatte hunderte solcher missratener Papiere verbrannt. Und jetzt lag hier direkt vor meinen Augen ein richtiges Foto von ihr. Eins, auf dem ihre Augen strahlten, auf dem sie glücklich lächelte. Auf dem sie noch Leben in sich hatte.
„Gabriella, hey, es ist doch alles gut. Nicht weinen.“ Ich hatte kaum bemerkt, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Das konnte nicht sein. Es war einfach unmöglich. Die mathematische Wahrscheinlichkeit, dass Mrs Meyer meine Großmutter war... Nathen hatte sich neben mich gesetzt und zog mich auf seinen Schoß. Er hielt mich ganz fest, wie ein kleines Kind und meine Tränen durchnässten sein Shirt.
Als ich mich einigermaßen wieder beruhigt hatte, fuhr er fort. „Du warst zehn Minuten lang bewusstlos. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht und wollte einen Arzt rufen. Doch Mrs Meyer meinte, dass sie und Jasmin in deinem Alter auch oft in Ohnmacht gefallen sind. Das hängt anscheinend irgendwie mit euren Fähigkeiten zusammen. Ich bin nur froh, dass du wieder wach bist.“
„Dann ist sie also wirklich meine Großmutter? Ich meine, so richtig? Die Granny, an die ich mich kaum erinnern kann?“ fragte ich.
„Ja. Sie hat uns davon erzählt. Wie Jasmin, ich meine deine Mutter, deinen Vater kennen gelernt hat. Und wie er die falschen Leute kennen gelernt hat und schließlich nicht mehr los kam. Mrs Meyer meinte, dass deine Mutter schon ein paar Wochen vor ihrem Tod Angst hatte dich mit ihm allein zu lassen. Sie wollte anscheinend die Scheidung, weil sie ihm nicht mehr vertrauen konnte. Aber dazu kam es dann nicht mehr.“ Ich schluckte, doch dieses Mal kamen die Tränen nicht. Ich hatte mich ausgeweint. „Er hatte den Anstand noch bis nach der Beerdigung zu warten. Dann ist er mit dir verschwunden. Sie hat alles versucht um euch zu finden, hat sogar versucht ihre Visionen zu erzwingen. Nichts. Sie konnte euch nicht finden. Nach ein paar Jahren hat sie es aufgegeben. Damals ist sie ins Krankenhaus gekommen, weil sie tagelang nichts gegessen oder getrunken hatte um zu meditieren und dich so zu finden. Kurz darauf hat sie Asael kennen gelernt. Er hat ihr zurück ins Leben geholfen. Das hat sie gesagt.“
„Und wir haben ihn umgebracht.“ flüsterte ich.
„Nein. Das wollten wir doch nicht. Er hat uns bedroht, das war reine Notwehr.“ Ich sagte nichts, doch ich glaubte Nathen nicht. Ich hätte es verhindern können. Hätte es verhindern müssen. Das wusste ich.
„Warum, ich meine wie... Hat sie mich erkannt? Ich meine bevor ich das Bild gesehen habe? Als ich mich vorgestellt habe? Als ich zur Tür reinkam?“ fragte ich.
„Warum fragst du sie das nicht selbst?“„Ich... ich kann nicht. Ich kenne sie doch gar nicht.“
„Sie ist deine Großmutter. Natürlich kannst du.“ Nein. Nein, nein, nein. Ich wollte nicht. Nicht jetzt. Nicht...
„Nicht jetzt. Ich bin müde, darf ich schlafen?“
„Mrs Meyer hat gesagt, dass du vermutlich müde bist, wenn du aufwachst. Sie hat dir ein Gästebett hergerichtet. Komm, ich bringe dich hin.“ Ich bin aber doch gar nicht müde. Bitte Nathen, glaub mir nicht. Doch glaub mir. Ich brauche dich, tu es nicht. „Keine Sorge. Die anderen sind in der Küche. Wir werden ihnen nicht begegnen.“ Also folgte ich ihm hinauf in den ersten Stock. Ich achtete nicht darauf, wo er mich hinbrachte. Ich wollte nur allein sein. Bei ihm sein. Weg von allem anderen.
Als ich unter der Decke lag gab er mir noch einen schnellen Kuss auf die Stirn. Dann ging er. Ich hörte zu, wie er die Treppen hinunterstieg und die fünfte Stufe knarzte. Ich hörte, wie er unter mir ein Zimmer betrat, vermutlich die Küche.
„Sie war ziemlich fertig. Aber ich denke, dass es ihr, sobald sie geschlafen hat, besser geht.“
Warum hast du mir geglaubt, Nathen? Ich bin nicht müde...
„Ich mag aber kein schwarz.“ Jammerte ich zum bestimmt hundertsten Mal.
„Gabriella, das ist die Beerdigung von deiner Mutter. Beherrsche dich ein bisschen.“ Da war er wieder, der scharfe Unterton in der Stimme meines Vaters, der seit ein paar Monaten immer öfter auftauchte. Damals wusste ich noch nicht warum, aber er machte mir Angst. Tränen stiegen mir in die Augen.
„Warum bist du immer so gemein zu mir?“ Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf. Die bockige Phase ging bei mir fast zwei Jahre – bis mein Vater mich solange zwang Papier zu Geld zu machen, bis ich umkippte. Danach hatte ich jahrelang fast gar nichts mehr gesagt.
„Weil ich nur das Beste für dich will. Und jetzt musst du still sein, der Pfarrer redet.“ Ich hörte zu, wie der Pfarrer sprach, etwas von einer geliebten Mutter und Ehefrau sagte, von einem großen Verlust für die Gemeinde. Und wie sehr er es bedauerte, dass Jasmins Mutter nicht hier sein konnte. Als ich das hörte sah ich mich um. Meine Granny war tatsächlich nicht dort, und dabei hatte sie mir am Telefon doch versprochen zu kommen. Sie sollte jetzt hier sein, bei mir und bei Mami.
Dann mussten wir an das Loch im Boden herantreten und Papa sagte, ich müsste eine Hand voll Erde auf den Holzkasten schmeißen. Ich schüttelte widerwillig den Kopf. Mit gerade erst sieben konnte ich nicht begreifen, was es bedeutete, dass meine Mami jetzt tot war, aber ich wusste dass sie da unten in dem Kasten lag und ganz fest schlief. Und das es ihr gut gehen sollte. Und ich wusste, dass sie immer gern unter freiem Himmel geschlafen hatte. Ich wollte ihr keinen Dreck auf den Kopf werfen.
Danach kamen ganz viele Leute zu uns und haben mich in den Arm genommen. Ich bin ganz nass geworden, weil sie alle geweint haben. Ich habe das nicht verstanden, Mami schlief doch nur. Und wenn sie aufwachte, dann würden wir wieder zu einer richtigen Familie werden und Sonntagsausflüge machen und gemeinsam Granny besuchen.
Erst mir neun habe ich aufgehört zu hoffen, dass sie wiederkommt.
Ich hasste es, von der Beerdigung meiner Mutter zu träumen. Das war meistens nicht nur ein schlechtes Omen, sondern hinderte mich auch daran, einen erholsamen Schlaf zu bekommen. Wenn ich nach einer solchen Nacht aufwachte, waren meine Augenringe schwärzer als am Abend zuvor.
„Gabriella was hältst du davon?“ fragte Sam mich.
„Wovon?“
„Einen Ausflug in die Mongolei zu machen und uns diese Gefahr einmal anzusehen.“
„In die Mongolei? Das kann ich mir nie im Leben leisten. Außerdem muss ich morgen wieder zur Schule.“ Meine Gedanken drehten sich gerade nicht unbedingt um eine mysteriöse Kraftquelle auf einem anderen Kontinent.
„Wir meinen doch auch nicht jetzt, sondern irgendwann, wenn du Ferien hast, zum Beispiel.“ Fuhr sie fort.
„Die nächsten Schulferien sind erst in fünf Wochen.“ Meinte Nathen.
„Das könnte zu spät sein.“ Warf Rhonda ein. Es war eigenartig, sie bei ihrem Vornamen zu nennen. Es kam mir genauso falsch vor, wie Granny oder Mrs Meyer. Aber es war irgendwie die beste Alternative.
„Aber ich finde, es wird langsam Zeit, dass mal jemand herausfindet, mit was wir es eigentlich zu tun haben.“
„Das finde ich auch wichtig, aber wir müssen eine andere Möglichkeit finden.“ Lenkte Stephen ein.
„Und wie sollte die aussehen?“
„Ich habe keine Ahnung.“ Gab er zu.
„Aber ich habe womöglich eine Idee. Wir könnten sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“
„Und welche?“ fragte Nathen neugierig.
„Die Prophezeiung lautet: Im Osten rüstet sich des Feindes Kraft,
Im Westen ein Krieg wird neu entfacht.
Um zu bewahren euer aller Leben,
Freund und Feind müssen die Hände sich geben.
Nur durch unmögliche Liebe wird die Welt gerettet,
Einer der Freunde im Tode sich bettet.“
„Ja, das wissen wir, und?“ fragte ich nach. Wenn es um die Prophezeiung ging, war mein Interesse geweckt, denn ich wurde einfach das Gefühl nicht los, dass sie mich betraf.
„Asael und seine Freunde sind tot. Wir müssen schnell neue Nachtgeister finden, die mit uns zusammenarbeiten können. Sie haben die Möglichkeit durch spiegelnde Oberflächen jeden beliebigen Punkt auf der Welt zu betrachten. Sie könnten uns auch die große Gefahr zeigen.“
„Dann müssen wir schnell welche finden.“
„Das ist nicht so einfach. Ich bezweifle, dass wir so schnell welche finden werden. Nachtgeister, die für eine Zusammenarbeit offen stehen, sind extrem selten. Immerhin werden sie in dem Glauben erschaffen, dass die Magier und Hexen die Bösen sind.“
„Und was sollen wir dann tun?“ fragte ich.
„Wir müssen selbst einen erschaffen.“ Rhondas Aussage fiel in den Raum wie ein Stein. Der Nachhall ihrer Worte blieb im Raum stehen. Einen Nachtgeist erschaffen – das könnte unser Tod sein. Es ist strengstens verboten. Ich hatte beim IMS gelernt, es niemals zu tun.
„Wir wissen nicht wie.“ Wandte Stephen schließlich ein.
„Ich schon.“ Es war reiner Wahnsinn.
„Rhonda, das kannst du nicht ernst meinen!“ sagte ich schließlich. Einen Nachtgeist zu erschaffen, das verstieß gegen alle Prinzipien, die ich beim IMS gelernt hatte.
„Gabriella, bitte. Sehe ich aus, als würde ich scherzen?“
„Woher haben sie dieses Wissen?“ fragte Stephen.
„Asael hat mir letztes Jahr zu Weihnachten ein Buch über die Nachtgeister geschenkt. Es stehen viele interessante Dinge darin. Dinge, die Direktor Millers versucht zu verheimlichen.“
„Direktor Millers verheimlicht Fakten über die Nachtgeister?“ fragte Sam erschrocken, „Ich lehre seit Jahren junge Hexen und Magier nach dem, was Mr Millers mir vorgibt. Soll das heißen, es ist gelogen?“
„Nein. Es ist einfach nur ein Bruchteil dessen, was die Nachtgeister ausmacht. Es ist wahr, dass die Nachtgeister von Magiern erschaffen wurden, damit sie nicht selbst kämpfen mussten. Doch die Nachtgeister werden nicht mit der Magie geboren. Ihre Meister müssen sie ihnen einflößen. Das macht ihnen überhaupt nichts aus, doch wenn die Nachtgeister zu wenig bekommen, dann verhungern sie. Die Meister der alten Zeit haben das immer mehr vernachlässigt und deshalb wandten sich die Nachtgeister gegen sie. Und wenn sie heute auf die Jagd gehen, dann töten sie oft nur zur Selbstverteidigung oder aus altem Groll. Sie müssten uns gar nichts tun, wenn wir sie ernähren würden.“
„Heißt das, die Nachtgeister sind gar nicht böse, sondern folgen nur ihrem Selbsterhaltungstrieb?“
„Genau das heißt es.“
„Was kannst du uns noch erzählen?“ fragte ich neugierig. Ich hatte gewusst, dass Mr Millers viel verheimlichte, aber so etwas? Nie im Leben.
„Zu viel, als das wir das alles heute Nacht schaffen würden.“
„Wir schweifen vom Thema ab. Was bringt es uns, einen Nachtgeist zu erschaffen?“ hakte Stephen nach.
„Ein Nachtgeist weiß, wenn er erschaffen wird, all das, was seine Art weiß. Er wird uns als die Bösen sehen, doch wir könnten ihn überzeugen, dass dem nicht so ist. Und gemeinsam könnten wir mehr Menschen zur Zusammenarbeit bewegen. Vielleicht reicht das ja schon, um die Macht zu bezwingen.“ Erklärte Rhonda.
„Meinst du wirklich?“
„Ich weiß es nicht. Aber es ist besser, als nur dabei zu zusehen, wie die Welt untergeht.“
Ich glaubte nicht, dass wir das gerade wirklich machten. In ein Buch sehen und den Zauber für die Erschaffung eines Nachtgeistes vorbereiten. Das war doch totaler Irrsinn.
„Wie wollen wir die Menschen davon überzeugen, dass die Nachtgeister nicht böse sind, und dass wir mit ihnen zusammen arbeiten können?“ fragte ich.
„Wenn ich das nur schon wüsste. Wir brauchen etwas, dass sie erstaunt und fasziniert, etwas über das sie reden können, was ihnen aber gleichzeitig nicht völlig fremd ist.“ Erklärte Rhonda.
„Du meinst so etwas wie ein tragisches Liebespaar?“ fragte Stephen.
„Genau! Das ist eine hervorragende Idee. Nathen, räume doch bitte schnell den Teppich zur Seite. Ich muss den Kreis auf den Boden zeichnen können. Ein Liebespaar wird in den Gedanken der Menschen hängen bleiben. Sie müssten anfangen, darüber nach zu denken.“
„Aber wir können doch nicht sagen, dass einer von uns sich jetzt plötzlich verliebt hat." Warf ich ein, "Ich meine, Stephen ist verheiratet, und du Rhonda - tut mir Leid das so sagen zu müssen - stehst beim IMS nicht gerade im besten Licht. Und Nathen und ich... Jeder weiß, dass wir zusammen sind."
"Dann mache ich es." Sam zuckte die Schultern. Es war unsere scheinbar einzige Möglichkeit, doch Rhonda sah skeptisch aus.
"Stephen, Sam, seht doch bitte noch einmal die Kräuter durch, ob auch alles da ist. Gabriella und Nathen - ihr kommt mit mir." Nathen sah genauso erschrocken aus wie ich mich fühlte, aber wir folgten Rhonda aus dem Raum. Sie hatte kein Wort zu dem neuen Arrangement gesagt.
Rhonda führte uns zurück ins Wohnzimmer. Meine Mutter schien mich von der Wand aus vorwurfsvoll anzustarren, deswegen wandte ich schnell den Blick ab. Ich hatte sowieso schon ein ungutes Gefühl.
"Das wird nicht funktionieren." Sagte Rhonda schließlich.
"Was meinst du?" Fragte ich zurück.
"Niemand wird Sam ernst nehmen. Ich bin seit Jahren nicht mehr beim IMS, aber sogar ich habe schon gehört, dass sie das 'Freie Liebe'-Motto der Siebziger sehr ernst nimmt." Eine Pause entstand. Ich hatte versucht so wenig wie möglich über Sams Privatleben nachzudenken. Die vielen Namen konnte sich sowieso niemand merken. "Niemand wird ihr glauben, dass sie ganz plötzlich ernsthaft verliebt sein soll. In einen Nachtgeist. Direktor Millers wird behaupten, der Nachtgeist hätte sie gezwungen und wird ihn jagen lassen. Damit hätten wir nichts erreicht." Fügte Rhonda nach einer kurzen Pause noch hinzu. Mein Kopf pochte vor Schmerz, weil ich einerseits wusste, dass sie recht hatte. Aber ich konnte mir nicht eingestehen, was das bedeuten würde. Ich hob den Blick zurück zu dem Foto von Mum. Ihr Anblick machte es nicht besser.
"Aber wir haben keine Wahl." Meinte Nathen.
"Doch die haben wir." Antwortete Rhonda und sah mich an. Ich hatte begriffen und ich wusste, dass es so am Besten war, aber ich würde mich wahrscheinlich ewig dafür hassen. Und Nathen erst.
"Ich kann so tun als wäre ich mit dem Nachtgeist zusammen."
"Aber Gabriella... Das bedeutet..."
"Wir müssten Schluss machen. Ich weiß. Aber wenn es funktionieren soll, bleibt uns kaum eine andere Möglichkeit." Ich nahm am Rande wahr, dass Rhonda sich zurück zog. Das war sehr rücksichtsvoll von ihr, doch es rettete die Situation in keinster Weise. Nathens verletzter Blick ließ mich meine Entscheidung schon jetzt bereuen.
"Gabriella wir finden bestimmt noch etwas anderes, das wir tun können. Du musst nicht..."
"Doch Nathen und das weißt du. Ich weiß, dass man sagt man hätte immer eine Wahl. In diesem Fall haben wir die Wahl zwischen scheitern und die Welt retten."
"Aber es muss eine andere Lösung geben."
"Nein." Ich nahm Nathens Hände, "Die gibt es nicht. Nicht für mich. Das... Das klingt jetzt hart, aber glaub mir: das fällt mir auch nicht leichter als dir." Er sah mich stumm an. "Es reicht ja, wenn wir so tun, als wären wir getrennt. Ich werde ja auch nur so tun, als würde ich den Nachtgeist lieben. Wir schaffen das. Aber nur zusammen." Sekunden verstrichen in denen ich mich in Nathens Augen verlor während ich auf ein Antwort wartete. Ich hoffte, das es nicht das letzte Mal war, dass er mich so ansah.
"Okay. Dann lass uns die Welt retten." Sagte er endlich und das Lächeln, das ich so liebte stahl sich zurück auf sein Lippen. Eigentlich wollte ich ihm um den Hals fallen, aber in diesem Moment ertönte im Flur ein lautes Krachen. Ich blickte hinaus, konnte aber außer einer Staubwolke nicht viel erkennen. Also rannte ich los.
Ich unterdrückte einen Hustenanfall und suchte den Raum nach Rhonda ab. Ich konnte sie nirgends entdecken.
Doch, da war sie! Sie lag auf einer umgestürzten Kommode. Und sie bewegte sich nicht.
"Gabriella, pass auf!" Keine Ahnung woher der Warnruf kam, aber ich duckte mich gerade noch rechtzeitig unter einem Messer hindurch, dass mich direkt ins Herz getroffen hätte.
Ich wirbelte herum und sah meinen Angreifer auf der anderen Seite des Raumes stehen. Er machte sich zum nächsten Wurf bereit und dieses Mal würde er treffen. Mein Blick huschte über die Trümmer, die überall verteilt waren, in der verzweifelten Suche nach einem provisorischen Schutzschild.
Der wurde zum Glück unnötig, denn in diesem Moment löste der Eindringling sich in Rauch auf. Stephen stand mit erhobenem Schwert hinter ihm. Er warf mir meine eigene Klinge zu.
"Draußen sind noch mehr." Meinte er nur, aber das war alles was ich wissen musste. Wir rannten hinaus.
"Kümmere dich um Rhonda!" Rief ich über die Schulter in den Raum, in der Hoffnung Nathen würde mich hören und sich angesprochen fühlen.
Draußen hatte sich Sam zwischen den Rosensträuchern und der Hauswand verschanzt und warf mit allenmöglichen Gegenständen nach den restlichen zwei Nachtgeistern. Ich sah einen Wecker fliegen. Gefolgt von einer Plätzchendose, aus der noch im Flug die Kekse fielen. Ich und Stephen gingen auf die Angreifer los und es dauerte nicht lange, bis sie sich in Luft auflösten. Wir waren ein gutes Team.
"Was zur Hölle ist denn passiert?" Fragte ich, während wir wieder hinein gingen.
"So genau weiß ich das auch nicht. Ich habe gehört, wie die Nachtgeister direkt vor dem Haus gelandet sind und wollte euch eigentlich noch warnen, aber da flog uns auch schon die Tür um die Ohren. Die Nachtgeister müssen sie mit einem Zauber aus der Wand gesprengt haben. Mann war das laut. Als wir in den Flur kamen war alles so voller Staub, dass man kaum etwas erkennen konnte. Sam ist direkt nach draußen gelaufen, weil sie meinte etwas gesehen zu haben -"
"Habe ich ja auch! Die Nachtgeister waren schließlich wirklich draußen." Unterbrach Sam Stephen.
" - und was ich getan habe, das weißt du ja." Beendete Stephen seine Erzählung.
"Ja. Und was ist mit Rhonda?" Fragte ich.
"Mir geht es gut. Um mich umzulegen braucht man mehr als nur eine gesprengte Tür." Meine Großmutter stand schwankend in der Tür zum Wohnzimmer, aber sie stand. Ich atmete erleichtert aus. "Lasst uns den Zauber beenden." Und schon ging sie wieder in die Küche, die wir für unseren Zauber in eine Art Magielabor verwandelt hatten.
