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Kapitel 1

24.09.11 

Liebe Nora,

heute war die Beerdigung. Mama hat die ganze Zeit geweint und Omi konnte sie nicht beruhigen. Sie hat nach etwa zwei Stunden aufgehört es zu versuchen und ist zu mir gekommen. Sie hat mir erzählt, dass bald wieder ein Jahrgängertreffen ist, und sie sich sehr darauf freut. Außerdem hat sie gesagt, dass Opas Boule-Club ihn im Krankenhaus besucht hat. Es geht ihm schon viel besser, sagen die Ärzte. Wenn er Glück hat, kann er nächste Woche entlassen werden.

Als wir zu Hause ankamen, hat Mama drei Depressiva geschluckt. Papa hat telefoniert und ist arbeiten gegangen. Ich bin jetzt alleine, weil Mama schläft. Früher hätten wir jetzt einen Film geschaut und dabei eine ganze Tüte Gummibärchen gegessen. Stattdessen sitze ich hier und schreibe dir.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

 

 

 

 26.09.11

Liebe Nora,

heute war ich zum ersten Mal seit dem Unfall wieder in der Schule. Es war total komisch, weil niemand wusste, was er sagen sollte. Die Lehrer haben mich nie drangenommen, noch nicht einmal, wenn ich gestreckt habe. Nur die Blicke voller Mitleid, Unsicherheit und Fragezeichen haben mir gezeigt, dass ich nicht unsichtbar bin.

Caroline und ich sitzen in der Mittagspause immer noch am selben Tisch. Nick kommt nicht mehr und ohne ihn und dich ist es nicht mehr dasselbe. Ich wünschte, du würdest zurückkommen.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

 

 

 

 

 

27.09.11 

Liebe Nora,

Ich habe wieder Herrn Stieß in Geschichte. Er ist der erste Lehrer, der mit mir gesprochen hat. Er hat gesagt, dass ich immer zu ihm kommen kann, wenn ich Probleme habe. Ich weiß nicht, ob er schulische Probleme meint oder nicht. Ich will nicht mit ihm reden. Ich will mit niemandem reden, außer mit dir. Ich will wieder mit dir lachen und mich dabei auf dem Bett kugeln.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

 

 

28.09.11 

Liebe Nora,

ich sitze in Bio neben einem Neuen. Der ist mir heute zum ersten Mal aufgefallen. Er heißt Dennis und ist intelligent. Er hat mir geholfen, meinen Aufsatz zu schreiben. Ich glaube, er weiß nichts von dem Unfall.

Die Anderen sehen ihn schon total komisch an, weil er mit mir redet, aber ich mag ihn. Er gibt mir ein Gefühl von Normalität.

Wenn ich nach Hause komme, schläft Mama meistens. Ich räume dann ihre Tabletten weg und mache mir etwas zu essen. Papa kommt immer erst nach Hause, wenn ich schon schlafe. Er fehlt mir. Ohne dich, sind wir keine richtige Familie mehr.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie. 

Kapitel 2

29.09.11

 Liebe Nora,

der Süßigkeitenautomat in der Kantine funktioniert nicht mehr. Caroline hat mir Skittles vom Supermarkt mitgebracht, aber das war nicht dasselbe. Es ist nie dasselbe wie letztes Jahr. Du hast eine Lücke hinterlassen. Nick meidet mich. Ich meide Nick. Mein Leben fehlt mir.

Ich glaube, Dennis hat jetzt etwas über den Unfall gehört. Er war heute anders. Vielleicht frage ich ihn, ob er in der Kantine zu uns sitzen möchte.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

 

 

 

  

Liebe Nora,                                                         30.09.11

Papa ist jetzt ausgezogen. Er sagt, er braucht Abstand, aber ich glaube, dass er es nicht mehr mit Mama aushält. Sie schläft nur noch. Und wenn sie nicht schläft, weint sie und schluckt Tabletten. Sie tut mir Leid, deswegen habe ich Tante Mia zu uns eingeladen. Dann kann ich wenigstens Mal etwas anderes als Tütensuppe essen.

Opa geht es wieder schlechter. Er sagt, es liege an dem schreckliche Krankenhausessen, aber die Ärzte behaupten, er würde sich zu viel aufregen. Ich habe Angst, ihn auch zu verlieren. Wenn du ihn besuchen könntest, ginge es ihm bestimmt bald besser. Aber ich weiß, dass das nicht möglich ist.

Dennis war heute nicht in der Schule. Die Lehrerin wollte uns nicht sagen, wo er war. Vielleicht auch, weil ich die Einzige gewesen bin, die es wissen wollte. Nick hat heute kurz mit mir geredet. Er hat gefragt, ob er die Kette bekommen kann, die du bei eurem ersten Date getragen hast. Ich habe ja gesagt.

