Marc Weiherhof
Damals im Orient
(Bookrix-Leseprobe)
Eine Gay Romance
Veröffentlichungen
Bauernliebe ASIN B01C69B70O
Bei Besichtigung gezähmt ASIN B019T98WHK
Bei Kontoeröffnung verführt 1 ASIN B00YBXW7HQ
Bei Kontoeröffnung verführt 2 ASIN B01G0P8JI8
Bei Kontoeröffnung verführt 3 ASIN B01JCPWQ0K
Das Vermächtnis des Unbekannten ISBN 978-3863613884
Der Bosporus-Kurier ISBN 978-3732330836
Der Pakt ISBN 978-3863614676
Injection ISBN 978-3959490337
Love Race ISBN 978-1539633853
LoveWins ASIN B01EQT46ZK
Nashintoba – Wolfsblau ASIN B01BE0TKOG
Zivilschutzhorror ASIN B010GI2FEY
© 2017 Marc Weiherhof
Behind Weiherhof | Parkallee 46 | 8952 Schlieren | SCHWEIZ
Web: http://www.marc-weiherhof.ch
E-Mail: marc@marc-weiherhof.ch
Coverdesign: Marc Weiherhof
Coverfotos: Marc Weiherhof & http://de.123rf.com
Das Werk, einschließlich aller Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und oder des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliches zugänglich machen. Alle Figuren und Ereignisse im Buch sind freie Erfindungen des Autors. Übereinstimmungen mit realen Personen oder Ereignissen wären rein zufällig.
Inhaltsangabe
Was als Schiffsreise durch den sagenumwobenen Orient beginnt, endet in einem romantischen Abenteuer und verändert das Leben von Clemens Wagner nachhaltig. Das Schicksal führt ihn mit dem geheimnisvollen Omani Faris zusammen, dessen Herkunft zur Zerreißprobe für die junge Beziehung wird.
Eine hochemotionale Reise durch das ferne Morgenland, die beweist, dass kulturelle Unterschiede kein Hindernis für die Liebe darstellen.
Danksagung
Schreiben musste ich meinen neuen, schwulen Roman natürlich allein, aber dank der tatkräftigen Unterstützung von vier unheimlich lieben Menschen, ist er zu etwas ganz Besonderem geworden. Ein herzliches Dankeschön an Diana, Doris, Moni und Silvia. Es ist schön zu wissen, dass ich Freundinnen habe, die ihre kostbare Freizeit für mich und meine Bücher opfern. Ihr seid fantastisch. ♥
Bemerkungen
Bürgerinnen und Bürger des Sultanats Oman nennen sich Omanerinnen, beziehungsweise Omaner. Der Einfachheit halber habe ich mich für die Bezeichnung Omani entschieden.
Ich freue mich, dass du dir entweder das E-Book oder Taschenbuch von ‚Damals im Orient’ gekauft hast. Über ein Feedback in Form einer Rezension freue ich mich riesig. Wenn du magst, folge mir auf Facebook oder sonstigen Social-Media-Kanälen wie Twitter oder YouTube.
Die Sonne gleicht einem glühenden Feuerball, während sie über das wolkenlose, stahlblaue Firmament gleitet, um ihre Kraft mit der Welt zu teilen. Ihre wärmenden Strahlen verzaubern ausnahmslos alles, was von ihnen gestreichelt wird. Gefühlt so nah und doch Lichtjahre entfernt, begleitet uns der langsam verglühende Stern an jedem einzelnen Tag unseres Lebens. Dieser strahlend sonnige Tag verleiht dem Ort an den üppig blühenden Ufern des Zürichsees einen außergewöhnlichen Charme. Rapperswil, eine malerische Kleinstadt in der sanft geschwungenen Landschaft, ist in die schönsten Farben getaucht.
Alles blüht.
Die Wiesen stehen in saftigem Grün, die Blätter der Bäume keimen und die Blumen übertreffen sich gegenseitig in Form und Farbe. Libellen gleiten über das sich leicht wellende Wasser des Sees und Bienen schwirren durch die Luft. Emsig sammeln sie köstlichen Nektar und fliegen zwischen den Blütenkelchen hin und her. Ihre Hinterbeine sind mit Pollen bedeckt und schimmern in einem satten Gelb, das mit dem der Sonne konkurriert. Die alten, aber stets gepflegten Raddampfer versuchen verzweifelt die Menschenmassen aufzunehmen, die sich auf den hölzernen Schiffsstegen sammeln und auf den See hinausfahren wollen. Im Wasser vor dem felsgesäumten Ufer ziehen majestätische Schwäne ihre Bahnen. Sie recken ihre langen Hälse gierig in die Höhe, um von den vorbeischlendernden Menschen Brotkrümel zu erhaschen. Schnatternd tauchen sie nach dem Backwerk und kämpfen um das Futter.
Der Winter, die harte Zeit des Hungerns, ist vorbei.
Der erwachende Frühling 2050 hat das Land, die Tiere und die Menschen fest im Griff, weckt ihre Lebensgeister. Die geschmackvoll eingerichteten Außenbereiche der Restaurants und Bars an der Seepromenade verwöhnen ihre Gäste mit Leckereien und erfrischenden Getränken. Eine leichte Brise weht durch die Blätter und lässt sie im Wind rascheln. Schwalben ziehen ihre Kreise über dem mit Jachten und Booten bestückten Hafenbecken. Hoch über den Ziegeldächern der Stadt thront, einem Bollwerk der Gezeiten gleich, die mächtige Burg und erinnert an längst vergangene Tage. Die Rosen in den Burggärten blühen das erste Mal in diesem Jahr und verzaubern die Landschaft mit ihrem betörenden Duft, ihrer lieblichen Note. Zu Hunderten flanieren die Sonnenhungrigen über die Promenade, lassen sich von dem Zauber der Natur verwöhnen und mit neuem Lebensmut erfüllen. In Reih und Glied stehen die geschichtsträchtigen Stadthäuser. Sie beeindrucken mit ihren frisch gestrichenen Fensterläden und den roten Ziegeln. Fröhliches Kinderlachen hallt über die Spazierwege. In den Händen halten sie mit Eiskugeln und bunten Streuseln gefüllte Waffeln. Im ruhigeren Teil der Altstadt unterhalb der Burg stehen Tür an Tür die Riegelbauten, verbunden durch das uralte Gemäuer, das schon so viel gesehen und erlebt hat. Im Garten eines der Mittelhäuser, ein prachtvolles Haus mit weißer Fassade, den unverkennbaren roten Riegeln und bunten Geranienkästen vor den Fenstern, herrscht eine schon lange nicht mehr da gewesene Umtriebigkeit.
Ein Fest.
„Lieber Opa, erzähl mir nochmal die Geschichte, wie du damals Großvater kennengelernt hast. Bitte“, bettelt ein kleiner Junge mit blondem Haarschopf und Sommersprossen. Mit einer flinken Bewegung, die der Junge nicht vorausgeahnt hat, umfasst Clemens Wagner ihn an der Taille und hebt ihn hoch. Quiekend wie ein kleines Schweinchen, zappelt der kleine Mann in Clemens’ Armen.
„Schon wieder? Diese Geschichte hast du doch schon mindestens tausendmal gehört, mein Kleiner“, flüstert Clemens seinem Enkel ins Ohr und küsst ihn zärtlich auf die Wange. Dieser wehrt sich und versucht sich aus der Umarmung zu winden. Langsam setzt sich der Fünfundsechzigjährige auf einen Stuhl und nimmt den Jungen auf den Schoß. Der Kleine lehnt sich an seinen Opa, lässt sich von ihm halten und sich sanft hin und her schaukeln. „Weißt du was? Wir machen einen Deal, du und ich“, beginnt Clemens. Der Fünfjährige nickt eifrig. „Ich erzähle dir die Geschichte, wenn du das nächste Mal bei mir übernachtest. Jetzt gibt’s erst mal Kuchen.“
„Oh, ja. Darauf freue ich mich jetzt schon, Opa.“ Jauchzend springt er auf und rennt eine Runde um den kleinen Gartentisch.
„Na siehst du, mein Kleiner. Wusste ich doch, dass wir eine Lösung finden“, lacht Clemens und überspielt damit, wie es in seinem Innern aussieht. Er ist dankbar, dass er die Erzählung vertagen konnte, denn die Erinnerungen sind noch zu schmerzhaft. Jakob, Clemens’ Ehemann, ist vor zwei Jahren einem schnell voranschreitenden Krebsleiden erlegen. Sein Tod hat eine große, schmerzhafte Lücke in die Familie gerissen. Als Clemens den Blick liebevoll über die anwesende Gesellschaft schweifen lässt, wird ihm klar, wie viel Glück er dennoch in seinem Leben hatte. Ein wundervoller Ehemann, eine perfekte, gesunde Tochter und jetzt zwei bildhübsche Enkelkinder.
Und alle sind heute hier.
