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Ganz normale Kinder

Luke und Lena waren Zwillinge. Außer ihrem Geburtstag und den Eltern hatten die beiden allerdings nicht viel gemeinsam. Luke hatte blonde Haare und war etwas klein für sein Alter. Das ärgerte ihn ziemlich, vor allem deshalb, weil seine Schwester Lena die Größte in der Klasse war. Lenas Haarfarbe war nicht richtig zu bestimmen. Ein wenig blond, ein wenig braun. „Straßenkötermischung“, sagte ihre Mutter dazu.

Auch in ihrer Freizeit hatten die Zwillinge sehr unterschiedliche Interessen. Luke las gerne und viel, während Lena lieber am PC saß. Sie beschäftigte sich, wenn die Eltern sie nicht daran hinderten, stundenlang mit Computerspielen. Luke war in der Theater-AG der Schule, Lena spielte schon seit sie fünf Jahre alt war im Fußballverein. Seit einiger Zeit war sie Torwartin ihrer Mannschaft.

Ihre ‚ersten Eltern‘, so nannten die Zwillinge ihren Vater Marc und ihre Mutter Svenja, hatten sich kurz nach dem fünften Geburtstag der Zwillinge getrennt, weil Marc sich in einen Mann verliebt hatte. Ein halbes Jahr nach der Trennung von Svenja war er dann auch mit seinem Freund Timo zusammengezogen. Inzwischen waren Marc und Timo verheiratet und Luke und Lena nannten die beiden ihre ‚zweiten Eltern‘.

Svenja war seit der Trennung von Marc meistens irgendwo in der Welt unterwegs. Das war schon immer ihr Traum gewesen und deshalb war sie froh, die Kinder bei Marc und Timo in guten Händen zu wissen. Sie war Ärztin und arbeitete in unterschiedlichen Projekten in fernen Ländern. Mal war sie mehrere Wochen fort, manchmal auch ein paar Monate. Dann blieb sie eine Zeit lang zu Hause und wohnte in einer eigenen kleinen Wohnung im gleichen Haus, in dem Luke und Lena mit Marc und Timo lebten. Gerade arbeitete sie irgendwo in Afrika in einem Krankenhaus. In welchem Land genau, hatten die Zwillinge schon wieder vergessen. Es interessierte sie nicht besonders, was ihre Mutter tat wenn sie weg war. Wichtig war nur die Zeit, die sie gemeinsam verbringen konnten. Svenja unternahm dann viel mit ihren Kindern und erfüllte ihnen fast jeden Wunsch. Es fiel Luke und Lena jedes Mal schwer, sie wieder gehen zu lassen, aber wenn sie dann abgereist war, vermissten sie Svenja nur selten. Eine immer gut gelaunte Ferienmutter hatte einige Vorteile, fanden sie.

Mit ihren beiden Papas gab es manchmal auch Ärger und außerdem machten sie ihnen viel zu viele Vorschriften. Sie bestimmten, wie lange sie Computer spielen durften und wann abends das Licht ausgemachen werden musste. Sie wollten, dass die Zwillinge möglichst wenig Süßigkeiten und mehr Gesundes aßen. Sie achteten darauf, dass sie ihre Hausaufgaben ordentlich machten und, wenn Tests oder Klassenarbeiten anstanden, fleißig lernten. Aber so waren Eltern eben. Insgesamt, konnte man ganz gut mit Marc und Timo auskommen, darin waren sich Luke und Lena einig.

 

Wie Ferrari eigentlich hieß, wusste fast niemand außer ihr selbst und ihren Eltern. Auch die Lehrer und Lehrerinnen nannten sie nur Ferrari, seit sie sich in der ersten Schulstunde im Gymnasium so vorgestellt hatte. Nur Slash und den Zwillingen hatte Ferrari inzwischen erzählt, woher der Name kam. Wenn andere sie fragten, gab sie zur Antwort: „Ich heiße eben so. Frage ich dich, warum du Marlene heißt? Also!“

Ferrari war häufig kurz angebunden und unfreundlich zu anderen. Man musste sich schon anstrengen, sie zur Freundin zu bekommen. Dabei durfte man sich von ihrer rauen und unfreundlichen Art nicht abschrecken lassen. War das geschafft, dann war Ferrari die beste Freundin, die man sich vorstellen konnte.

