Marc Weiherhofs bisherige Veröffentlichungen:
Injection (2015)
Der Bosporus-Kurier: Gay Romance (2015)
Der Pakt: Ein Thriller (2015)
Das Vermächtnis des Unbekannten (2014)
© 2016 Marc Weiherhof – Autor schwuler Literatur
Behind Weiherhof, Parkallee 46, 8952 Schlieren, SCHWEIZ
Web: http://www.marc-weiherhof.ch
E-Mail: marc@marc-weiherhof.ch
Coverdesign: Marc Weiherhof
Coverbilder: http://de.123rf.com/
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Alle Figuren und Ereignisse im Buch sind freie Erfindungen des Autors. Übereinstimmungen mit realen Personen oder Ereignissen wären rein zufällig.
Inhalt
Ein Skiausflug mit seinen Freunden in die verschneiten Berge wird für Finnley Remsey zu einem Wendepunkt in seinem noch jungen Leben. Er lernt den geheimnisvollen Nashintoba kennen, der ihn von der ersten Sekunde an fasziniert und in seinen Bann zieht. Die außergewöhnlich blauen Augen des Fremden bergen ein Geheimnis, das Finnley entdeckt und das ihn beinahe das Leben kostet.
Erlebt eine homoerotische Fantasy-Liebesgeschichte mit ungefähr 16.300 Worten, 62 A5-Seiten.
Safer Sex, Leute!
Schütz dich vor sexuell übertragbaren Krankheiten!
Danksagung
Ohne ganz besondere Menschen hätte ich es nie geschafft, diese Kurzgeschichte zu veröffentlichen. Danke für euren unerschöpflichen Support, eure Inputs und Geduld. Danke an: Silvia, Diana und Bernd.
Schlepplift 5
Nebel 11
Freiheit 17
Verfolgung 20
Blut 25
Hüttenzauber 27
Hingabe 32
Offenbarung 37
Schneespaß 43
Vertrauen 50
Streit 52
Kraft 56
Leblos 59
Epilog 65
Ein prachtvoller Tag, an dem kein einziges Wölkchen den stahlblauen Himmel entstellt, bricht an. Das Panorama ähnelt einem Hochglanzprospekt und präsentiert unverfälscht Gefühle alpinen Freizeitvergnügens. Mächtige Tannen, deren Äste vom Gewicht der Schneemassen bedenklich nach unten gedrückt werden, gruppieren sich zu Waldschneisen und flankieren die Pistenlandschaft. Die kantigen Bergspitzen sehen aus, als hätte man sie mit Zuckerguss verziert. Die typischen, regionalen Holzhäuser mit den rauchenden Schornsteinen, die strahlende Sonne und meterweise Pulverschnee akzentuieren diesen Traum in den Bergen und vermitteln grenzenlosen Schneespaß.
“Komm endlich, Finn. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!”, brüllt Ted aus der Ferne. Finns bester Kumpel hatte keine Probleme mit dem Schlepplift und grinst wie das sprichwörtliche Honigkuchenpferd. Grund dürfte der attraktive, junge Kerl sein, der neben Ted den Berg hochgezogen wird. Finn, also eigentlich Finnley Remsey, steht heute das zweite Mal auf Ski und wirkt ein bisschen unbeholfen – also gut, das ist eine Untertreibung. Er sieht so verzweifelt und gnadenlos überfordert aus, dass man ihn am liebsten von der Skipiste zerren und in Sicherheit bringen möchte.
„Jahaaa!“, schreit Finn genervt zurück und rollt mit den Augen. Der erste Versuch ging gehörig nach hinten los, aber er gibt nicht auf. Hinter ihm hat sich eine beachtliche Kolonne wartender Wintersportler gebildet, die mit den Skistöcken den sulzigen Schnee durchbohren, grummeln und ihrer steigenden Ungeduld mit Grimassen Ausdruck verleihen.
