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1. Sommerferien

Im Garten des großen alten Hauses saß Nele im Apfelbaum und besah sich die Welt von oben. Hier wohnte sie mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Toni und an diesem frühen Abend war sie eigentlich sehr froh: Endlich Sommerferien. Sechs Wochen ohne Schule und ohne Hausaufgaben!

Und dennoch war die zwölfjährige Nele stinksauer. Es war einfach ungerecht.

Sie warf einen unreifen Apfel auf die schwarzweiße Katze, die wie versteinert im Nachbargarten saß und ein Mauseloch hypnotisierte. Die Katze maunzte vor Schreck, als das Geschoss auf ihren angespannten Rücken traf, sprang in die Luft und lief dann davon.

Nele hatte ein schlechtes Gewissen. Eigentlich mochte sie Tiere und es war mies von ihr, ihren Ärger an der unschuldigen Katze auszulassen. Sie würde es wieder gutmachen, nahm sie sich vor und Petronella – was für ein doofer Name für eine Katze – demnächst ein paar Leckerlis bringen. Aber es war einfach alles so gemein, dagegen war der Apfelwurf wirklich harmlos.

     Alles hätte so schön sein können, wenn die Eltern  ihr Versprechen gehalten hätten. Sie und Toni hatten   sich schon so lange auf die geplante Ferienreise gefreut.  Etwas ganz Besonderes sollte es in diesem Jahr sein, nachdem der gemeinsame Urlaub im letzten Jahr ausfallen musste, weil Suse und Pit nicht von ihrer Ausgrabungsstelle weggekonnt hatten.

Neles Eltern erforschten, wie die Menschen vor vielen hundert Jahren gelebt hatten, und verbrachten deshalb viel Zeit in fremden Ländern. Dort gruben sie alte Mauern aus und suchten nach Dingen, die tief unter der Erdoberfläche lagen, um herauszufinden, wie die Menschen damals gelebt hatten. Im letzten Jahr waren sie mit ihrem Auftrag nicht rechtzeitig fertig geworden und so musste die geplante Ferienreise ausfallen. In diesem Jahr, so hatten sie Nele und Toni versprochen, würden sie deshalb etwas ganz Besonderes machen.

„Wir werden nach Holland fahren und dort ein Hausboot mieten“, erklärte Suse ihren Töchtern. „Auf dem Boot wohnen wir und fahren damit auf den kleinen Kanälen kreuz und quer durchs ganze Land.“

„Sie übertreibt mal wieder“, mischte sich Pit ein und grinste Nele und Toni verschwörerisch an. „Nicht durchs ganze Land werden wir schippern, nur durch einen Teil davon.“

„Ach Papa“, sagte Nele und rollte mit den Augen. „Nun dachte ich schon, das mit dem Boot stimmt nicht.“

„Genau, ist doch egal ob durch ein ganzes Land oder ein halbes oder … was ist nochmal die Hälfte von der Hälfte?“, mischte sich Toni ein. „Aber ist das echt wahr? Wir schlafen auf einem Schiff?“

„Wir schlafen nicht nur auf einem Schiff, wir wohnen dort und kochen und essen und, und, und eben einfach alles.“ Nele war ein bisschen genervt gewesen von Toni, die mal wieder nicht richtig zugehört hatte, aber immer und überall ihren Senf dazu geben musste. Aber die Aussicht auf den gemeinsamen Schiffsurlaub stimmte Nele versöhnlich und sie unterbrach die kleine Schwester nicht mehr, die jetzt eine Frage nach der anderen abfeuerte wie ein Feuerwerk. Als Suse und Pit schließlich wieder zu Wort kamen, erklärten sie, wie so ein Bootsurlaub ablief.

