Dies ist keine wahre Geschichte, aber sie könnte so geschehen sein.
Immer wieder werden junge Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind oder den größten Teil ihres Lebens hier verbracht haben, ins Herkunftsland ihrer Eltern abgeschoben.
"Zum Geburtstag Abschiebung" ist der erste Teil von "Amra und Amir - Abschiebung in eine unbekannte Heimat"
"Amra und Amir - Abschiebung in eine unbekannte Heimat" gibt es als Ebook und als Taschenbuch überall im Buchhandel.
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Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag zerbrach Amras Welt in kleine Stücke.
Sie hatte eine wilde Party mit ihren Freundinnen und Freunden gefeiert. Achtzehn wurde man schließlich nur einmal im Leben und endlich erwachsen zu sein und über sich selbst bestimmen zu können, das musste gefeiert werden.
Es war ein sehr warmer und trockener Frühsommer in diesem Jahr und so hatten sie sich am Badesee getroffen, wo sie unzählige Nachmittage ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatten. Bis zum frühen Abend waren alle geladenen und auch ein paar ungeladene Gäste eingetroffen. Sie heizten den Grill an und schon bald erfüllte ein appetitanregender Duft die ganze Umgebung. Stefans Ghettoblaster dröhnte und spielte eine Play List nach der anderen, fast alle hatten ihre Lieblingsmusik mitgebracht. Sie hatten ihren Stammplatz ganz am Ende des Sees, wo sie nicht zum ersten Mal feierten. Hier fühlte sich niemand durch sie gestört und sie konnten tun und lassen was und wie laut sie wollten.
Die anderen Badegäste, die rund um den See verteilt die Nachmittagssonne genossen hatten, brachen nach und nach auf, um den Abend zu Hause zu verbringen. Schließlich waren nur noch Amra und ihre Freunde und Freundinnen am See. Es gab genug zu essen und zu trinken, alle hatten sie ihre Sixpacks mitgeschleppt, und später zog auch hin und wieder der Duft eines Joints über das Feuer, das sie mit der glühenden Grillkohle und dem Holz, das sich rund um den See fast überall fand, angezündet hatten. Amra war nicht ganz wohl dabei, aber es war ihre große Party und da wollte sie den Freunden den Spaß nicht verderben.
Früher hatte sie wie die anderen auch, gerne und zeitweise sogar ziemlich oft gekifft. Aber dann waren sie alle zusammen ein paar Mal erwischt worden und hatten ziemlich unangenehme Stunden bei der Polizei und vor Gericht verbracht. Gefühlte hundert Mal machte sich Amra auf den Weg, um die Sozialstunden abzuleisten, zu denen sie verurteilt worden war. Sie arbeitete im Altenpflegeheim und sie hasste es. Schlimmer noch als diese Arbeit war aber, dass Amras Mutter, die schon lange unter depressiven Schüben litt, durch den Schrecken tief in eines ihrer schwarzen Löcher gefallen war. Amra hatte sich deshalb geschworen, nie wieder mit Drogen in Berührung zu kommen. Bei den anderen war der erste Schock mit der Zeit eher zu einer Art Kick geworden, und sie rauchten weiterhin, wenn sich die Gelegenheit bot.
Manchmal fühlten sie sich etwas altmodisch in der Clique – Bier und ein bisschen Gras, mehr war bei ihnen nicht gefragt. Auf die modernen Synthetikdrogen, die bei anderen Jugendlichen angesagt waren, hatte hier niemand jemals Lust verspürt. Wo hätte man in ihrer kleinen Stadt die bunten Pillen und was da draußen in der Welt sonst so unterwegs war, auch hernehmen sollen? Vermutlich hätte es irgendwelche Wege gegeben, aber niemand hatte sich je darum bemüht, diese zu finden. Wozu auch? Wenn sie unter sich waren, wenn ihre Clique zusammen war, dann brauchten sie dieses Zeug, um dessen Gefahren sie ziemlich genau wussten, nicht.
Da draußen – da war die große Welt, da wollten sie alle irgendwann hin. Heraus aus der Langeweile und dem Mief ihrer engen kleinen Stadt, in der jeder jeden kannte – und jede jede auch –, und in der nichts wirklich im Verborgenen blieb. Und jetzt, da sie achtzehn wurde, da dieser magische Zeitpunkt direkt vor ihr lag, stand ihrem Weg in die große weite Welt bald nichts mehr im Weg. Noch ein Jahr, dann hätte sie ihre Ausbildung beendet und würde gehen, wie die anderen aus der Clique auch. Hinaus in die Welt, in die Freiheit, ins wirkliche Leben.