„Willst du es nochmal versuchen?“, fragt der Skiliftwart zögerlich und mit einem unterschwelligen Ton, der schreit: Lass es bleiben, Kleiner, du schaffst es nie auf diesen Berg. Finnley ignoriert die entmutigende Attitüde des Mannes und der wartenden Leute, nickt, klemmt sich die Stöcke unter den linken Arm, dreht den Oberkörper zum herannahenden Bügel und streckt die rechte Hand aus. Stürmisch schießt der mit Plastik ummantelte Stahlbügel um die Seilscheibe und rast ungebremst auf Finnley zu. Er schließt die Augen und schickt ein Stoßgebet in den Himmel. Als er die Lider wieder öffnet, fährt er erschrocken zusammen. Der Bügel schlingert. Das klappt nie! Nie! Dieses Teil wird mich aufspießen oder mir den Schädel spalten!, denkt Finn ängstlich. Ich muss es schaffen! Mit zittrigen Fingern krallt er sich das abgewetzte Plastik und wuchtet den schwarzen Bügel unter seinen Hintern. Für eine Nanosekunde hält er inne, wartet, dass er wie beim ersten Anlauf in den Schnee geschleudert wird.
Nichts dergleichen passiert.
Es hat geklappt! Ha! Ich habe es geschafft! Die Halterung des Bügels wird am Trägerseil weitergezogen, während Finnley noch an Ort und Stelle steht. Da staunt ihr, ihr verdammten Idioten!, frohlockt Finn innerlich. Mit einem starken und unverhofften Ruck wird die Gestalt des unerfahrenen Wintersportlers aus dem Stand nach vorne katapultiert. Er wird mitgeschleift und schwankt unbeholfen über den plattgedrückten Schnee, der die Fahrbahn bildet. Ein hochtoniger Schrei entreißt sich seiner Kehle und schallt durch die Berge. Schneebretter drohen als Lawinen ins Tal zu donnern. Ein kleines Mädchen hält sich die Ohren zu.
„Ganz ruhig bleiben. Nach vorne sehen und ruhig bleiben!“, brüllt der Aufseher seine gutgemeinten Anweisungen. Doch Finn scheint ihn nicht mehr wahrzunehmen, befindet sich in seiner eigenen, von Panik erfüllten Welt. Er fuchtelt wild und unkontrolliert mit den Armen, während einer der Skistöcke zur Seite in den Tiefschnee fliegt. Mit dem anderen Stock vollführt er ein Tänzchen, das alles andere als geschmeidig aussieht. Krampfhaft versucht er sich auf dem Bügel zu halten, auch wenn alle Zuschauer wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Plötzlich kippt er – als ob man ihm den Stecker gezogen hat – zur Seite und bleibt mit dem Gesicht voran im Neuschnee liegen. Der verwaiste Bügel schnellt an das Stahlseil zurück und schlingert für ein paar Sekunden. Finn dreht das Gesicht aus dem Schnee, um zu atmen. Der wunderschöne Tag hat sich in einen großen, dampfenden Haufen Kacke verwandelt. Hinter Finnley sind bereits zwei neue Personen auf dem Weg den Berg zu erklimmen. Sie fahren am Verunfallten vorbei und sehen ihn abschätzig an. Die Frau grinst schadenfroh und sieht mit ihrer verspiegelten Sonnenbrille wie eine übergroße Schmalzfliege aus.
Blödes Weib.
Mit dem Stock schiebt der Mann Finns herumliegenden Ski aus der Fahrbahn. Kein aufmunterndes Wort, keine Nachfrage, ob er sich verletzt hat, nichts. Nur unbegründete Verachtung, Spott und Hohn. Nächstenliebe? Fehlanzeige. Finnley steht fluchend auf, schüttelt den Schnee ab und sucht seine Handschuhe, die Ski und Stöcke zusammen. Es ist kalt und ungemütlich. Der Schnee in Finns Kragen verwandelt sich langsam in eisiges Wasser, das seinen Rücken herunterrinnt. Selbst das kleine Mädchen, das sich vorher die Ohren zugehalten hat, kann es besser. Sie fährt mit ihrer Mama an Finnley vorbei und schenkt ihm ein liebenswertes Kichern. Seine Freunde sind alle oben und werden ihn bei der nächsten Fahrt immer noch hier unten vorfinden. Mit Sicherheit. Finnley schleppt sich und seine gefühlt tonnenschwere Ausrüstung zum Hüttenwart und stellt sich an.
„Hey, stell dich gefälligst hinten an! Wir wollen nämlich heute noch zum Fahren kommen, du Pfeife!“, zischt jemand. Andere Leute grummeln ihre Zustimmung. Was für eine Demütigung. Geduckt geht Finnley an den wartenden Sportlern vorbei, ohne sie anzusehen. Was für ein beschissener Tag! Ihr habt recht, ich bin eine Pfeife.