Auf dem Esstisch standen hundert verschiedene Gefäße mit Kräutern, gepressten Blätter, Flüssigkeiten, deren genaue Zusammensetzung ich gar nicht wissen wollte und noch so einiges. Das ganze war rund um einen antik aussehenden Messingtopf aufgebaut, der auf einem Campingkocher stand. Die Flammen züngelten blau an dem Metall nach oben und Rhonda schob das Buch noch ein Stück weiter davon weg.
"Wo waren wir... Ach ja. Die blaue Feder eines Erpels, das hatten wir zuletzt. Ein getrocknetes Ahornblatt. Gräser von einem Grabhügel..." Während sie vor sich hin murmelte warf sie so allerlei in den Topf, der eine dickflüssige, mit Klumpen durchzogene, grau-braune Pampe enthielt. Eindrucksvoll war das nicht, eher ecklig.
"So, fast fertig." Sie wischte ihre Hände an einem Handtuch ab. Dann bat sie uns zu sich. "Stephen, Sam, Gabriella? Gebt euch die Hände und schließt die Augen. Es ist ein mächtiger Zauber nötig um ein neues Lebewesen zu erschaffen. Konzentriert euch. Zusammen dürfte es kein Problem sein." Wir taten was sie uns sagte und sie begann einen Zauber aufzusagen. Dummerweise war der auf Latein und ich verstand kein Wort. Irgendwann hörte sie auf und ließ meine Hand los. "Jetzt brauchen wir noch das Blut eines Sterblichen... Nathen, wärst du so freundlich?" Er trat zögernd näher. "Keine Sorge, ich brauche nur drei Tropfen." Rhonda lachte und zog eine Nadel aus einem Nadelkissen. Nathen reichte ihr seine Hand und sie piekte hinein. Ich sah, wie er kurz zusammen zuckte. Dann hielt sie den Finger über den Topf und presste drei Tropfen Blut heraus. Sofort wurde die Flüssigkeit rot. Das war schon beeindruckend. "Und jetzt noch..." Sie suchte auf dem Tisch nach etwas und gab sich schließlich mit einem großen Messer zufrieden. "Das Blut aus der rechten Hand einer Hexe." Sie zog sich das Messer über die Handfläche. Ich hatte zu spät begriffen, was sie vorhatte und jetzt war es zu spät um ihr mein Blut anzubieten. Das Messer schien scharf zu sein, der Schnitt füllte sich sofort mit Blut. Rhonda hielt die blutende Hand etwa zehn Sekunden lang über den Topf und er begann stark zu dampfen. Die Luft roch plötzlcih eklig süß.
Rhonda umwickelte ihre Hand mit schon bereitgelegter Mullbinde und trat zurück in den Kreis.
"Warum hast du mich nicht gefragt? Du hättest meine Hand aufschneiden sollen." Meinte ich vorwurfsvoll.
"Ach Schwachsinn. Mir macht das viel weniger aus, schließlich bin ich Linkshänderin." Sie reichte uns die Hände und begann noch einmal ihren Spruch aufzusagen. Obwohl ich immer noch wütend auf sie war, schloss ich die Augen und konzentrierte mich. Dieses Mal konnte ich spüren, wie sie meine Kräfte kanalysierte. Es war nicht unbedingt ein gutes Gefühl.
Es ist schwer zu beschreiben, aber es fühlte sich an als würde eine unsichtbare Kraft an meinem Herz reißen. Ich ließ es zu und spürte, wie sich um Rhonda herum ein Kraftmonopol aubaute. Als es schließlich begann sich zu verlagern, konnte ich es vor meinem inneren Auge sehen. Die Kräfte zogen sich in der Mitte unseres Kreises zusammen, formten zuerst eine Säule und schließlich die Silhouette eines jungen Mannes. Als ich die Augen öffnete, stand ein Nachtgeist nur wenige Zentimeter vor mir. Ich schrie erschrocken auf und taumelte ein paar Schritte zurück. Seine Augen hatten für einen Moment so ausgesehen wie die des Nachtgeistes in Sams Buch. Schwarz wie die Nacht, aber mit einem dunklen Feuer darin. Jetzt wurden sie langsam leuchtend grün. Oder war es sturmgrau? Umso länger ich hinein sah umso unsicherer wurde ich. Sie schienen die ganze Zeit die Farbe zu wechseln, als könnten sie sich noch nicht recht entscheiden. Rhonda räusperte sich. Ich sah schnell zur Seite.
"Willkommen. Kannst du uns deinen Namen nennen?" Fragte sie. Der Nachtgeist richtete sich zu seiner vollen Größe - er war größer als ich dachte, mindestens 1,90 groß - auf und wandte sich ihr zu. Ich trat wieder vor und schloss den Kreis.
"Mein Name ist Damien. Sagt mir, warum habt ihr mich erschaffen?" Antwortete er mit einer melodiösen Stimme, die tief war, aber nicht unangenehm. Seine Aussprache war deutlich, fast als wäre er Ausländer und würde sich extra anstrengen alles richtig zu machen. Zum ersten Mal fragte ich mich, was für eine Sprache die Nachtgeister eigentlich sprachen.
"Wir möchten die Welt retten." Sagte Sam ganz unverblümt.
Der Nachtgeist lachte. "Und dafür erschafft ihr einen Nachtgeist? Ich dachte der Direktor des IMS hat uns den Krieg erklärt."
"Sagen wir einfach, dass wir einen anderen Weg einschlagen, als den des Direktors." Wandte Stephen kurz angebunden ein.
"Und welchen?" Fragte der Nachtgeist. Nein, Moment. Sein Name war Damien. Es war komisch an einen Nachtgeist zu denken, dessen Namen man kennt. Das machte ihn so... menschlich.
"Wir haben eine Prophezeiung. Aus ihr können wir erschließen, dass sich Nachtgeister und Magier zusammen tun müssen um eine große Gefahr, die in der Mongolei droht, zu besiegen. Und genau das haben wir vor." Erklärte Rhonda. Mir war durchaus bewusst, dass wir Nathen aus dieser Runde ausgeschlossen hatten, aber mir war auch bewusst, dass er von hinten immer näher an mich heran kam. Er griff nach meiner Hand. Seine Berührung gab mir ein unerklärliches Gefühl von Sicherheit und sofort fühlte ich mich mutiger.
"Und wozu erschafft ihr dann einen neuen Nachtgeist? Ihr wollt doch alle überzeugen - da macht einer mehr nur noch mehr Arbeit." Wandte er ein.
"Wir müssen beweisen, dass wir den Nachtgeistern nichts böses wollen, damit sie sich überhaupt auf ein klärendes Gespräch einlassen. Dazu brauchen wir ein Beispiel." Erklärte Stephen weiter.
"Ein Beispiel?"
"Ja. Das überzeugendste Beispiel wird eine Beziehung zwischen einem Nachtgeist und einer Hexe sein. Das wird die Menschen überzeugen, dass eine Zusammenarbeit möglich ist." Wow. So wie Stephen es erklärte, klang unser Plan hochprofessionell, als ob er gar nicht scheitern könnte.
"Ach, und mit wem soll ich zusammen sein?"
"Mit mir." Warf ich ein, bevor Sam auch nur den Mund öffnen konnte. Damien sah mich erstaunt an und zog schließlich fragend die Augenbrauen hoch, als er auf meine mit Nathens verschränkten Finger blickte.
"Natürlich wird das ganze nur gespielt sein. Nur für die Öffentlichkeit. Es geht nur darum, wie es wirkt." Versuchte ich mich zu rechtfertigen.
"Aha. Also willst du für alle in mich verliebt sein, aber in diesem kleinen Kreis an den Lippen dieses Sterblichen hängen?" Ich spürte wie Nathen sich versteifte. So wie Damien sich ausgedrückt hatte, klang es nach einer Beleidigung. Als wäre Nathen nicht so gut wie ein Magier oder ein Nachtgeist.
"Woher weißt du, dass er kein Magier ist?" Fragte ich, bevor die Situation eskalieren konnte.
"Ach komm. Ich weiß doch, wessen Blut durch meine Adern fließt. Das seinige, damit ich Magie nicht beutzen kann wie ich will. Und das Ihrige" - er wandte sich zu Rhonda - "damit ich ihrer dennoch fähig bin. Es ist ein riskantes Spiel, Hexe, das du spielst indem du mir das Blut deiner Familie gegeben hast. Das ist dir doch bewusst oder?"
"Mein Name ist Rhonda." Knurrte sie nur. Keine Reaktion auf seine Andeutungen. Ich fragte mich, was an dem Blut meiner Familie so besonders war.
"Na schön, Rhonda. Ich gehe davon aus, dass ihr mich tötet, falls ich eurem Plan nicht zustimme. Deswegen bin ich einverstanden. Es ist ein guter Plan und ich denke, es wird Zeit, dass Magier und Nachtgeister sich vertragen - dazu wurden wir schließlich geschaffen." Damien grinste und seine makellos weißen Zähne blitzen im Licht. Warum hätten sie auch nicht weiß sein sollen? Er hatte ja noch nie gegessen. Ich entspannte mich. Er hatte zugestimmt, das war doch schon mal ein guter Anfang. Ich tat einen Schritt nach hinten, aus dem Kreis heraus, und lehnte mich an Nathen.
"Ach und Rhonda?" Damien wartete, bis alle Blicke auf ihm lagen, bevor er fortfuhr, "Wann willst du ihnen sagen, dass es dir nicht so gut geht wie du tust?" Alle Blicke jagten zu meiner Großmutter, die bewegungslos im Türrahmen verharrt war. "Was, hast du gedacht ich wüsste nur das, was lange vergangen ist und nicht das, was kürzlich geschah? Du solltest besser wissen, welche Macht Blut hat. Vor allem deines." Da war sie wieder. Die Andeutung, dass etwas mit dem Blut meiner Familie nicht stimmte.
Ich wartete darauf, dass Rhonda antwortete, sich erklärte, doch sie straffte nur den Rücken und verschwand aus unserem Blickfeld.
"Ich bin gleich wieder da." Sagte ich zu Nathen und ging ihr hinterher. Ich konnte Damien fast grinsen spüren.
"Rhonda?" Rief ich. Wo war sie nur hin? "Wo bist du? Ist alles in Ordnung?"
"Ich bin hier." Kam ihre Stimme schwach aus einem der Zimmer. Ich näherte mich der Tür, die nur angelehnt war.
Hinter der Tür befand sich ein Schlafzimmer. Rhonda lag auf dem Bett und mühte sich gerade mit der Decke ab.
"Was ist denn los?" Fragte ich sie.
"Ich bin alt." Antwortete sie, als wäre das doch offensichtlich, "Meine Kräfte verlassen mich langsam."
"Aber du warst doch die ganze Zeit so stark. Du bist noch so aktiv und... Du siehst doch auch gar nicht alt aus."
"Es ist lieb, dass du das sagst, aber es stimmt nicht. Sieh mich doch an! Ich bin fast fünfzehn Zentimeter kleiner als meine Enkelin, schlurfe in einem rosa Morgenmantel durch ein Haus, das nicht einmal halb so alt ist wie ich und lasse Nachtgeister für mich die interessante Arbeit erledigen. Und die sind jetzt tot." Das schlechte Gewissen durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich hätte das verhindern müssen. "Ich bin die letzte meiner Generation. Ich habe meine Tochter um viele Jahre überlebt. Und keine Mutter sollte jemals nach ihrem Kind sterben."
"Aber Rhonda..." Begann ich, doch eigentlich wusste ich nicht was ich sagen sollte.
"Die letzten Jahre habe ich nur noch gelebt in der Hoffnung meine verschollene Enkelin wieder zu sehen. Das Leben hat mir diesen Traum nun erfüllt." Sie lächelte und strich mir vorsichtig die Haare hinters Ohr. Tränen stiegen mir in die Augen und drohten überzulaufen. "Du trägst eine so große Last auf deinen Schultern - viel größer noch, als du bis jetzt weißt. Ich wünschte ich könnte daran etwas ändern, doch du bist die letzte deines Blutes. Die letzte Baiyuo. Vergiss das nie."
"Ich verstehe nicht." Gab ich zu.
"Du wirst es früh genug verstehen. Das ist jetzt noch nicht wichtig. Du musst mir genau zu hören. Es ist dir vorherbestimmt gemeinsam mit Damien diese Welt zu retten. Du musst..."
"Du meinst soetwas wie Schicksal?" Unterbrach ich sie.
"Gabriella Eileen. Wie oft habe ich dir gesagt du sollst mich nicht unterbrechen? Aber ja, Schicksal. Sieh mich nicht so überrascht an! Ich kann in die Zukunft blicken, meinst du, da wüsste ich nichts von Schicksal?"
"Kannst du mir mehr darüber erzählen?" Bat ich. Mein Schicksal. Wie das wohl aussah? Ich fragte mich urplötzlich, ob ich lange genug leben würde um das herauszufinden. Ich verdrängte den Gedanken wieder, zumal er überhaupt keinen Sinn ergab: wenn es mein Schicksal war etwas zu tun, dann würde ich ja wohl kaum vorher schon sterben.
"Es ist gefährlich seine Zukunft zu kennen. Zu gefährlich. Aber du musst soviel wissen: wenn du und Damien Erfolg haben wollt, dann müsst ihr so mächtig werden wie ihr nur könnt. Verstehst du mich?" Ich nickte. "Wie?" Fragte ich zurück.
"Ein Nachtgeist speist sich von der Magie seines Meisters. Das weißt du, nicht wahr? Dabei kommt niemand zu Schaden. Doch ein Nachtgeist kann auch töten, wenn er dem Magier zu viel seiner Magie nimmt. Dadurch wird er noch viel mächtiger. Du musst dafür sorgen, dass Damien meine Magie an sich nimmt. Meine ganze Magie." Ich wollte zu einem Widerspruch ansetzen, doch Rhonda ließ mir keine Chance dazu. "Es ist die einzige Möglichkeit, hörst du?"
"Aber dann stirbst du." Warf ich ein. Es war mir unmöglich die Tränen noch länger zurück zu halten.
"Ich bin sowieso so gut wie tot. Als die Nachtgeister die Tür gesprengt haben, bin ich umgefallen. Dabei ist eine meiner Rippen gebrochen."
"Aber das kann man doch behandeln." Meinte ich. Aber eigentlich dachte ich: du hast einen so schweren Zauber mit einer gebrochenen Rippe ausgeführt?
"Der Zauber hat mich sehr angestrengt. Es ist zu spät für mich. Ich würde das Krankenhaus nie wieder verlassen."
"Sag doch sowas nicht..."
"Gabriella Eileen Leak. Widersprich einer alten Dame gefälligst nicht. Ich hatte ein langes, erfülltes und glückliches Leben. Ich bin bereit zu sterben. Jeder Mensch möchte die Welt bewegen. Ich habe die Möglichkeit sie zu retten - und wenn dazu mein letzter Atemzug nötig ist."
"Aber..." Ich schluchzte. Das hier war nicht richtig. Aber ich glaubte ihr, wenn sie sagte, dass es unsere einzige Möglichkeit war. Das gefiel mir nicht und es machte mir Angst.
"Bitte, hör auf mich davon abbringen zu wollen und lass mich in Würde für meine Enkelin und die Welt in der sie leben wird, sterben."
Ich nickte. Meine Tränen hatten die Decke bereits an einer Stelle dunkel gefärbt. Jetzt beugte ich mich herunter und umarmte meine Grandma. "Ich werde dich nie vergessen." Schwor ich ihr.
"Das hoffe ich doch. Irgendwer muss schließlich die Geschichten meiner Heldentaten weiter erzählen." Ich lachte kurz und konnte sogar durch meinen Tränenschleier erkennen, dass Rhonda lächelte.
"Ich liebe dich, Granny."
"Ich liebe dich auch, mein Kind. Und jetzt geh, bevor ich sterbe ohne meine Kräfte auf Damien übertragen zu haben."
Es war falsch. Es war einfach nur falsch. Und es zeriss mir das Herz doch ich ging aus dem Raum und zurück in die Küche. Die anderen warteten schon auf mich.
"Was ist los?" Fragte Sam erschrocken, als sie meine Tränen sah. Nathen sprang von seinem Stuhl auf und kam zu mir, aber ich ließ nicht zu, dass er mich in die Arme nahm. Noch nicht.
"Sie stirbt." Sagte ich nur. Daraufhin war es totenstill im Raum. Ich zwang mich den Blick zu heben und Damien anzusehen. "Ich möchte, dass du zu ihr gehst. Nimm ihr ihre Kräfte." Damien grinste und machte sich davon. Jetzt erst ließ ich zu, dass Nathen mich berührte. Ich vergrub das Gesicht an seiner Schulter.
"Du willst, dass er ihre Kräfte an sich nimmt?" Fragte Stephen. Ich rechnete es ihm hoch an, dass er seine Gabe nicht genutzt hatte um mein Gespräch mit Rhonda zu belauschen.
"Es ist ihr Wunsch. Sie will, dass Damien so stark wie möglich wird. Und das soll ihr Beitrag sein."
"Aber... Wie kannst du das zulassen? Sie ist deine Grandma!" Sagte Sam.
"Sie ist meine letzte Verwandte. Ich... Ich konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen. Bitte, fragt nicht weiter nach." Ich wusste nicht, wie Sam mich überhaupt hören konnte, denn ich nuschelte noch immer in Nathens Shirt hinein. Ganz langsam nur, schienen mir die Tränen auszugehen.
Doch dann kam Damien zurück. "Sie ist tot." sagte er und meine Tränen begannen von Neuem zu fließen.
"Wir sollten schlafen gehen." Meinte Stephen schließlich.
"Was ist mit Rhonda?" Fragte Sam.
"Wir werden morgen früh eine Meldung machen. Bevor wir wieder fahren. Aber es war ein langer Tag. Wir alle brauchen Ruhe." Erklärte er. Ich nickte. Er hatte Recht.
Also gingen wir nach oben und legten uns schlafen. Damien blieb im Wohnzimmer. Er hatte sich bereiterklärt auf der ungemütlichen Couch zu übernachten. Vielleicht war er doch nicht so ein Arschloch wie ich gedacht hatte.
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Zu fünft war es ziemlich eng in Stephens Auto. Ich war froh, dass Damien auf dem Beifahrersitz saß. Auch wenn er sich heute viel besser benahm als gestern - ich konnte nicht vergessen, dass er meine Granny getötet hatte. Zumindest irgendwie. Ihn zu sehen, in seiner Nähe zu sein, erinnerte mich zu sehr an sie. Es war eine Erinnerung, die mehr schmerzte als ich zugeben wollte.
Ich war heute morgen mit Kopfschmerzen aufgewacht und die waren auch seitdem nicht mehr abgeklungen, obwohl ich mir aus Rhondas Medizinschrank zwei Tabletten genommen hatte. Dass wir zu fünft in einem Auto saßen und heftig über das Geschehene diskutierten machte es nicht besser. Im Gegenteil.
"Die Menschen wissen, dass du und Nathen zusammen seid, was wollt ihr ihnen denn sagen, warum ihr euch getrennt habt?" Fragte Stephen.
"Keine Ahnung." Seufzte ich. Nathen drückte - mal wieder - meine Hand.
"Es glaubt euch doch sowieso niemand." Knurrte Sam. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass ich ihren Platz eingenommen hatte. Es schmeichelte mir, dass sie das sagte - aber es war nicht sonderlich hilfreich.
"Sagt doch einfach, dass es wegen mir war." Warf Damien ein.
"Ja klar. Weil Gabriella der Typ dafür ist, sich ganz plötzlich neu zu verlieben, obwohl sie schon total glücklich in einer Beziehung ist. Das würde man dann doch eher mir zutrauen." Meinte Sam. Also war sie wohl doch immer noch sauer auf mich.
"Gibt es eine bessere Alternative?" Fragte Damien. Schweigen. Er hatte Recht und es störte mich, dass mich das störte.
"Gut, dann machen wir es so." Sagte Nathen zu allen, aber er sah dabei nur mich an. Ich nickte zögernd. Es musste einfach funktionieren.
Warum sollte es auch nicht funktionieren? Ich musste doch nur aller Welt vorspielen, nicht mehr in Nathen sondern in Damien verliebt zu sein. Musste die schrägen Blicke und Beschimpfungen, die mit Sicherheit von einigen Magiern kommen werden, aushalten. Und durfte nie Schwäche zeigen, weil Shila das sofort merken würde. Was sollte da schon schief gehen? War doch alles kein Problem.
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Als ich durch die großen dunklen Türen in das Schlafgebäude der Schüler trat, fiel mir ein, dass wir etwas vergessen hatten. Wir hatten uns doch eigentlich die Gefahr in der Mongolei mithilfe von Damiens Zaubern ansehen wollen. Wir hatten aber auch nicht gedacht, dass jemand sterben würde.
Nur durch unmögliche Liebe wird die Welt gerettet
Einer der Freunde im Tode sich bettet.
Ob sich die Prophezeiung auf Rhonda bezog? Ich wollte es gern glauben.
Ich ging sehr langsam die Treppen hinauf in den zweiten Stock und ich war froh, dass mir niemand begegnete. Es war Sonntag Abend, wahrscheinlich waren alle beim Essen im Speisesaal. Mir war der Appetit vergangen. Wir waren gestern morgen nach Brunswick aufgebrochen. War wirklich erst so wenig Zeit vergangen?