Seit ihrer Geburt funktionierten Ferraris Beine nicht so wie bei anderen Kindern. Von den Knien bis zu den Zehen ließen sie sich nicht bewegen.

„Manche Menschen haben Füße, um sich weiterzubewegen, andere Räder. Was besser ist, weiß man nicht.“ Das war Ferraris Motto, seit sie, als sie noch ziemlich klein war, diesen Unterschied festgestellt hatte.

Als Ferrari am ersten Schultag nach der Begrüßungs-veranstaltung im Musiksaal ins Klassenzimmer der 5 c rollte, wurde sie neugierig beobachtet. Ferrari kannte das schon. Sie konnte gut unterscheiden, wer einfach nur neugierig war und genau hinsah und wer dabei „was will die Behinderte hier“ dachte. Manche würden sich später auch trauen, das laut zu sagen, wusste Ferrari. Weil sie schon häufig erlebt hatte, dass man ihr mit bösen Blicken oder Worten begegnete, war sie so rau und unfreundlich geworden. Erst mal abwarten, wer sich ihr gegenüber wie verhielt. Sie hatte gelernt, genau zu beobachten und genau hinzuhören. So war ihr auch nicht entgangen, dass manche Kinder heimlich kicherten oder grinsten, als Lena und Luke von ihren beiden Papas erzählten. Deshalb hatte sie sich den Zwillingen in der großen Pause angeschlossen und sie genau unter die Lupe genommen. Luke und Lena gefielen ihr. Sie waren zwar ebenfalls neugierig und besahen sich den Rollstuhl genau – vor allem Lena interessierte sich sehr für die Technik des knallrot lackierten Gefährts – aber ernst gemeintes Interesse war für Ferrari okay.

Es dauerte nicht lange, bis sie den beiden erzählte, woher der Name Ferrari kam: Als kleines Mädchen war sie in einer Gruppe mit anderen Rollstuhl-Kindern gewesen, die gemeinsam übten, sich möglichst geschickt fortzubewegen. Sie lernten Hindernisse rechtzeitig zu erkennen, sie geschickt zu umfahren und sicher mit dem Rollstuhl umzugehen. Manchmal machten die Kinder dann auch ein Rollstuhlrennen. Fast immer war Ferrari dabei die Schnellste gewesen. Weil ihre Lieblingsfarbe außerdem rot war, dauerte es nicht lange, bis sie ihren Spitznamen weg hatte: Ferrari. Das gefiel ihr und schon bald kannte man sie überall nur noch unter dem neuen Namen.

 

Slashs Vater verschwand, bevor sein Kind geboren wurde. Fragen nach dem Vater ließ die Mutter unbeantwortet. Manchmal ärgerte sich Slash darüber, aber eigentlich war es auch nicht wichtig. „Wir sind meistens ein gutes Team“, fand Slash, und wenn es mal nicht so gut lief, genügte eine erwachsene Person, die man aushalten musste, völlig.

Slash ließ sich ein paar Tage Zeit mit der Suche nach Freunden. Die große Pause konnte man auch ganz gut allein verbringen, das war kein Problem. Aus der alten Grundschulklasse war niemand mit auf das Gymnasium gewechselt und so begann hier alles ganz neu. Slash wollte erst einmal abwarten und dann sehen, was sich ergab.

Als sie am ersten Tag in der neuen Klasse einen Stuhlkreis machten und sich alle der Reihe nach vorstellten, hieß Slash noch nicht Slash.

„Ich bin Jan oder Jana. Könnt ihr euch aussuchen.“

Erst einmal blieb es still, dann fragte jemand: „Ich habe nicht verstanden. Heißt du nun Jan oder Jana?“

Jan/Jana atmete tief durch und antwortete: „Jan oder Jana. Jan und Jana. Mal bin ich Jan, mal bin ich Jana und weil ihr nicht wissen könnt, wer ich gerade bin, sagt einfach Jan-Slash-Jana zu mir.“

Als alles ruhig blieb, fügte Jan/Jana noch hinzu: „Ihr wisst doch was ein Slash ist, oder nicht?“

„Na klar“, tönte von hinten eine laute Stimme. „Wir sind doch nicht doof. Dieser Schrägstrich beim Computer ist ein Slash. Aber heißt du nun Jan oder Jana? Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“

„Ja“, antwortete Jan/Jana, „was sonst?“

Es dauerte eine Weile, bis die Kinder die Antwort verstanden hatten, dann begannen einige zu kichern.