„Hey, Kleiner. Stell dich neben mich“, entgegnet ein Mann mit einer dunklen, erotischen Stimme. Finn sieht auf und blickt in das Gesicht eines attraktiven Mittdreißigers. Er ist kräftig, breitschultrig und trägt einen dunklen, gepflegten Vollbart. Seine Augen funkeln magisch. So etwas hat Finn noch nie gesehen: So hellblau wie ein Gletschersee mit weißen Sprenkeln. Wow. Es fühlt sich so an, als ob der attraktive Fremde mit einem einzigen Blick in Finns Seele eintaucht. In ihm beginnt es zu kribbeln und er fühlt, wie er sich von diesem Mann angezogen fühlt. Er nickt verlegen, stellt sich viel zu dicht daneben und starrt auf seine Skischuhe, bevor er die Bretter auf den Boden legt und sich einklinkt.
„Danke“, gibt er zurück. Ein zustimmendes Grummeln ist alles, was er dafür erntet. „Ich … ich kann das nicht …“, murmelt Finn kaum hörbar. Der Mann dreht sich zu ihm um und sieht ihm tief in die Augen. Da ist es wieder, dieses leuchtende Blau.
Finnley entspannt sich augenblicklich.
Irgendetwas hat dieser Typ an sich. Seine dunklen, wohlgeformten Augenbrauen und sein sinnlicher Mund unterstreichen seine natürliche Attraktivität, die Finns Blut brodeln lässt. „Du stellst dich neben mich. Ich werde dir den Bügel reichen. Dann hältst du dich fest und machst dich auf einen Ruck gefasst. Okay? Es wird alles gut gehen. Locker bleiben und geradeaus schauen. So klappt es. Versprochen.“ Diese Stimme, derart tief und sanft, verwandelt Finnleys Beine in Pudding. Er stützt sich verzweifelt auf seine Skistöcke, bewahrt sich damit vor einem peinlichen Sturz und kann sich dennoch nur knapp aufrechthalten. Die Männer warten ein paar Minuten schweigend nebeneinander, bevor sie durch das Drehkreuz gehen, das die Menschenmenge steuert. Der Hüttenwart lächelt, als er das ungleiche Paar entdeckt. Er grummelt etwas Unverständliches. Finn weiß genau, was er denkt. „Ignorier ihn. Schau geradeaus, konzentrier und entspann dich“, kommen die Anweisungen mit dieser unheimlich betörenden, sanften Männerstimme. Woher weiß er …, denkt Finn, verwirft den Gedanken aber, als der Bügel um die Drehscheibe schießt. Jetzt geht alles sehr schnell. Finn spürt den Bügel an seinem Gesäß, greift ihn und los geht die Fahrt. Der Rückstoß ist bei zwei Personen nicht so heftig, was Finnley zugutekommt. Die ersten Meter sind geschafft und Finnley entspannt sich langsam auf dem Bügel, der ihn auf den Berg befördert. Er sieht den neben ihm sitzenden Mann verstohlen an und lächelt in sich hinein.
„Danke“, flüstert er nach einer Weile träumerisch.
„Kein Ding. Aber bist du sicher, dass du von diesem Berg wieder herunterkommst?“, will der Fremde mit den funkelnden Augen grinsend wissen.
„Ich kann Skifahren!“, gibt Finn gekränkt und trotzig zurück.