Ich hatte in den letzten 36 Stunden meine Großmutter wieder gefunden, hatte alles mögliche über Nachtgeister gelernt, hatte erfahren, dass Direktor Millers Informationen zurückhielt, hatte einen Nachtgeist erschaffen, hatte beschlossen so zu tun, als wäre ich mit diesem Nachtgeist zusammen und hatte meine Großmutter dem Tod überlassen. Es war eigenartig, dass mir dieser letzte Punkt kein schlechtes Gewissen machte. Vielleicht hätte ich stärker versuchen müssen, Rhonda davon zu überzeugen, dass sie nicht sterben musste. Aber irgendwoher wusste ich, dass es so am Besten war. Um ein Leben zu erschaffen, musste ein anderes genommen werden - eine der Grundideen der Steinzeitmagier. Bisher war mir nie der Gedanke gekommen, dass das auch für Nachtgeister gelten könnte, aber so musste es sein. Und wenn nicht Rhonda gestorben wäre, wäre jemand anderes an ihre Stelle getreten. Und wenn es jemand gewesen wäre den ich gar nicht kenne, hätte es auch keine Unterschied gemacht. Rhonda hatte einen Luxus genossen, den sich nur wenige leisten können: sie hat den Zeitpunkt und ihre Art zu sterben selbst gewählt. Sie hatte keine Angst vor dem Tod.
Es war also nicht das Ableben meiner letzten Verwandten, das mir Sorgen machte. Nein, ich machte mir Sorgen darüber, ob Shila mir glauben würde. Was wird sie sagen? Was wird sie von mir denken? Es kam mir falsch vor, so zu tun, als wäre ich mit Damien zusammen, aber ich wusste, dass es nicht anders ging. Seit einiger Zeit hatte ich schon dieses Gefühl. Ganz egal, welche Entscheidung ich gerade traf - solange sie die magische Seite meines Lebens betraf - irgendetwas sagte mir, dass es die richtige war. Es war, als würde mein Herzschlag es mir ins Ohr flüstern. Das war neu und unheimlich, aber ich vertraute diesem Gefühl mehr als allem anderen. Vielleicht sogar mehr als Nathen.
Ich war jetzt schon seit einiger Zeit wieder auf dem Zimmer, hatte meine Sachen schon wieder weggeräumt und lag nun ausgestreckt auf dem Bett. Grübelnd an die Decke starrend, fragte ich mich, wann Shila wohl kommen würde. Ich begann schon fast damit, mir Sorgen zu machen.
Als meine Mitbewohnerin endlich kam, war ich richtig froh sie zu sehen. Ich hatte mich im Internat nicht mit vielen Leuten angefreundet, mit den Meisten sogar noch kaum ein Wort gewechselt. Aber mit Shila verstand ich mich wirklich gut. Sie war das, was einer besten Freundin am nächsten kam - obwohl es eine Menge gab, die sie nicht von mir wusste. Außerdem tat es gut jemanden zu sehen, der keine Ahnung von der Magie um sich herum hatte.
"Hi." Sagte ich. Shila wirbelte herum und entdeckte mich mittlerweile sitzend in meinem Bett. Sie grinste breit und ihre schokoladenbraune Haut begann zu leuchten, als sie sich neben mich auf die Matratze sinken ließ.
"Hi. Und wie war es? Wie ist deine Tante so?" Okay, jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um zu beweisen, dass es richtig gewesen war Sams Platz einzunehmen.
"Sie ist echt nett. Wirklich. Wir sind schon vor zwei Stunden zurück gekommen. Ich war dann noch bei Nathen und..." Ich schluchzte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich wirklich nicht mehr mit Nathen zusammen wäre. Das Gefühl war so stark, dass meine Tränen ganz von alleine flossen.
"Hey, hey Süße. Was ist denn los?" Shila legte einen Arm um mich und zog mich zu sich heran. Ich ließ meinen Kopf kraftlos gegen ihre Schulter sinken.
"Nathen und ich... Wir... Wir sind nicht mehr zusammen."
"Aber... Warum? Ihr wart doch so glücklich miteinander."
"Es... Es ist wegen diesem anderen Jungen, Damien." Brachte ich heraus.
"Damien?" Ich nickte und richtete mich ein wenig auf.
"Wir sind uns vor zwei Wochen begegnet, in der Stadt. Er ist in mich hinein gerannt. Alle meine Sachen haben sich auf dem Boden um uns herum verstreut, aber ich habe sie nicht aufgehoben. Ich war wie zu einer Säule erstarrt. Er... Stand da einfach vor mir und hat mich angesehen. Und dann..." Ich unterbrach mich, schluckte. Es hing alles davon ab, ob Shila mir glauben würde. "Dann habe ich ihn geküsst."
"Du hast was bitte? Warum erzählst du mir das erst jetzt?"
"Ich weiß es doch auch nicht. Es war einfach eine komische Reaktion, ich bin doch selbst darüber erschrocken."
"Und was ist danach passiert?"
"Er hat sich vorgestellt. Ich habe mich vorgestellt. Dann hat er sich gebückt um meine Sachen aufzusammeln. Ich habe ihm gesagt es täte mir Leid und dass ich einen Freund hätte. Schließlich hab ich mich umgedreht und bin gegangen. Er kam mir nicht hinterher."
"Aber... Was ist mit Nathen?" Fragte Shila.
"Ich habe es nicht ausgehalten und ihm erzählt, was passiert ist. Er war erst mal total wütend auf mich, aber dann hat er sich wieder beruhigt und ich dachte, es wird alles wieder gut."
"Das ist es nicht."
"Nein. Ich bin Damien noch ein paar Mal über den Weg gelaufen, einmal sogar, als Nathen dabei war. Es war jedes Mal das selbe. Ich bin einfach stehen geblieben. Keine Ahnung warum. Es war, als würde er mich magisch anziehen. Aber ich habe es geschafft nicht zu ihm hinzurennen. Sondern bin jedes Mal davon gelaufen."
"Du bist einfach weggelaufen?"
"Ja. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich hatte Angst, ich würde ihn wieder küssen."
"War die Versuchung wirklich so groß?"
"Ja, das war sie. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören an ihn zu denken, an das Gefühl seiner Lippen auf meinen. Als ich damals mit Nathen zusammen gekommen bin - das hat fast drei Monate gedauert. Alles was ich mit Nathen tue ist langsam, ruhig. Es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Bei Damien... Er ist das genaue Gegenteil davon. Aufregend, neu, vielleicht auch ein bisschen gefährlich. Ich weiß auch nicht, aber..." Ich seufzte. Dann schielte ich vorsichtig zu Shila hinüber. Sie schien mir tatsächlich zu glauben.
"Seit wann stehst du denn auf Bad Boys?" Ich lächelte, weil sie versuchte mich aufzuheitern. Dann ließ ich den Kopf in meine Hände sinken.
"Nathen hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er hat mich darauf angesprochen und ich habe gelogen. Ich habe ihn sonst nie belogen, verstehst du? Er hat danach nicht lange gebraucht, um heraus zu finden, dass es wegen Damien ist. Er hat mich gefragt, was ich für ihn und was ich für Damien empfinde. Und ich habe ihm ehrlich geantwortet, dass ich ihn liebe, aber dass Damien etwas ganz neues in mein Leben gebracht hat. Und dass ich nicht wüsste, was genau ich für ihn fühle."
"Was hat Nathen gesagt?" Ich sah Shila an und ließ zu, dass meine Tränen wieder begannen zu fließen.
"Er hat gesagt, dass es so nicht weitergehen kann. Und dass ich erst zurückkommen sollte, wenn ich wüsste, dass ich mich für ihn entscheiden würde. Dann hat er mich auf seiner Fußmatte stehen lassen und ist in die Wohnung hinein gegangen." Meine Stimme brach, als ich versuchte es so realistisch wie möglich zu erzählen.
"Ohje. Meine arme kleine Gabriella." Shila nahm mich in den Arm und wiegte mich hin und her wie ein kleines Kind. Sie hatte diesen stark ausgeprägten Mutterinstinkt, weil sie immer auf ihre jüngeren Geschwister hatte aufpassen müssen. Jetzt übertrug sie ihn auf mich. Irgendwann sagte sie: "Aber du könntest doch jetzt einfach zu Nathen zurück gehen und ihm noch mal sagen, was du für ihn fühlst. Ich meine, du kennst Damien erst seit zwei Wochen - du kannst für ihn niemals so stark empfinden wie für Nathen. Ich meine, sieh dich doch an! Du weinst dir die Augen aus dem Kopf, weil du nicht mehr mit Nathen zusammen bist, wenn es um Damien ginge, würdest du nie..."
"Aber das ist es ja gerade, Shila! Ich weiß nicht, was ich tun würde. Ja, ich bin wirklich verletzt und mein Herz fühlt sich an, als wäre es in tausend Stücke gebrochen, aber wenn ich an Damien denke... Dann ist es wieder gut, verstehst du? Es ist, als würde er meine Schmerzen heilen und dazu muss er noch nicht einmal hier sein. Wenn er es wäre, der so mit mir Schluss gemacht hätte... Ich weiß wirklich nicht, was ich dann tun würde." Ich wischte mir die Tränen von den Wangen. "Wenn ich in den letzten zwei Wochen Zeit mit Nathen verbracht habe, dann habe ich trotzdem die ganze Zeit an Damien gedacht. Das..." Ich stockte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
"Du empfindest also wirklich so stark für ihn?" Ich nickte zögernd. Shila sah nicht sonderlich glücklich über das aus, was ich ihr gerade erzählt hatte, aber sie schien mir zu glauben. "Dann tut es mir wirklich Leid. Ich wünschte, ich wüsste, was ich dir raten soll, aber ich mochte Nathen zu sehr, um unvoreingenommen zu sein."
"Schon okay. Du hast mir zugehört, dass ist schon ein großes Danke wert." Ich lächelte sie an und sie umarmte mich noch einmal.
"Lass uns schlafen gehen. Morgen sieht die Welt vielleicht schon ganz anders aus." Ich nickte und wir machten uns bettfertig. Sie hatte mir geglaubt. Der erste Schritt war also getan, die erste Prüfung hatte ich bestanden. Jetzt musste ich nur noch das ganze IMS davon überzeugen.
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Keine Ahnung wie ich es geschafft hatte, aber ich hatte Shila den ganzen Tag über nicht gesagt, dass ich gelogen hatte. Eigentlich wäre das ein Grund stolz auf mich selbst zu sein, aber ich war es nicht. Ich hatte Shila angelogen. Ich würde das IMS anlügen. Ich meine, ja sicher, ich habe mein ganzes Leben lang gelogen, aber dieses Mal kam es mir irgendwie anders vor und das verunsicherte mich. Aber jedes Mal, wenn ich an meiner Entscheidung zu zweifeln begann, bekam ich wieder dieses eigenartige Gefühl und wusste, dass ich doch das richtige tat. Es war eigenartig, als würde ich mit mir selbst streiten. Und es war anstrengend. Ich war hundemüde und dass ich heute noch nicht einmal dazu gekommen war einen Teil meiner Hausaufgaben zu erledigen, machte die Sache auch nicht besser.
Kraftlos ließ ich meinen Kopf gegen die kalte Fensterscheibe der U-Bahn sinken. In diesem Moment war es mir ziemlich egal, was schon alles an dem Glas geklebt hatte. Ich versuchte so gut wie möglich nicht einzuschlafen und stattdessen wieder wach zu werden.
Die Bahn hielt, die Türen glitten zischend auf und die Menschen drängten nach draußen. Mindestens genau so viele drängten herein. Die Fahrt ging weiter. An der übernächsten Station würde ich aussteigen müssen. Dann noch die letzten paar hundert Meter zu Fuß und ich bin angekommen.
Das Gebäude das IMS erschien von außen groß, modern, wie das Zentrum einer Weltmacht. Unerschütterlich und unzerstörbar. Das Chrom und das Glas ließen das Gebäude erst einmal einladend und offen wirken, doch dann sah man, dass alle Fensterscheiben verspiegelt waren. Es war unmöglich hineinzusehen. Die unsymmetrische Form des Hauses überragte alles umstehende. Sie vermittelte die Nachricht: Tu was ich sage, oder ich verschlinge dich und dein Grundstück.
Ich hatte es vom ersten Moment an gehasst. Und jetzt war ich zum hunderttausendsten Mal auf dem Weg hinein. Dieses Mal würde ich lügen. Die ganze Agentur musste mir glauben oder wir waren zum Scheitern verurteilt.
Ich war diesen Weg in den letzten Monaten so oft gegangen, dass ich ihn mittlerweile auch mit verbundenen Augen zurück legen könnte. Doch heute ging ich zur Rezeption und bat die Sekretärinnen nach jemandem zu rufen, der mich zu Sam begleiten würde. Sie sahen überrascht aus, taten aber was ich sagte. Man tat hier fast immer was ich sagte und ich hatte aufgehört mir darüber Gedanken zu machen. Ich nahm es einfach hin.
Nach ein paar Minuten kam eine streng konservativ aussehende Agentin zu uns. Sie trug einen grauen Rock mit dazu passendem Blazer und ihre vermutlich grauen Haare hatte sie mit brauner Farbe kaschiert. Sie war genau die Sorte Magierin, die ich brauchte.
"Kommen sie, Miss Leek." Sie eilte voraus und ich tat mir schwer ihr zu folgen.
"Bitte, nicht so schnell. Es geht mir heute nicht so gut."
"Vielleicht hätten sie dann besser zu Hause bleiben sollen um sich zu erholen." Grummelte sie zurück, doch sie wurde langsamer.
"Ach, nein. Meine Freundin hat gesagt, dass das beste Mittel gegen Liebeskummer ist, sich nicht von ihm einschränken zu lassen. Das versuche ich jetzt."
"Liebeskummer?" Aha, sie war also doch neugierig.
"Ja. Nathen und ich haben uns getrennt."
"Nein, wirklich?"
"Ja, erst gestern."
"Darf ich nach dem Grund fragen?"
"Ach, das interessiert Sie doch bestimmt nicht." Schniefte ich. Sie reichte mir ein Taschentuch.
"Ich bitte Sie. Wenn Sie darüber sprechen möchten, dann habe ich natürlich ein offenes Ohr für Sie." Okay, jetzt hatte ich sie da, wo ich sie haben wollte. Mittlerweile liefen wir nur noch sehr langsam durch die Gänge, ansonsten hätten wir Sams Büro schon längst erreicht.
"Ach wissen Sie, es war schon lange nicht mehr alles gut zwischen uns. Wir haben uns immer seltener gesehen und dieses Wochenende haben wir festgestellt, dass wir uns nur noch selbst etwas vorgespielt haben." Ich wischte mir mit dem Taschentuch die nicht vorhandenen Tränen aus dem Augenwinkel.
"Das tut mir sehr Leid." Wie ich es mir gedacht hatte, wusste sie zwar, dass ich mit Nathen zusammen war, aber sie hatte keine Ahnung der genauen Umstände. Sie glaubte mir aufs Wort und hing an meinen Lippen, um ja kein Detail zu verpassen, dass sie ihren Freundinnen erzählen könnte.
"Wissen Sie, wir haben doch dieses Wochenende einen Ausflug gemacht. Es ist so traurig, aber wir hatten uns einfach nichts mehr zu sagen. Und dann war da noch dieser Nachtgeist..." Ich seufzte theatralisch.
"Ein Nachtgeist?" Jetzt hatte ich auch ihre professionelle Seite geweckt.
"Ja, wir haben gerade in einem Park gepicknickt, als er auf uns zu kam. Ich habe ihn im ersten Moment gar nicht als Nachtgeist erkannt. Erst als er direkt vor uns stand, habe ich sein wahres Wesen gesehen. Er schien allerdings auch keine Ahnung zu haben, dass ich eine Magierin bin. Er hat uns nach dem Weg gefragt und wollte schon wieder gehen. Ich war noch am überlegen, ob ich wohl mein Schwert ziehen könnte um ihn zu durchbohren, ohne dass es jemand bemerken würde - immerhin war der Park voller Unschuldiger - als Nathen ihn zurück rief. Er schien überhaupt nicht zu merken, dass es ein Nachtgeist war. Seine Tarnung war wirklich perfekt. Ich schätze, er hatte mit Magie nachgeholfen, denn umso mehr Zeit wir mit ihm verbrachten, desto mächtiger erschien er mir."
"Sie haben Zeit mit dem Nachtgeist verbracht?" Die Agentin in Grau schien geschockt.
"Ja," ich seufzte ein weiteres Mal, "der Nachtgeist, er hat uns später verraten, dass sein Name Damien ist, hatte uns nach dem Weg zu einem Restaurant gefragt. Da es spät war, schlug Nathen vor, dass wir doch zu dritt dort essen gehen könnten. Es gefiel mir überhaupt nicht, aber was hätte ich denn sagen sollen ohne mich zu verraten?"
"Ich verstehe, sie steckten in einer Zwickmühle."
"Wir sind also mit dem Nachtgeist essen gegangen. Am Anfang habe ich die ganze Zeit nach einer Möglichkeit gesucht, mit Nathen unter vier Augen zu sprechen oder Damien einfach sofort zu durchbohren, doch es waren immer Menschen um uns herum. Während des Abends ist das aber immer weiter in den Hintergrund gerückt, denn man konnte sich wirklich gut mit Damien unterhalten. Ich habe sogar immer wieder vergessen, dass er ein Nachtgeist ist, bestimmt lag es an einem Zauber." Mittlerweile waren wir stehen geblieben. Es waren keine zehn Meter mehr zu Sams Büro, doch ich musste meine Geschichte zu Ende erzählen.
"Und der Nachtgeist hat den ganzen Abend über nicht versucht Sie anzugreifen?"
"Nein, ganz im Gegenteil. Wir haben uns wunderbar verstanden. Nach dem Essen sind wir noch zu dritt tanzen gegangen, dieses Mal auf Vorschlag von Damien. Irgendwann hat Nathen sich schließlich einmal entschuldigt und ging an die frische Luft. Ich blieb allein mit Damien zurück. Naja, so allein wie man in einem stickigen Kellerraum voller Menschen eben sein konnte."
"Aber dann hat er versucht sie anzugreifen?"
"Nein, noch immer nicht. Er hatte wirklich keine Ahnung, wer ich war. Wir wurden immer näher zusammen gedrängt, weil sich der Raum mit immer mehr Menschen füllte. Man musste schreien um sich zu unterhalten. Und ich vergaß schon wieder, dass Damien kein Mensch ist. Dann ist es passiert."
"Er hat sie angegriffen?" Langsam nervte sie mit ihrer Angriffs-Fragerei. Sie hielt wohl nicht sonderlich viel von Nachtgeistern.
"Nein. Ich weiß auch nicht wie es kam, es war wohl vor allem Zufall. Aber plötzlich lag einer seiner Arme um meine Schultern und nur einen Moment später spürte ich seine Lippen auf meinen."
"Sie haben einen Nachtgeist geküsst?" Die Agentin sah mich geschockt an. Ich war mir fast sicher, dass sie gleich zu hyperventilieren anfangen würde.
"Ja. Und Nathen hat es gesehen." Ich wartete auf einen Kommentar, doch sie schien noch immer tief erschüttert zu sein, "Danach hat er mir gesagt, dass wir uns trennen müssten. Er meinte, dass er keinen Funken Eifersucht gespürt hätte, als er mich und Damien so gesehen hat. Ich habe ihm nicht gesagt, dass Damien ein Nachtgeist ist. Wir haben uns getrennt." Ich begann zu weinen, zumindest gab ich mein Bestes. Ich wunderte mich, dass es mir schwerer fiel, meine Geschichte dieser Fremden glaubhaft zu machen als Shila. Die Agentin sah mich noch immer mit offenem Mund an. "Bitte sagen Sie doch etwas dazu." Schluchzte ich. Meiner Meinung nach war das schon ein wenig übertrieben, doch es holte die Frau aus ihrer Starre.
"Sie müssen sofort mit mir zum Direktor kommen." Meinte sie und zog mich am Handgelenk mit.
"Aber Sam..." Begann ich.
"Ihre Lehrerin wird warten müssen. Dieser Vorfall muss dem Direktor gemeldet werden und Sie müssen sich einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Ich bin sicher, dass Sie unter dem Einfluss eines Zaubers stehen. Wir müssen Sie davon befreien, wer weiß, was Sie sonst anrichten könnten."
"Ich stehe unter keinem Zauber." Beschwerte ich mich. Aber eigentlich bereitete ich mich darauf vor, dem Direktor gegenüber zu treten. Dieses Treffen war nämlich die Schwachstelle in unserem Plan. Seine Gabe eine Lüge sofort als solche zu erkennen, machte es uns unglaublich schwer. Stephen hatte mir eingetrichtert, dass ich auf keinen Fall lügen durfte. Halbwahrheiten, ja. Sich aus der Affäre ziehen, ja. Aber auf keinen Fall direkt lügen.
"Das werden wir ja sehen." Ich ließ mich nun ohne Gegenwehr zum Büro des Direktors ziehen. Die Sekretärin sprang sofort auf.
"Mrs Kimble, Miss Leek. Was kann ich für sie tun?" Es erstaunte mich jedes Mal, dass die Sekretärin alle Mitglieder des IMS beim Namen kannte.
"Wir müssen in einer dringenden Sicherheitsfrage mit dem Direktor sprechen. Es ist äußerst wichtig."
"Kann das nicht noch eine viertel Stunde warten? Dann wird der Direktor Zeit für sie haben."
"Nein. Es muss sofort sein."