Du fehlst mir, deine Schwester Leslie.

 

 

 

01.10.11 

Liebe Nora,

seit du weg bist, sind Wochenenden der Fluch meines Lebens. Heute ist Samstag. Ich sitze auf meinem Bett und starre auf die Wand zu deinem Zimmer. Wenn ich mich konzentriere, kann ich hören, wie du „California Girls“ mitsingst. Ich weiß du bist nicht da, aber ich kann dich hören, sehen, spüren. Immer. Überall.

Ich wünschte, Caroline würde anrufen. Ich wünschte, ich würde Caroline anrufen. Aber ich tu es nicht. Ich habe einfach nicht die Kraft dazu. Ich will das ändern. Wieder fröhlich sein. Weil ich weiß, du willst das so. Aber ich schaffe es einfach nicht. Nicht ohne dich.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

 02.10.11

 Liebe Nora,

ich wünschte du wärst noch hier. Dann könnte ich jetzt mit dir darüber diskutieren, was es heißt, dass Dennis mich angerufen hat. Denn das hat er. Er hat mich angerufen und gefragt, ob ich ihm die Hausaufgaben in Bio erklären kann. Ich! Ihm!

Caroline hat ihm meine Handynummer gegeben, weil sie direkt nebeneinander wohnen. Ist das gut oder schlecht?

Ich brauche deine Hilfe! Bitte, du musst mir sagen, was ich tun soll!

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

Kapitel 3

03.10.11

Liebe Nora,

heute ist Feiertag. Deutscher Nationalfeiertag. Weißt du noch, was wir heute feiern? Ich auch nicht.

Dennis hat wieder angerufen. Erst hat er gesagt, er hätte sich verwählt. Und dann hat er mich gefragt, wie es mir geht. Wie es mir geht.

Ich habe gelächelt und „Gut.“ gesagt. Gut. Geht es mir wirklich Gut? In diesem Moment habe ich das gedacht. Dass es mir Gut geht. Dass ich nicht alleine bin. Dass ich alles schaffen kann.

Jetzt habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Wie kann es mir Gut gehen, wenn du nicht hier bist? Darf ich glücklich sein? Soll ich glücklich sein?

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie. 

04.10.11

 Liebe Nora,

Dennis saß heute bei uns am Tisch. Wir haben geredet, gegessen und gelacht. Als ich gelacht habe, hat Caroline mich angesehen, als wäre es das erste Mal seit dem Unfall. Vielleicht war es das. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich gelacht habe, seit du tot bist.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

 

 

 

 

 

 

 

 05.10.11

Liebe Nora,

die Welt ist ganz anders, als ich gedacht habe. Das Grau verschwindet und ich kann die Farben wieder sehen, die du mitgenommen hattest. Alles ist bunt, verrückt und wunderschön. Das hatte ich vergessen

Manchmal glaube ich, dass Dennis die Farben zurückgebracht hat. Aber wann hast du sie ihm gegeben? Aber vielleicht kommen die Farben auch aus mir. Ich muss nur wieder lernen sie zu sehen. Ich muss wieder lernen zu läacheln.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

 

 

 

 

06.10.11

Liebe Nora,

die Lehrer reden wieder mit mir. Die anderen Schüler reden wieder mit mir. Ich glaube es liegt am Lächeln. Ein Lächeln öffnet alle Türen zu einem Menschen. Es gibt uns Mut, Zuversicht und Vertrauen. Man sollte viel öfter lächeln – das macht das Leben viel schöner.

Dennis sitzt immer noch zu Caroline und mir an den Tisch. Meine Noten werden wieder besser. Caroline redet wieder so mit mir wie früher. Alles wird wieder besser.

Papa ist auch wieder da. Er hilft Mama jetzt, nicht mehr so viele Tabletten zu nehmen.

Unser Leben geht endlich weiter – trotz des Unfalls.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie. 

 

 

 

 

07.10.11

Liebe Nora,

Dennis hat mich eingeladen, mit ihm auszugehen. Erst Eisessen, dann ins Kino. Ich habe zugestimmt. Ich liebe das Gefühl mit ihm zusammen zu sein. Ich liebe es, wieder lebendig zu sein.

Ich weiß noch nicht, was ich anziehen soll. Ich weiß auch nicht, ob es ein Date ist oder einfach nur so. Caroline kommt gleich vorbei um darüber zu quatschen. Ich freue mich so.

Dennis kann mir helfen. Dennis will mir auch helfen. Also bleibe ich bei ihm, um zu leben.

Aber ich werde dich nicht vergessen, versprochen.

Du fehlst mir.

deine Schwester Leslie.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.08.2013

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