„Also“, Jan/Jana holte noch einmal tief Luft und nahm allen Mut zusammen. „Mal bin ich ein Mädchen und mal ein Junge, oder beides oder keins von beiden – sucht es euch aus.“

Gelächter war die Antwort. Das ging ja gut los hier, der Klassenclown machte seine Sache gut. Als die Kinder aber bemerkten, dass es anscheinend gar kein Spaß war, hörten sie auf zu lachen. Sie sahen unschlüssig zwischen Jan/Jana und der Lehrerin hin und her.

„Wie kann man so blöd sein und nicht wissen, was man ist. Bist du nun ein Junge oder ein Mädchen?“, rief Marek, der größte Junge in der Klasse, laut durch den Raum, doch bevor Jan/Jana antworten konnte, mischte sich Frau Krause, die Klassenlehrerin ein. Jan/Janas Mutter hatte vor dem Schulwechsel lange mit ihr gesprochen. Nun musste sie der Klasse erklären, was sie erfahren hatte.

„Marek, hast du vergessen, dass ihr euch melden sollt? Hier wird nicht einfach losgeschrien, verstanden?“, begann sie.

Marek wurde rot und nickte.

„Hört mir jetzt alle genau zu“, sagte Frau Krause und sah die Kinder in der Runde nacheinander an. „Jan/Jana ist nicht zu blöd, um den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen zu kennen. Jan kam als Junge zur Welt und wird auch mit den Jungen in den Sportunterricht gehen. Soweit verstanden?“ Frau Krause wartete, ob jemand etwas fragen wollte. Als alle still blieben, fuhr sie fort. „Aber – und jetzt passt gut auf – nicht alle Menschen und auch nicht alle Kinder nehmen einfach alles so hin, wie man es ihnen sagt. Das tust du doch auch nicht, Marek, oder?“

Marek schüttelte den Kopf.

„Fällt dir vielleicht auch etwas Wichtiges ein, womit du dich nicht so einfach zufriedengeben willst?“

Marek überlegte kurz und sagte dann: „Mein Vater sagt immer, ich wäre zum Basketballspieler geboren, weil ich so groß bin. Ich will aber lieber Fußball spielen.“

„Ein gutes Beispiel“, lobte die Lehrerin. „Hat noch jemand andere Beispiele?“

Karla meldete sich. „Meine Eltern wollten nicht, dass ich aufs Gymnasium gehe, weil das in unserer Familie nicht üblich ist. ‚Bei uns hat noch niemand studiert und du musst nicht damit anfangen‘, hat mein Vater gesagt.“

„Und doch hast du dich durchgesetzt und bist jetzt hier.“

Karla nickte.

„Noch weitere Beispiele?“

„In meiner Familie sind alle Ärzte und ich soll auch Arzt werden“, sagte Gerry versonnen. „Eigentlich möchte ich aber lieber Zimmermann werden oder so was. Ich mag Holz und ich bastle gerne.“

Frau Krause nickte zufrieden. „Seht ihr, so ähnlich geht es Jan/Jana mit dem ‚Junge-oder-Mädchen-Sein‘. Jan/Jana nimmt es nicht einfach hin, nur Jan zu sein, so wie ihr nicht Basketballspieler oder Arzt werden oder auf der Hauptschule bleiben wollt, nur weil man euch sagt, dass das so sein muss.

Alle saßen still und nachdenklich auf ihren Plätzen.

„Versteht ihr, was ich meine?“, fragte Frau Krause dann.

Allgemeines Nicken und zustimmendes Gemurmel folgte. Manche waren etwas nachdenklicher als andere, aber niemand widersprach. Dann durchbrach Marek erneut ungefragt die Stille. Immerhin schnalzte er dieses Mal laut mit den Fingern, während er in die Klasse rief:

„Der Name Jan-Slash-Jana ist aber trotzdem doof. Viel zu kompliziert. Du heißt ab jetzt einfach Slash!“

Und dabei blieb es.