„Das hoffe ich für dich, Kleiner. Das hoffe ich!“, entgegnet der Mann mit einer Stimme, die Finn direkt in die Lenden schießt. Was macht dieser Kerl mit mir? „Fährst du das erste Mal Ski?“
„Nein. Ich … vor einem Jahr … ich … schon mal“, stammelt Finn wie ein Vollidiot. Dieser Mann löst irgendetwas in ihm aus, das er weder benennen noch richtig greifen kann. Er sammelt sich kurz und meint ruhiger: „Ich bin erst einmal gefahren, aber in dem anderen Skigebiet gab es viele Sessellifte, weshalb ich die Schlepplifte gemieden habe!“
„Verstehe … Hier wirst du nur zwei Sessellifte finden, Kleiner. Du gewöhnst dich also besser an die Schlepper …“, gibt der Mann mit einem Lächeln im Gesicht zurück. Er wirkt geheimnisvoll. Finn nickt und starrt auf die vorbeiziehende Landschaft. Vereinzelte kälteresistente Vögel sitzen auf den kahlen Ästchen der Bäume und gierige Eichhörnchen flitzen über den Schnee und suchen Nahrung. Die Sonne reflektiert in unzähligen Schneekristallen und lässt die Landschaft wie Diamanten funkeln. Das strahlende Wetter versucht über die klirrende Kälte hinwegzutäuschen. Der geheimnisvolle Mann scheint keinerlei Kälte zu spüren. Er hat keine Handschuhe an – es sieht aber nicht so aus, als ob es für ihn unangenehm kalt wäre. Merkwürdig. Es ist, als ob Finn die Körpertemperatur des Fremden durch die isolierenden Winterklamotten hindurch wahrnehmen und fühlen kann. Der Mann ist wie ein mobiler Elektroofen. Am liebsten würde Finn sich an dessen Schulter lehnen, in die Wärme eintauchen und sich umarmen lassen. Dazu wird es leider nie kommen. „So, Kleiner. Wir sind bald oben. Wenn wir über den höchsten Punkt fahren und du merkst, wie du an Eigentempo gewinnst, schiebst du dich zusätzlich mit den Stöckchen an, entfernst dich vom Bügel und fährst ein paar Meter vom Skilift weg. Okay?“
„Was muss ich? Wohin soll ich? Was passiert, wenn ich nicht rechtzeitig wegkomme?“, will Finn aufgeregt wissen.
„Dann wirst du am Bügel in die Seilscheibe gezogen. Dein kleines Körperchen wird sich in der Konstruktion verheddern und den Skilift zum Stillstand bringen …“, beginnt der Fremde seine Erzählung. Er stoppt, als er Finnleys Gesichtsausdruck sieht.
Panik. Entsetzen. Angst.
Er klopft ihm aufmunternd auf die Schulter und flüstert ihm ins Ohr: „Das war nur ein Scherz, Kleiner. Du schaffst es!“ Angsterfüllt starrt Finn zur Ausstiegsstelle. Sein Herz schlägt so schnell, dass es auszusetzen droht. Die kräftige Hand auf seiner Schulter vermittelt Ruhe und Kraft. Da ist sie wieder, diese unnatürlich intensive Wärme, die ihn sofort beruhigt. Als es so weit ist, stößt sich Finn mit den Stöcken ab und schlittert davon. Er fällt weder auf seinen knackigen Hintern, noch blamiert er sich anderswie. „Einen schönen Tag, Kleiner!“, wünscht ihm der fremde, gutaussehende Mann, als er an ihm vorbeibrettert.
Wie ein Athlet.
Finn sieht ihm verträumt nach und bleibt mit offenem Mund stehen. Er ist so schnell weg gewesen, dass Finn ihm nicht mal danken, geschweige nach seinem Namen oder der Telefonnummer fragen konnte. Finn muss über seine Gedanken lachen. Dieser Kerl war mit hundertprozentiger Sicherheit nicht schwul. Die geilen Typen sind nie schwul und wenn sie es doch sind, haben sie kein Interesse an einem Klappergestell wie mir. Ich werde ihn nie wiedersehen. „Wer war denn das?“, kommt es von seinem besten Freund Ted. „Der sieht heiß aus. Was hast du mit dem zu schaffen?“
„Er hat mir netterweise geholfen auf den Berg zu kommen“, zischt Finn zwischen seinen Zähnen hervor. „Nicht wie du!“, schiebt er vorwurfsvoll hinterher, stemmt die Hände in die Hüften und funkelt Ted an.
„Ja, ich weiß. Ich war schon unterwegs und der Typ nebenan war total schnuckelig. Ich habe seine Nummer. Er wohnt nicht weit …“
„Und was mit mir passiert, ist dir egal? Hauptsache Ted hat einen neuen Betthasen klargemacht, was? Vielen Dank auch, du Pfeife!“, schmollt Finn leicht gekränkt. Die Kumpels lachen und schließen zum Rest der Gruppe auf, die sich auf die erste Abfahrt vorbereiten.
„Hey, da seid ihr ja“, werden sie freudig empfangen.
„Entschuldigt. Dieser Kerl hier“, Finn deutet auf Ted, „hat mich unten stehen lassen und ist mit einem heißen Feger hochgefahren. Darum dauerte es so lange“, verteidigt sich Finn. Der Rest der Truppe lacht. Ted und Finn müssen einige Sticheleien einstecken, bevor es losgeht. Die ersten Pistenmeter gestalten sich schwieriger als erwartet. Mit verkrampften Beinen und einer v-förmigen Skistellung, kämpft sich Finn durch den Schnee.