"Gut, wie Sie meinen. Ich werde sehen, was ich tun kann." Die Sekretärin klopfte und verschwand hinter der grauen Tür. Schon nach kurzer Zeit kam sie zurück und teilte uns mit, dass Direktor Millers uns empfangen würde. Wir traten ein.
"Meine Damen. Bitte setzen Sie sich." Direktor Millers saß entspannt in seinem Sessel und blickte uns an. Erst als die Sekretärin die Tür geschlossen hatte, begann Agentin Kimble zu erzählen. Als sie fertig war, sah der Direktor mich an.
"Ist es wahr, was Mrs Kimble mir erzählt?" Ich überlegte. Die Agentin hatte mit den Worten: sie hat mir erzählt, dass... Begonnen. Und das hatte ich ja schließlich.
"Ja." Ich reckte empört das Kinn vor.
"Sie haben tatsächlich einen Nachtgeist geküsst?" Fragte Direktor Millers.
"Was soll die Frage? Denken sie, ich lüge?"
"Bitte antworten Sie, Miss Leek." Oh oh.
"Ich habe es meiner Mitbewohnerin gesagt, ich habe es Agentin Kimble gesagt: ich habe einen Nachtgeist geküsst." Halbwahrheit, zumindest der erste Teil stimmte. Direktor Millers schien meine Ausflüchte nicht zu bemerken.
"Und das war dieses Wochenende?"
"Ja, wie ich es schon Mrs Kimble gesagt habe, habe ich Damien erst am Samstag kennen gelernt."
"Und Sie haben immer wieder vergessen, dass er ein Nachtgeist ist?"
"Glauben Sie, ich hätte ihn sonst geküsst?" Fragte ich zurück. Fragen sind keine Aussagen und daher nicht als Lüge zu identifizieren. Hoffte ich.
"Und deswegen haben Sie sich von ihrem sterblichen Freund getrennt?" Ich dachte daran zurück, wie ich mich gestern von Nathen verabschiedet habe. Sam war sich sicher, dass der Direktor diese Frage stellen würde und hat uns deshalb gesagt, dass wir uns streiten müssten und trennen. Natürlich nur als eine Art Theaterstück. Es zahlte sich aus.
"Ja. Wir haben gestritten und dann..." Ich wischte noch einmal mit dem Taschentuch über meine Augen.
"Sie hat Ihnen tatsächlich die Wahrheit gesagt, Mrs Kimble. Es war gut, dass Sie gleich zu mir gekommen sind." Direktor Millers erhob sich aus seinem Stuhl und baute sich vor mir auf. "Stehen Sie unter dem Einfluss eines Zaubers?"
"Nein!" Gab ich zurück. Zumindest diese Antwort war nicht gespielt.
"Sie scheint die Wahrheit zu sagen. Aber es ist dennoch möglich, dass sie verzaubert wurde. Um mich zu täuschen würde es reichen, wenn sie dieser Überzeugung ist." Der Direktor seufzte, als er sich diese Schwäche eingestand. "Bringen Sie Miss Leek bitte zu den Magiern im Untergeschoss. Sie muss untersucht werden."
Mrs Kimble tat sofort was der Direktor von ihr verlangt hatte. Ich war noch nie im Untergeschoss gewesen und hatte immer angenommen, dass es sich dabei nur um ein Parkhaus handeln musste, doch nun wurde ich eines besseren belehrt.
Das Untergeschoss kam mir noch verzweigter vor als das Gebäude darüber. Hier waren alle Türen so weiß wie die Wände. Sogar das Licht der Neonröhren war weiß. Es war, als hätte man allem das Leben entzogen.
Ich musste mich von den verschiedensten Menschen untersuchen lassen, aber es fand natürlich niemand etwas. Stirnrunzelnd entließ man mich weit nach zehn Uhr Abends. Ich würde zu spät ins Internat kommen.
Egal. Den ersten Teil meiner Geschichte hatte man mir geglaubt.
Seit wir aus Brunswick zurück waren, brannte ich darauf endlich herauszufinden, was das für eine Kraft war, die in der Mongolei immer stärker wurde. Heute war es endlich so weit: Damien, Stephan, Sam und ich trafen uns bei Nathen um einen Blick darauf zu werfen. Nathen hatte schon alles vorbereitet: überall in der Küche brannten Kerzen und auf dem leeren Küchenstich stand sein nagelneuer Laptop. Das mit dem Laptop verstand ich nicht so ganz, aber Damien meinte nur, dass sich die Magie der Nachtgeister den Zeiten angepasst hatte.
Als es endlich losging wuchs meine Verständnislosigkeit nur noch, denn Damien ging als erstes Mal auf Google Maps. Er klickte auf Satellit und zoomte so weit hinaus wie möglich. Dann zeichnete er einen doppelten Kreis rund um den Laptop, häufte hier und da ein paar Salzkörner auf dem äußeren Kreis zusammen und stellte mit drei Teelichtern ein gleichseitiges Dreieck auf den inneren Kreis. Dann sprach er seine Formel. Erst einmal passierte rein gar nichts und ich dachte schon, Damien hätte etwas falsch gemacht. Doch dann gingen auf einmal im ganzen Raum die Kerzen aus - außer die drei auf dem Tisch. Der Bildschirm des Laptops blinkte drei Mal und fokussierte sein Bild dann auf die Mongolei. Damien wiederholte seine Formel noch ein paar Mal, bevor wir ein scharfes Bild von der Stelle bekamen, die wir uns gerne ansehen wollten. Dummerweise war es noch immer die Satellitenperspektive und man konnte nicht viel erkennen. Damien zog das kleine gelbe Männchen auf die Karte und die Ansicht wechselte zu Street View - obwohl wir uns einen Punkt fernab jeglicher Straßen ansahen.
"Ist das ein Felsen?" Fragte Sam irgendwann. Sie war die erste, die wagte es auszusprechen. Wir anderen starrten noch immer auf das Bild. Wir sahen eine flache grüne Landschaft, die sich bis zum Horizont hin zog. Sie wurde nur an einer Stelle von einem riesigen, ockerfarbenen Felsen unterbrochen, der direkt aus der Erde zu wachsen schien.
"Ich glaube schon." Damien hörte sich so verwirrt an, wie ich mich fühlte.
"Bist du sicher, dass es die richtige Stelle ist?" Fragte Nathen noch einmal.
"Ganz sicher."
"Wie weit ist es von der Stelle an der wir gerade stehen bis zu dem Felsen?" Fragte ich.
"Etwas 350 Meter, warum?"
"Aber dann ist dieses Ding ja riesig!" Rief Sam aus. Ich ignorierte sie, obwohl sie natürlich Recht hatte.
"Vielleicht ist es eine Art Versteck und es gibt irgendwo eine Tür, die wir nur aus dieser Entfernung nicht sehen können." Warf ich ein.
"Ja, das wäre möglich." Damien zoomte näher an den Felsen heran und umrundete ihn einmal. Nichts. Keine Tür, noch nicht einmal eine Vertiefung. Der Felsen war so perfekt geformt wie...
"Ein Ei." Sagte ich. "Das ist ein riesiges Ei."
"Du hast Recht." Meinte Stephen erstaunt.
"Wenn das das Ei ist, dann will ich nicht wissen, was daraus schlüpfen wird." Gab Sam zu verstehen. Wir schwiegen wieder.
"Wann meint ihr wird es schlüpfen?" Fragte ich.
"Keine Ahnung. Dann wenn es zu groß für die Schale wird." Meinte Sam. Hahaha. Sehr witzig.
"Vielleicht kann ich eine Art Ultraschall auf das Ding anwenden. Dann können wir sehen, wie groß es ist." Schlug Damien vor.
"Das geht?" Fragte ich.
"Ich könnte es versuchen." Wir nickten alle zustimmend. Damien konzentrierte sich. Er sprach einen weiteren Zauber und das Bild veränderte sich. Alles wurde Blau, bis auf ein embryoförmiges Ding in der Mitte des Bildes. Zuerst schien es zu schweben, dann wurde mir klar, dass es in dem Ei war. Es war riesig.
"Wo ist die Schale?" Fragte Nathen. Damien fuhr mit dem Finger eine kaum zu erkennende Linie auf dem Bildschirm nach.
"Wir haben noch maximal zwei Monate. Wahrscheinlich eher anderthalb. Dann ist es geschlüpft."
"Aber was ist es eigentlich?" Fragte Stephen.
"Ich habe absolut keine Ahnung." Gab Damien zurück. "Ich weiß nur, dass die Nachtgeister Angst davor haben."
"Und dass Direktor Millers versucht es zu ignorieren. Auch er hat Angst, denke ich." Fügte ich hinzu. Wir starrten wieder auf den Bildschirm.
"Ich glaube... Ich glaube ich habe eine Idee, was das sein könnte." Unterbrach Sam die Stille.
"Was?" Fragten wir alle gleichzeitig.
"Lasst uns erst einmal das Licht wieder anmachen, die Kerzen werden gleich herunter gebrannt sein und der Zauber verliert dann seine letzte Energiequelle. Das könnte zu einem Stromausfall in der ganzen Stadt führen." Erklärte Damien. Ich hatte Sam noch nie so schnell aufspringen und zum Lichtschalter laufen sehen. Damien sprach eine kurze Formel und blies dann die Kerzen aus. Das Licht blieb zum Glück an, doch das Salz war verschwunden.
"Also Sam, was ist es?"
"Ich bin mir nicht sicher. Am Anfang meiner Ausbildung, also vor ca. 10 Jahren, erzählte mir meine Tutorin eine Geschichte. Ich hielt es für eine Legende abergläubischer Altmagier, aber..."
"Was denn für eine Legende?"
"Ich werde sie euch erzählen." Sam setzte sich auf ihrem Stuhl in den Schneidersitz. Dann begann sie: "Lange bevor es die Menschen auf dieser Welt gab, herrschten die Riesen über die Erde. Sie waren groß wie Berge und stark wie ein Tsunami. Sie hatten untereinander Clans gebildet und bekämpften sich ständig. Bei ihren Schlachten schlugen sie so große Löcher in die Erde, dass daraus der Amazonas wurde und sie häuften so viel Erde aufeinander um einen Schutzwall zu bauen, dass die Alpen entstanden. Als dann die ersten Menschen und die ersten Magier aufkamen, sonnten sich die Riesen in der Verehrung, die ihnen entgegengebracht wurde. Doch eines Tages wurde ein junger, mächtiger Magier geboren und er erkannte das wahre böse Wesen der Riesen. Er rief eine Armee um sich zusammen und zog gegen die Riesen in den Krieg. Die Schlachten waren so heftig, dass dabei die Erde in die verschiedenen Kontinente zerbrach. Auf den Seiten des Magiers kämpften die klügsten Köpfe, die mächtigsten Zauberer und die stärksten Menschen seiner Zeit. Doch die Riesen hatten in ihm einen gemeinsamen Feind gefunden und rauften sich wieder zusammen. Als es schließlich zu der finalen Schlacht kam, gewannen die Menschen mit knapper Not. Als der junge Magier dem Anführer der Riesen, Beliar, den Todesstoß versetzen wollte da sprach dieser: Seht mich an ihr Menschen dieser Welt und fürchtet mich! Denn ich bin geboren aus der Erde und ich werde wiedergeboren werden aus der Erde. Ich werde erneut auf diese Welt kommen und meine Brüder erwecken und ihr Menschen werdet unsere Rache spüren! So töte mich nun, Menschensohn doch wisse, ich werde wiederkommen und mich an den Kindern deiner Kinder rächen. Und meine Rache wird so grausam sein, dass auch du es noch im Grabe spüren wirst! Und der Magier hob sein Schwert und tötete den Riesen. Doch von da an lebte er in der Furcht vor der Rache des Beliar und man sagt, wir hätten uns auch heute noch davor zu hüten."
"Du meinst also, das ist Beliar und er kommt um Rache zu nehmen?" Fragte Stephen.
"Ich weiß es nicht, aber ich fürchte es."
"Ich glaube sie hat Recht." Meinte Damien und wir wussten nicht, was wir dem entgegen zu setzen hatten und stimmten ihm zu.
"Wir müssen also gegen einen Riesen antreten." Fasste Nathen die Lage zusammen.
"Nicht, wenn wir genug Magier und Nachtgeister auf unsere Seite ziehen können, bevor er schlüpft. Dann könnte es reichen, wenn wir das Ei zerstören. Doch wir brauchen mehr Macht als Beliar und es wird schwer sein, die zu finden." Entgegnete Damien.
"Wir müssen es versuchen." Beschloss Stephen und er hatte Recht. Es wäre falsch, die Welt der Rache eines Riesen auszusetzen, wenn wir die Chance hatten es zu verhindern. Wir schwiegen. Doch irgendwann fragte Sam: "Sag mal Damien, warum können Nachtgeister eigentlich Google für ihre Zauber nutzen?"
"Zwei Nachtgeister haben Google 1998 gegründet." Wir fingen an zu lachen, die Spannung war verschwunden. "Nein, ich meine das ernst!" Wiederholte Damien sich. Ich glaubte ihm, aber es war zu schön mal wieder richtig zu lachen, um damit aufzuhören.
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In der ersten Woche nach unserer angeblichen Trennung besuchte ich Nathen zwei Mal. Einmal mittags, als unerwartet zwei Schulstunden ausfielen. Und einmal abends, als ich zu Shila sagte, ich müsste noch auf die Post und einen Brief an meine Tante verschicken.
In der Woche darauf sah ich ihn nur ein Mal. Zwei Mal sagte ich zu Shila, ich würde mich mit Damien treffen. Ich sagte eine Stunde bei Sam ab um "mich mit einem Freund zu treffen".
In der dritten Woche sagte ich zu Shila, dass ich jetzt mit Damien ausging. Noch am selben Abend ging ich tatsächlich mit ihm aus - ins Kino. Danach schrieb ich Shila eine SMS. "Das Date mit Damien war großartig! Gehe jetzt noch zu ihm, komme wahrscheinlich zu spät." Ich ging davon aus, dass das IMS mein Handy überwachte und so war es auch. Am nächsten Tag bat mich Direktor Millers zu sich.
"Wir haben einen Hinweis erhalten, dass Sie sich gestern mit einem gewissen Damien getroffen haben?" Begann er das Gespräch.
"Was geht Sie mein Privatleben an?" Gab ich zurück.
"Antworten Sie auf die Frage." Fauchte der Direktor.
"Ja. Ich war gestern mit Damien aus." Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ich versuchte so gelassen, aber wütend wie möglich zu wirken, doch innerlich zitterte ich wie Espenlaub. Jetzt würde sich entscheiden, wie gut unser Plan tatsächlich funktionierte. Das hier war Schritt zwei: die Menschen davon überzeugen, dass ich mit einem Nachtgeist zusammen bin.
"Ich hoffe, dass es sich hierbei nicht um den Nachtgeist handelt, wegen dem Sie vor drei Wochen schon einmal mit mir gesprochen haben?"
"Doch, schon möglich."
"Sind Sie verrückt geworden? Er ist ein Nachtgeist!" Schrie Millers mich an. Er war aufgesprungen und beugte sich weit über den Schreibtisch zu mir herüber. Ich war zusammen gezuckt, aber jetzt sah ich ihn ganz lässig an. Ich versuchte durch den Mund zu atmen um dem aufdringlichen Geruch seines Rasierwassers zu entgehen.
"Wissen Sie was? Ich glaube Nachtgeister sind gar nicht so böse, wie Sie immer behaupten."
"Sie klingen wie Ihre Großmutter." Das hatte ich nicht erwartet.
"Meine... Meine Großmutter?" Ich war aus meiner Rolle herausgefallen, aber das war mir gerade ziemlich egal.
"Aha. Ihnen liegt also doch noch etwas am Herzen, außer Ärger zu machen."
"Was wissen sie über meine Großmutter?"
"Das tut hier nichts zur Sache." Winkte Direktor Millers ab.
"Antworten Sie mir!" Dieses Mal war ich es, die wütend aufsprang.
"Ich erwarte, dass sie sich nicht mehr mit diesem Nachtgeist treffen, außer sie wollen ihn durchbohren."
"Ich lasse mir von Ihnen nicht vorschreiben, mit wem ich zusammen sein darf und mit wem nicht!" Das war wieder Teil meiner Rolle, doch die Tränen, die mir vor Wut über die Wangen rollten, musste ich nicht erzwingen.
"Bleiben Sie gefälligst hier!" Rief mir Direktor Millers hinterher, doch ich hatte sein Büro längst verlassen. Ziellos rannte ich durch die Gänge, stieß Menschen an, rannte in Sackgassen, verlor komplett die Orientierung. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Die Räume in meiner Umgebung kannte ich nicht und ich konnte mich auch nicht an einen gelben Gang im IMS-Gebäude erinnern. Es war mir egal. Ich ließ mich auf den Boden sinken und weinte bis sie mich fanden.
Sie schleppten mich wieder hinunter ins Untergeschoss und untersuchten mich auf Einflüsse eines Zaubers. Ich hatte nicht mehr die Kraft mich zu wehren.
Als ich endlich gehen durfte, wäre ich am liebsten sofort zu Nathen gerannt, doch ich ging davon aus, dass ich überwacht wurde und ging zurück ins Internat. Ich konnte ihm noch nicht einmal eine SMS schreiben. In dieser Woche sah ich ihn nicht mehr.
Es war gut, dass ich nicht mehr zu Nathen gegangen war. Am nächsten Tag fielen mir nämlichen zwei Typen auf, die mir durch die Stadt folgten. Es würde schwer werden, mich mit Nathen zu treffen oder mich zum Schein mit Damien zu verabreden.
Abends bat ich Shila um ihr Handy. Sie fragte, warum ich nicht mein eigenes nahm und ich meinte der Akku wäre leer und es wäre wichtig. Sie gab es mir widerstrebend. Ihr gefiel nicht, dass ich nicht mehr mit Nathen zusammen war sondern mit Damien. Sie ahnte vermutlich, wen ich anrufen würde. Ich verabredete mich für den nächsten Mittag mit Damien im Eiscafé. Es war wichtig, dass wir uns nur unter Menschen trafen, damit kein Agent auftauchte um ihn zu durchbohren. Aber es musste auch ein Ort sein, an dem ein junges Pärchen nicht auffiel, wo uns aber andererseits die Agenten gut sehen konnten. Diese Aktion gestaltete sich jetzt schon schwerer als ich gedacht hätte.
Sam hatte mit ihrem Teil der Aktion auch bereits begonnen. Während Direktor Millers versuchte meine Beziehung zu einem Nachtgeist unter Verschluss zu halten, heizte sie die Gerüchteküche weiter an. Ich konnte nicht mehr an Agenten vorbei gehen, ohne dass sie mir schiefe Blicke hinterher warfen. Es war unmöglich, es ganz zu ignorieren, aber ich gab mein Bestes.
Zur Begrüßung küsste ich Damien auf die Wange. Er machte sich keine große Mühe zu verstecken, was er war. Für jeden, der von der Existenz der Nachtgeister wusste, war es offensichtlich, dass er einer war. Genau wie geplant. Wir bemühten uns, so normal wie möglich miteinander umzugehen, lachten viel und berührten uns scheinbar zufällig immer wieder. Es war ein gelungenes Schauspiel für die zwei Agenten, die die Dreistigkeit hatten, sich nur zwei Tische neben uns zu setzen.
Wenn ich mich so mit Damien traf, dann war es immer eigenartig. Ich ging hin, weil ich es musste. Ich blieb, weil es von mir erwartet wurde. Ich wollte weg, weil Nathen mir fehlte. Aber ich genoss es und ich wusste, dass das nicht richtig war. Es müsste mir schwerer fallen, meine Rolle zu spielen. Es müsste schwerer sein, mit Damien zu lachen. Es sollte mir ein schlechteres Gewissen bereiten ihn zu berühren. Es war zum Verrückt werden.
Die Erste, die sich traute mich auf Damien anzusprechen, war Kathryn. Wir kannten uns schon seit ich zur IMS gekommen war und verstanden uns eigentlich recht gut. Doch ich merkte, dass es ihr unangenehm war, mit mir über die Gerüchte zu sprechen. Doch die Neugier trieb sie voran. Ich durfte nichts falsches sagen.
"Ich habe gehört... Ich meine, man sagt du... Naja..." Stotterte sie.
"Kathryn, was ist denn los? Du stotterst doch sonst nie!" Ich lachte.
"Du hast dich von Nathen getrennt?"
"Ja, schon vor drei Wochen."
"Und wie geht es dir damit?" Ganz ehrlich? Mir ging es beschissen. Seit wir zusammen waren, hatte ich Nathen mindestens einmal pro Woche gesehen, meistens öfter. In den letzten drei Wochen beschränkten sich unsere Treffen auf die bescheidene Zahl von vier und einmal waren Stephen und Sam dabei gewesen. In der letzten Woche hatte ich ihn gar nicht gesehen. Es tat fast körperlich weh ihn zu vermissen.
"Geht. Ich meine, es könnte schlimmer sein. Als wir uns getrennt haben, da war es schon lange nicht mehr wie früher."
"Hast du... Hast du schon jemand neues kennengelernt?" Aha, endlich kam sie zur Sache.
"Es gibt da jemanden. Aber das weißt du doch bestimmt."
"Ach...ja?" Sie schluckte.
"Komm, ich weiß doch, was hinter meinem Rücken über mich geredet wird. Soll ich dir was verraten?" Ich lächelte schief.