Man konnte anlegen, wo man wollte, so hatten sie erzählt. In einer Stadt, um einzukaufen oder irgendwo unterwegs an einer Wiese, wo sie sich austoben konnten. Abends würden sie ganz allein an einer besonders schönen Stelle das Boot festmachen, grillen und vom Schiff aus den Sonnenuntergang beobachten. Vielleicht könnten sie sogar am Ufer ein Feuer machen, hatte Pit gemeint, und Stockbrot backen. Sogar selbst das Boot steuern dürften sie, wenn sie wollten, hatten die Eltern versprochen. Alles hatte sehr aufregend geklungen und Nele und ihre kleine Schwester Toni hatten sich total gefreut. Auch, weil sie auf dem Schiff die Eltern wirklich einmal ganz allein für sich hätten. Das Telefon würden sie nur im allerhöchsten Notfall einschalten, also kurz bevor sie untergingen, hatte Suse erklärt und Pit war einverstanden gewesen.

Schon seit Ostern lief Toni, außer wenn sie zur Schule musste, mit einer Kapitänsmütze auf dem Kopf herum und auch Nele konnte es fast nicht erwarten, zwei ganze Wochen mit den Eltern auf einem Hausboot zu verbringen. Nur eines störte sie dabei: Sie musste die ganze Zeit über Toni aushalten, ihre kleine Schwester, die ihr ziemlich häufig auf die Nerven ging. Lieber wäre sie ganz allein mit den Eltern losgefahren oder besser noch zusammen mit Pham, ihrer besten Freundin, anstatt mit Toni. Aber Pham würde schon in wenigen Tagen mit ihren Eltern das Flugzeug nach Vietnam besteigen, wo sie die gesamten sechs Wochen Sommerferien bei den Großeltern verbringen wollten. Egal, Nele würde auch mit ihrer kleinen Schwester im Schlepptau diesen Sommer so richtig genießen. Manchmal war es ja auch ganz nett mit Toni. Immerhin war sie inzwischen schon acht Jahre alt und einigermaßen zu gebrauchen.

Heute nun war Nele voller Vorfreude auf die Sommerferien zur Schule gegangen. Der letzte Schultag war immer etwas Besonderes. Es wurde nicht mehr wirklich gelernt, sondern die Lehrerin las Geschichten vor oder die Klasse machte gemeinsame Spiele oder andere schöne Dinge. Heute durften sie malen. Die Kinder schoben ihre Tische zusammen, so dass immer sechs von ihnen darum herum Platz fanden, und in der Mitte lagen Papier und Farben für alle.

„Ihr könnt malen was ihr wollt. Vielleicht zeichnet ihr ein Bild davon, was ihr in den Ferien vorhabt“, schlug die Lehrerin vor. „Einzige Pflichtaufgabe: Auf jedem Bild gibt es einen oder mehrere Menschen.“

Es wurde still im Klassenzimmer, man hörte Papier rascheln und Stifte kratzen, aber kaum jemand sagte ein Wort. Alle waren versunken in ihre Malaufgabe. Da rief plötzlich Michelle, die mit Nele an einem Tisch saß, wie immer viel zu laut: „Kann mir mal jemand die Hautfarbe rüberschieben?“

„Welche denn?“ fragte Nele, die völlig in ihre Arbeit vertieft war, ohne aufzusehen.

„Häää?“, machte Michelle herablassend. „Die Hautfarbe eben, bist du doof?“

Nun sah Nele auf, überlegte kurz und warf Michelle dann ein ganzes Päckchen mit Buntstiften quer über den Tisch zu.

„Ich kann doch nicht wissen, was für Menschen du malst und welche Hautfarbe du brauchst. So braun wie ich oder richtig schwarz wie Joe? Oder doch lieber schweinchenrosa wie du selbst?“ Nele lachte los und die anderen am Tisch kicherten ebenfalls. Sie konnte Michelle nicht leiden, die gerne dumme Witze über Neles Göttinger Opa machte, der vor vielen Jahren als Student aus Afrika gekommen und dann dageblieben war, und dem sie und Toni und Suse ihre schöne braune Haut verdankten. Oft erzählte er den Kindern von seiner Heimat Kamerun mit den wunderbaren Landschaften und riesigen Stränden. Nun hatte sie es ihr endlich einmal zurückgeben können. Ein schöner Abschluss, bevor die Ferien begannen, fand Nele, auch wenn die Lehrerin, die nicht mitbekommen hatte, um was es ging, einen tadelnden Blick ihre Richtung warf.