„Bis später, Jungs!“, meint Nicole, bevor das Trio bestehend aus ihr, Bianca und Gregor auf die rote Piste einschwenkt. Finnley und Ted bleiben auf der einfachen blauen Piste. Nach einer Weile wird der Fahrstil von Finn sicherer und auch Ted fühlt sich wohler. Sie beginnen das Erlebnis zu genießen. Finn schwingt sich elegant über die Piste, wird lockerer und fröhlicher. Diese Abfahrt, das Wetter und die Aussicht entschädigen ihn für die anfänglichen Probleme am Lift. Seine Gedanken kreisen um den fremden Mann, sein Lächeln, seine einzigartigen Augen, seine ungewöhnlich intensive Wärme. Der zweite Versuch am Skilift verläuft ohne nennenswerte Probleme und Finn strahlt vor Selbstbewusstsein und Stolz.
„Finn, Teddy? Wir fahren zum Restaurant“, meint Nicole freudig, als sich die Gruppe zum vereinbarten Zeitpunkt an der Bergstation trifft.
„Schon?“, gibt Finnley zurück.
„Aber hallo? Après-Ski ist der einzige Grund, warum ich mich zu diesem Ausflug habe überreden lassen“, entgegnet sie kichernd.
Die Gruppe lacht.
Nicole ist die älteste der fünf Freunde. Sie ist 25 Jahre alt. Dann folgen im Abstand von zwei Jahren Ted, Gregor und Bianca. Finnley ist mit seinen 22 Jahren das Küken der Truppe. Was ihm die anderen bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben. Er hat sich an ihre Spitzen gewöhnt und gibt gerne zurück. Es ist niemals böse oder verletzend gemeint. Vielleicht ist der geheimnisvolle Mann ebenfalls im Restaurant, denkt Finn aufgeregt. Mister Gletschersee, wie er ihn mangels eines Namens, getauft hat. Verzweifelt hat er während der Abfahrten nach dem Mann Ausschau gehalten, ihn aber nirgends entdeckt. Erwartungsvoll nimmt Finnley die letzte Abfahrt des Vormittags in Angriff.
Das Alprestaurant steht auf einer kleinen Erhebung, überragt das bewaldete Tal und zeigt deutlich, dass der Wintertourismus floriert. Es ist Mittag und das einzige Restaurant des Skigebiets ist zum Bersten voll. Gefühlte tausend Ski- und Snowboardfahrer sitzen auf der Terrasse und überblicken das einmalige Alpenpanorama, schlagen sich die Bäuche voll, sonnen sich und genießen ihre Freizeit. Die fünf Freunde stellen ihre Ski in die dafür vorgesehenen Halterungen und machen sich auf den Weg zum Selbstbedienungsrestaurant. Gespannt wie ein Pfeilbogen sucht Finnley die Menge der Gäste nach Mister Gletschersee ab, entdeckt den geheimnisvollen Mann zu seinem Bedauern jedoch nicht.
„Hey, Finn, suchst du wen?“, will Ted wissen.
„Ja. Ähm … nein … nur … den Mann, der mir …“ Ted fällt ihm ins Wort.
„Dein Schleppliftwohltäter, was?“, feixt er grinsend. „Fihinn ist verlihiebt“, trällert er viel zu laut, was die anderen sofort auf den Plan ruft.
„Wie, verliebt, in wen?“, fragen Nicole und Bianca synchron. Ihre Stimmen überschlagen sich vor Neugier. Finnley rollt mit den Augen und gibt Ted einen Klaps auf den Oberarm.
„In niemanden! Teddy übertreibt …“
„Er ist verliebt in den geheimnisvollen Mann, der ihn auf den Berg mitgenommen hat. Ohne diesen Typen hätte er es niemals nach oben geschafft“, gibt Ted offenherzig Auskunft. Finnley sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
Das war’s mit einem gemütlichen Mittagessen.