Clemens’ Tochter Daniela mit Ehemann Fabian und die bezaubernden Enkelkinder Nils und Emily. Selbst Danielas Mutter Marisa, deren Gesundheit sie in letzter Zeit immer häufiger im Stich lässt, ist angereist. Gefeiert werden Clemens’ Pensionierung und sein fünfundsechzigster Geburtstag. Die sechsköpfige Familie sitzt hinter dem Haus in dem ausladenden Garten, der von einem weiß getünchten Lattenzaun umgeben ist. Zwei mächtige, alte Apfelbäume spenden Schatten. Das prächtige Wetter lädt zu einem Fest im Freien ein. Clemens’ Enkelin Emily spielt unter der mit Efeu bewachsenen Laube, während der Rest der Familie neben dem Haus an einem Tisch sitzt und es sich gut gehen lässt. Die Stimmung ist ausgelassen – passend zu dem wundervollen Tag, der mit Clemens um die Wette strahlt. Der unverbaubare Ausblick auf das türkisfarbene Wasser des Sees und das beeindruckende Schloss sind einmalig.
„Lass bitte deinen Opa in Ruhe, Nils“, fordert Daniela ihren Sprössling mit einem Augenzwinkern auf. Eigentlich sieht sie ihrem Vater gern dabei zu, wie innig er mit seinem Enkel umgeht und wie sehr er dessen Anwesenheit genießt. Arbeit und Verpflichtungen verhindern leider immer öfter diese gemeinsamen Sonntage. Umso mehr genießt Clemens die Zeit mit seinen Liebsten. „Schneidest du nun endlich deine Schwarzwälder an, Papa?“, neckt sie ihn mit einem breiten Lächeln. „Wir haben Hunger.“ Clemens nickt, setzt seinen Enkel Nils ab, erhebt sich und tritt an den Tisch, auf dem die selbst gemachte Torte steht.
„Die sieht ja mal wieder fantastisch aus, Dani“, schwärmt Clemens, bevor er zum Küchenmesser greift. Das Zerteilen der mit viel Sahne und Schokostreuseln verzierten Torte, lässt den kleinen Nils alles andere vergessen. Der Blick des kleinen Mannes haftet förmlich an der gleichmäßigen Bewegung des Messers, während sein Mund offensteht. Clemens lacht herzhaft.
„Nichts da, du kleiner Nimmersatt. Opa hat Geburtstag, also bekommt er das erste Stück“, bestimmt Clemens’ Schwiegersohn Fabian sanft, der den Blick seines Sohnes sofort durchschaut hat.
„Keine Sorge, ich lasse dir den Vortritt, süßer Spatz“, entgegnet Clemens lachend. „Du hast es dir verdient.“ Daniela verdreht die Augen, während ihr Vater dem Jungen den Teller reicht.
„Der kleine Mann hat dich ganz schön um den Finger gewickelt.“ Sie grinst ihn an. Er zuckt nur mit den Schultern und belädt weitere Teller mit Kuchen. Daniela beginnt zu singen. „Zum Geburtstag viel Glück. Zum Geburtstag viel Glück. Zum Geburtstag, lieber Papa, zum Geburtstag viel Glück.“ Alle anderen Gäste stimmen ein. Clemens lacht ein wenig beschämt, während ihm seine Familie ein Ständchen bringt. Er sieht sie nacheinander an, erfreut sich ihrer Anwesenheit und seinem Glück.
„Vielen Dank, euch allen“, bedankt sich Clemens, bevor er eine gut gefüllte Gabel zu seinem Mund führt. „Fantastisch, die ist ja sensationell. Diesmal hast du dich selbst übertroffen. Du bist eine wahre Konditorin, Dani“, schwärmt er und legt Daniela seine Hand auf die Schulter. „Du tust mir leid, Fabian“, spricht er seinen Schwiegersohn an und überrumpelt ihn damit. Ihm ist die Verwirrung förmlich anzusehen. „Hätte ich eine Meisterkonditorin als Partnerin gehabt, wäre ich aufgegangen wie ein Küchlein. Ich hoffe, dass dir dieses Schicksal erspart bleibt.“ Alle lachen und Clemens’ Schwiegersohn atmet erleichtert durch.
„Du übertreibst mal wieder, Papa“, gibt Daniela zurück, obwohl sie das Kompliment sichtlich genießt.
„Deine Sachen sind immer total lecker, Mama“, kommt es von Nils, der sich die halbe Torte um den Mund geschmiert hat. Clemens und Daniela beginnen schallend zu lachen. Kinder! Ein Klingeln an der Tür unterbricht die ausgelassene Stimmung. Mit einem Blick zu Clemens, der die Schultern hochzieht, gehen Daniela und ihr Ehemann durch die Terrassentür ins Haus zurück, um die Tür zu öffnen. Clemens sieht den beiden nach, bevor er sich wieder auf seine Gäste konzentriert. Er beobachtet seine Enkelin dabei, wie sie ihrer Puppe Torte anbietet, und muss schmunzeln.
„Emily, wie heißt denn deine Puppe?“, spricht Clemens seine dreijährige Enkelin an. Die Kleine lässt die Gabel auf den Dessertteller fallen und rennt zu ihrem Opa.
„Schau, Opa, das ist Harmony. Gefällt sie dir?“
„Ja, sie ist sehr schön, meine Kleine. Hast du noch andere Sachen, die du ihr anziehen kannst?“, will ihr Opa wissen.
„Ja klar, was denkst du denn? Oma hat mir sogar ein Kleid selbst genäht. Es ist total schön geworden. Willst du es sehen, Opa?“ Clemens nickt und sieht Marisa herzlich an. Diese Frau hat ihm eine Familie geschenkt und dafür ist er ihr ewig dankbar. Er liebt diese Frau, wenn auch nicht auf eine sexuelle Weise. Sie hat ihm und seinem verstorbenen Ehemann Jakob seine geliebte Tochter Daniela geboren und war stets Teil seiner Regenbogenfamilie. Er nimmt ihre Hand in die seine und küsst sie zärtlich auf die Wange.
Eine Geste purer Dankbarkeit.
Daniela und ihr Ehemann kommen zurück in den Garten. Sie wirken wie ausgewechselt. Ihre Gesichter sind weiß wie Laken und ihre Haltung wirkt angespannt. „Vater, hier sind zwei Herren von der omanischen Botschaft für dich. Sie wollen dir eine Mitteilung ihres Herrschers über…“ Daniela wird unterbrochen, als zwei in traditionelle omanische Gewänder gekleidete Männer den Garten betreten. Sie ziehen sämtliche Blicke auf sich. Auf ihren Köpfen tragen sie den aus Baumwollstoff gefertigten omanischen Hut – ein mit bunten Mustern verzierter Kopfschmuck. Ihre sonnengebräunten Gesichter, die buschigen, schwarzen Augenbrauen und die ebenso dunklen Vollbärte unterstreichen ihre Herkunft in aller Deutlichkeit. „Guten Tag. Bitte entschuldigen Sie unser unangemeldetes Erscheinen. Wir wollten Ihre Familienfeier nicht sprengen“, erklärt der kleinere Mann und lächelt gewinnend. „Clemens Wagner?“, spricht er dann das Geburtstagskind an.
„Ja“, entgegnet dieser mehr als irritiert. In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken.
„Sultan Faris Khalid Bin Maskat übermittelt Ihnen eine Botschaft und bittet Sie, uns zu begleiten.“
„Was denn für eine Botschaft?“, stammelt Clemens, sichtlich um Fassung bemüht. Der Mann räuspert sich.
„Es ist Zeit zurück zu kommen.“ Alle Anwesenden starren Clemens verwirrt und ahnungslos an.
„Das … das kommt sehr über… überraschend. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Faris … nach so vielen Jahren. Ich … das … ich brauche Zeit“, stammelt er, während er überlegt, wie er seiner Familie das Auftauchen der Omani erklären soll. „Ich kann auf keinen Fall sofort mitkommen. Ich brauche noch etwas Zeit, damit ich die Geschichte meinen Lieben erzählen kann. Dann, und erst dann, komme ich vielleicht mit. Da ich annehme, dass ein Privatjet auf mich wartet, kann ich mir sicherlich so viel Zeit nehmen, wie ich brauche?“
„Sie entscheiden, wann die Reise losgeht, Herr Wagner. Wir warten draußen im Wagen“, entgegnet der bullige, breitschultrige Mann, der bislang geschwiegen hat, mit der Andeutung eines Lächelns. Damit drehen sich die unangemeldeten Besucher um und verlassen den Garten durch das Haus. Clemens setzt sich, atmet tief durch und sieht dann in die fragenden Gesichter seiner Familie. Bevor auch nur einer von ihnen etwas sagen kann, erhebt sich Clemens wieder, stellt sich unter den Apfelbaum und blickt auf das Wasser des Zürichsees, das im Sonnenlicht glitzert. Er atmet tief durch, fährt sich durch das weiß gewordene Haar und seufzt. Bei der Erinnerung an Faris zischen Gedanken wie Blitze durch seinen Kopf. Hätte ich sie schon früher einweihen sollen? Nein, ich wusste ja nicht, ob er sich je wieder meldet. Er dreht sich zu seiner Familie, bereit ihre Fragen zu beantworten.
„Ihr wundert euch sicher. Deswegen möchte ich euch eine Geschichte erzählen, die schon sehr lange zurückliegt und mich dennoch jeden einzelnen Tag meines Lebens begleitet. Es ist jetzt genau vierzig Jahre her. Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt und freute mich auf das größte Abenteuer meines bisherigen Lebens.“ Mit diesen Worten beginnt er seine Erzählung.