"Was denn?"
"Die Gerüchte stimmen. Ich gehe seit letzter Woche immer mal wieder mit einem Nachtgeist aus. Er heißt Damien und ist wirklich nett." Kathryn fuhr erschrocken zurück. Sie hatte wohl nicht gedacht, dass ich so direkt darauf zu sprechen kam. Sie verabschiedete sich hastig, sodass es schon fast lustig war.
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An diesem Tag machte Sam mir das schönste Geschenk, dass ich mir in diesem Moment vorstellen konnte. Sie hatte eine Idee, wie ich mich wieder mit Nathen treffen konnte. Zumindest heute.
"Pass auf. Ich werde gleich im Internat anrufen und sagen, dass du heute bei mir übernachtest, das dürfte ja wohl kaum ein Problem sein. Mit Nathen ist schon alles abgesprochen, er wird mir heute Mittag einen kleinen Besuch abstatten - ihn und mich werden sie ja wohl kaum überwachen. Du kommst heute Abend dann dazu, da werden die Agenten keinen Verdacht schöpfen. Ich fahre über Nacht zu meiner Schwester, die habe ich ewig nicht gesehen. Die Wohnung gehört dann ganz euch, ok? Ich komme erst morgen Mittag zurück."
"Du hast gar keine Schwester." Gab ich zurück.
"Ja und?" Sie grinste breit und ich konnte nicht anders als ihr um den Hals zu fallen.
Jetzt war es soweit. Ich hatte noch die ganze Nacht allein mit Nathen verbracht und war ziemlich aufgeregt. Aber mittlerweile war ich ziemlich gut darin das zu verbergen. Sam öffnete mir die Tür, bat mich herein und ich verschwand aus dem Blickfeld meiner zwei Schatten, die mir von der U-Bahn Station hierher gefolgt waren. Es war ein großartiges Gefühl. Aber noch viel besser war das Gefühl Nathen auf einem von Sams bunten Küchenstühlen sitzen zu sehen. Ganz automatisch breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Sam entschuldigte sich und verschwand im Bad. Sie war einfach die beste Freundin der ganzen Welt.
"Hi." Sagte ich.
"Hi." Antwortete Nathen. Dann stand er auf, kam zu mir her und nahm mich in den Arm. "Du hast mir gefehlt." Flüsterte er ganz nah an meinem Ohr.
"Du mir auch.“ gab ich zurück. Er hob den Kopf, sah mich an, küsste mich. Ich hatte schon fast vergessen, wie es war ihn zu küssen. Ich schmiegte mich sofort an ihn, aber unser Kuss ließ sich leider nicht ausdehnen, denn Sam kam zurück. Wir aßen zusammen, dann verabschiedete sie sich.
"Fühlt euch wie zu Hause!" Meinte sie noch, bevor sie verschwand. Es war eigenartig mit Nathen allein in Sams kleiner Wohnung zu sein. Wir machten schweigend den Abwasch. Nachdem ich die Spüle ausgewischt hatte, spürte ich wie Nathen die Arme von hinten um mich legte. Ich ließ mich gegen seine Brust sinken und genoss das Gefühl der Wärme. Ich spürte, wie die Zeit verstrich, wusste aber nicht wie lange wir schon so dastanden, als ich mich endlich zu ihm umdrehte und ihn küsste. Dieses Mal unterbrach uns niemand und ich stellte mir vor, dass es die letzten paar Monate gar nicht gegeben hatte. Ich tat, als wüsste ich nichts von Magie, als gäbe es keinen Riesen, den ich besiegen musste, als täte ich nicht so, als wäre ich gar nicht mehr mit Nathen zusammen. Ich wollte nur für ein paar Stunden ein ganz normales Mädchen sein.
Als ich mich schließlich von Nathen löste war ich total außer Atem.
"Ich habe etwas für dich." Sagte Nathen und zog mich an der Hand mit. Ich zögerte an der Tür zu Sams Schlafzimmer, aber dann folgte ich Nathen hinein. Er ließ mich erst los, als er sich bücken musste um in seiner Tasche zu kramen. Als er sich wieder aufrichtete hielt er ein kleines Päckchen in der Hand. Es war in Geschenkpapier gepackt und hatte eine hübsche türkise Schleife.
"Alles Gute zum Geburtstag." Meinte Nathen. Ich runzelte die Stirn.
"Geburtstag?" Fragte ich.
"Gabriella, sag mir nicht, dass du deinen eigenen Geburtstag vergessen hast. Heute ist der 19. Oktober. Dein Geburtstag."
"Hat Sam deswegen diesen Vorschlag gemacht und das alles organisiert?"
"Was hast du denn gedacht?" Nathen lachte. Ich konnte kaum glauben, dass ich meinen eigenen Geburtstag vergessen hatte.
"Na los, packe es aus." Er reichte mir das Päckchen. Ich setzte mich aufs Bett und packte es aus. Es war ein Handy darin. Ein altes, mit Zahlentastatur und nur einem kleinen Bildschirm, aber es war ein Handy.
"Ich weiß, es ist nichts besonderes, aber so kannst du mich wenigstens manchmal anrufen. Die Karte ist schon drin." Nathen zuckte entschuldigend mit den Schultern. Ich stellte die Schachtel vorsichtig auf dem Boden. Dann sah ich ihn an, wie er da neben mir saß und lächelte. Er hatte mir wirklich gefehlt. Ich hatte so Angst gehabt, dass die Zeit, die wir nun nicht mehr miteinander verbringen konnten, uns auseinanderreißen würde. Doch in diesem Moment hatte ich das vergessen.
"Es ist perfekt." Meinte ich. "Danke." Er sah erleichtert aus. Dann beugte er sich wieder vor um mich zu küssen. Ich habe keine Ahnung, wie wir dann von der Bettkante in die Bettmitte kamen, oder wohin Nathens T-Shirt verschwunden war. Es war mir auch egal. Alles was zählte waren seine Lippen auf meinen, seine Hände auf meiner Haut. Ich würde diese Nacht in vollen Zügen genießen. Denn genau so hatte ich mir das Erste Mal vorgestellt.
Obwohl ich jetzt das zweite Handy hatte, sprach ich nicht viel öfter mit Nathen. Tagsüber ging es nicht, weil ich nicht riskieren konnte, dass es irgendwer mitbekam. In meinem Zimmer ging es nicht, weil Shila meistens da war. Und abends fiel ich hundemüde in mein Bett und schlief schneller ein als meine Mitbewohnerin. Einmal schloss ich mich auf der Toilette ein um Nathen anzurufen, aber er war arbeiten. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, ich konnte ihn nicht anrufen. Stattdessen traf ich mich mit Damien und stritt mich mit Direktor Millers. Meine Noten wurden schlechter. Auch das war mir egal. Shila überzeugte mich davon, dass sie Damien jetzt unbedingt kennen lernen wollte, also stellte ich sie einander vor. Damien gab sich dieses Mal besonders große Mühe menschlich zu wirken und normal. Er brachte Shila zum Lachen und nach diesem Treffen sprach sie nicht mehr schlecht von ihm.
Beim IMS sprachen mich nun immer mehr Menschen auf Damien an. Ich begann in meine Gespräche einen Unterton einfließen zu lassen, der auf eine Zusammenarbeit von Nachtgeistern und Magiern hindeutete. Denn für das Wochenende stand genau dieser Schritt auf unserem Plan: Magier und Nachtgeister zur Kooperation bewegen. Wir hatten lange überlegt, wie wir das anstellen sollten, aber jetzt hatten wir eine Idee.
Unsere Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Sam, Stephen und ich informierten die Magier, denen wir vertrauten. Damien informierte die Nachtgeister. Im Park würden an diesem Wochenende mehrere dutzend Leute beider Parteien aufeinander treffen und wir hatten keine Ahnung, ob das gut gehen würde. Aber einen besseren Plan hatten wir nicht. Zumindest die Bühne stand schon - naja der Pavillon, der eigentlich das ganze Jahr stand.
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"Bist du bereit?" Fragte Damien.
"Überhaupt nicht."
"Ich werde noch etwas mehr Magie brauchen, um den Zauber sprechen zu können." Meinte er. Ich nickte. Die ganzen Kräuter für den Übertragungsvorgang lagen schon bereit, das Wasser war heiß. Ich gab die Kräuter hinein, sprach den Zauber, sah zu, wie das Wasser sich färbte, fischte die Kräuter wieder heraus. Dann nahm ich die Nadel und pikste mir in den Finger. Ich zuckte noch immer jedes Mal zusammen. Ein Tropfen meines Blutes in den Tee, noch einmal zusammen mit Damien die Formel sagen und fertig. Jetzt musste er es nur noch austrinken. Ich fragte mich, warum die Magier immer so ein Theater darum gemacht hatten - eigentlich ging es ganz leicht.
"Okay, jetzt müsste es gehen. Aber in einer Stunde fällt der Wall in sich zusammen." Ich nickte. Das war hoffentlich mehr Zeit, als wir brauchten. Dann gab ich Damien meine Hände. Es fiel mir bei ihm schwerer, als bei meiner Großmutter, zuzulassen, dass er meine Kräfte katalysierte, aber es klappte. Damien sprach eine lange Formel auf altgriechisch und ich spürte, wie sich das Feld um uns herum aufbaute. Wir erschufen einen unsichtbaren Schutzwall, der alles, was innerhalb von ihm vorging vor den Augen der Sterblichen verbarg. Außerdem hatte Damien die Formel so verändert, dass es auch zu einer Art Sicherheitssystem wurde. Es gab nur zwei Eingänge - einen links, und einen rechts vom Pavillon. Wer hindurch wollte, musste alle seine Waffen ablegen. Wenn jemand versuchte, etwas hinein zu schmuggeln, würde das Kraftfeld ihn für eine gewisse Zeit einfrieren. Es schien uns als die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass Nachtgeister und Magier sich an die Kehle sprangen.
Als wir fertig waren spürte ich die Erschöpfung. Ich wollte gar nicht erst wissen, wie es Damien damit ging. Es konnte losgehen.
"Ich muss zum Eingang." Meinte Damien. Ich nickte. Er würde den Nachtgeistern die Waffen abnehmen und Sam und Stephen würden das selbe mit dem Magiern machen. Und ich durfte Tee trinken und abwarten.
Jetzt standen Damien und ich in dem Pavillon und hielten unsere eingeübte Rede. Wir erklärten den Magiern, was Direktor Millers ihnen verschwiegen hatte. Wir erzählten den Nachtgeistern, dass die Magier nur auf die Jagd gingen, weil sie es nicht besser wussten. Gerade hatten wir die Prophezeiung aufgesagt und von Beliar erzählt. Zum ersten Mal an diesem Mittag war es totenstill unter dem Kraftfeld.
"Warum sollen wir euch und nicht Mr Millers Glauben schenken?" Rief jetzt Jemand aus den Reihen der Magier. Ich versuchte auszumachen, wer es gewesen war, aber es waren mehr gekommen, als ich gedacht hätte.
"Seht einfach zu!" Antwortete Damien und konzentrierte sich. Ich hielt es für keine gute Idee, dass er noch einen Zauber sprechen wollte, wo er doch schon das Kraftfeld aufrecht erhielt, aber es war zu spät um ihn davon abzuhalten. Hinter uns tauchte ein Bild auf, als würde jemand es mit einem Dia-Projektor an eine Wand malen. Es war das Bild von dem Ei, so wie es jetzt gerade aussah. Ich konnte es mir einbilden, aber ich hatte das Gefühl, dass es noch größer geworden war. "Das ist das Ei, von dem wir euch erzählt haben. Es ist ein Bild, genau so, wie es gerade aussieht. Zweifelt ihr noch immer?"
"Wer sagt uns, dass das keine Täuschung ist?" Es war wieder ein Magier, der fragte.
"Ich kann es bezeugen! Ich kenne die Formel, die Damien verwendet hat. Es ist tatsächlich eine Liveaufnahme." Antwortete einer der Nachtgeister.
"Auch ich kenne die Formel. Sie haben die Wahrheit gesagt!" Rief jemand aus den Reihen der Magier. "Ihr habt gesagt, ihr sucht nach Leuten, die mit euch in die Mongolei reisen um dieses Ding verschwinden zu lassen." Ich sah wie in den letzten Reihen Bewegung aufkam. Jemand kam nach vorn. "Ich werde mit euch kämpfen." Ich hörte nun, dass es eine Frau war, die sprach. Endlich kam sie auch soweit in mein Blickfeld, dass ich sie erkennen konnte. Es war Kathryn. Ich lächelte ihr zu.
"Ich glaube euch auch und deswegen werde ich mitgehen!" Rief ein Nachtgeist.
"Ja, eine Zusammenarbeit erscheint mir gar nicht mehr so unwahrscheinlich!" Immer mehr Rufe kamen dazu und ich war schon bald nicht mehr dazu in der Lage, sie einer bestimmten Seite zuzuordnen. Nach ein paar Minuten baten wir um Ruhe.
"Jeder, der sich entschlossen hat, mit uns zu kämpfen, ganz egal ob Nachtgeist oder Magier, soll sich auf der Liste bei Sam und Stephen eintragen. Wir geben euch dann Bescheid, wenn es losgeht. Und an alle Magier: kein Wort zu Direktor Millers!" Beendete ich unsere Versammlung. Es hatte alles geklappt. Niemand hatte versucht jemanden umzubringen. Viele hatten sich entschieden uns zu helfen.
"Meinst du, das sind genug Leute?" Fragte ich Damien.
"Ich hoffe schon." Bildete ich mir das ein, oder klang er angestrengt? Das Bild von Beliars Ei fiel hinter ihm in sich zusammen.
"Alles in Ordnung?" Hakte ich nach.
"Ja, alles bestens." Kam es zurück. Ich runzelte zwar die Stirn, gab mich aber damit zufrieden. Wie aufs Stichwort erlosch das Kraftfeld in dem Moment, in dem der letzte Magier es verlassen hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass sich auch meine zwei Aufpasser auf unsere Seite gestellt hatten. Zumindest konnte ich sie zum ersten Mal seit einer Woche nirgends entdecken.
"Komm, lass uns gehen." Wir verließen den Pavillon. Auch Sam und Stephen waren schon verschwunden. Ich hakte mich bei Damien unter, denn jetzt mussten wir wieder das junge Paar spielen. Nur für den Fall, dass doch noch jemand in der Nähe war. Bildete ich mir das ein, oder zitterte Damien?
"Ist auch wirklich alles okay? Du..." Begann ich von neuem, doch dann hörte ich, dass Damien leise eine Formel auf Latein sprach. Er zog mich vom Weg herunter zu einem Baum und kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, brach er zusammen.
"Damien? Damien? Was ist los?" Ich kniete neben ihn.
"Ich bin anscheinend nicht so mächtig, wie ich gedacht hatte." Meinte er und versuchte zu Lächeln. Der Versuch misslang, Schweiß rann ihm über die Stirn.
"Heißt das, der Zauber hat zu viel Macht gefordert?"
"Ja, ich fürchte schon. Erst hab ich es gar nicht gemerkt, aber als ich das Livebild hervorgeholt habe..." Es schüttelte ihn, "Ich habe gedacht, es geht gleich wieder vorbei, aber..."
"Was kann ich tun?"
"Ich brauche mehr Magie."
"Aber wir haben die Kräuter nicht hier!"
"Es gibt noch eine Möglichkeit..." Damien keuchte. Natürlich. Auf die Art holten sich die anderen Nachtgeister schließlich auch ihre Magie.
"Wo ist dein Messer?"
"Im Schuh... Aber Gabriella..."
"Psst. Ich weiß was ich tue." Hoffte ich zumindest. Ich zog das Messer heraus. Dann holte ich tief Luft und schnitt mir die Hand auf. Es blutete sofort und tat höllisch weh.
"Was jetzt?" Fragte ich. Damien sah immer blasser aus, seine Lippen wurden langsam grau.
"Die Hand... Ich muss das Blut trinken." In diesem Moment dachte ich gar nicht darüber nach, aber später ekelte mich die Vorstellung immer etwas, dass Damien mein Blut getrunken hatte. Ich presste ihm meine Hand auf den Hund. Er hob die Hände und versuchte sie wegzudrücken. Der Druck war so schwach, dass ich es kaum bemerkte.
"Bitte... Sieh nicht hin." Brachte er hervor, bevor er seine Lippen wirklich an meine Haut legte und begann, mir das Blut auszusaugen. Ich wollte eigentlich wegsehen, aber ich konnte nicht. Ich war zu fasziniert von Damiens Anblick. Ich spürte, wie er das Blut aus meiner Hand saugte und genoss das Prickeln, dass diese Berührung auslöste. Es war ein eigenartig intimer Moment. Doch schon nach kurzer Zeit ließ Damien meine Hand wieder los. Seine Lippen waren rot von Blut, aber er hatte wenigstens aufgehört zu zittern. Aber er schwitzte noch immer und die Farbe begann schon wieder sein Gesicht zu verlassen.
"Trink noch mal. Es geht dir kaum besser." Ich hielt meine Hand noch einmal vor sein Gesicht, doch er drehte den Kopf zur Seite.
"Nein. Sonst nehme ich vielleicht zu viel und dann stirbst du."
"So stirbst du vielleicht!" Gab ich zurück. Warum verdammt noch mal wollte er nicht trinken? Er riss einen Streifen Stoff von seinem T-Shirt. Es überraschte mich, dass er noch die Kraft dazu hatte. Dann nahm er meine Hand und verband sie mit dem Stück. Eigentlich hätte ich sie zurückziehen müssen, ihn zwingen zu trinken, aber seine Finger fühlten sich so gut an, wenn sie meine Haut streiften. Es war etwas ganz anderes, als das Händchenhalten für die Zuschauer. Ein warmer Schauer jagte meinen Rücken hinunter, ohne dass ich es verhindern konnte.
"Das ist nur, weil die Magie keine Zeit hat zu wirken. Der Unsichtbarkeitszauber frisst sie direkt auf. Ich habe genug bekommen."
"Unsichtbarkeitszauber?" Fragte ich.
"Glaubst du, die Menschen hätten nicht längst einen hysterischen Anfall bekommen, wenn sie gesehen hätten wie ich dein Blut trinke?" Natürlich, die Formel, die er gemurmelt hatte!
"Dann hebe den Zauber auf."
"Das geht nicht. Mir fehlt die Kraft für einen Gegenzauber."
"Aber irgendetwas müssen wir tun." Ich spürte, wie die Verzweiflung in mir wuchs. Es durfte nicht vorbei sein, bevor es überhaupt angefangen hatte. Die Welt war doch noch gar nicht gerettet.
"Es gibt vielleicht etwas, mit dem wir die Wirkung..." Damien atmete tief durch, "die Wirkung beschleunigen können. Aber es wird dir nicht gefallen." Brachte er hervor.
"Was ist es?"
"Du, du müsstest mich küssen. Aber keine Sorge, ich erwarte nicht, dass du es tust. Immerhin..." Weiter kam er nicht, denn ich beugte mich vor und legte meine Lippen auf seine. Ich hatte es mir nie eingestanden, aber es hatte Momente gegeben, in denen ich mir vorgestellt hatte, wie es wäre Damien zu küssen. Aber meine Vorstellungen waren noch nicht einmal in der Nähe der Realität. Als wir uns auf diese Weise berührten - nicht, weil wir etwas vorspielten und uns jemand beobachtete, sondern einfach, weil wir es wollten - da vergaß ich alles andere. Sein Kuss brachte mein Herz zum rasen. Ich spürte, wie er eine Hand in meinen Nacken legte und mich festhielt. Später wurde mir klar, dass er bereits in diesem Moment wieder genug Kraft gehabt haben muss, aber ich löste mich nicht von ihm. Ich hatte gar keine Chance darüber nachzudenken, denn alles, was mein Kopf in diesem Moment von sich gab war: mehr. Ich dachte nicht eine Sekunde lang an Nathen.
Als wir uns voneinander lösten, sah ich Damien für einen Moment einfach nur an. Dann fiel mir alles wieder ein und ich wich hastig zurück, bevor einer von uns auf die Idee kommen könnte den anderen noch einmal zu küssen.
"Geht es dir besser?" Fragte ich. Mittlerweile war ich wieder aufgestanden und hatte mir den Dreck von den Knien geklopft.
"Ja, danke. Du hast mir... Es fällt mir echt schwer das zuzugeben, aber... Du hast mir das Leben gerettet." Er sah mich an, doch ich wich seinem Blick aus.
"Dann kannst du ja jetzt den Unsichtbarkeitszauber aufheben."
"Schon erledigt." Gut. Ich hoffte, dass die Versuchung ihn zu berühren dadurch kleiner wurde. Verdammt noch mal, ich hatte doch Nathen! Ich reichte Damien meine unverbundene Hand und zog ihn hoch.
"Wie geht es deiner Hand?" Fragte er.
"Geht schon."
"Blutet sie noch?" Ja und sie brannte wie Hölle.
"Keine Ahnung."
"Zeig mal her." Er griff nach meiner Hand und ich zuckte zurück. Mir wurde klar, wie das wirken musste - auf ihn und auf unsere möglichen Beobachter. Ich reichte sie ihm.
Ganz vorsichtig löste er den blutgetränkten Stoff von meiner Hand. Der Schnitt war länger als ich gedacht hatte. Mir wurde ein wenig schlecht.