Als ihre Mutter die Haustür öffnete noch bevor Nele geklingelt hatte, wusste sie, dass etwas geschehen war.

„Komm rein“, sagte Suse, „ich muss mit dir reden bevor Toni aus der Schule kommt. Du bist die Vernünftigere von euch beiden, meine Große. Du musst mir helfen, dass Toni nicht gleich wieder ausrastet.“

„Was ist passiert?“, fragte Nele, während sie die Schuhe auszog und spürte, wie ein seltsames und unangenehmes Gefühl ihren Magen füllte, der bis eben noch ganz hungrig geknurrt hatte. „Wo ist Papa?“

„Papa ist in die Stadt gefahren. Einkaufen.“

„Aber wir fahren doch erst nächste Woche in Urlaub, warum gehen wir nicht gemeinsam einkaufen?“, fragte Nele bereits ziemlich beunruhigt.

„Setz dich und höre mir erst einmal zu, bevor du dich aufregst.“

Nele setzte sich widerwillig an den Esstisch und schaute zu Suse auf, die erst vor ihr stand, sich dann abwandte und in der großen Küche hin und herging, während sie sprach.

Vor einigen Tagen war ein Anruf gekommen, der alle ihre Urlaubspläne umwarf, berichtete Suse knapp.

„Jemand hat auf einer Baustelle in Ägypten etwas entdeckt, was unbedingt untersucht werden muss, bevor der Bau weitergehen kann. Es ist sehr dringend und muss sofort gemacht werden.“ Suse wandte sich ihrer Tochter zu. „Deshalb mussten wir die Bootsfahrt stornieren. Es tut mir leid, Nele. Aber im nächsten Jahr ganz bestimmt. Versprochen!“

Nele sprang zornig auf, der Stuhl flog hinter ihr durch die Küche. „Natürlich gibt es keine anderen Arschäologen auf der ganzen Welt, die das tun können, außer euch“, schrie sie. „Das kannst du Toni selbst sagen. Ich hasse euch.“ Mit diesen Worten rannte Nele aus der Küche in den Garten, kletterte auf ihren Apfelbaum und ließ den Tränen freien Lauf.

 

 

2. Oma Birgit kocht Schokopudding

 

Oma Birgit, die sich selbst am liebsten Biggi nannte, fackelte nicht lange, wenn es Probleme gab. Wo gehandelt werden musste, musste gehandelt werden und wenn jetzt bei ihrem Sohn Pit und seiner Familie sozusagen Holland in Not war, dann musste sie eben einspringen. Deshalb hatte sie Suse, die ziemlich aufgelöst bei ihr angerufen hatte, sofort zugesagt.

„Klar, die Kinder können zu mir kommen, das ist doch gar keine Frage, Suse!“

Der Urlaub der vier war also wieder einmal ins Wasser gefallen und die Mädchen taten ihr wirklich leid. Sie selbst, erinnerte sich Oma Birgit, wäre als Kind von sowas auch nicht gerade begeistert gewesen. Inzwischen war sie im Ruhestand und davor war sie lange Zeit Finanzbeamtin gewesen, und zwar eine sehr strenge. Alle wussten, dass sie klare Worte liebte und keinem Konflikt aus dem Weg ging. Auch nicht mit ihren Enkelinnen. Aber ihr Herz war manchmal – wie jetzt in ihrer Küche – eben doch überraschend weich. Auch Oma Birgit war ja mal ein Kind gewesen. Und manchmal erinnerte sie sich daran.