~
Die Landeklappen an den Tragflächen des A380, das im Jahr 2010 größte Passagierflugzeug der Welt, erreichten geräuschvoll die gewünschte Position. Die tonnenschwere Maschine verlor fast augenblicklich an Höhe. Starker Wind peitschte über die Röhrenkonstruktion und schüttelte die Passagiere trotz der Größe des Flugzeuges kräftig durch.
Mir war speiübel.
Seit mehreren Minuten atmete ich hektisch in die flüssigkeitsfeste Tüte und versuchte meine Übelkeit zu kontrollieren, mich mental zu beruhigen. Aber irgendwie funktionierte das nicht. In diesen kitschigen Hollywoodfilmen klappt das doch auch immer. Warum also bei mir nicht? Um mich abzulenken, starrte ich aus dem kleinen Fenster in die unendlichen Weiten des stahlblauen Himmels – ein atemberaubender Anblick. Unter uns erstreckte sich ein grenzenloses Meer aus Sandkörnern, eine von der Sonne verbrannte, karge Landschaft. In der Ferne ragten die Spitzen der eindrücklichen Hochhäuser aus dem dichten Smog der weltbekannten Wüstenstadt Dubai und wirkten aus dieser Höhe so winzig wie Zahnstocher.
Der Flieger drehte ab.
Der Horizont begann sich vor meinen Augen zu drehen, also starrte ich wieder auf meinen Klapptisch und las zum wiederholten Mal die Beschriftung. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass wir in einer engen Metallröhre saßen und die Erde kilometerweit entfernt war. „Geht es dir noch immer nicht besser?“, drang Brankos tiefe Stimme durch den zähen Nebel in meinem Kopf in mein Bewusstsein. Ich sah in seine braunen Augen, atmete noch geräuschvoller und starrte ihn mit meinem Blick nieder. Was für eine beschissen dämliche Frage.
„Sehe ich so aus, als ob es mir bessergeht?“, fauchte ich verzweifelt zwischen meinen aufeinandergepressten Zähnen hervor. Auf meiner kalten Stirn glitzerten Schweißperlen.
„Ruhig, Clemens. Du bist ein Sensibelchen, das ist alles. Es ist ein äußerst ruhiger und angenehmer Flug“, meinte er grinsend, während er mir mit seinen Fingern beruhigende Kreise auf den Rücken zeichnete. Manchmal könnte ich ihn erdrosseln. Seine Berührungen riefen in mir eine krasse Abwehrreaktion hervor. Unsanft stieß ich ihn von mir. Ich wollte einfach nur atmen und hoffte inständig, dass ich diesen Höllenflug überlebte.
„Lass mich einfach in Ruhe“, zischte ich. Bald ist es geschafft, nur noch ein paar Minuten. Du schaffst das, halte durch. Ruhig atmen. Ruhig und tief. Mein Mantra schien zu wirken. Nach ein paar Minuten stetigen Atmens, fühlte ich mich stabiler. Erleichtert wischte ich mir Schweißperlen von der Stirn.
Ich hatte es geschafft!
Bevor ein Luftloch die Maschine unvermittelt absacken ließ, hatte ich doch tatsächlich so etwas wie Hoffnung. Doch nun war alles verloren. Mein Magen wurde in diesen verhassten schwerelosen Zustand katapultiert, der unweigerlich mit dem Schlimmsten endete. Ich krallte mich in die Armlehnen und unterdrückte einen spitzen Schrei. Die Übelkeit brach wie ein Vulkan aus mir heraus. Brodelnd schoss das Gemisch aus bitterer Galle, trüber Flüssigkeit und halb verdauten Lebensmitteln aus mir heraus. Ich schämte mich, als ich mich in die Tüte übergab, wobei der bittere Geschmack das weitaus Schlimmste war. Nach ein paar Sekunden, die mir wie Stunden vorkamen, war es vorbei. Ich richtete mich auf und ließ meinen Blick zaghaft über die anderen Passagiere gleiten. Zu meiner Überraschung interessierte es niemanden. Sie fieberten der Landung entgegen und freuten sich auf ihren Urlaub.
Ich dagegen, war ein Wrack.
„Hier“, meinte Branko und reichte mir ein Taschentuch. Ich wischte mir fahrig über den Mund und ließ das Papiertuch im Anschluss in die benutzte Tüte fallen.
„Danke“, murmelte ich, als die Maschine noch schneller sank. Ich klammerte mich verzweifelt in die Polsterung des Sitzes und an den Arm meines Freundes, während ich mit der anderen Hand die Tüte balancierte. Mein Puls schoss in die Höhe. Grundsätzlich hatte ich Panik vor jeder Landung. Ich meine, hallo, wenn die tonnenschwere Maschine auf der Landebahn aufsetzt, lastet das gesamte Gewicht des Flugzeuges, der Passagiere und des Gepäcks auf Rädern, die nicht größer als Fußbälle wirkten. Da muss es einem ja übel werden, oder nicht? Das Flugzeug schwankte im Wind. Ich schickte verzweifelte Stoßgebete in den Himmel. Ich werde sterben. In einem schrecklichen Feuerball verglühen. Ich werde nie wieder fliegen. Niemals mehr! Der Pilot drosselte die Geschwindigkeit.
Die Triebwerke befanden sich nun im Leerlauf.
Jetzt kam der schlimmste Teil des gesamten Fluges. Der kurze Moment zwischen Fliegen und Aufsetzen. Dieses Gefühl der vollkommenden Schwerelosigkeit. Als die Maschine dann endlich aufsetzte und der Pilot Schubumkehr einleitete, hob es mich beinahe aus dem Sitz. Nur der Sicherheitsgurt hielt mich an Ort und Stelle. Ich spürte, wie die Kräfte wirkten. Doch dann überwanden wir diesen flüchtigen Zustand. Fester Boden und ich lebe noch. Einfach herrlich, vielleicht werde ich doch noch einmal fliegen. Der Knoten in meinem Magen begann sich zu lösen und die Angst fiel von mir ab. Das Flugzeug fuhr über die Landebahn in Richtung Terminal. Ich lockerte den Griff am Arm meines Freundes und atmete erleichtert durch. „Willkommen in Dubai. Die Temperatur beträgt achtundzwanzig Grad Celsius bei einer durchschnittlichen Luftfeuchtigkeit von fünfzig Prozent. Wir danken Ihnen, dass Sie mit Emirates geflogen sind und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in den Vereinigten Arabischen Emiraten“, brabbelte die Stewardess in vier Sprachen – eine unverständlicher als die andere. „Emirates ist stolzer Partner von Europcar. Beim Vorweisen Ihres Flugtickets erhalten Sie auf Ihre Mietwagenreservierung einen Preisnachlass. Wir hoffen, dass wir Sie bald wieder an Bord begrüßen dürfen, und wünschen Ihnen einen angenehmen Tag.“
„Wir haben es geschafft. Wir sind da“, flüsterte Branko neben mir, streichelte meinen Arm und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Ich sah ihm tief in seine braunen Augen und lächelte sanft.
Ein geräuschvolles Gähnen unterbrach die Stille.
Neben uns wachte nun auch Brankos bester Freund Sven auf, gähnte lautstark und riss den Mund so weit auf, dass seine Kiefer knackten. Er hatte den gesamten Nachtflug, vom Start in Zürich bis zur Landung in Dubai verschlafen.
Was für ein Faulpelz. Was für ein Glückspilz.
Er rieb sich über die müden Augen und blinzelte aus seinem Fenster. „Sind wir schon da?“ Während er sich streckte, gähnte er und musterte uns. „Ist was?“
„Nein, nichts“, spuckte ich sauer. Branko begann herzhaft zu lachen.
„Clemens hier hat das ganze Flugzeug vollgekotzt, aber sonst geht es uns gut.“ Als ob du eine Ahnung hast, wie ich mich fühle!
„Oh nein, du Armer. Aber jetzt ist alles wieder okay?“
„Frag mich das in einer Stunde nochmal“, gab ich unwirsch zurück, hielt mir den noch immer unruhigen Bauch und verzog meinen Mund. Beide Männer lachten.
„Bitte bleiben Sie sitzen, bis das Flugzeug die endgültige Parkposition erreicht hat und die entsprechenden Zeichen erloschen sind.“ Schallte es über die Lautsprecher, als sich die ersten Passagiere von ihrem Sicherheitsgurt befreiten, aufstanden und in der Gepäckablage zu wühlen begannen. Ich verdrehte die Augen und sammelte meine, während der Nacht wild verstreuten Habseligkeiten unter dem Vordersitz zusammen. Wieder war ich erstaunt darüber, dass ich für viel Geld so wenig Platz bekam.
Beine ausstrecken? Fehlanzeige.
„Was mache ich damit?“, wollte ich von meinen Mitreisenden wissen, als ich ihnen meine gebrauchte Abfalltüte zeigte. Ihre ratslosen Gesichter halfen wenig. „Hallo, entschuldigen Sie bitte“, sprach ich eine vorbeieilende Stewardess an, die die Passagiere zum Sitzenbleiben anhalten wollte. „Darf ich Ihnen das geben?“, fragte ich die Frau mit der schicken Uniform auf Englisch. Sie rümpfte kurz und beinahe unmerklich die Nase, nickte dann aber und streckte die Hand nach der Tüte aus. Ich reichte sie ihr über die Sitze hinweg und war froh, sie los zu sein.