"Pass gut auf." Sagte er, dann sprach er eine Formel. Ich fand es schrecklich nervig, dass ich mir die Worte nie merken konnte, aber auf der anderen Seite hätten sie mir sowieso nicht genutzt. Als er fertig war hob er meine Hand zu seinem Gesicht und ich dachte schon, er wollte noch einmal von meinem Blut trinken, doch er pustete nur einmal über meine verletzte Haut. Als wäre ich ein kleines Kind und hätte mir das Knie aufgeschürft. Zu meiner Überraschung schloss sich die Wunde. Schon nach ein paar Sekunden war nichts mehr von ihr zu sehen. Ich schnappte nach Luft.
"Wie..." Brachte ich heraus.
"Das geht leider nur mit kleinen, oberflächlichen Wunden. Aber immerhin." Damien lächelte mich an. Heute leuchteten seine Augen in einem hellen Grünton. Das gefiel mir besser, als das Grau, das sie manchmal annahmen, aber Damien sagte, er habe darüber keine Kontrolle. Es fiel mir schwer mich zu Konzentrieren, aber ich redete mir ein, dass es nur daran lag, dass ich meine Rolle schon viel zu gut beherrschte.
"Danke." Flüsterte ich. Damien ließ unsere Hände sinken, verschränkte seine Finger aber mit meinen. Er beherrschte dieses Spiel viel besser als ich und es störte mich, dass mir das auffiel. Wir gingen zurück zum Weg und Damien begleitete mich bis vor das Tor des Internatsgeländes. Ich versuchte ihn so wenig wie möglich anzusehen. Er gab mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange und verschwand hinter der nächsten Ecke, so wie immer. Doch heute konnte ich seine Berührung noch spüren, als ich zu Shila ins Zimmer kam.
Mechanisch legte ich mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Ich lag noch lange nachdem Shila eingeschlafen war wach auf der Matratze, aber ich versuchte nicht mich hinauszustehlen um Nathen anzurufen.
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Am nächsten Morgen erinnerte ich mich nur noch verschwommen an die Ereignisse im Park. Ich wusste, dass es Damien schlecht gegangen war und dass ich ihn geküsst hatte - aber das verdrängte ich so gut es ging.
Wir waren jetzt bei Schritt vier und bis jetzt war alles gut gegangen. Doch dieser Schritt, obwohl er der ungefährlichste war, erwies sich als der schwierigste. Wir hatten keine Ahnung, wie wir herausbekommen sollten, wie wir Beliar besiegen konnten. Ich verbrachte Stunden in der Bibliothek und suchte nach Hinweisen, aber alles was ich fand kannte ich schon aus Sams Geschichte. Es gab keinen Hinweis darauf, wie der Magier ihn vor tausenden von Jahren getötet hatte.
Am Anfang hatte ich noch gezielt nach Wörtern wie Beliar, Riese, Ei oder erdgeboren gesucht. Doch mittlerweile schlug ich einfach alles nach, was mir gerade einfiel. Ich war so verzweifelt, dass ich tatsächlich überlegte, die Grimmschen Definitionsbücher ganz zu lesen.
Ich saß vor dem Band Axt-But, als ich anfing über meine Granny nachzudenken. Ich dachte an das, was sie mir gesagt hatte: dass Damien so mächtig werden musste wie möglich. Sie hatte auch von meinem Schicksal gesprochen, von einer Last, die auf meinen Schultern lag. Davon, dass ich die letzte meines Blutes war. "Die letzte Baiyuo." Hatte sie gesagt. Ich hatte bis jetzt nicht mehr darüber nachgedacht, doch jetzt fiel es mir wieder ein. Ich hatte unbedingt herausfinden wollen, was Baiyuo bedeutete, aber dann hatte ich es total vergessen. Eigentlich würde ich es jetzt googlen, aber in der Bibliothek des IMS gab es nur einen Computer und an dem saß die Bibliothekarin. Ohne große Hoffnung etwas zu finden, blätterte ich in dem Buch zurück. Ich hatte ansonsten sowieso nichts zu tun.
Zu meiner großen Überraschung fand ich tatsächlich einen Eintrag.
Baiyuo: Bai-yuo, gesprochen Beiju; chinesischer Familienname; Bedeutet so viel wie 'von reinem und weisem Blut'; Name einer mächtigen Zaubererfamilie, die in ihrer Familienchronik behauptet, direkt von den Göttern abzustammen; beanspruchen den Titel der Riesenbezwinger für sich, da es ein Spross ihrer Sippe war, der den Beliar tötete; letzter Zweig der Familie: Meyer; Rhonda, Andrew und Michele
Ich schluckte. Deshalb hatte Rhonda also darauf bestanden, dass ich so tat als wäre ich mit Damien zusammen. Es war mein Vorfahre gewesen, der Beliar besiegt hat. Ich würde den Kreis schließen.
Auch wenn uns das nicht weiterbrachte, stand ich auf und verließ hastig das Gebäude. Sam, Stephen, Nathen und Damien mussten unbedingt davon erfahren.
"Du hast das gewusst?" Fuhr ich Damien an. Wir saßen zu fünft um Sams Küchentisch und gerade hatte ich von meiner Entdeckung erzählt. Damien hatte tatsächlich behauptet, das sei für ihn nichts neues.
"Klar ich wusste, dass du eine Baiyuo bist. Immerhin fließt gewissermaßen dein Blut durch meine Adern."
"Aber... Warum hast du denn nichts gesagt?"
"Ich dachte du wüsstest, wer du bist." Gab Damien pappig zurück.
"Du hast damals zu Rhonda gesagt, sie würde ein gefährliches Spiel spielen, indem sie dir ihr Blut gegeben hat." Warf Stephen in unseren Streit ein. Damien wandte seine sturmgrauen Augen widerstrebend von mir ab.
"Ja. Kennt ihr denn nicht die Geschichte davon, wie die Nachtgeister entstanden?" Fragte Damien zurück.
"Doch, natürlich. Die Magier erschufen die Nachtgeister zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, als auch sie im Kampf untereinander immer mehr Angehörige verloren." Fasste Sam zusammen.
"Ha! Ich frage mich, ob es das IMS oder die Baiyuo waren, die die Geschichte so verändert haben."
"Was soll das denn bitte bedeuten?" Fauchte ich Damien an.
"Ich werde euch die wahre Geschichte erzählen. Aber wehe du unterbrichst mich Gabriella, nur weil dir nicht passt, was du über deine Vorfahren zu hören bekommst." Ich war stinksauer auf Damien, aber ich hielt mich zurück. Um meine Wut ein wenig abzubauen, ließ ich Sams Uhr rückwärts laufen. Es bemerkte sowieso niemand, "1860 waren die Baiyuo die mächtigsten Magier der Welt. Sie hatten sich mittlerweile überallhin ausgebreitet und beanspruchten für sich eine Art Adelstitel in der magischen Welt. 1861 kam ein junger Spross der Familie auf die grandiose Idee, sich zum König der Magie krönen zu lassen. Das hat seinen Verwandten überhaupt nicht gepasst und sie fingen an, sich zu bekriegen. Erst blieb die Fehde innerhalb der Familie, doch nach und nach zogen die Baiyuo alle anderen Zauberer und Hexen auf ihre Seite. Die Sterblichen begannen sich zu bekämpfen, ohne den wahren Grund zu kennen. Und es war schließlich auch ein Baiyuo, der den ersten Nachtgeist erschuf. Den Rest der Geschichte kennt ihr ja: wir kämpften eine Zeit lang für die Magier, dann wandten wir uns gegen sie. Erst 1930 bemerkten wir Nachtgeister, dass wir nicht alle Baiyuo getötet hatten. Die Familie hatte sich zurückgezogen, sprach nie wieder von ihrer göttlichen Herkunft oder von bezwungenen Riesen, und schon gar nicht von dem blutigsten Krieg der Geschichte, den sie ausgelöst hatten. Sie stellten keine Gefahr mehr für die Nachtgeister da, also ließ man sie in Ruhe. Zumal sowieso keiner der ursprünglichen Baiyuo-Geister - also der von den Baiyuo geschaffenen Nachtgeister - mehr übrig war." Damien machte eine Kunstpause, ich hielt den Atem an, "Als Rhonda mich mit ihrem Blut erschuf, ging sie davon aus, dass es im Bereich des möglichen war, dass sie dadurch einen zweiten Bürgerkrieg auslösen konnte. Sie ist dieses Risiko bereitwillig eingegangen. Ganz abgesehen davon, dass sie mich mächtiger gemacht, als alle Nachtgeister vor mir, als sie freiwillig für mich starb."
Damien sah uns alle an, als wartete er auf eine Reaktion, doch wir waren wie versteinert. Wir hatten keine Ahnung gehabt. Tränen stiegen mir in die Augen und ich ließ den Kopf in meine Hände sinken. Ich weinte lautlos, auch als Nathen zu mir kam und mich hochzog um mich in den Arm zu nehmen sah ich nicht auf. Ich hatte ihm nicht erzählt, was im Park zwischen mir und Damien passiert war.
Wie hatten zwar noch immer keine Ahnung, wie wir Beliar besiegen sollten, aber wir hatten eine Menge Nachtgeister und Magier zur Zusammenarbeit bewegt. Ich traf mich fast jeden Tag irgendwo mit Damien, damit sie sehen konnten, dass es funktionierte. Ich hatte die ganze Woche aufgepasst, ob mir noch jemand folgte, aber mir war nichts mehr aufgefallen. Deshalb probierten wir jetzt etwas neues aus: wir trafen uns in Damiens Einzimmer-Wohnung. Ich hatte keine Ahnung, wie er so schnell eine Wohnung gefunden hatte, aber vermutlich wollte ich es auch gar nicht wissen. Nathen hatte seinen Laptop mitgebracht und wir suchten nach Flügen in die Mongolei. Als wir endlich einen fanden, dachte ich, dass wir das gröbste hinter uns hätten, doch es gestaltete sich noch viel schwieriger genügend Jeeps für uns alle zu finden. Es war anscheinend noch nicht schlimm genug, dass wir für eine Strecke der Reise 25 Stunden brauchen würden - weil wir erst einmal in Moskau den Flieger wechseln mussten - sondern wir würden auch noch bis mittags um zwei in Ulan-Bator festsitzen, bis wir endlich die Jeeps bekommen würden. Und das ganze war teuer! Das bisschen, dass ich mir fürs College gespart hatte, würde wohl dran glauben müssen.
Wir buchten für so viele Leute, dass wir eigentlich den ganzen Flieger belegten. Dann informierten wir die Leute auf der Liste, dass es in zwei Wochen losging. Ich hoffte wirklich, dass wir nicht zu spät kommen würden. Seit Rhondas Tod waren schon vier Wochen vergangen. Wenn unser Plan auch nur an einer Stelle nicht funktioniert hätte, wären wir wahrscheinlich zu spät dran. Mir wurde klar, wie viel Glück wir gehabt hatten.
Stephen und Sam waren schon gegangen, gerade verabschiedeten Nathen und ich uns von Damien. Es war zwar immer noch riskant, aber wir trauten uns, das Gebäude zumindest gleichzeitig zu verlassen. Solange wir uns nicht berührten, würde es schon gehen.
Als wir die zwei Stockwerke hinunter zur Tür gingen, nahm ich Nathens Hand. Als er sich vor der Tür von mir losmachte, dachte ich mir nichts dabei, aber als er dann stehen blieb und mich mit Sorgenfalten auf der Stirn ansah, stutzte ich.
"Gabriella, wir müssen reden." Nein. Das konnte doch wohl nicht wahr sein.
"Worum geht es?" Ich schluckte. Ein Gespräch, das so anfing, endete selten gut. Das wusste sogar ich.
"Es... Wir haben uns in den letzten vier Wochen kaum gesehen."
"Ich weiß, aber in zwei Wochen ist dieser ganze Albtraum doch vorbei." Ich merkte, wie ich verzweifelte, obwohl Nathen noch gar nichts gesagt hatte. Ich wusste, was kommen würde.
"Nein." Er schüttelte den Kopf, "Irgendwann wird wieder etwas kommen, dass sich zwischen uns stellt. Diese ganze Magie... Ich habe mich eingefügt, aber es war nie meine Welt. Es ist deine."
"Ich bezweifle, dass mich Direktor Millers je wieder auf die Jagd schicken wird. Ich würde auch gar nicht gehen." Nicht quengeln, alles nur nicht quengeln.
"Darum geht es doch gar nicht! Ich... Es tut mir Leid, Gabriella. Aber ich kann das nicht mehr."
"Nathen..."
"Glaub mir, mir fällt das auch nicht leicht aber siehst du es denn nicht? Wir machen uns nur noch selbst etwas vor. Die Geschichte, die du jedem erzählt hast, ist wahr geworden. Es ist nicht mehr wie früher."
"Aber..." Ich spürte, wie der Kloß in meinem Hals immer größer wurde. Die erste Träne rann mir über die Wange und Nathen fing sie mit einem Finger auf.
"Diese eine Nacht, bei Sam... Das war die schönste meines Lebens. Das musst du wissen. Aber es war nicht mehr echt, verstehst du? Das hier..." Er strich mir mit der Hand über die Wange, "es ist nicht mehr das selbe. Und das tut mir Leid."
Nathen beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn. "Es ist besser wenn wir uns wirklich nicht mehr sehen. Ich wünsche dir viel Glück, Gabriella." Und dann ging er. Er drehte sich um und ging durch die Tür in den Regen ohne sich umzublicken.
"Nathen..." Flüsterte ich, denn mehr bekam ich nicht heraus. Aber es war zu spät er war fort. Er war fort.
Ich sank auf den Boden, geschüttelt von Weinkrämpfen. Ich spürte die Kälte des Steinbodens, die meine Gänsehaut verursachte. Meine Hände verkrampften sich um meinen Bauch. Ich drückte meine Finger so fest in meine Seite das es weh tat, doch ich konnte nicht aufhören zu weinen. Nathen war fort. Er war gegangen. Was habe ich nur getan?
Ich spürte, wie mich jemand hochzog, aber ich wehrte mich nicht dagegen. Es war Damien und er schloss seine starken Arme um mich. Ich vergrub mein Gesicht im Stoff seines Pullovers und weinte. Damien sagte kein Wort, er hielt mich einfach nur so fest, dass ich nicht gleich wieder umfiel. Nach ein paar Minuten hob er mich hoch. Ich ließ zu, dass er mich wieder nach oben trug, mich in sein Bett legte und zudeckte. Ich hätte sowieso nicht die Kraft gehabt mich zu wehren.
Ich zog sofort die Knie an meinen Bauch, verschränkte die Arme. Versuchte verzweifelt, meine Weinkrämpfe unter Kontrolle zu bringen. Mir war bewusst, dass Damien neben mir auf dem Bett saß und mich beobachtete, aber es half nicht. Nathen war fort.
Irgendwann gingen mir die Tränen aus. Das Kissen war klitschnass. Es schüttelte mich noch immer. Ich zitterte, hatte Gänsehaut. Es fühlte sich an, als hätte man mein Herz herausgeschnitten und mich blutend zurück gelassen. Ich konnte es nicht schlagen spüren.
"Versuch zu schlafen." Sagte Damien und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich schaffte es den Kopf zu schütteln. "Du musst aber schlafen." Ich wollte etwas antworten, doch es kam kein Ton aus meinem Mund. Jeder Knochen schmerzte mich.
Als ich merkte, wie Damien eine Formel murmelte, wollte ich ihn unterbrechen, doch es war schon zu spät. Meine brennenden Augen schlossen sich und ich fiel in einen traumlosen Schlaf voller Schwärze.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, tat mir noch immer alles weh. Ich sah mich um und entdeckte Damien auf der anderen Seite der Schlaf-Wohn-Küche an der Kaffeemaschine.
"Morgen." Brachte ich krächzend heraus. Eigentlich hätte er mich gar nicht hören dürfen, doch er drehte sich um. In der Hand hielt er zwei dampfende Kaffeetassen.
"Morgen" erwiderte er lächelnd. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie spät es war. Er kam zu mir ans Bett und setzte sich auf die Kante. Ich schaffte es, ein wenig zur Seite zu rücken um ihm Platz zu machen. Außerdem richtete ich mich weit genug auf, um einen Schluck aus der Tasse zu nehmen, die Damien mir reichte.
"Wie viel Uhr ist es?"
"Halb vier morgens."
"Ich muss sofort zurück ins Internat. Ich..." Ich wollte schon aufstehen und verschüttete dabei etwas Kaffee auf der Bettdecke, doch Damien drückte mich zurück in die Kissen.
"Ich habe dort angerufen und Sams Stimme nachgemacht - du musst erst heute Abend wieder zurück sein." Ich entspannte mich ein wenig.
"Was ist passiert?" Fragte ich.
"Das weißt du nicht mehr?" Es schien Damien unangenehm zu sein, dass ich ihn darauf ansprach.
"Ich weiß noch, dass ich mit Nathen nach unten gegangen bin. Wir sind stehen geblieben und..." In diesem Moment fiel es mir wieder ein. Schon wieder quollen Tränen aus meinen Augen. Meine Hände begannen zu zittern. Nathen war gegangen. Er war fort.
"Hey, hey." Damien wand die Tasse aus meinen Fingern und stellte sie zusammen mit seiner auf den Nachttisch. Er strich mir hilflos über die Wangen.
"Was habe ich nur getan?" Fragte ich ihn. Alles um mich herum begann durch den Tränenschleier zu verschwimmen.
"Du hast getan, was du für richtig hält. Du konntest ja nicht ahnen, dass Nathen..."
"Er ist fort. Und ich bin Schuld. Ich hätte niemals..." Ja, was hätte ich nicht tun sollen? Ich war mir doch immer so sicher gewesen, dass es das Richtige war.
"Hey, du darfst jetzt nicht aufgeben, hörst du? Wir alle zählen auf dich."
"Warum?"
"Du bist doch die letzte Baiyuo. Du musst den Riesen besiegen, ohne dich schaffen wir das nicht. Rhonda hat an dich geglaubt. Sie hat sich geopfert, damit du erfolgreich sein kannst. Willst du, dass das umsonst war?" Ich schüttelte den Kopf. Dann schaffte ich es tatsächlich, meine Tränen und das Zittern in den Griff zu bekommen.
"Na also." Damien lächelte mich an. Ich lächelte zurück, auch wenn ich nicht wusste, wie echt es aussah.
"Woher wusstest du, dass ich unten war?" Fragte ich.
"Ich... Also... Ich hab vielleicht ein bisschen gelauscht." Ich lachte. "Das tut mir Leid. Auch der Schlafzauber tut mir Leid, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte."
"Schon okay." Antwortete ich. "Warst du die ganze Zeit wach?"
Damien schüttelte den Kopf. "Ich habe ein bisschen auf der Couch geschlafen." Ich schielte zu der kurzen Couch hinüber, die sogar für mich nicht lang genug gewesen wäre, aber ich sagte nichts. Damien gab mir meine Tasse zurück und wir tranken den Kaffee schweigend aus.
Bis zum Abend hatte ich mich soweit beruhigt, dass ich glaubte Shila gegenübertreten zu können. Damien brachte mich zum Internat, küsste mich auf die Wange und verschwand. Wir hatten unsere Rollen wieder eingenommen, doch etwas war anders als zuvor. Ich dachte nicht mehr an Nathen, wenn Damien mich berührte, sondern dann, wenn Damien nicht in meiner Nähe war. Und die Erinnerungen schmerzten.
"Du bist ein Nichts, Baiyuo, im Vergleich zu mir. Und auch wenn du mich jetzt tötest, so werde ich doch zurückkommen und Rache nehmen an deinen Kindern. Denn aus der Erde bin ich geboren, und die Erde wird mich wieder gebären. Also seht mich an ihr Menschen und erzittert vor meiner Rache!" Das riesige Gesicht, das mein gesamtes Sichtfeld einnahm lachte und bewegte sich von mir weg. Ich konnte nun sehen, dass es zu einem Riesen gehörte, doch sein Körper war verschwommen, als wäre er von Nebel umhüllt. "Das habe ich zu deinem törichten Vorfahren gesagt, ehe er mich tötete. Und nun sieh mich an, Gabriella Eileen Leek! Sieh meine Größe! Ich komme zurück um Rache zu nehmen und du wirst mein erstes Opfer sein. Du wirst scheitern und du wirst es bereuen, dich eingemischt zu haben. Denn glaube mir, ich kenne alle deine Schwächen." Der Riese lachte wieder und verschwand ganz im Nebel. Der Traum wechselte den Schauplatz.
"Dad?" Fragte ich den Mann, der vor mir an einem Schreibtisch saß.
"Der Himmel hat mich gesegnet, als er mir eine verfluchte Tochter gab. Sie wird mich reich machen!"
"Dad!"
"Hast du gehört Gabriella?" Der Mann wandte sich um. Es war tatsächlich mein Vater. Er griff nach meinem Handgelenk, umklammerte es so fest, dass es weh tat. "Du wirst mich reich machen! Na los, mach schon! Mach das Papier zu Geld!" Der Mann lachte irre.
"Nein!" Ich riss mich los und lief davon. Erst war da nichts, nur gähnende Leere überall um mich herum. Plötzlich stand ich in einem Wald, und vor mir stand Nathen.
"Nathen, bitte du musst mir helfen." Bat ich.
"Es tut mir Leid, Gabriella. Aber ich kann das einfach nicht mehr." Er wandte sich ab und verschwand.