Während sie mit Hingabe eine Gurke schabte, seufzte sie tief. Es hatte schon öfter wegen der Urlaube richtig Stress gegeben. Doch die Ausgrabungen von Archäologie-Teams weit weg von Deutschland verzögerten sich immer wieder einmal, das war eben nicht zu ändern.

Ganz ehrlich? Sie war von der Aussicht, Nele und Toni vier Wochen lang im Schlepptau zu haben, nicht gerade

begeistert. Auch wenn Nele ja schon ganz vernünftig war.

Wie üblich hatte sie genug eigene Dinge zu tun. Sie hatte eine Menge Freundinnen, sie war im Umweltschutz und bei „Omas for Future“ aktiv und wenn sie bei Demos das Megaphon in die Hand bekam, wackelten die Mauern der umliegenden Häuser. Oma Birgit hatte nicht nur als Gesamterscheinung Volumen, sondern auch in ihrer Stimme. Als Rednerin war sie äußerst beliebt, weil man sie immer bis in die letzten Reihen verstand. Und dann war Oma Birgit auch sehr schlau und sagte deshalb immer sehr schlaue Dinge. Na ja, jedenfalls fast immer. Aber wenn es nicht anders ging, dann würde sie eben einspringen.

Gerade am Telefon hatte Suse fast geweint. Nele hatte, so berichtete sie, das Ganze mit Fassung getragen, auch wenn sie wirklich wütend und frustriert gewesen war, aber Toni hatte geheult und gewütet. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich nicht wieder blicken lassen.

„Stell dir vor“, hatte Suse gesagt, „ich habe ihr zum Trost diesen leckeren Schokopudding gemacht, mit einer Extraportion Sahne drauf und ihn ihr sogar auf einem Tablett ins Kinderzimmer gebracht. Aber nichts da. Sie hat zwar aufgemacht, aber dann hat sie gesagt, diesen Puddings isst sie nie, nie mehr in ihrem Leben.“ Jetzt schluchzte Suse doch einmal kurz auf. „Jedenfalls nicht, wenn ich ihn ihr mache. Und dann hat sie mich rausgeschmissen.“

Biggi hatte ein paar beruhigende Worte gemurmelt. In ihren Augen neigte die Frau ihres Sohnes Pit manchmal ein bisschen zur Übertreibung. Nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie schnell nach. Ja: Sie hatte noch ein paar Päckchen Schokopudding in der Kammer ihrer großen Altbauwohnung. Und das gemütliche Gästezimmer war eigentlich immer für ihre Enkelkinder vorbereitet. Zur Sicherheit hatte sie auch hier noch einmal nachgesehen.

Das Bett links vom Fenster bekam immer Toni. Oma Birgit hatte die Bettwäsche mit den kleinen bunten Segelschiffen aufgezogen und überlegte, ob das jetzt wohl das Richtige wäre, wo doch ausgerechnet ein Bootsurlaub ins Wasser gefallen war. Vielleicht lieber die Bettwäsche mit den Clowns und den Luftballons? Ach was, dachte sie, papperlapapp! Auch Kinder mussten sich daran gewöhnen, dass das Leben kein Ponyhof war.

Sie drückte den kleinen Teddy, den Toni so liebte, in das Kissen und strich die Decke von Neles Oberbett glatt. Sie sah auf die Uhr. Hilfe! Wo war ihre Yogamatte? Sie musste los.

Biggi, die manchmal etwas aufbrausend war – das hatte Pit dem Himmel sei Dank von ihr nicht geerbt –, hatte einen Kurs bei der Volkshochschule gebucht. „Atem und Entspannung“ hieß der. Sie war schon fünfmal da gewesen und schon viel ruhiger geworden, davon war sie fest überzeugt. Sie schnappte sich die Autoschlüssel und eine Flasche Wasser. Draußen waren noch immer über fünfundzwanzig Grad. Sie war spät dran, jetzt musste sie sich aber beeilen.

Sie riss die Tür zum Treppenhaus auf und erstarrte.

Vor ihr stand Toni mit großen nassen Augen und warf sich aufheulend in ihre Arme.