Mit festem Boden unter den Füßen, stellte sich nun auch bei mir langsam Urlaubsstimmung ein. Wir standen am Anfang unserer allerersten Kreuzfahrt und ich freute mich riesig. Wir nahmen unsere Taschen und das Handgepäck aus den Fächern und dackelten im Schritttempo hinter den anderen Passagieren zum Ausgang. Nach dem langen Flug fühlte ich mich wie gerädert, denn wirklich schlafen, konnte ich nicht und meine unfreiwillige Magenentleerung hatte mir den Rest gegeben. Ich streckte mich und das Knacken meiner Gelenke hallte durch die Sitzreihen. „Hör bloß auf damit“, entrüstete sich Branko, der dieses Geräusch nicht ausstehen konnte. Ich kicherte und knuffte ihm in seinen wohlgeformten Hintern. Sven, der uns schweigend beobachtete, prustete los.
Schon beim Betreten des Flughafengebäudes des Dubai International wurde klar, dass wir tatsächlich im Land der Superlative gelandet waren. Die Hallen wirkten gigantisch sowohl in Höhe als auch Weite. Der Boden war mit teurem, poliertem Marmor belegt und ein künstlicher, mehrere Stockwerke hoher Wasserfall verbreitete einen feinen Chlorgeruch. Das angenehme Plätschern durchbrach die Hektik und wirkte beruhigend. Branko, Sven und ich wurden von den nachkommenden Passagieren in einen riesigen Aufzug gedrängt. Immer mehr Leute kamen nach. Vollautomatisch schlossen die Glastüren und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
Als Nächstes erwartete uns die Zollkontrolle.
Hier erblickte ich die Araber in ihren weißen Gewändern und den rotweiß karierten Kopftüchern das erste Mal. Im ersten Augenblick war ich irritiert, wahrscheinlich, weil wir Europäer diesen Anblick nicht gewohnt waren. Wir reihten uns in die unendlich scheinende Schlange einreisewilliger Menschen und warteten.
Ich war nervös.
Schließlich war Homosexualität in diesem Land per Gesetz verboten und wurde im schlimmsten Fall mit dem Tod bestraft. Andererseits hatte man uns im Reisebüro versichert, dass wir als Touristen nichts zu befürchten hätten, sofern wir uns an die Gepflogenheiten hielten. Ich würde mich hüten, Händchen haltend mit Branko durch die Straßen Dubais zu spazieren – ganz zu schweigen davon, dass er kein Schmusetiger war. Das Einreiseprozedere gestaltete sich äußerst nervig. Nachdem wir fünfundzwanzig Minuten gewartet hatten, wurde ich an einen Schalter gebeten. Vor mir saß ein schlecht gelaunter Araber und musterte mich kritisch. „Brille ablegen und hier gucken“, wies er mich in gebrochenem Englisch an.
Ein rotes Licht erschien oberhalb der Kamera.
„Bitte in Kamera sehen“, wiederholte er. Ich nickte und spürte, wie Panik in mir hochkroch. Verdammt, verdammt, verdammt. Ich hätte mir doch einen neuen Pass organisieren sollen. Das Foto in meinem Ausweis war schon fünf Jahre alt. In der Zwischenzeit hatte ich mich verändert, war nicht mehr der pickelgesichtige Teenager, hatte eine Brille und auch die Frisur stimmte nicht mehr. Ich schaute intensiver in die Linse, versuchte nicht mehr zu blinzeln.
Erneut erschien das rote Licht.
Schweiß brach mir aus. „Sind Sie in Pass? Sehen anders aus“, stellte der Grenzbeamte fest, als er meinen Ausweis musterte und das Bild mit der Person an seinem Schalter abglich.
„Ja, äh, ich habe jetzt längere Haare und eine Brille“, stammelte ich wie ein Vollidiot und schenkte dem Mann ein unsicheres Lächeln. Seine Miene blieb undurchdringlich.
„Schauen in Kamera, nicht bewegen“, brummte er und deutete auf die Linse. Wenn der mich nicht einreisen lässt, ist unsere ganze Kreuzfahrt im Arsch. Dann muss ich hier am Flughafen hausen und komme womöglich nie wieder nach Hause. Was mach ich dann? Allein am Flughafen. Für immer? Das Blitzen der Kamera riss mich aus meinen sich aufschaukelnden Gedanken. Grün. Der Grenzbeamte musterte mich kritisch, griff nach dem Stempel und donnerte ihn in meinen Pass. Ich schloss dankbar die Augen. „Schönen Tag“, murmelte er und wandte sich dem nächsten Einreisenden zu.
Ein kleiner Freudenschrei entwich mir.
Die Hände der patrouillierenden Sicherheitsbeamten wanderten sofort an ihre im Halfter verstauten Pistolen, was mich verstummen ließ. Ich zog den Kopf ein und wartete in einigem Abstand auf Branko und Sven. Meine Reisebegleiter hatten weitaus weniger Probleme als ich. Somit stand unserem Urlaub nichts mehr im Weg.
Das Terminalgebäude war atemberaubend.
Ausladende Palmen in übergroßen Töpfen vermittelten tropischen Charme. Doch die Strecke durch die Flure schienen unendlich lang. Werbeflächen in arabischen Schriftzeichen, mit englischen Übersetzungen prangten an jeder freien Fläche. Teure Uhren, Luxuskugelschreiber und italienische Sportwagen wurden beworben. Rumpelnd plumpsten die ersten Koffer auf das Gepäckband, als wir endlich davor ankamen. Von unseren Gepäckstücken war noch nichts zu sehen. „Ich freue mich riesig“, sagte ich zu meinen Reisebegleitern. Obwohl ich mich noch mehr freuen würde, wenn Sven nicht dabei wäre. Warum muss er ihn auch mitschleppen?
„Das wird genial“, pflichtete Branko mir bei und Sven nickte aufgeregt. Ich mochte Sven nicht. Wahrscheinlich, weil er viel zu groß, schlank und attraktiv war. Tja, damit musste mein Ego klarkommen. Mich fröstelte. Die übergroßen Klimaanlagen, die aus den Deckenverkleidungen blitzten, bliesen derart kalte Luft in die Halle, dass ich meine Jacke überziehen musste. Endlich tauchten unsere Koffer auf. Wir schnappten sie und machen uns auf den Weg zum Ausgang. Die Empfangshalle war proppenvoll. Auf einem Schild entdeckten wir den Schriftzug von Kionyx Cruises. Wir eilten zu dem gelangweilt wirkenden Mann. „Guten Tag, wir sind …“, begann ich, bevor er mich unwirsch unterbrach.
„Gehen zu meine Kollege, da drüben. Dann immer geradeaus zum Bus“, entgegnete er in schlechtem Deutsch. Wir sahen uns um und entdeckten das nächste Schild von Kionyx. Wir taten, was er sagte, und folgten dem türkisen Schilderwald bis vor das Terminalgebäude. Als die Schiebetüren aufgingen, schlug uns eine regelrechte Wand aus Hitze entgegen. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass es acht Uhr morgens war.
„Boah, diese Hitze“, jammerte Sven und fächerte sich Luft zu.
„Weißt du, wie geil das auf dem Schiff sein wird? Planschen und Sonnenbaden den ganzen Tag? Cocktails, Sport, Entspannung. Darauf freue ich mich jetzt schon riesig“, verkündete Branko freudig. Ich nickte nur und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mich diese Hitze richtiggehend fertigmachte. Mein Flüssigkeitshaushalt schien kopfzustehen, also versuchte ich alles, um nicht zusammenzubrechen.
Ein riesiger Bus wartete auf die Kreuzfahrtgäste.
Wir gaben dem Fahrer das Gepäck sowie den Voucher und stiegen ein. Im Bus war es angenehm kühl. Immer mehr Leute quetschten sich hinein, bis der Busfahrer realisierte, dass der Bus voll war. Es warteten noch gefühlt zehn weitere Busse auf die Urlaubshungrigen, also musste niemand Angst haben, nicht mitgenommen zu werden. Dennoch konnten sich einige nicht beherrschen und beschwerten sich lautstark, als sie wieder aussteigen mussten. Nachdem der Fahrer alle Ungeduldigen losgeworden war, konnten wir endlich losfahren. Ich freute mich riesig auf Dubai und unseren Urlaub. Wie lange habe ich darauf gewartet? Gefühlt eine halbe Ewigkeit.
Aber zuerst hieß es: einchecken und Kabinen beziehen.
Der Bus fädelte in den zähflüssigen Stadtverkehr ein. Luxuskarossen japanischer Hersteller drängten sich dicht an dicht. Von der Stadt bekamen wir nicht viel mit, weil wir durch Tunnel und Unterführungen mit gekachelten Wänden jagten. Die Fahrt dauerte ungefähr dreißig Minuten, bevor der Bus hielt und sich die Türen öffneten. Wir stiegen am Maritime Terminal aus und staunten nicht schlecht. In der Ferne ragte der Burj Khalifa – das damals größte Gebäude der Welt – gen Himmel. Ein Mantel aus Smog umrankte seine Spitze. Selbst aus dieser Entfernung strahlte der Wolkenkratzer Macht und Pioniergeist aus. „Guck dir mal dieses Bild an“, sagte ich zu Branko und deutete auf den Turm. Staunend drehten sich alle Touristen danach um. Ein aufgeregtes Schnattern ging los, während alle ihre Fotokameras zückten und Fotos schossen.