 

Der Platz neben Slash war freigeblieben, was Slash ganz recht war. Erst mal beobachten und sich um niemanden kümmern, war Slashs Devise. Schon bald bemerkte Slash, dass Lena, Luke und Ferrari die Pausen immer zusammen verbrachten. Sie hatten Spaß miteinander und es schien so, als ob sie immer wieder in Slashs Richtung sahen. Als das Alleinsein dann doch zu langweilig wurde, gesellte sich Slash in einer großen Pause zu der kleinen Gruppe.

„Was seid ihr denn für welche? Warum bleibt ihr immer nur zu dritt und warum guckt ihr dauernd zu mir?“, fragte Slash herausfordernd.

„Hast du ein Problem, oder willst du eins?“ Lena baute sich vor Slash auf. „Du stehst doch sogar immer ganz allein herum. Und wenn du weißt, dass wir zu dir hingucken, dann heißt das, du guckst auch dauernd zu uns. Also, was willst du?“

Slash hatte gewusst, dass es nicht einfach wäre, der Klasse gegenüber ehrlich zu sein und sich als Jan/Jana zu erkennen zu geben. Aber Slash hatte einfach keine Lust mehr gehabt, immer nur zu Hause ganz sich selbst sein zu dürfen. „Angriff ist die beste Verteidigung“, diesen Satz hatte Slash irgendwo gehört, passend gefunden und beschlossen, mit dem Versteckspiel aufzuhören.

Nach der Vorstellungsrunde in der Klasse, bei der die Lehrerin wirklich gute Arbeit geleistet hatte, wie Slash fand, hatte niemand gewagt, dumme Sprüche zu machen. Aber die anderen hielten Abstand und Slash meinte manchmal Getuschel zu hören und komische Blicke zu spüren. Slash entging es aber auch nicht, dass manche sich über die Papas von Luke und Lena lustig machten oder Witze über Behinderte erzählten und dabei zu Ferrari sahen. War die Lehrerin in der Nähe, wagte das niemand. Wenn Frau Krause dabei war, waren alle nett und freundlich und fanden Rollstuhlkinder, schwule Väter und Mädchen-Jungen total normal und okay. Waren die Kinder unter sich, war das alles nicht mehr ganz so einfach.

Slashs Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ war auch der Grund dafür gewesen, dass Slash sich Lena, Luke und Ferrari so zickig und angeberisch genähert hatte. Lieber die/den Starke/n markieren, als dumme Sprüche und eine Abfuhr zu riskieren. Allerdings war Slash da bei Lena anscheinend an die Falsche geraten. Wie jetzt da wieder rauskommen? Slash wollte nicht mehr die ganze Zeit allein sein in den Pausen und wünschte sich endlich Freunde hier in der Klasse.

Slash nahm allen Mut zusammen. „Okay, es tut mir leid. Eigentlich wollte ich nur nicht so allein herumhängen und wusste nicht, wie ich euch ansprechen soll. Ich, also ich ...“.

„Schon gut.“ Ferrari mischte sich ein. „Du musst dich nicht so doof anstellen, nur weil du Freunde suchst und weißt, dass wir genauso wie du von den anderen nicht für voll genommen werden.“

„Nicht von allen jedenfalls.“ Luke hatte etwas gegen Verallgemeinerungen.

„Ich kann Angeber nicht ausstehen.“ Lena stand immer noch vor Slash und funkelte wild mit den Augen.

„Lena, du kannst wieder runterkommen, du musst uns nicht verteidigen gegen Yeti-Ritter Slash.“ Luke hatte keine Lust auf Streit. So schlimm war Slashs Auftritt nun auch wieder nicht gewesen. Was musste Lena sich denn so aufspielen?
Lena musste lachen. „Yeti-Ritter? Dieses Würstchen ein Yeti-Ritter?“

„Lena, hör auf!“ Luke wurde nun ärgerlich. „Slash hat sich doof benommen, aber nun musst du nicht noch blöder sein. Gib Ruhe und lass uns gemeinsam noch schnell ein Eis am Kiosk holen, bevor die Pause zu Ende ist.“

Ferrari hielt Slash am Arm fest, als sie bemerkte, dass Slash den Rückzug antreten wollte.