Insgeheim war in diesem Moment Oma Birgit sehr, sehr froh, dass die Gruppe „Atem und Entspannung“ an diesem Abend ohne sie auskommen musste, aber das würde sie natürlich niemals zugeben. Sie nahm Toni in die Arme, drückte und knuffte sie ganz fest und trug sie wie ein Baby in ihre schöne große Altbauküche.

„Wir reden gleich ganz viel, mein Schatz“, sagte sie. „Obwohl du siehst ja schon ganz müde aus ...“

Toni nickte und murmelte etwas.

Biggi lief nach nebenan, wo das Telefon ordentlich auf der Ladestation lag, und wählte die Nummer von Suse und Pit.

Tonis Abwesenheit war noch gar nicht bemerkt worden.

„Sie ist hier“, sagte Biggi. „Suse, hörst du? Sie stand gerade vor meiner Tür. Lasst sie einfach hier schlafen. Ich liefere sie morgen nach dem Frühstück bei euch wieder ab. Dann habt ihr noch genug Zeit, bis ihr nach Ägypten fliegt. Bis dahin sollten sich die Wogen doch glätten lassen.“

Eine Minute später stand Oma Birgit wieder in der Tür zur Küche und sah ihr Enkelkind an. Toni hatte die Hände flach auf den Tisch gelegt und summte mit geschlossenen Augen eine kleine traurige Melodie.

„Mein Schatz“, sagte Oma Birgit lauter als nötig und sehr entschlossen. „Ich habe eine megamäßige Superidee.“ Sie wartete.

Toni öffnete die Augen zu einem ganz schmalen Schlitz, aber das machte Oma Birgit schon Hoffnung. Sie ging zu Toni, beugte sich über sie, formte ihre Hände zu einem Trichter und wisperte: „Willst du sie hören?“

Einen Moment saß Toni einfach nur da, ganz zögernd und steif und still. „Ja“, wisperte sie dann zurück.

„Ich mach uns Schokopudding“, schrie Oma Birgit nun so laut, dass Toni vor Schreck fast von ihrem Stuhl fiel. „Mit einer Extraportion Sahne drauf.“ Sie machte einen kleinen Tanz Richtung Speisekammer. Mein Gott, war sie froh, dass sie nicht atmen und entspannen musste.

„Ja-a-a!“, schrie jetzt auch Toni und bekam dann einen Lachanfall, als sie ihre Oma so tanzen sah.

„Schoookopudding ...“

 

3. Smarties für Nele

 

Das erste was Pit sah, als er mit seinen Einkäufen bepackt das Haus betrat, war eine ziemlich ramponierte Kapitänsmütze, die mitten im Flur auf dem Boden lag. Bei genauerem Hinsehen konnte er auf dem ehemals weißen Stoff zahlreiche Abdrücke von schmutzigen kleinen Schuhsohlen erkennen. Er seufzte, drückte mit dem Knie die Klinke der Küchentür nach unten und stieß die Tür mit dem Fuß an, so dass er, ohne die Kiste abzustellen, die Küche betreten konnte. Er stellte den Karton auf den großen Esstisch, der fast die ganze Küche ausfüllte und machte sich auf die Suche nach seiner Frau.

„Suse, hast du den Mädchen erzählt, dass der Bootsurlaub ins Wasser fällt?“ Pit musste lachen, als er bemerkte, was er gesagt hatte. Der Bootsurlaub fiel ins Wasser – das musste er sich merken, coole Sprüche konnte man immer mal gebrauchen, auch und gerade als ziemlich erwachsener Vater von zwei Töchtern.

Seine Frau kam mit dem Telefon in der Hand aus dem Wohnzimmer.