Branko tat es ihnen gleich.
„Kommt endlich, wir haben später noch genügend Zeit, das Teil zu fotografieren. Ich will die Kabinen und das Schiff sehen“, drängte Sven und zog uns hastig ins Terminalgebäude.
„Halt, unser Gepäck“, bemerkte ich und wollte zurück.
„Das wird auf die Kabinen gebracht“, entgegnete Sven beschwichtigend und hielt mich am Arm fest. Nimm bloß die Griffel weg.
„Woher willst du das wissen?“
„Na, während ihr den Burj angestarrt habt, habe ich mich halt erkundigt“, feixte er und grinste. Ich verdrehte die Augen und fühlte mich in meinem Gefühl bestätigt: Ich konnte ihn nicht ausstehen. Wenig später, betraten wir gemeinsam das Hafenterminal. Im Gegensatz zum Flughafengebäude wirkte es einfach und provisorisch. Aber hier würden wir uns ja kaum aufhalten, also war es egal. Im Moment trennte uns nur noch eine weitere Sicherheitskontrolle von den Check-in-Schaltern. Die Angestellten des Hafens nahmen es mit der Sicherheit nicht so genau, deshalb mussten wir nicht lange warten.
„Eine kleine Erfrischung für Sie?“, wurden wir freundlich von einem jungen Mann angesprochen. Er trug das türkisfarbene Kionyx-T-Shirt. Ich nahm ihm liebend gern einen Orangensaft ab. Endlich etwas zu trinken.
Was folgte, war ein Schock.
Vor den zwanzig Check-in-Schaltern warteten unzählige Passagiere darauf, endlich einchecken zu können. Die tobende Touristenmasse wurde mit türkisfarbenen Absperrbändern kanalisiert und mehr oder weniger kontrolliert an die Schalter geführt. „Oh nein“, stöhnte ich genervt und deutete mit meinem Finger auf die wartende Menschenmasse.
„Wir haben doch Zeit“, flüsterte Branko in mein Ohr und küsste mich auf den Mund. Ich zuckte zurück und sah mich panisch um. Ich erwartete einen wütend fluchenden Araber zu sehen, der aus einem geöffneten Koran zitierend und flankiert von einem aufgebrachten Mob auf uns zustürmte, um uns zu steinigen.
Natürlich geschah nichts dergleichen.
Stattdessen reihten wir uns ein. Meine Laune sank pro Minute, die wir warteten, weiter ins Bodenlose. Die rüstige Rentnerin vor uns war fuchsteufelswild. „Uns nach dieser stundenlangen Anreise so lange warten zu lassen, ist eine riesen Frechheit. In meinem Alter kann ich nicht mehr so lange stehen. Was ist das für ein Service?“, beschwerte sie sich lautstark. Ich kicherte, weil ich wusste, dass wir die gute Dame wahrscheinlich auf jedem Landausflug erneut antreffen würden und sie da überhaupt keine Probleme mit ihrem Alter vorschützen wird. Zäh und langsam ging es Schritt für Schritt näher an die Schalter. Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit an der Reihe waren, jubelte ich innerlich. Das Einchecken ging ruckzuck und schon standen wir da und hielten eine schlichte, – natürlich – türkisfarbene Schlüsselkarte in den Händen. „Kommt, ich will mir das Schiff ansehen“, jauchzte ich.
„Können wir nicht zuerst in die Kabine? Ich muss dringend aufs Klo“, quengelte Sven, der ja bekanntlich den ganzen Flug verschlafen hatte. Ich verdrehte die Augen, nickte dann aber und so verließen wir das Terminal. Draußen stand die Kionyx ONE, ein gigantisches Kreuzfahrtschiff, dessen Bug ein dunkles Blau zierte. Die Stockwerke mit den Kabinen waren dagegen strahlendweiß. Die schiere Größe faszinierte mich. Mit zwölf Stockwerken war das Schiff eine schwimmende Kleinstadt, die auf den Weltmeeren umherschipperte. Wir steuerten auf den Einstieg zu. „Kommt schon, es ist dringend“, flehte Sven und zog uns schneller vorwärts.
Branko und ich lachten.
„Willkommen an Bord der Kionyx ONE“, begrüßte uns ein Besatzungsmitglied mit einem freundlichen Lächeln. „Beim Betreten und Verlassen des Schiffes, bitten wir Sie, sich an diesem Lesegerät aus, beziehungsweise einzustempeln. So wissen wir immer genau, wer sich an Deck befindet“, erklärte er uns und demonstrierte es sogleich mit meiner Magnetkarte. „Sie dürfen nun reingehen“, entgegnete der Stuart. Ich lächelte ihn an und schritt über die Gangway in den Bauch des Schiffes.
Es war fantastisch.
Ich fühlte mich wie Rose aus dem Film Titanic, als ich über den Steg stolzierte. Ein so großes Schiff zu betreten, war einmalig und verlieh mir das Gefühl von Erhabenheit. Natürlich hoffte ich, dass uns nicht das gleiche Schicksal wie die RMS Titanic ereilen würde, aber mal ehrlich: Es gibt keine Eisberge im Persischen Golf.
Das Abenteuer konnte beginnen.
Im Innern des Luxusliners erwartete uns eine dreistöckige Lobby. In der Mitte des Atriums stand ein prachtvoller weißer Flügel. Gepolsterte Sitzgelegenheiten luden zum Verweilen und Genießen ein. An einer Rezeption warteten Stewards darauf, Fragen der Kreuzfahrtgäste zu beantworten und den Passagieren den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Nachdem wir uns auf einem Plan einen kurzen Überblick verschafft hatten, spazierten wir über die mit Teppich ausgelegten Böden Richtung Haupttreppenhaus. „Das ist ja wie in einer richtigen Stadt hier“, schwärmte Branko.
„Guck dir die vielen Aufzüge an und das auf einem Schiff. Schon Wahnsinn“, kommentierte Sven und ich stimmte beiden zu, weil ich zu überwältigt war, um etwas zu erwidern. Im Treppenhaus befanden sich auf der einen Seite fünf Aufzüge mit verspiegelten Türen. Gegenüberliegend führten geschwungene Treppen zu den Decks. Von den Fluren gingen Kabinen für ungefähr zweitausend Menschen ab. Dementsprechend unübersichtlich war alles. Etwas verloren durchschritten wir die ziemlich engen Gänge. Orientierung boten nur die sich verändernden Kabinennummern an den Türen. „Verdammt, langsam wird es wirklich dringend“, beklagte sich Sven und presste die Lippen aufeinander.
„Halte durch“, kommentierte Branko und strich Sven über den Rücken. Ich verzog kurz den Mund, entschloss mich dann aber, es zu ignorieren. Ungefähr fünfzig Zimmer später fanden wir Svens Domizil, eine Außenkabine ohne Balkon. Wir ließen Sven zurück, damit er sich erleichtern konnte, und machten uns auf die Suche nach unserer eigenen Kabine. Wir fanden sie drei Stockwerke weiter oben und beinahe am Heck des Schiffes.
Eine Balkonkabine.
„Willkommen in unserem Traum“, flüsterte mir Branko ins Ohr, während er mir zärtlich den Hals streichelte. Dann drängte er mich ins Zimmer und schloss die Tür hinter uns. Ich war überwältigt. Das Zimmer wirkte modern und komfortabel. Ein Schreibtisch, ein Flachbildfernseher und ein geräumiger Schrank komplettierten das Angebot. Die türkisfarbenen Vorhänge vor der Schiebetür waren geöffnet. Vor unseren Augen breitete sich das atemberaubende dubaier Panorama aus. Ich drehte mich zu Branko, zog ihn an mich und küsste ihn. Als Nächstes wollte ich unbedingt den Balkon sehen, also löste ich mich von ihm, eilte durch den Raum und öffnete die Tür. Die heiße, trockene Luft drang in das Innere der angenehm klimatisierten Kabine, also schlossen wir sie sofort wieder und lehnten uns auf die Brüstung. Unter uns auf dem Pier drängten noch immer unzählige Passagiere in den Bauch des Hochseeriesen. Branko stellte sich hinter mich, umarmte mich und legte sein Kinn auf meine Schulter. Ich liebte es, seine Nähe zu spüren. Zusammen ließen wir unseren Blick über die atemberaubende Kulisse schweifen.
Dubais Altstadt lag auf der linken Seite.
Die kleinen, im arabischen Stil gebauten Häuser, würden wir später am Tag besichtigen. Im neuen Teil der Stadt hingegen gab es bis vor ein paar Jahren nichts außer Sand. Zu unserer Rechten breitete sich der Jumeirah Strand aus. Dahinter ragten die Hochhäuser in den Himmel. „Es ist wunderschön“, murmelte ich ergriffen. Branko nickte und zog mich näher.
„Genauso wie du“, hauchte er in mein Haar. Er küsste meinen Nacken und knabberte an meinem Ohrläppchen. Ich spürte, wie mein Körper auf seine Nähe reagierte. Eng umschlungen stolperten wir in die Kühle der Kabine zurück und fielen aufs Bett. Branko berührte mich überall und ich …
~
„Äh, Papa, ich glaube, es wäre besser, wenn du an dieser Stelle nicht allzu viele Einzelheiten erzählen würdest. Die Kleinen hören dir nämlich sehr interessiert zu“, reißt Daniela ihren Vater aus seinem Redefluss und deutet auf Nils und Emily, die gespannt und mit weit aufgerissenen Augen zuhören. Clemens schüttelt den Kopf und schmunzelt seine Tochter an.