Das hatte Amra ihrer Mutter versprochen, dass sie wenigstens ihre Ausbildung abschloss, bevor alles „ganz anders“ werden würde, wie sie ihre Zukunftspläne beschrieb.
Amra hatte recht gehabt. Es sollte nach ihrem achtzehnten Geburtstag nur zu bald alles ganz anders werden. Nicht einmal dieses Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hatte, konnte sie mehr einlösen, bevor die große Veränderung kam und ihre Welt in Stücke zersprang.
Hier endet der 1. Teil von Amras Geschichte.
Die ganze Geschichte gibt es als Ebook oder als Taschenbuch überall im Buchhandel zu kaufen:
Vor über zwanzig Jahren, als Jugoslawien und seine Menschen in einem Krieg zerbrachen, den die meisten nicht hatten kommen sehen – denn Kriege gab es ja immer irgendwo auf der Welt, aber doch seit 1945 nicht mehr in Europa –, hatten Amras Eltern Flora und Gezim Mekuli ihre Heimat verlassen und waren in einer kleinen Stadt im Norden Deutschlands gestrandet. Sie kamen beide aus Priština, der Hauptstadt des Kosovo, den bis dahin kaum jemand in Deutschland gekannt hatte. Sie wollten nur kurz bleiben, doch der Krieg blieb lange und so blieben sie auch.
Beide fanden sie Arbeit und schlossen schnell auch Freundschaften in der kleinen Stadt, denn Amras Eltern waren allen und allem gegenüber aufgeschlossen und hatten auch zu Hause im Kosovo schon immer ein offenes Haus und ein offenes Ohr für alle gehabt.
Krieg und Flucht hatten tiefe Spuren in den beiden damals noch jungen Menschen hinterlassen. Aber zunächst verdrängten sie diese mit all den Notwendigkeiten und Aufregungen, die die neue Heimat – auch wenn sie nur eine Heimat auf Zeit sein sollte – und das neue Leben mit sich brachten, und begruben die Ängste und Schrecken, die sie durchgestanden hatten, tief in ihrem Inneren. Sie lebten fast so weiter, wie sie es vor dem Krieg gewohnt gewesen waren.
Dann kam Amra zur Welt. Mit ihr zerbrach die äußerste Schutzschicht, die Amras Mutter davor bewahrt hatte, sich den Erinnerungen und Schrecken des Krieges und all seinen Folgen stellen zu müssen.
Aber wie eine Zwiebel besitzt die Seele des Menschen vielerlei schützende Häute, und zerbricht die erste, so blitzt zwar ein kleines Erinnern auf, aber nur kurz, denn da sind ja noch genügend andere, die weiterhin Schutz gewährleisten.
Und dann war da ja nun Amra, dieses kleine Wunder, und die Frau aus dem Kosovo wurde zur Mutter. Sie gab ihre Arbeit auf und widmete sich dem Kind, auf das sie lange gewartet und schon fast nicht mehr gehofft hatte. Sie vergaß bald wieder, dass sich da kurz eine Erinnerung hatte ihren Weg nach draußen bahnen wollen.
Der Mann dagegen blieb Mann und zwischen Mutter und Mann war das Kind – geliebt zwar von beiden, aber der Mann ging weiterhin arbeiten, traf seine Freunde und kam nur nach Hause, um zu schlafen. So blieb er dem Kind ein Fremder und für die Frau, die jetzt nur noch Mutter war, um sich und ihr Kind zu schützen, wurde er ein solcher.
Amras Vater, der nicht wusste, wie Vatersein ging, spürte genau, wie er sich entfernte, wie die Liebe sich davonschlich und wie er sie nicht halten konnte. Er litt darunter, aber er hatte nie gelernt, über diese Dinge zu sprechen. Schon bevor Amra zur Welt kam, hatte das begonnen. Nachdem das Leben in Deutschland zum Alltag geworden war, nachdem er sich eingerichtet hatte und der Krieg nicht enden wollte, begann in ihm langsam etwas zu reißen. Auch in seinem Inneren waren die erlebten Schrecken vergraben und auch er wollte sie nicht ans Licht lassen. Als Amra geboren wurde und der Mann in den Augen der Mutter erkannte, dass sich in ihr etwas seinen Weg nach draußen zu bahnen begann, da ergriff er die Flucht. Flucht in die Arbeit und abends an den Tresen.