"Nein! Nathen, bitte bleib hier!" Rief ich ihm hinterher, doch er war verschwunden. Ich begann wieder zu laufen. Und lief und lief, denn etwas Böses verfolgte mich und wenn ich zurückblickte, war da nur Schwärze. Eine Schwärze, aus der die Schreie all derer hallten, die ich liebte. Ich rannte gegen etwas. Es war Damien.
"Damien, hilf mir!" Ich griff nach seinen Schultern, wollte mich daran festhalten, doch Damien war schneller und ergriff meine Hände.
"Du hättest mir nicht vertrauen dürfen, Gabriella." Sagte er, grinste und stieß mich von sich. Ich fiel in die endlose Schwärze. Von überall her klang das grausame Lachen des Riesen.
Ich fuhr in meinem Bett auf. Meine Decke war zerwühlt, mein Schlafanzug war nassgeschwitzt. Ich sah auf meine Uhr, es war noch mitten in der Nacht. Mir war klar, dass das kein normaler Traum gewesen war.
Beliar musste mittlerweile genug Macht haben, um andere beeinflussen zu können, oder zumindest ihre Träume. Er hatte mir diesen Traum geschickte. Als Warnung oder als Ausblick, auf das, was mir bevorstand. Er kannte meine tiefsten Ängste, meine verletzlichsten Punkte. Wie sollte ich ihn nur jemals besiegen?
Ich starrte an die Decke und dachte nach. Im Dunkeln fiel es mir leichter mich zu beherrschen. Ich dachte an Rhonda und an Nathen. Und an Damien. Ich hatte meine Großmutter geopfert und meinen Freund verloren - war das schon alles, oder würde sich der Preis noch erhöhen? Es fiel mir schwer zu glauben, dass ich das Schlimmste schon überstanden hatte.
Bis zum Morgengrauen schlief ich nicht mehr ein.
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Heute war der erste Tag seit bestimmt zwei Wochen, an dem ich dazu kam meine Hausaufgaben zu machen. Ich war wirklich froh über die Ablenkung, denn bis unser Flug ging, hatten wir nichts mehr zu tun, außer abzuwarten. Meine Noten waren mittlerweile so schlecht, dass eigentlich alle Lehrer mich schon um ein Gespräch gebeten hatten. Ich sagte jedes Mal, ich hätte im Moment einiges zu regeln - privat - dass es aber bald wieder besser werden würde. Die einen ließen mich dann gehen, die anderen sagten mir, dass ich immer zu ihnen kommen könnte, wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Ich bedankte mich höflich, aber es war unwahrscheinlich, dass ich dieses Angebot je wahrnehmen würde.
Ich war so tief in meine Mathe Hausaufgaben der letzten Woche vertieft, dass ich erst viel zu spät auf die Uhr sah. Ich hätte schon vor zehn Minuten in die U-Bahn steigen müssen, um mich in der Stadt mit Damien zu treffen. Ich hatte noch nie so schnell meine Sachen gepackt und mich umgezogen wie gerade. Noch auf dem Weg zur U-Bahn Station rief ich Damien an.
"Hey, wo bleibst du denn?" Fragte er mich.
"Hey, em, ich habe total die Zeit vergessen, aber ich bin gleich da, okay? Noch zehn Minuten."
"Ich bestelle schon mal. Cola, wie immer?"
"Heute lieber Wasser, aber danke." Ich lächelte. Damien kannte meine Gewohnheiten schon ziemlich gut. Wir legten auf und ich konnte noch gerade rechtzeitig zwischen den sich schließenden Türen eines Abteils hindurch springen. Geschafft.
Als ich endlich in dem kleinen Café ankam, wartete Damien schon auf mich.
"Da bist du ja endlich." Er stand auf und küsste mich auf die Wange.
"Ja, tut mir Leid." Wir setzten uns. Ich sah mich verstohlen im Raum um. Ich erkannte zwei Nachtgeister, die hinten in der Ecke saßen. Und ich war mir ziemlich sicher, dass die drei Mädchen, die am Tisch neben uns saßen, eine Ausbildung beim IMS begonnen hatten. Sie waren maximal ein Jahr jünger als ich.
Damien und ich sprachen über belanglose Dinge. Schule, Arbeit, das Wetter. Aber wir lachten viel und berührten uns immer wieder an den Händen. Es war das selbe Rezept wie vor drei Wochen, aber es wirkte noch immer.
Nach etwa anderthalb Stunden verließen wir das Café. Damien bezahlte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo das Geld herkam. Wir spazierten durch den Park und ich schmiegte mich eng an ihn. Es war mittlerweile kalt geworden, der November hatte den ersten Frost gebracht. Damien aber schien nie zu frieren und das nutzte ich aus. Als es dunkel wurde, fragte er mich, ob ich noch mit zu ihm kommen wollte. Ich spürte, das wir beobachtet wurden, auch wenn ich nicht wusste von wo aus, also stimmte ich zu.
In seiner Wohnung angekommen, machte Damien mir erst einmal einen warmen Tee. Ich war total durchgefroren. Dann ließ er sich neben mich auf das Sofa fallen.
"Wie geht es dir?" Fragte er.
"Besser." Antwortete ich.
"Aber du bist froh, wenn die Sache vorbei ist?"
"Du nicht?" Ich lächelte zu ihm rüber. Seine Augen waren mal wieder grün, so wie meistens in letzter Zeit.
"Doch, natürlich." Wir schwiegen eine Weile. Schließlich stellte ich meine leere Tasse ab.
"Erzähl mir mehr über Nachtgeister." Bat ich.
"Was willst du denn wissen?"
"Keine Ahnung, irgendwas."
"Das ist nicht wirklich genau definiert." Meinte Damien. Ich rollte mit den Augen.
"Na gut, dann... Wie ist das mit der Unsterblichkeit?"
"Naja, so unsterblich sind wir ja gar nicht. Wir sterben, wenn man uns mit einem Schwert durchbohrt, oder etwa nicht? Und wir sterben, wenn wir nicht genügend Magie bekommen. Und wir können uns dazu entschließen zu sterben."
"Wie meinst du das?" Fragte ich.
"Also du weißt ja, dass Nachtgeister nicht geboren, sondern geschaffen werden. Dadurch stehen sie sozusagen außerhalb des Lebenszyklus. Deswegen altern wir auch nicht - außer wir sprechen einen passenden Zauber."
"Warum sollte man die ewige Jugend aufgeben?"
"Ach, da gibt es einige Gründe. Die meisten Nachtgeister zum Beispiel lieben es in der Öffentlichkeit zu stehen. Wenn man da nicht altert, dann fällt das auf."
"Könnt ihr dann auch an Altersschwäche sterben?"
"Ja, natürlich." Gab Damien wie selbstverständlich zurück. Ich kicherte - die Vorstellung, dass ein Unsterblicher an Altersschwäche starb, war einfach zu komisch. Damien stand auf, nahm meine Tasse und ging zur Küchenzeile um sie abzuwaschen. Ich folgte ihm und nahm mir ein Geschirrtuch, damit ich sie gleich abtrocknen konnte. Dann gab ich sie Damien und er stellte sie zurück in den Schrank. Als er sich wieder umdrehte stieß er gegen mich, denn ich wollte gerade das Geschirrtuch wieder aufhängen. Plötzlich war sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, seine Augen starrten in meine. Es fiel mir schwer zu atmen.
Plötzlich beugte sich Damien hinunter und küsste mich. Erst war ich überrascht, aber dann gab ich ganz automatisch nach. Ich ließ das Geschirrtuch fallen und schlang meine Arme um ihn. Er zog meine Hüfte gegen sich. Der Kuss entwickelte sich rasend schnell. Ich fand mich plötzlich gegen die Küchentheke gepresst wieder. Damiens Lippen wanderten von meinem Mund zu meinem Hals, als er zurückfuhr. Es passierte so schnell, dass ich fast das Gleichgewicht verlor.
"Tut mir Leid..." Begann er, doch ich hatte schon wieder einen Schritt auf ihn zugemacht.
"Nein." Flüsterte ich. Dann legte ich meine Hände in seinen Nacken und zog ihn wieder zu mir heran. Dieser zweite Kuss war anders als der erste - weniger rasant, eher zärtlich.
Mit seinen Lippen auf meinen, seinen Händen in meinem Haar, fühlte ich mich endlich wieder komplett.
Nach diesem Mittag war es eigenartig, weiter unsere Rollen zu spielen. Plötzlich spielten wir der Welt nichts mehr vor, dafür aber unseren Freunden, denen wir eigentlich nichts vorspielen mussten. Wir hätten Sam und Stephen sagen können, was passiert ist, doch wir taten es nicht. Sie wussten nur, dass Nathen und ich den Kontakt zueinander komplett abgebrochen hatten.
Es tat immer noch weh an Nathen zu denken. Aber wenn ich mit Damien zusammen war, dann konnte ich das vergessen, dann konnte ich alles vergessen. Ich merkte, dass mir seine Gegenwart ein Lächeln auf die Lippen zauberte und dass seine Berührung mir ein Hochgefühl verlieh, wie ich es zuvor nicht gekannt hatte. Ich war glücklich, endlich mal wieder.
Shila fiel auf, dass etwas anders war. Sie fragte mich danach, aber ich sagte nur, dass es wegen Damien war. Sie fragte ob ich glücklich sei und ich bejahte ihre Frage bestimmt hundert Mal. Sie war wirklich eine gute Freundin.
Der Tag unseres Abfluges rückte immer näher, noch drei Tage. Sam hatte mich schon für eine Woche im Internat abgemeldet - ich war ziemlich erstaunt, dass sie das hinbekommen hatte. Meine Koffer waren schon gepackt, ich saß wie auf heißen Kohlen. Im Unterricht konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, ein Buch zu lesen wurde fast unmöglich. Es war, als wäre ich ein Kind, bei dem Weihnachten, Ostern und der Geburtstag in diesem Jahr auf den selben Tag fielen. Nur dass ich noch aufgeregter war. Und ich hatte Angst.
Ich gab mein Bestes, damit klar zu kommen, aber insgeheim konnte ich es mir nicht eingestehen. Ich hatte Angst. Ich hatte sogar richtig viel Angst.
Immer wieder hatte ich von Beliar geträumt. Ich wusste nicht, wie mein Körper es schaffte genug Adrenalin zu produzieren, dass ich im Unterricht nicht einschlief. Vielleicht war ich auch nur wegen der Müdigkeit so hibbelig, wer weiß das schon?
Ich lag im Bett, halb schlafend, halb wach. Keine Ahnung wie spät es mittlerweile war. Ich wollte nur zu gerne endlich richtig einschlafen, einen tiefen und ruhigen Schlaf genießen, aber ich hatte zu große Angst vor den Albträumen. Also blieb ich wach.
Ich hatte gerade das Gefühl es nicht mehr im Griff zu haben, langsam abzudriften in die Welt der Träume, als ich jäh aufgeschreckt wurde. Eine Hand legte sich über meinen Mund und drückte fest genug zu, damit ich nicht schreien konnte. Ich riss die Augen auf. Über mir stand Damien und grinste breit. Ich ließ die Hände sinken, die ich instinktiv erhoben hatte. Damien nahm die Hand von meinem Mund.
"Du Idiot! Du hast mich zu Tode erschreckt." Flüsterte ich ihm zu. Ich war wieder ganz wach, der Schreckmoment ließ grüßen.
"Tut mir Leid." Er zuckte mit den Schultern und ich konnte sehen, dass es ihm überhaupt nicht Leid tat.
"Was willst du überhaupt hier? Was wenn Shila aufwacht?"
"Du weißt, dass das nicht passieren wird. Und ich bin hier um dich abzuholen."
"Um mich abzuholen?"
"Ja. Wir machen ein Picknick im Mondschein, also zieh dir was warmes an. Du kannst es auch lassen, ich habe sowieso an der Stelle eine Wärmekuppel errichtet." Jetzt kam ich nicht mehr mit.
"Hä?" Fragte ich.
"Na los, steh einfach auf und zieh dich an. Ich warte solange hier." Er zog mich aus dem Bett und legte sich selbst hinein. Und er grinste noch immer. Ich verstand zwar nicht so ganz, was er vorhatte, aber ich schnappte mir ein paar Sachen aus dem Schrank und verschwand in dem kleinen abgetrennten Bad um mich umzuziehen und mir die Haare zu bürsten. Und als ich schon dabei war, wischte ich auch noch die verschmierte Wimperntusche von meinem Gesicht. Ich würde vermutlich nie wieder ins Bett gehen ohne mich vorher abzuschminken.
Als ich zurück ins Zimmer kam, lag Damien immer noch ausgestreckt auf meinem Bett. Ich trat zu ihm hin und er sprang auf.
"Bereit?" Fragte er.
"Für was denn?"
"Halt dich einfach gut fest. Und mach auf keinen Fall die Augen zu." Damien umschlang mich mit seinen Armen und hielt mich ganz fest. Dann murmelte er einen Zauber und ich griff erschrocken nach seinem Kragen. Alles um uns herum begann sich zu drehen und zu verschwimmen, dann wurde für einen Moment alles schwarz. Als ich wieder klar sehen konnte waren wir nicht mehr im Internat. Über uns leuchteten die Sterne und der fast volle Mond. Zu meinen Füßen lag eine Picknickdecke, auf der alle möglichen Leckereien verstreut waren. Obwohl wir definitiv draußen waren, war es nicht kalt.
"Wo sind wir?" Fragte ich.
"Erkennst du denn die Aussicht nicht?" Ich sah mich um. Wir befanden uns ein gutes Stück über dem Boden und im Westen konnte ich die Skyline einer Stadt erkennen. War das New York? Aber das hieße ja dann...
"Sag jetzt nicht, dass wir auf der Freiheitsstatue stehen."
"Zu klischeehaft?" Ich lachte, dann beugte ich mich zu ihm rüber und küsste ihn auf die Wange.
"Überhaupt nicht." Ich ließ mich auf den Boden sinken. "Du hast gesagt, du hast eine Wärmekuppel errichtet?"
"Ja, damit du nicht so frierst."
"Ich nehme mal an, dass der Zauber deine Magie nach und nach aufbraucht?"
"Ja, schon... Deshalb, hab ich ja auch die hier mitgebracht." Er reichte mir eine Thermoskanne mit heißen Wasser. Als ich den Deckel aufdrehte schlug mir der Geruch gewisser Kräuter entgegen. "Ich weiß, das ist kein sonderlich guter Anfang für ein romantisches Date, aber wenn ich nicht ein wenig abbekomme, werde ich nachher nicht genug Kraft haben um dich zurück ins Internat zu bringen." Er sah tatsächlich etwas verlegen aus. Wenn es eine Sache gab, die Damien nicht konnte, dann war es, eine Schwäche einzugestehen. Ich gab ihm natürlich bereitwillig von meiner Magie.
Wir aßen zusammen, küssten uns. Es war das schönste Überraschungsdate das ich je hatte und ich genoss jede einzelne Sekunde.
Irgendwann landeten wir verschlungen auf der Decke, die restlichen Süßigkeiten hatten wir zur Seite geschoben. Ich hatte meine Finger tief in Damiens dunklen Haaren vergraben und presste meine Lippen auf seine.
Wir blieben noch lange nebeneinander liegen, bevor Damien mich zurückbrachte.
"Danke für die schöne Nacht." Flüsterte ich.
"Ich danke dir." Kam es zurück. Wir küssten uns noch einmal und ich fragte mich, wann es so natürlich und einfach geworden war. Dann klingelte mein Wecker, ich drehte mich um, damit ich ihn ausschalten konnte. Als ich mich zurück zu der Stelle drehte, an der Damien eben noch gestanden hatte, war er verschwunden.
Gerade noch rechtzeitig, denn ein paar Minuten später wachte Shila auf.
Obwohl ich in dieser Nacht gar nicht geschlafen hatte, fühlte ich mich ausgeruhter als nach den Albträumen der Tage zuvor.
Heute war es endlich soweit. Um 8:41 Uhr ging unser Flug nach Moskau. Als um fünf mein Wecker klingelte, hätte ich mich am liebsten einfach umgedreht und weiter geschlafen. Entgegen meiner Erwartungen hatte ich in den letzten zwei Tagen keine Albträume mehr gehabt. Ironischerweise machte mir das noch mehr Angst. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm.
Ich bewegte mich so leise wie möglich durch das Zimmer, als ich meine letzten Sachen zusammenpackte. Mehr als eine Reisetasche, in der vor allem mein in eine Statue verformtes Schwert lag und einen kleinen Rucksack würde ich nicht mitnehmen. Viel mehr würde ich auch nicht brauchen. Wir würden nur eine Nacht in einer Jugendherberge in Ulan-Bator verbringen, bevor wir am nächsten Tag den Rückflug antraten. Reisestress pur und zwischendurch noch einen rachsüchtigen Riesen besiegen - klang doch nach einem richtigen Wellness-Urlaub.
Seit dem Tag, an dem mein Vater mich von meiner Großmutter weggebracht hatte, war ich an keinem Flughafen mehr gewesen. Die schier unendliche Größe des Geländes überwältigte mich. Es reihten sich Cafés aneinander, unterbrochen von kleinen Drogerien, die Shampoos in winzigen Flaschen verkauften. In allen möglichen Winkeln und Ecken standen Polizisten, überall liefen Urlauber oder Geschäftsreisende umher. Obwohl ich mich in einer großen Gruppe bewegte, kam ich mir klein und unbedeutend vor.
Kathryn hatte die Führung übernommen. Wir folgten ihr zum Check-In-Schalter. Nach einer Weile waren wir alle unser Gepäck los und machten uns auf den Weg zu den Flugsteigen, passierten ohne Mühe die Sicherheitskontrollen und warteten dann darauf, dass wir aufgerufen wurden ins Flugzeug zu steigen. Es war totenstill zwischen uns, bis er die Halle betrat.
Im ersten Moment wollte ich nicht glauben, dass er es war. Ein Stich fuhr in mein Herz, mein Atem stockte für einen Moment und das schlechte Gewissen packte mich. Nathen war am anderen Ende der Halle stehen geblieben und sah mich an. Mein Puls raste, als ich Damiens Hand losließ und zu ihm ging.
"Was tust du hier?" Flüsterte ich.
"Wir haben das zusammen angefangen, also werden wir es auch zusammen beenden. Auch... Auch wenn sich seitdem so einiges geändert hat."
"Das ist viel zu gefährlich." Meinte ich.
"Deswegen kann ich dich auch nicht allein gehen lassen."
"Aber..."
"Bitte, Gabriella, nimm es einfach hin. Ich werde meine Meinung nicht ändern." Ich schluckte. Es hatte keinen Sinn mit Nathen zu diskutieren. Am Ende würde ich doch nur in Tränen ausbrechen. Alles hatte sich geändert, dadurch, dass Nathen hier war. Gut, vielleicht nicht alles, aber vieles. Es war mir plötzlich unangenehm Damien zu berühren, obwohl es mir noch immer warme Schauer über den Rücken jagte. Ich fühlte mich angespannt, beobachtet.
"Alles in Ordnung?" Fragte Damien mich leise.
"Nein, nicht wirklich." Antwortete ich ihm. Dann wich ich seinem fragenden Blick aus. Als endlich das Boarding begann, war ich fast schon erleichtert.
Ich hoffte mich im Flieger ein wenig entspannen zu können, aber es gelang mir nicht. Ich versuchte zu schlafen, aber ich schaffte es kaum, die Augen geschlossen zu halten. Zu sehr spürte ich Nathens Blick auf mir und Damien, zu laut hörte ich das Getuschel der Gruppe über Nathens Anwesenheit. Ich fühlte mich wie in einem Schaukasten und fürchtete, dass jeden Moment jemand entdecken könnte, dass ich eine Perücke trug.
Als wir in Moskau aus dem Flieger stiegen schwankte ich leicht, sodass Damien mich stützen musste. Wir verbrachten ein paar Stunden in den Cafés am Flughafen, Sam und ich sahen uns ein wenig in den Läden um. Und wenn ich es nur tat um der Gruppe aus dem Weg zu gehen. Obwohl Sam mich mehrmals forschend ansah, als ob sie wüsste, dass etwas nicht stimmte, fragte sie nicht – und ich war ihr dankbar dafür. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, dass Nathen mitkam. Nach unserer Trennung war mir nie auch nur die Idee gekommen, dass er sein Flugticket beanspruchen könnte.
Als es endlich weiter ging stellte ich bedauernd fest, dass die Sitze dieses Fliegers noch viel unbequemer waren, als die des ersten Flugzeugs. Ich war jetzt nicht mehr die Einzige, die nicht schlafen konnte.
In Ulan-Bator angekommen tat mir fast alles weh. Sogar Stellen von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass sie schmerzempfindlich waren. Wir holten unsere Sachen ab und brachten sie in die Herberge. Erst als ich mit Sam und meinen anderen Zimmergenossinnen allein war, gelang es mir endlich zu schlafen.
Als wir die Jeeps mittags endlich bekamen, fühlte ich mich noch schlimmer als am Morgen. Ich hatte definitiv zu wenig Schlaf bekommen um gegen einen Riesen anzutreten, aber was blieb mir schon für eine Wahl? Die riesig wirkenden Jeeps verbesserten meine Laune auch nicht gerade, denn sie waren innen dann doch ziemlich eng. Damiens Fahrstil trug auch nicht zu einem guten Komfortgefühl bei. Ich fragte mich, wo er wohl fahren gelernt hatte, entschied dann aber, dass ich es lieber doch nicht wissen wollte. Wenigstens saß Nathen in einem anderen Wagen und ich konnte mich ein wenig entspannen.