„Ach, Daniela, ich denke, dass die Kleinen ruhig hören können, dass ihr Großvater auch mal jung war, außerdem würde ich euch nie alle Details anvertrauen“, spöttelt Clemens mit einem Zwinkern. „Es gibt Dinge, die auch eine erwachsene Tochter von ihrem Vater nicht zu wissen braucht.“
„Ja, Gott sei Dank“, schmunzelt Daniela und verzieht gespielt angeekelt den Mund. Marisa und ihr Ehemann Fabian beginnen herzhaft zu lachen.
„Warum lacht ihr alle?“, will die kleine Emily wissen, was den Pegel des Gelächters noch steigert.
„Nichts, meine Kleine, nichts. Darf ich jetzt weitererzählen?“, fragt Clemens mit einem Zwinkern in die Runde. Die Anwesenden nicken aufgeregt.
~
Also, wo war ich? Ach ja: Ein Pochen an der Tür durchbrach unser fiebriges Verlangen. Genervt standen wir auf. Ich richtete kurz meine zerzauste Frisur, während Branko die Tür schwungvoll aufzog. Sven stand draußen und grinste uns an. Natürlich. Dieser Kerl wittert unsere Versuche uns nahe zu sein, wie ein verdammter Spürhund.
„Habe ich euch bei was gestört?“, wollte er wissen. Wir verdrehten die Augen und verneinten, was er uns natürlich nicht abnahm. „Hey, wow, ihr habt ja einen Balkon. Darf ich mal sehen?“, schwärmte er, bevor er in unsere Kabine drängte und sich die Aussicht von unserem Balkon zu Gemüte führte. Nach ein paar Minuten verließen wir das Zimmer Richtung Außendeck. Auf unserem Weg kamen wir an diversen Restaurants und Bars vorbei. Die Speisekarten machten uns den Mund wässrig. Als wir durch eine Schwingtür das Außendeck betraten, verschlug es uns die Sprache. Eine weitläufige Poollandschaft wartete darauf, entdeckt zu werden. Zwei großzügige Pools mit Sprungbrettern empfingen badelustige Gäste. Auf einer Erhöhung in der Mitte der Badelandschaft thronten vier Whirlpools, die über Treppen zu erreichen waren. „Sieh dir das an“, forderte uns Sven auf. Wir folgten seinem Finger und entdeckten zwei ausladende Poolbars, einen großzügigen Grill und einen kleinen, italienischen Eisstand.
Diesem Anblick konnte ich nicht widerstehen.
Obwohl es erst zehn Uhr war, stürmte ich den Eisstand. Unzählige Sorten lachten mich an und machten es mir beinahe unmöglich, mich zu entscheiden. Himbeere, Tiramisu, Schokolade, Banane, Erdbeere, Mokka, Aprikose oder Zitronensorbet – kein Wunsch blieb offen.
„Eine Kugel Schokolade, bitte“, sagte ich schließlich zum Eismann. Er drehte mir eine großzügige Kugel aus dem Behälter und ließ sie in die Waffel fallen. Als ich sie ergriff, deutete er auf den angrenzenden Tisch.
„Sie können sich Ihr Eis je nach Wunsch verzieren.“ Meine Augen weiteten sich vor Freude, als ich die Schüsseln mit Schokostreuseln, bunten Zuckerkügelchen, -perlen, -konfetti, Mandelscheiben, Waffelröllchen und Haselnusskrokant entdeckte.
Das Kind in mir jubelte.
Ich fühlte mich wie im Himmel, als ich das Eis mit allerhand Zuckrigem überhäufte und das Ganze genüsslich zu löffeln begann. „Du bist ein kleines Schleckmäulchen“, lachte Branko und kitzelte mich an den Rippen. Ich quiekte und versuchte mich aus seiner Berührung zu winden. Als er von mir abließ, streckte ich ihm die Zunge raus, um mir gleich darauf einen weiteren Löffel mit zartschmelzendem Eis in den Mund zu schieben. Wir schlenderten gemeinsam über das Deck und sahen uns das Angebot genau an. Mir entging dabei nicht, wie Sven um Branko herumtänzelte, ihm immer mal wieder für meinen Geschmack viel zu nah kam und wie sie einander angrinsten. Bevor ich von Eifersuchtsgefühlen zerfressen wurde, tat ich ihr Benehmen als Geplänkel zwischen Freunden ab. Ich wollte mir diesen Urlaub ganz sicher nicht verderben lassen. Als wir ganz vorn auf dem obersten Deck ankamen, war es Mittag. Wir setzten wir uns auf die Liegestühle und bestellen Getränke. Die Jungs wählten hochprozentige Cocktails, während ich mir einen alkoholfreien Drink gönnte. „Genial, dass alles im Preis inbegriffen ist“, frohlockte Branko. Ich verdrehte innerlich die Augen. Hoffentlich lassen sich die zwei nicht gehen. Ich habe nämlich überhaupt keine Lust auf betrunkene Idioten. Gut, Branko hat sich normalerweise ganz gut im Griff, wusste, wann er aufhören muss. Zusammen genossen wir das sommerliche Wetter, schlürften unsere Drinks und fieberten dem Auslaufen des Schiffes entgegen.
Doch vorher erwartete uns ein Ausflug durch Dubai.
Ende der Leseprobe.
Du findest ‚Damals im Orient‘ bei Amazon oder auf meinem Blog.
Inhaltsangabe
Eine homoerotische Geschichte über die Liebe, das Schicksal und intensive Gefühle.
Was ein kurzer Moment der Unachtsamkeit für Folgen haben kann, muss Nils am eigenen Leib erfahren. Ein harmloser Freizeitausflug mit Freunden zur Gokartbahn wird für ihn und seinen Mitbewohner Joshua zur Zerreißprobe. Ein folgenschwerer Unfall stellt ihre langjährige Freundschaft auf eine harte Probe. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Gefühle der jungen Männer verändern. Nils ist für Joshua nicht mehr nur ein Mitbewohner, sondern so viel mehr.
Kann sich Nils ins normale Leben zurückkämpfen? Erkennt er rechtzeitig, für wen sein Herz schlägt?
Kapitel eins
Der Spätsommer präsentierte sich an diesem Samstag von seiner prachtvollsten Seite: blauer, wolkenloser Himmel, strahlender Sonnenschein, zwitschernde Vöglein und fröhliche Menschen wohin das Auge reichte. Nachdem die Daheimgebliebenen drei Wochen mit schlechtem, herbstlichem Wetter abgestraft wurden, drängte nun jeder, der es irgendwie einrichten konnte, an die frische Luft. Scharen von Sonnenanbetern pilgerten in die Natur, hin zu den lauschigen Plätzen an idyllischen Seen und Flüssen. Die zahlreichen Freizeiteinrichtungen im Freien wurden richtiggehend überrannt. Ihre Angestellten ächzten und stöhnten unter dem Andrang, dabei freuten sie sich insgeheim über den Besucheransturm, der die Kassen klingeln ließ. Mich hielt heute ebenfalls nichts in der Wohnung. Joshua – mein Mitbewohner und bester Freund – hatte mich in einer schwachen Minute dazu überredet, mit ihm Gokart fahren zu gehen.
Eigentlich eine tolle Idee.
Wenn ich mich dafür begeistern könnte. Ich weiß nicht warum, aber ich verabscheue alles, was mit schnellen Autos, Gefahr und ölverschmierten Händen zu tun hat. Diese Dinge liegen mir kein bisschen. Die Vorstellung, in einem kleinen, offenen, ungeschützten Gefährt mit anderen um die Wette zu eifern, schüchtert mich ein. Das ist nicht die Art von Freizeitbeschäftigung, die ich mir für einen derart großartigen Samstag vorgestellt hatte. An Alternativen mangelte es schließlich nicht: gemütlich am See liegen, schwimmen, später in der Sonne trocknen, Musik hören, Karten spielen oder Eis essen.
Aber nein: wir gehen Gokart fahren!
Ich fügte mich meinem Schicksal. Die Hauptsache war, dass ich Zeit mit meinem besten Freund an der frischen Luft verbringen konnte. Leider hatte Joshua eine Freundin mit zu dem Ausflug eingeladen – eine Person, mit der ich einfach nicht warm wurde. Trotz meiner Vorbehalte, freute ich mich ein klitzekleines bisschen auf den bevorstehenden Nachmittag. Veronika war mal wieder spät dran, aber das kannten wir nicht anders von ihr. Als es eine Viertelstunde später an der Wohnungstür klingelte, rannte Joshua wie ein geölter Blitz zur Tür. Seine Schritte polterten über die knarrenden Dielen, was mir ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Dass er sich aufs Kart fahren derart freuen kann? Gedämpft hörte ich beide im Flur miteinander sprechen. Mit einem gespielt mitleidigen Seufzen schwang ich meine langen Beine von der Couch, erhob mich und ging gemächlich zur Tür. „Da ist er ja“, hallte mir Veronikas kratzige Bassstimme entgegen. Nur flüchtig ließ ich meinen Blick über ihre Aufmachung huschen. Sie trug weite, ihrer stämmigen Figur nicht sehr zuträgliche, tarngemusterte Armeehosen und schwarze Kampfstiefel. Ihren üppigen Busen verbarg sie unter einem viel zu engen Top. Über ihrer Schulter baumelte die zur Hose passende Armeejacke. Ihr kurzer Bürstenschnitt und die strenge Miene ließen sie beinahe männlich wirken. Veronika, wie sie leibt und lebt. Sie kam schnurstracks auf mich zu und klopfte mir brutal auf die Schultern. „Hallo Nils, ich bin total heiß auf ein Rennen und werde dich in Grund und Boden fahren“, versicherte sie mir mit einem angsteinflößenden Grinsen. Ich verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Geil oder? Freust du dich?“
„Und wie“, brachte ich hervor.