Als die Nachricht vom tödlichen Arbeitsunfall Gezims kam, war er für die Mutter schon lange ein Fremder geworden, dessen Tod sie zwar erschreckte und irgendwo in ihr etwas berührte, aber dann drehte sie sich um und das Leben ging weiter.
Amra war drei Jahre alt, als der Vater ums Leben kam. Die Mutter ging wieder zur Arbeit, während Amra im Kindergarten erste Freundschaften schloss.
In Amras Mutter riss beim Tod dieses fremden Mannes, der einmal Amras Vater hatte werden sollen, erneut eine schützende Haut. Sie stürzte sich in die Sorge um ihr vaterloses Kind, das aber ja immer schon vaterlos gewesen war und den Verlust deshalb nicht wirklich bemerkte, und in die Arbeit, um sich selbst zu betäuben.
Amra wurde größer, die beiden erlebten, was alleinerziehende Mütter und alleinerzogene Kinder eben so erleben. Alles in allem ging es ihnen gut und sie fühlten sich geborgen in ihrer kleinen Stadt. Die Mutter zwischen ihren zumeist freundlichen Arbeitskolleginnen und Amra schon sehr bald in ihrer Clique.
Amra ging gerne zur Schule, sie lernte schnell und hatte Spaß daran. Sie verstand sich gut mit den anderen in der Klasse und vor allem war da Nina, die in der Nachbarschaft wohnte und mit der sie befreundet war, seit sie überhaupt denken konnte. Bald schon wurden die beiden Mädchen nur noch im Doppel gesehen. Wann immer die Eltern es erlaubten, übernachtete die eine bei der anderen. Mal Amra bei Nina und mal Nina bei Amra, wie es gerade am besten passte.
Amra aß meistens bei Nina zu Mittag, weil ihre Mutter erst spät von der Arbeit nach Hause kam. Die beiden machten dann gemeinsam ihre Hausaufgaben und hinterher die Gegend unsicher. Fast immer waren sie unterwegs. Im naheliegenden Wäldchen, was eigentlich verboten war. Oder in der kleinen Stadt, was erlaubt war mit bestimmten Vorgaben, die nur selten von den Mädchen eingehalten wurden.
Wo die beiden auftauchten, wurde Amra auf den ersten Blick für einen Jungen gehalten, denn sie hatte sich schon bald eine Igelfrisur zugelegt und sich noch nie so verhalten, wie es die Leute von einem Mädchen erwarteten.
Schnell hatten die beiden Freundinnen herausgefunden, dass es ein schönes Spiel war und so manche Vorteile mit sich brachte, wenn sie sich an Orten, wo man sie nicht kannte, als Bruder und Schwester oder als Liebespaar ausgaben. Sie mussten aber schnell feststellen, dass Bruder und Schwester gewöhnlich besser funktionierte. Über knutschende Kinder wurde meist nur gelacht.
Innerhalb der Clique, die sich schon während der ersten Schuljahre entwickelte, blieb Amra solange das ganz gewöhnliche Mädchen in den Augen der anderen, wie die Aufteilung in Geschlechter noch keine wirkliche Rolle spielte. Als sie älter wurde und die Entwicklung zum Girlie verpasste, die die anderen fast alle unmerklich vollzogen hatten, war sie schon ein so fester Bestandteil der Gruppe, dass es niemandem auffiel. Amra war eben Amra und das blieb sie auch. In manchem ein wenig anders als andere, aber sie wussten ja auch alle, dass Amra es nicht ganz einfach hatte zu Hause. Allein mit einer Mutter, die immer häufiger depressive Phasen durchlebte und in Löcher fiel, aus denen sie ohne ihre starke Tochter nicht wieder herausgefunden hätte.
Amra machte sich notgedrungen stärker, als sie eigentlich war, legte sich eine harte Schale zu und glaubte irgendwann selbst daran, unverwundbar und die Retterin ihrer Mutter zu sein. In dieser Rolle hatte sie sich eingerichtet und fühlte sich zumeist auch ganz wohl damit. Nur selten fiel Amra auf, dass Coolness nicht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2610-3
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