Ja, er hatte mit mir Schluss gemacht, aber jetzt, wo er hier war, da hatte ich das Gefühl als würde ich ihn betrügen. Ich wusste, dass das total irrational war, aber ich wurde es einfach nicht los. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Damien das auch bemerkte.
Wir fuhren eine Weile lang über eine geteerte Straße, doch fast sofort nachdem wir die Hauptstadt verlassen hatten, wurde es zu festgefahrenem Lehm. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was aus dieser Straße wurde, wenn es regnete. Nach etwa 100 Kilometern verließen wir auch diese Straße und fuhren querfeldein. Der Kompass sagte uns, in welche Richtung wir mussten doch nach ein paar Hügeln brauchten wir nicht mehr. Das riesengroße Ei war nicht zu übersehen.
Als wir ihm immer näher kamen, konnte ich sehen, dass die Schale an manchen Stellen schon von feinen Rissen durchzogen wurde.
"Fahr schneller." Wies ich Damien an, doch das war gar nicht nötig. Er hatte es schon selbst gesehen. Etwa hundert Meter vor dem Ei stoppten wir. Aus den Jeeps sprangen an die zweieinhalbdutzend Nachtgeister und fast genauso viele Magier. Ich betete ein letztes Mal, dass es genug war. Obwohl wir alle das Ei schon auf Bildern gesehen hatten, erschraken wir, als wir jetzt davor standen. Was von weitem noch wie feine Risse gewirkt hatte, waren Kluften in der Schale, die manchmal so breit wie mein Arm lang waren. Aus den Öffnungen lief eine leicht weißliche Flüssigkeit.
"Gut, fangen wir am besten gleich an. Kennt jeder den Spruch?" Rief ich über die versammelte Menge. Viele nickten, andere kramten in ihren Taschen um noch ein letztes Mal einen Blick auf die Worte zu werfen. Die Nachtgeister hatten einen Spruch entwickelt, mit dessen Hilfe wir hofften das Ei von innen heraus auflösen zu können.
Wir stellten uns in einen riesigen Kreis, wenn möglich immer Magier und Nachtgeist abwechselnd. Auch Nathen nahmen wir mit in den Kreis auf - umso größer, umso besser hofften wir. Er stand mir fast genau gegenüber, was es mir enorm erschwerte mich zu konzentrieren. Wir schlossen die Augen und sagten unseren Spruch auf. Ich spürte, wie unsere Magie sich koppelte und eins wurde, wie sie auf das Ei zu schwebte und an der Schale zerplatzte. Ohne Folgen. Wir versuchten es noch einmal. Und noch einmal. Jedes Mal mit dem selben Ergebnis: es passierte rein gar nichts. Wir sahen uns ratlos an. Der erste, der die Stimme hob war einer der Nachtgeister und er sprach direkt zu Damien: "Wir haben einen Sterblichen in der Runde. Vielleicht... Naja. Es könnte doch sein, dass er den Magiefluss unterbricht." Alle Blicke huschten zu Nathen. Ich machte dem Nachtgeist keinen Vorwurf für das, was er gesagt hatte, aber Nathen tat mir Leid. Wortlos trat er aus dem Kreis zurück und entfernte sich ein paar Meter. Ich versuchte mich zu beruhigen und wir sprachen die Formel noch einmal. Es passierte noch immer nichts.
"Warum funktioniert es nicht?" Fragte Sam verzweifelt. Sie blickte zu den Rissen im Ei und ich fragte mich, ob es nur eine optische Täuschung war, oder ob sie tatsächlich größer geworden waren.
"Keine Ahnung. Vielleicht sind wir doch zu wenige..." Meinte der Nachtgeist neben ihr entmutigt.
"Nein." Stephen schüttelte den Kopf, "Wir haben es bestimmt hundert Mal durchgerechnet: Eigentlich müssten wir genug Macht haben."
"Ja, eigentlich." Gab der Nachtgeist zurück. Damien wies die Beiden scharf zu Recht. Ich dachte nach. Es musste einfach funktionieren. Aber warum tat es dann nicht? Es lag nicht an der Anzahl der versammelten Magier und Nachtgeister. Es lag nicht am Spruch. Aber woran dann? Es war, als würde unsere Magie nicht durch die Eierschale kommen. Als gäbe es ein Schutzschild, durch das wir nicht durchkamen. Wie sollten wir das nur ändern?
"Nur durch unmögliche Liebe wird die Welt gerettet." Murmelte Damien neben mir.
"Was?" Fragte ich.
"Nur durch unmögliche Liebe wird die Welt gerettet." Wiederholte er lauter. Natürlich, die Prophezeiung! Nathen hatte einmal gesagt, dass sie uns vielleicht auf das Kommende vorbereiten sollte. Was, wenn es wirklich so war? Ich sah zu Damien hoch.
"Es wäre einen Versuch wert." Gab ich zu. Damien nickte und führte mich in die Mitte des Kreises. Mein Blick lag auf Nathen. Das was wir jetzt vorhatten, das konnte ihn wirklich verletzen. Ich schluckte.
"Hey, Gabriella. Sieh mich an. Es ist vielleicht unsere einzige Chance." Ich nickte. Wir mussten es versuchen.
"Sprecht den Zauber. Drei Mal, damit er stärker wird." Wies Damien die anderen an. Sie schlossen den Kreis an der Stelle, an der wir herausgetreten waren, wieder und begannen. Mein ganzer Körper kribbelte, meine Nerven waren auf das Höchste angespannt, als ich spürte, wie sich die Macht um uns herum aufbaute. Ich versenkte meinen Blick tief in Damiens grünen Augen. Als die Gruppe den Spruch zum zweiten Mal sagte, beugte er sich herunter und küsste mich.
Ich spürte, wie etwas an der Magie um uns herum sich verändert hatte, als wir uns voneinander lösten.
Die Erde bebte.
"Zu spät!" Rief eine tiefe Stimme, die ich bisher nur aus meinen Träumen kannte. Das Ei erzitterte, es sprang oben nun ganz auf, Splitter flogen umher, wir duckten uns und ich hoffte, dass niemand von den scharfkantigen Teilen getroffen wurde.
"Los, weiter!" Schrie Damien um den Lärm splitternden Gesteins zu übertönen. Die Gruppe fügte sich wieder zu einem Kreis zusammen. Ich spürte, dass die Magie, die wir gewirkt hatten noch da war. Damien und ich standen in der Mitte des Kreises, hielten uns an den Händen uns sagten mit 60 anderen Nachtgeistern und Magiern die Formel ein letztes Mal auf.
"Nein!" Erklang die Stimme und ließ die ganze Gegend beben. Ich fiel zu Boden. Risse, sogar richtige Schluchten zogen plötzlich aus allen Richtungen auf das Ei zu. Ich sah, wie einer direkt auf mich zu kam. Schnell rappelte ich mich auf und wollte zur Seite springen, doch es war nicht schnell genug. Ich verlor - wortwörtlich - den Boden unter den Füßen. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich, wie ich fiel, dann ruckte es fest an meinem Arm, meine Hand schloss sich um etwas. Damien beugte sich über den Rand der Kluft, denn er hatte mich aufgefangen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, doch er murmelte einen Zauber und ich spürte, wie mich von unten etwas nach oben hob, doch als ich hinunter blickte konnte ich nichts sehen. Als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, ließ ich mich auf alle Vier fallen. Vor Schreck zitterte ich noch am ganzen Körper, doch ich spürte trotz Adrenalin einen pochenden Schmerz in meiner Schulter. Sie war bestimmt ausgekugelt, vielleicht waren bei der plötzlichen Belastung sogar die Bänder gerissen. Damien zog mich auf die Füße.
"Schau." Meinte er und zeigte auf das Ei, das zitternd ein Stück in den Boden eingesunken war. "Es ist noch nicht vorbei."
"Etwas im Boden blockiert den Weg." Stellte ich überrascht fest. Ich musste schreien, damit Damien mich verstand, denn noch immer war das Splittern von Stein und das ohrenbetäubende Gejaule des feststeckenden Riesen zu hören.
"Kannst du... Kannst du irgendetwas daran ändern?"
"Vielleicht." Ich verzog vor Schmerzen das Gesicht, als ich mich wieder auf den Boden kniete und meine Hände so weit wie möglich in die aufgewühlte Erde grub. Ich suchte nach dem, was das Versinken des Eis blockierte. Es war eine verborgene Gesteinsschicht im Erdreich, aus feinkörnigem Basalt. Er hatte sich nicht schnell genug verflüssigt, als das Ei abrutschte und nun steckte es fest.
"Und?" Fragte Damien ungeduldig.
"Ich weiß nicht. Ich werde die chemische Zusammensetzung ändern müssen, aber ich kann es nicht berühren..."
"Wenn du willst, kannst du meine Kräfte kanalysieren."
"Das geht nicht." Ich schüttelte den Kopf, "Eine Gabe ist nur einer Person gegeben und nur diese eine Person kann sie auch nutzen."
"Ha! Mutter Erde gewährt mir eine zweite Chance. Erzittert ihr Sterblichen!" Rief der Riese, der anscheinend gemerkt hatte, dass er noch nicht tot war. Ein weiteres Stück der Schale brach ab.
"Gabriella!"
"Ja, ich versuche es ja!" Ich holte tief Luft und versuchte alles andere auszublenden. Ich tastete mit meinem sechsten Sinn wieder nach den Gestein. Konzentrierte mich nur darauf, bis ich jedes einzelne Molekül spüren konnte. Und dann verwandelte ich es in Wasser. Es war ein vergleichsweise sehr langsamer Prozess, ich konnte nur Zentimeter für Zentimeter vorgehen. Ich schaffte etwa einen Quadratmeter die Sekunde, und ich fürchtete, dass das nicht schnell genug war. Nach einer Minute erreichte ich das Ei, nach weiteren 45 Sekunden machte es platsch, dann hörte man Luft an etwas großen vorbei zischen. Ein Todesschrei war zu hören, ich bekam eine Gänsehaut. Und dann der lauteste Krach, den ich je gehört hatte. Ich konnte spüren, dass das Ei am Boden des Abgrunds in Millionen von Teilen zerbrochen war. Es war vorbei.
Meine Ohren pochten, für einen Moment hörte ich nichts mehr. Dann konnte ich meinen Pulsschlag in meinem Ohr spüren, ihn hören. Mir wurde klar, dass es totenstill um uns herum war. Schwankend stand ich auf. Mit der rechten Hand hielt ich meinen verletzten linken Arm.
"Geht es allen gut? Ist jemand ernsthaft verletzt?" Schrie ich über das Feld. Meine Stimme klang seltsam schrill. Dann sah ich mich um: es schien allen gut zu gehen, abgesehen von ein paar oberflächlichen Schnitt- und Schürfwunden, ein paar Armbrüchen, schien es allen gut zu gehen. Wir hatten es geschafft.
"Gabriella!" Ich drehte mich zu demjenigen um, der gerade meinen Namen gerufen hatte. Es war ein Nachtgeist, sein Name fiel mir gerade nicht ein. Zuerst fragte ich mich, warum er so verzweifelt aussah, dann bemerkte ich die Gestalt neben ihm am Boden.
"Nein!" Rief ich und stürzte hin.
Ich fiel auf die Knie, griff nach der Hand des Verletzten, beschmierte mich dabei automatisch mit Blut. So viel Blut.
"Was ist passiert?" Brachte ich unter Schluchzen hervor.
"Er ist von einem Splitter des Eis getroffen worden. Daraufhin hat er viel Blut verloren. Zu viel." Antwortete der Nachtgeist, bevor er sich abwandte und uns allein ließ, mich und Nathen.
"Nein, nein, nein." Tränen liefen über meine Wangen und ich versuchte verzweifelt sie fortzublinzeln um Nathen deutlicher sehen zu können.
"Gabriella." Sagte er so leise, dass ich ihn kaum gehört hatte. Ich beugte mich noch ein Stück weiter über ihn. Er lächelte. "Ich bin froh, dass ich hergekommen bin." Er schluckte. "Es ist richtig so. Meine Zeit ist gekommen."
"Nein, Nathen. Wir schaffen das. Du musst durchhalten."
"Mach dir nichts vor." Ich schwieg und sah ihn an. Er war ganz bleich im Gesicht, die Farbe wich langsam aus seinen Lippen, obwohl ich die Hände fest auf seinen Bauch presste. Es war vergeblich, ich konnte die Blutung nicht stoppen.
"Du musst wissen, dass ich nie..." Nathen keuchte. Er kämpfte um genug Zeit für diese letzten Sätze. Meine Tränen mischten sich in sein Blut, dass sich um uns herum ausbreitete. "Ich habe nie aufgehört dich zu lieben." Ich nickte.
"Du warst meine große Liebe und... Wir haben keine Zeit mehr, aber du musst mir etwas versprechen." Ich nickte. "Alles."
"Werde glücklich. Hörst du, du musst glücklich werden."
"Ja, ich verspreche es." Ich versuchte zu lächeln, doch mein ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Ich wollte mich zusammenreißen, für Nathen, doch ich schaffte es nicht.
"Ich liebe dich." Hörte ich ihn sagen, dann ein rasselnder Atemzug. Ein Rinnsal Blut kam zwischen seinen grauen Lippen hervor. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Nathen war tot.
Tot.
Für immer fort.
"Nein!" Es fühlte sich an, als hätte man mir mein Herz entrissen. Ein Teil von mir zerbrach.
Ich lag halb auf Nathens Körper drauf. Meine Hose und mein T-Shirt waren durchtränkt mit seinem Blut, meine Hände damit verschmiert. Er war meinetwegen gestorben, für mich. Ich sollte glücklich werden. Aber er war tot.
Fort, für immer.
Er würde nie mehr aufwachen. Nie wieder.
Ich spürte wie mich jemand hochziehen wollte, doch ich wehrte mich. Es war vergebens, derjenige war zu stark für mich.
"Nein!" Ich schlug um mich, wollte nur zu Nathen zurück.
"Shhh. Ich bin es, Damien." Ich hörte auf mich zu wehren, drückte mich eng an ihn, vergrub mein Gesicht an seiner Schulter.
"Er ist tot." Brachte ich hervor.
"Ich weiß. Shhh, ich bin hier." Er sagte nicht, alles wird gut. Er sagte nur, er war hier. Nathen war fort, tot. Ich zitterte am ganzen Körper.
"Das ist nicht richtig, das..." Ich wollte mich losmachen, um einen Weg zu finden ihn zurück zu holen. Das konnte nicht sein Schicksal sein. Das durfte es nicht sein.
"Hey, Gabriella. Bleib hier." Damien hielt mich zurück, zog mich noch weiter von Nathen weg, der mittlerweile von den anderen umringt wurde. Ich konnte sehen, dass Sam neben ihm kniete und ihm die Augen schloss.
"Wir müssen ihn zurückholen. Wir müssen etwas tun!" Schrie ich.
"Es gibt nichts, dass wir tun können. Er kommt nicht zurück."
"Nein." Ich fiel innerlich zusammen wie ein Kartenhaus. "Nein." Plötzlich war in mir nichts mehr außer dieser unerträgliche Schmerz. Kein Adrenalin mehr, kein Blut, das pochend durch meine Adern gepumpt wurde. Nur noch Schmerz, unerträglicher Schmerz. Er legte sich über mich wie eine schwere, dunkle Decke, drückte mich zu Boden. Mein Glieder begannen vor Erschöpfung zu zittern. Ich bekam keinen Ton mehr heraus bis es mich übermannte. Ich stürzte in unendliche Schwärze.
Als ich wieder aufwachte lag ich unter zwei Schichten Decken auf der Rückbank eines Jeeps. Damien saß am Steuer, ansonsten war ich allein. Mir tat alles weh, meine Augen waren von getrockneten Tränen verklebt. Ich konnte keinen Muskel rühren, war noch immer zu erschöpft.
"Damien." Brachte ich lautlos über die Lippen.
"Du bist wach. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht."
"Wo ist er? Wo ist Nathen?" Meine Stimme brach. Ich spürte, wie ich eigentlich in Tränen ausbrechen sollte, doch es kamen keine. Ich hatte sie alle aufgebraucht.
"Er ist einem der anderen Jeeps." Antwortete Damien mir. "Wie geht es dir?"
"Ich kann mich nicht bewegen, mir tut alles weh."
"Du bist in Ohnmacht gefallen, schon fast in eine Art Koma. Wir haben alles versucht, aber du bist nicht wieder wach geworden. Du bist jetzt zwei Stunden lang dagelegen wie tot. Ich dachte..."
"Zwei Stunden?" Dann mussten wir schon weit über die Hälfte der Strecke nach Ulan-Bator zurückgelegt haben.
"Ja. Du hast dich überanstrengt, als du das Ei hast verschwinden lassen. Normalerweise wärst du sofort zusammengebrochen aber durch das Adrenalin konntest du noch eine Weile stehen bleiben. Viele wären daran gestorben und dann kam auch noch Nathen dazu und..." Ich hörte, wie Damien schluckte. "Schlaf am besten weiter, dann geht es dir bald wieder besser."
Ich wollte widersprechen, doch ich hatte nicht mehr die Kraft dazu. Ich hatte erfahren, was ich hatte wissen wollen und wofür ich aufgewacht war. Jetzt fuhr mein Körper wieder runter, fast sofort war ich wieder eingeschlafen.
Nathen war tot.
Ich stand vor Nathens Schwester, Michele, und sollte ihr eigentlich mein Beileid aussprechen. Noch einmal. Aber ich konnte nicht. Stattdessen fiel ich ihr um den Hals und wir weinten eine Weile gemeinsam. Wir hatten uns schon immer gut verstanden, aber Nathens Tod hatte uns noch näher zusammengebracht.
"Tut mir leid." Sagte ich, als ich mich endlich von ihr löste. Ich zog eine Packung Taschentücher hervor und reichte ihr eins. Wir versuchten uns die Augen zu trocknen und wischten so gut wie möglich die verlaufene Wimperntusche ab.
"Schon okay. Wir haben beide jemand, den wir geliebt haben, verloren." Ich lächelte sie an. Noch bevor der Pfarrer zu Ende gesprochen hatte, war sie aufgestanden und hatte sich von den Trauergästen entfernt. Ich war ihr nachgegangen, keine Ahnung warum. Jetzt standen wir Beide in der kleinen Friedhofskapelle und sahen durch ein kleines Fenster wie sich die Trauergesellschaft langsam auflöste. Die meisten Leute gingen noch zu Nathens Vater um ihr Beileid auszudrücken, manche sahen sich auch nach Michele um, doch es kam niemand zur Kapelle. Nathens Mutter war vor anderthalb Jahren an Krebs gestorben. Er war jetzt bei ihr.
"Ich hasse Beerdigungen." Sagte Michele.
"Ich auch." Gab ich zurück, dann lachten wir. Es war vermutlich alles andere als der passende Zeitpunkt und Ort um zu lachen, aber es tat gut.
In dieser Nacht träumte ich von meiner Mutter. Das war eigenartig, denn seit wir aus der Mongolei zurück waren, hatte ich gar nicht mehr geträumt. Wahrscheinlich hatte die Beerdigung die Erinnerung an sie neu geweckt. Doch im Gegensatz zu sonst, träumte ich nicht von etwas, das geschehen war, als ich klein war. Es war eher so, als würde mir meine Mutter im Traum erscheinen.
"Mum?"
"Ja mein Kind, ich bin es."
"Mum!" Ich fiel ihr um den Hals.
"Du bist so erwachsen geworden. Aber das sollte mich nicht überraschen, immerhin habe ich dich seit neun Jahren nicht gesehen." Sie lächelte.
"Was tust du hier?"
Ihr Gesicht verdüsterte sich und ich bereute sofort gefragt zu haben. "Ich muss dir eine Nachricht bringen, eine Warnung."
"Eine Warnung?"
"Ach mein Schatz. Du trägst eine so große Last auf dir. Das Blut der Baiyuo hat eine so große Macht und du bist nun die einzige die sie besitzt. Ich wollte nie, dass es soweit kommt. Ich hätte die sein müssen, die den Kreis zwischen Menschen und Göttern schließt, doch nun musst du meinen Platz einnehmen."
"Ich verstehe nicht."
"Ich kann nicht mehr lange bleiben, deshalb musst du mir genau zuhören. Du darfst nicht zu weit in die Ferne schauen. Jene, die außerhalb des Lebenskreises stehen, sind jene, die ganz nah bei dir sind. Vertraue auf sie, nur sie können dich vielleicht retten. Aber wenn es soweit ist und die Verbindung mit einem Kind besiegelt wird, dann sei bereit alles zu verlieren. Vor allem dich selbst."
"Was? Wann? Warum?"
"Ich muss gehen. Aber habe keine Angst, wir wachen über dich!" Meine Mutter schwebte davon, als würde eine fremde Macht sie zurückziehen.
"Mum, warte!" Rief ich ihr nach. "Ich verstehe nicht!" Doch es war zu spät. Sie war weg.
Ich wachte auf.
Lektorat: lenobiashinigami und ~BlackButterfly~
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die noch nicht aufgehört haben zu träumen.
Danke, dass ihr meine Geschichte gelesen habt.