„Lügner“, mischte sich Joshua ein. Ich stierte ihn mit zusammengekniffenen Augen an und schüttelte unmerklich den Kopf, doch er plauderte munter weiter und ignorierte meine subtilen Hinweise. „Du weißt doch, dass er sich nicht gerne die Hände schmutzig macht. Er meidet Dreck wie der Teufel das Weihwasser.“
„Ja ich weiß“, seufzte sie. „Unser kleines Prinzesschen.“ Ich verdrehte die Augen. „Nur keine dreckigen Hände. Du bist schlimmer als ein Mädchen“, feixte sie weiter. Ich ignorierte ihre Spitzen mittlerweile gekonnt. Schließlich entbehrte es nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet sie so etwas zu mir sagte. Veronika, die männlicher wirkte, als ich es je könnte.
„Wo ist diese Gokartbahn?“, fragte ich, um ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken.
„Zehn Minuten mit dem Auto“, antwortete Joshua mit einem breiten Grinsen. „Ich freue mich riesig. Ich war schon ewig nicht mehr auf einer Rennstrecke.“
„Ich auch nicht“, warf Veronika ein. „Das ist voll geil. Diese Geschwindigkeit, die Verbundenheit mit der Maschine, die Pferdestärken, das Vibrieren, der Wettkampf. Abgefahren.“ Ich rollte innerlich mit den Augen und bemühte mich um ein zustimmendes Nicken. Da kam mir ein beängstigender Gedanke.
„Wir fahren aber nicht mit deinem Wagen, oder Veronika?“, brach es ein wenig zu schrill aus mir heraus. Sie sah mich pikiert an. In ihren Augen las ich bereits überdeutlich die Antwort, dennoch wollte ich versuchen meinem Schicksal zu entkommen.
„Warum sollten wir nicht? Hast du was dagegen?“, blaffte sie schnippisch.
„Na, äh, weißt du, Joshuas Auto ist doch ein wenig größer und bequemer. Findest du nicht auch? Und außerdem hat er eine Klimaanlage“, argumentierte ich wie ein Anwalt vor dem hohen Gericht und spürte, noch während ich sprach, dass ich Veronika wohl nicht würde umstimmen können. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Waren das ihre Kiefer, die ich mahlen hörte?
„Na hör mal. Was hast du gegen mein Auto? Es hat doch eine Klima, wenn man das Fenster herunterkurbelt. Verwöhntes Gör!“ Ich sah verzweifelt zu Joshua, der nicht reagierte. Das macht der doch extra!
„Gut, dann nehmen wir halt deinen Wagen“, gab ich mich geschlagen. Mit dieser Mühle werden wir bestens aufs Gokartfahren eingestimmt! Ein paar Minuten später verließen wir die Wohnung. Als ich den klapprigen, alten Golf sah, dessen roter Lack abblätterte und der mindestens zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte, lief es mir kalt den Rücken runter.
„Ich sitze vorne“, stellte Joshua klar, während er an mir vorbei zur Beifahrertür drängte, um sie zu öffnen. Die Scharniere quietschten. Ich schüttelte nur leicht den Kopf, seufzte und versuchte den Beifahrersitz nach vorne zu wuchten, damit ich einsteigen konnte. An dieser Rostlaube klemmte einfach alles. Verdammte Schrottlaube. „Soll ich dir helfen?“, fragte mich Joshua mit einem sanften Lächeln.
„Nein, danke, das schaff ich schon irgendwie alleine“, murrte ich, als ich wütend am Hebel hantierte und mit der flachen Hand auf die Karosserie eindrosch.
„Lass mich mal“, drang Veronikas tiefe Stimme von hinten an mein Ohr. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. Sie ging alles andere als zimperlich mit dem Wagen um. Nach ein paar Versuchen hatte sie den Sitz nach vorne gelegt. Ich zwängte mich auf den quietschenden, mit dünnem Stoff überzogenen und äußerst unbequemen Rücksitz des Wagens und wusste plötzlich, warum Joshua vorne sitzen wollte. Mein Mitbewohner hat ein paar Pfund zu viel auf den Rippen und hätte wahrscheinlich Schwierigkeiten beim Einsteigen gehabt. Veronika wuchtete den Sitz scheppernd nach hinten und ging um das Fahrzeug zur Fahrerseite.
Mein Schicksal war besiegelt.
Ich war gefangen, konnte mich nicht befreien. Joshua setzte sich auf den Beifahrersitz und blickte lächelnd nach hinten. Der warme Ausdruck auf seinen Zügen berührte etwas in meinem Innern, das ich nicht genau deuten konnte. Er ist mein bester Freund. Mit ihm habe ich viele Höhen und Tiefen erlebt. Das dürfte der Grund für meine Gefühle sein. Als sich die Besitzerin der Schrottkiste hinters Steuer schwang, quietschte die Federung. Lautstark zog Veronika die Nase hoch, presste den Schlüssel ins Zündschloss, startete den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein. Verdammt. Panik wallte in mir hoch. Ich war noch nicht angegurtet. Hastig und verzweifelt suchte ich das Gurtschloss, um den Sicherheitsgurt zu befestigen. Als Veronika abrupt beschleunigte, schleuderte es mich Richtung Kopfstütze des Vordersitzes. Keuchend schütze ich mein Gesicht mit dem Arm. Ich stemmte mich mühsam zurück in den Sitz und startete einen erneuten Versuch.
Gerade rechtzeitig rastete der Sicherheitsgurt ein.
Veronika legte knatternd den ersten Gang ein und drückte derart brüsk aufs Gas, dass es mich in den Sitz presste, als würde ein Überschallflugzeug abheben. Quietschend schoss sie über die asphaltierte Straße. Joshua ließ sich nichts anmerken, anscheinend machte ihm Veronikas halsbrecherischer Fahrstil nichts aus. Ich dagegen wusste, warum ich lieber mit dem Wagen meines Mitbewohners fahren wollte. Joshua ist ein sicherer und gemütlicher Fahrer. Mit einer kurbelnden Bewegung ließ Veronika das Fenster auf ihrer Seite runter. Als mir der erste Schwall schwülwarmer Luft ins Gesicht schwappte, wusste ich, wie es mir später auf der Rennstrecke ergehen würde. Aber ich hatte vor, diesen Tag zu genießen und nicht alles zu vermiesen. Ich wollte zusammen mit Freunden etwas unternehmen. Das war es doch, was Menschen in ihrer Freizeit gerne taten.
„Meine neue Freundin heißt Hanna. Sie ist eine richtige kleine Zuckerschnute, das könnt ihr mir glauben“, begann Veronika ein Gespräch, während sie sich eine Zigarette anzündete und genüsslich daran zog. „Ich liebe sie wie verrückt. Mit ihr will ich alt werden.“ Sie blies den grauen Rauch aus dem Fenster, was diesen jedoch nicht daran hinderte, mit der hineinströmenden Luft zielstrebig in meine Richtung geweht zu werden. Ich musste husten.
„Muss das sein?“, murmelte ich vorwurfsvoll. Veronikas Kopf schnellte in meine Richtung, was mich abrupt verstummen ließ. Ihre aufeinandergepressten Lippen verrieten, dass sie keinen Kommentar duldete. Ich hatte gesunden Respekt vor ihr, wahrscheinlich wegen ihrer rüden Art.
„Hast du was gesagt?“, erkundigte sich Veronika.
„Wie lange seid ihr schon zusammen?“, wollte ich so unverfänglich wie möglich wissen, um nicht auf ihre Frage antworten zu müssen.
„Zwei Wochen“, antwortete Veronika stolz. Ich gluckste leise. „Was ist?“, stieß sie ungehalten aus. Ich schluckte trocken, konnte mich aber nicht zurückhalten. Es musste einfach raus.
„Nach zwei Wochen weißt du schon, dass du dein Leben mit ihr verbringen willst?“, brachte ich mit einer vor Sarkasmus triefenden Stimme hervor. Sie funkelte mich wütend an.
„Lass dich von ihm nicht provozieren“, warf Joshua ein und streichelte Veronikas Arm. „Ich bin davon überzeugt, dass ein einziger intensiver Blick genügt, um zu spüren, dass man sein restliches Leben mit jemandem verbringen will.“
„Wie romantisch“, bemerkte ich ehrlich berührt und ein bisschen verträumt. Joshua, der Romantiker. Süß. Doch Veronika ging nicht darauf ein, sondern polterte drauflos.