„Nun sei nicht eingeschnappt. Lena meint das nicht so.“

Slash zögerte, riss dann einen Zweig vom Busch hinter sich ab und hielt ihn Lena mit einer übertriebenen Verbeugung vor die Nase: „Frieden? Du hast recht, ich bin kein Yeti-Ritter. Aber ich bin auch kein Würstchen, ich esse lieber vegetarisch.“

Nun musste Lena lachen, boxte Slash in den Oberarm und sagte: „Frieden angenommen. Allerdings gibt es auch vegetarische Würstchen, du Schlaukopf.“

Die Schulglocke schrillte, für ein Eis war es nun zu spät.

„Wir treffen uns nach der Schule und machen was für heute Nachmittag aus“, bestimmte Luke. „Dann können wir Slash unter die Lupe nehmen und sehen, ob wir unsere Gang vergrößern.“

„Unsere was?“, fragten Ferrari und Lena gleichzeitig.

„Unsere G ä n g. Das ist das englische Wort für Bande“, erklärte Luke. „Ist doch eine coole Idee, oder nicht?“

„Vielleicht.“ Lena nahm sich nun Luke vor, so wie wenige Minuten zuvor Slash. „Aber zuallererst werden wir dir heute Nachmittag mal klar machen, dass du hier nicht den Chef raushängen lassen kannst. Kapiert? Ob es eine Gang gibt oder nicht, entscheiden wir immer noch gemeinsam.“

Luke nickte scheinbar zerknirscht, grinste aber innerlich. Die Idee war schon mal geboren und mit Sicherheit würden die anderen mitmachen. Er musste es nur so drehen, als ob es ihre Entscheidung wäre.

Luke hatte recht. Am selben Nachmittag gründeten sie gemeinsam die Gang.

Die Gang

 

Die Schulglocke läutete. Endlich erlöst. Luke, Lena, Ferrari und Slash hatten es eilig. Es war Freitag, das Wochenende begann genau in diesem Moment. Zweieinhalb freie Tage, zweieinhalb Tage ohne Schule, zweieinhalb Tage, die nur der Gang gehörten.

Sie gingen eigentlich alle ganz gerne zur Schule, aber es gab eben auch viel spannendere Dinge zu erleben als vormittags im Klassenzimmer zu sitzen und nachmittags zu Hause langweilige Aufgaben zu erledigen.

Dieses Wochenende hatte Ferrari alle zu sich eingeladen. Obwohl seit Beginn des Schuljahres und seit sie die Gang gegründet hatten schon ziemlich viel Zeit vergangen war, wie sie fanden, hatten Ferraris Eltern zum ersten Mal erlaubt, dass die Zwillinge und Slash bei ihr übernachteten. Das musste gefeiert werden. Jede Minute wollten sie genießen und außerdem gab es wichtige Dinge zu besprechen. Schnell trennten sie sich nach dem Unterricht, um von zu Hause zu holen, was sie zum Übernachten brauchten. Ferrari wollte in der Zwischenzeit Proviant einkaufen: Chips, Süßigkeiten und Cola – was man eben für ein gemeinsames Wochenende benötigte.

Es war nicht einfach gewesen, die Erlaubnis der Eltern zu bekommen. Eigentlich freuten sie sich, hatten sie Ferrari erklärt, dass sie in der neuen Schule so schnell Anschluss gefunden hatte. Zugleich sorgten sie sich aber, ob die neuen Freundschaften halten würden. Sie hatten immer wieder erlebt, dass das Rollstuhlkind eine Weile interessant gewesen war, dann aber sehr schnell als lästig empfunden wurde. Doch Ferrari hatte so lange gebettelt, bis die Eltern schließlich nachgaben und ihr erlaubten, Luke, Lena und Slash einzuladen.

Das Kinderzimmer war groß, denn Ferrari brauchte genügend Raum, um sich ungehindert mit dem Rollstuhl bewegen zu können. Deshalb fanden genügend Matratzen für alle darin Platz. Ferraris Mutter, die unter den kritischen Augen ihrer Tochter alles für die Übernachtung vorbereitet hatte, begutachtete ihr Werk noch einmal zufrieden: Die Matratzen lagen alle bereit und waren mit Laken überzogen. Jedes Kind würde seinen eigenen Schlafsack und ein Kuschelkissen mitbringen – so war es abgemacht.

„Wir wollen unsere Ruhe haben und möglichst wenig von den Erwachsenen gestört werden“, hatte Ferrari angeordnet.