 „Deine Mutter hat eben angerufen. Toni ist bei ihr und bleibt über Nacht. Deine Tochter ist wieder einmal völlig ausgerastet und einfach abgehauen ohne zu sagen wohin.“

„Meine Tochter? Du verfügst ja selbst auch nicht gerade über die sanftmütigste Natur.“ Er lachte. Das war wieder mal typisch Toni. „Und was ist mit Nele?“

„Wo Nele steckt weiß ich nicht. Sie hat nur was von

Arschäologen vor sich hin genölt und ist beleidigt abgezogen.“ Suse wirkte erschöpft. „Vermutlich sitzt sie in ihrem Apfelbaum.“

Pit nahm Suse in den Arm.

„Alles ziemlich blöd gelaufen, ich kann die beiden ja verstehen. Dieses Mal müssen wir uns etwas wirklich Gutes ausdenken, um wieder in die Familie aufgenommen zu werden.“

Er ging zur Tür. „Auf dem Küchentisch stehen die Einkäufe, ich räume sie gleich weg, aber erst sehe ich mal nach, ob ich Nele finde.“

Nele beobachtete von oben wie ihr Vater aus dem Haus trat und ohne zu zögern auf den Apfelbaum zuging. Direkt unter ihr blieb er stehen und Nele überlegte kurz, ob sie ihn, wie zuvor Petronella, mit grünen Äpfeln bombardieren sollte, ließ es dann aber sein.

„Komm runter, Nele, Schatz. Toni ist bei Oma Birgit und ich habe eine große Packung Vanilleeis mitgebracht. Dazu jede Menge Smarties. Du kannst also dein Lieblingseis machen und niemand isst dir was weg.“

„Ich will deine Smarties nicht“, schimpfte Nele vom Baum herunter. „Und überhaupt hat es sich ausgeschatzt. Ich lasse mich doch nicht bestechen. Ihr habt euer Versprechen gebrochen, ihr seid doof und ich hasse euch.“ Nun warf sie doch einen Apfel. „Hau ab und lass mich in Ruhe!“

„Wie lange willst du denn da oben bleiben?“, fragte Pit.

„Das kann dir doch egal sein. Ihr seid ja sowieso bald weg und kümmert euch um alte Knochen und Mauern und so Zeug statt um eure Kinder.“

Nele tat der Hintern weh, sie saß nun schon ziemlich lange auf demselben Ast und irgendetwas drückte immer mehr. Aber nachgeben und runterkommen ging nicht, also richtete sie sich auf, um weiter nach oben zu klettern. In ihrem Zorn passte sie aber nicht auf und trat auf einen Ast, der zu schwach war, um sie tragen zu können. Nele rutschte ab und sauste zwischen den Ästen durch in die Tiefe. Allzu hoch war der Apfelbaum glücklicherweise nicht, aber um sich bei einem Absturz ein paar Knochen zu brechen, reichte es. Pit konnte seine Tochter gerade noch auffangen, verlor dabei aber den Halt und fiel mit Nele im Arm auf den Rücken ins Gras. Nach dem ersten Schrecken begann Pit zu lachen und Nele schaffte es irgendwie, gleichzeitig zu weinen und zu lachen. Pit setzte sich mit Nele im Arm auf.

„Ist alles ganz geblieben bei dir?“, fragte er seine Tochter.

Nele nickte, wischte sich mit ihrem T-Shirt die Nase ab und setzte sich ihrem Vater gegenüber ins Gras.

„Warum habt ihr nur so einen blöden Beruf?“, fragte sie. „Warum könnt ihr nicht wie andere Eltern zu Hause bleiben und mit euren Kindern in Urlaub fahren?“

„Gute Frage.“ Pit dachte angestrengt nach, was Nele an den Falten auf seiner Stirn erkennen konnte.

„Also“, begann er dann, „also es ist so: Wir haben einfach nichts anderes gelernt.“ Er grinste Nele an.

„Das ist nicht witzig“, sagte diese. „Kannst du nicht einfach ernsthaft auf eine ernsthafte Frage antworten?“

„Okay, ich versuche es. Eure Mutter und ich haben beide Archäologie studiert, weil wir uns, auch als wir jung

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 01.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6254-5

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