„Die Kleine ist eine richtige Granate im Bett, das kann ich euch sagen.“ Nein! Bitte, ich will es nicht wissen! Ich verzog meinen Mund. Im Rückspiegel entdeckte ich ihren durchdringenden Blick. Mist, sie hat mich gesehen. Sofort setzte ich ein gespielt interessiertes Lächeln auf und nickte zustimmend. Ich will mir nicht vorstellen, wie es unter ihren derben Männerklamotten aussieht und was sie mit ihrer Zuckerschnute im Bett treibt. „Die kann lecken, so etwas habe ich noch nie erlebt und ich habe schon einige Mädels flachgelegt. Fünf Minuten Zuwendung ihrer Zunge lassen mich röcheln wie eine trächtige Kuh und feucht werden wie eine Tropfsteinhöhle.“ Dieses Bild brannte sich in diesem Moment in mein Gehirn. Das werde ich bestimmt nie wieder los. Keine Chance. Ich hörte das Geräusch und stellte mir die Höhle vor. Nein, bis hierher und nicht weiter. Joshua war ebenfalls blass um die Nasenspitze geworden, doch er reagierte versierter als ich. Er stellte eine unverfängliche Frage, die sie von ihren Sexgeschichten abbrachte.
„Wie habt ihr euch kennengelernt und warum hast du sie nicht mitgebracht?“
„Sie muss heute arbeiten.“
„An einem Samstag?“, konterte ich zynisch.
„Sie arbeitet als Pflegerin in einem Altenheim. Da gibt es keine Wochenenden oder Feiertage. Die Ärsche der Alten müssen jeden Tag geputzt werden“, antwortete Veronika unverblümt. Ich konnte über ihre Fäkalsprache nur den Kopf schütteln. Ihrem Gesichtsausdruck war aber überdeutlich abzulesen, dass sie Hanna vermisste. Ich lächelte in mich hinein. Wie heißt es so schön: Harte Schale, weicher Kern? „Wir haben uns auf einem Heavy Metal-Konzert kennengelernt.“ Aber natürlich, wie könnte es auch anders sein? „Sie ist eine liebenswerte Frau, der ich alles anvertrauen kann. Und obwohl wir erst zwei Wochen zusammen sind, fühlt es sich so an, als ob wir uns schon ewig kennen würden.“ In diesem Moment traf mich Joshuas Blick im Rückspiegel. Wir sahen uns eine Weile einfach nur an. Ein wundervolles Lächeln erhellte seine Züge. Als Veronika mit dem altersschwachen Golf um die nächste Kurve schoss, schleuderte es mich gegen die spärliche Innenverkleidung des Golfs.
„Aua“, entfuhr es mir, während ich meinen Kopf auf Wunden untersuchte.
„Halt dich besser fest, du weißt wie Vera fährt“, warf Joshua ein, der sich verzweifelt an den Haltegriff klammerte. Ja, das weiß ich, darum wollte ich ja auch mit deinem Wagen fahren! Ich lächelte gequält und hielt mich mit aller Kraft am Vordersitz fest. Als Veronika in die Schotterpiste einbog, die zur Gokartbahn führte, fühlte ich, wie Übelkeit in mir hochstieg. Die Schlaglöcher machten es nicht gerade besser. Veronika suchte einen geeigneten Parkplatz, stieg auf die Bremse und so schlitterten wir mit blockierten Rädern über den Kiesplatz. Hinter uns türmte sich eine Staubwolke meterhoch gen Himmel. Erst als ich sicher war, dass wir wirklich standen, ließen meine verkrampften Hände den Vordersitz langsam los. Meine Knöchel traten weiß unter der Haut hervor. „Da sind wir ja auch schon“, frohlockte Joshua, als er ausstieg und den Sitz diesmal mühelos nach vorne klappte. Ich erhob mich langsam, atmete tief durch und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. „Fühlst du dich nicht gut?“, wollte Joshua wissen. Verdammt, der sieht wirklich alles!
„Alles in Ordnung. Ein bisschen frische Luft und ich bin wieder wie neu“, antwortete ich ihm, um ein Lächeln bemüht. Als ich mich endlich aus dem Fahrzeug gehievt hatte, stieg mir ein unangenehmer Geruch in die Nase. Es roch nach Benzin, Abgas und Reifengummi. Auf dem Kiesplatz vor dem kleinen Restaurant standen die Autos der anderen Besucher in der gleißenden Sonne. Diese drückende Hitze, der bestialische Gestank und die leichte Übelkeit wegen Veronikas Fahrstil schaukelten sich gegenseitig hoch.
„Du siehst gar nicht gut aus“, ertönte Joshuas Stimme neben mir. Als mich seine warme Hand an der Stirn berührte, merkte ich, wie kühl ich mich selbst anfühlte. „Du bist ganz kalt, komm, setz dich erst mal hin“, riet er mir, nahm mich an der Hand und führte mich unter eine große Eiche, die Schatten spendend am Rand des Parkplatzes lag. Veronika kam uns hinterher.
„Was hat er denn jetzt schon wieder?“, grummelte sie. Ich ignorierte ihr barsches Gemecker, setzte mich unter den Baum und versuchte ruhig zu atmen. Doch die Übelkeit, der Knoten in meinem Magen, wollte nicht weichen. Als mir Veronika den beißenden Zigarettenrauch ihres frisch angezündeten Glimmstängels in die Nase blies, riss es mich fort. Ich hatte gerade noch genügend Zeit, mich von Joshua wegzudrehen, um mich schwallartig auf den Boden zu übergeben.
„Verschwinde, Vera, du machst es mit dem Rauch nur noch schlimmer“, mahnte er seine Freundin.
„Schon gut.“ Trampelnd stapfte sie mit ihren Kampfstiefeln über den Kies zum Restaurant. Ich spürte Joshuas Berührungen an meinem Rücken. Es tat gut zu wissen, dass jemand da war, der sich um mich kümmerte. Als ich mich langsam zu ihm aufrichtete, reichte er mir ein Taschentuch, womit ich mir fahrig den Mund abwischte. Dieser eklige, säuerliche Geschmack von Erbrochenem war das Schlimmste. Nachdem nun alles aus meinem Magen war, ging es mir langsam besser. Joshua tupfte mir die Stirn mit einem frischen Taschentuch ab und meinte: „Du siehst schon besser aus. Sorry, das nächste Mal nehmen wir wieder meinen Wagen. Ich wusste nicht, dass du so zimperlich bist.“
„Zimperlich? Diese Frau fährt wie ein verrücktgewordener Lastwagenfahrer auf Ecstasy, der von seinen Wahnvorstellungen gelenkt wird. Da wird es jedem übel. Außerdem geht es mir schon wieder besser. Auf zur Gokartbahn.“
„Du willst trotzdem fahren?“
„Natürlich. Was denkst du denn? Aber ich möchte zuerst etwas trinken, um diesen scheußlichen Geschmack loszuwerden.“
„So viel Zeit haben wir noch. Komm, ich helfe dir hoch“, erwiderte Joshua, bevor er mir unter die Arme griff und mich hochstemmte. Wow, ich wusste nicht, dass er derart stark ist. Langsam schritten wir zusammen Richtung Restaurant. Veronika saß draußen an einem Tisch und kippte ein Bierchen. In ihrer Hand qualmte wie gewohnt eine Zigarette. Joshua und ich setzten uns dazu. „Ist hier Selbstbedienung?“, fragte Joshua Veronika.
„Jap. Da vorne an der Bar kriegst du Getränke und Snacks.“ Joshua nickte, stand auf und lief ins Restaurant. Ich lehnte mich im Stuhl nach hinten, atmete befreit durch und fixierte Veronika. „Geht es dir besser, Nils?“ Ich war mehr als überrascht. Nils nannte sie mich nie.
„Jaja, alles klar. Hast du dich schon informiert, wann wir starten können?“
„Der Betreiber meinte, dass wir in einer halben Stunde losdüsen können. Wir müssen aber noch bezahlen.“
„Super. Ich hoffe, dass die solche Haardinger haben, die man sich überstülpen kann, damit man nicht mit diesen verseuchten Helmen in Berührung kommt.“ Veronika schaute mich belustigt an. „Was? Ich finde das eklig.“
„Och nichts, Prinzesschen“, feixte sie. Da war es wieder, das Gefühl nicht ernst genommen zu werden. „Diese Dinger bekommst du bei der Anmeldung, kosten zwei Euro.“
„Zum Glück.“ Gerade als sich einvernehmliches Schweigen zwischen uns ausbreitete, kam Joshua mit zwei Wasserflaschen zurück an den Tisch.
„Hier, für dich“, bedeutete er mir. Ich nickte dankbar, schraubte den Deckel von der Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Ich spülte mir den Mund und spuckte aus. Das Wasser spritzte in einiger Entfernung auf den Boden.
„Igitt, das ist ja widerlich“, bemerkte Veronika und verzog dabei ihr Gesicht zu einer hässlichen Maske.
„Das ist nur Wasser“, gab ich zurück. Endlich, der säuerliche Geschmack wich aus meinem Mund. Die nächsten Schlucke trank ich gierig und fühlte mich gleich besser.
Auf in das Abenteuer Gokart fahren.
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ISBN: 978-1539633853
Texte: Marc Weiherhof
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2017
Alle Rechte vorbehalten