Also würde es eine große Pizza zum Abendessen ins Zimmer geben, alles andere hatte Ferrari bereits selbst eingekauft. Ein kleiner Tütenberg, aus Chips, Salzbrezeln, Gummibärchen und ähnlichen Dingen lag auf dem Schreibtisch bereit. Auch ein paar Flaschen standen dort. Ferrari hatte gut vorgesorgt. Die Mutter lächelte. Sie freute sich, ihr Kind so glücklich und erwartungsvoll zu sehen. Sie verließ das Zimmer, um in der Küche Gläser, Teller und Besteck bereitzustellen.

Als es klingelte, öffnete Ferraris Mutter die Tür. Sie wusste, dass ihrer Tochter das nicht recht war, aber beim ersten Mal wollte sie sehen, wen sich Ferrari da ins Haus holte.

Vor der Tür stand ein schlaksiger Junge – oder war es ein Mädchen?

„Guten Tag, ich bin Slash“, sagte das Kind höflich. „Ist Ferrari zu Hause?“

„Ja, sie wartet in ihrem Zimmer auf dich“, antwortete Ferraris Mutter. Ferrari war aber mittlerweile in den Flur gerollt.

„Hallo Slash“, rief sie fröhlich. „Komm rein.“

Ferraris Mutter wusste, dass sie sich bei ihrer Tochter unbeliebt machte, aber die Neugier siegte.

„Slash heißt du?“, fragte sie das Kind, das gerade versuchte, um sie herum zu Ferrari zu gehen. „Bist du denn ein Junge oder ein Mädchen?“

„Ja“, sagte Slash. „Bin ich.“

Die beiden Kinder verschwanden in Ferraris Zimmer. Leises Kichern drang durch die Tür. Erst ärgerte sie sich ein wenig, dann musste sie lachen. Eigentlich eine gute Antwort auf eine überflüssige Frage.

Als Luke und Lena klingelten, war Ferrari schneller. Sie öffnete die Haustür und ließ die beiden herein. Noch bevor ihre Mutter es in den Flur geschafft hatte, waren auch sie im Zimmer verschwunden.

 

Die vier Kinder saßen auf den Matratzen im Kreis, als es klopfte und auf Ferraris „Herein“ die Mutter mit einem Marmorkuchen ins Zimmer trat.

„Ich dachte, ich backe etwas für euer erstes Treffen“, sagte sie freundlich und stellte die Platte mit dem Kuchen zwischen den Kindern auf die Matratze.

Ein vierstimmiges „Dankeschön“ ertönte, dann schloss sie die Tür hinter sich und ließ die vier allein. Hoffentlich wird das was, dachte sie bei sich, hoffentlich, aber sie hatte ein gutes Gefühl.

 

„Du musst verdammt starke Arme haben“, bewunderte Lena fast neidisch die Freundin. Ferrari war einige Male zwischen Rollstuhl und Matratze hin und hergewechselt, weil ihr immer noch einmal etwas einfiel, was sie vergessen hatte und dringend brauchte.

„Ja klar, muss ich. Das kommt aber ganz von allein, wenn man das meiste mit den Armen macht. Die Muskeln, die ihr in den Beinen habt, habe ich eben zusätzlich noch in den Armen. Also passt bloß auf!“ Ferrari drohte spielerisch mit den Fäusten.

„Wir sind ganz brav“, sagte Slash. „Weißt du doch.“

„Los, fangen wir an“, unterbrach Luke die anderen. Wir haben heute einiges zu besprechen.“

Slash schnitt für jedes Kind ein Stück vom Marmorkuchen ab, während Lena Gläser verteilte und eine Flasche Cola in die Mitte stellte.

„Ja, fangen wir an“, begann Ferrari. „Folgende Fragen müssen wir heute beantworten:

  1. Wie soll unsere Gang heißen?
  2. Was wollen wir tun?
  3. Bleiben wir unter uns oder nehmen wir noch andere auf?

Habe ich was vergessen?“

„Erst mal reicht das“, sagte Slash.

Luke nickte wichtig. „Genau, fangen wir mit dem Namen an.“

Ferrari nahm einen Notizblock, den sie neben sich liegen hatte, um die Ideen aufzuschreiben. Aber niemandem wollte etwas einfallen, womit alle anderen auch zufrieden waren.

„Sollen wir nicht lieber zuerst darüber entscheiden,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Maria Braig
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4522-8

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