Die Freunde wissen, dass Finnley und Ted schwul sind und haben keinerlei Probleme damit. Hatten sie noch nie. Die Gruppe diskutiert angeregt über den unbekannten Mann. Sie stellen wilde Behauptungen und Verschwörungstheorien auf, die sich allesamt um Mister Gletschersee drehen. Finnley stellt sich während ihrer Tiraden einen Salatteller am Buffet zusammen. Auf das üblicherweise angebotene Fastfood wie Spagetti Bolognese oder Bratwurst mit Fritten hat er keine Lust. Dabei kostet der verdammte Salatteller mehr als die fettigen Speisen.
Verrückt.
Die fünf Freunde finden ein Plätzchen auf der Panoramaterrasse und verdrücken ihr Essen. Sie trinken, lachen, unterhalten sich. Es ist ein wunderschöner Ausflug, auch wenn sich der Himmel langsam mit watteartigen Wolken zuzieht. Gemäß Wetterbericht soll es gegen Abend schneien. Man weiß ja, wie zuverlässig diese Berichterstattungen sind.
„Erzähl, Finn. Wie läuft das Studium?“, will Gregor wissen. In den letzten Jahren ist viel passiert und die Freunde wurden in alle Himmelsrichtungen verstreut. Nicole arbeitet als Stewardess und ist viel unterwegs. Gregor schließt sein Jurastudium in Kürze ab und Bianca arbeitet in einem Architekturbüro. Ted ist administrativer Angestellter bei einer großen Versicherungsgesellschaft und Finnley hat kürzlich sein Tourismus-Studium begonnen. Es ist selten geworden, dass alle zusammen einen gemeinsamen Termin für ein Wochenende finden.
„Ganz gut. Zu Beginn fluten sie uns mit fünf Theorieblöcken und unzähligen Prüfungen. Einige werden diese Phase nicht überstehen.“
„Das ist ihre Masche“, wirft Gregor ein. „Sie nennen es natürliche Auslese …“ Die Freunde lachen. „Ich nehme an, dass du diese Runde mit Leichtigkeit überstehst?“
„Es ist hart, geht aber ganz gut.“
Nach zweistündiger Mittagspause steht die Gruppe wieder auf der Piste. Ted und Finnley befahren weiterhin die einfachen Strecken, während sich die anderen drei anspruchsvollere Pisten aussuchen. Finn wird bei dem Gedanken an eine steilabfallende Piste übel und er ist froh, dass seine und Teddys Skifahrfähigkeiten ähnlich limitiert sind. Meistens treffen sich die Grüppchen beim Skilift oder vor der nächsten Abfahrt, um den zeitlichen Ablauf zu diskutieren. Der Himmel hat sich verdüstert, die Wolken sind mittlerweile dunkelgrau und bedrohlich.
Leichter Nebel zieht auf.
Als die ersten Schneeflocken fallen, entschließt sich die Gruppe die letzte Abfahrt gemeinsam zu machen. Die Skilifte lassen keine neuen Sportler mehr ins Skigebiet und die Bergbahnbetreiber raten schnellstmöglich ins Tal zu fahren. Es ist fünf Uhr und somit Zeit, das Hotel aufzusuchen, um sich für die Partys vorzubereiten. Finnley hat Mühe etwas zu sehen. Der Schneefall ist mittlerweile derart stark, dass man kaum ein paar Meter weit sieht und der Nebel verschärft die Sichteinschränkungen noch.
„Bleibt zusammen!“, ruft Gregor, als er zur letzten Abfahrt aufbricht. Die anderen folgen ihm im Abstand von wenigen Metern. Finnley macht den Abschluss. Teds rote Jacke leuchtet so grell, dass er sich daran bestens orientieren kann. Zügig führt Gregor die Gruppe vom Berg. Zu schnell für Finn. Nach wenigen Minuten ist er derart weit von seinen Freunden entfernt, dass er Teds feuerrote Jacke nur noch als kleinen, verschwommenen Punkt im zähen Nebelmeer wahrnimmt.
„Teddy?! Hallo?“, ruft er in die graue Wand hinein. „Gregor? Bianca? Hört mich jemand? Nicole?“ Keine Antwort. Der raue Wind peitscht ihm Schneeflocken ins Gesicht und die Temperatur ist dermaßen in den Keller gerutscht, dass es Finn trotz dicker Klamotten fröstelt. Er hält an. Die Sicht ist mittlerweile so eingeschränkt, dass er keine zwei Meter weit sieht. Er sieht sich ängstlich um. Nichts als Grau. Wenn Finn nicht wüsste, dass er bergab fährt, könnte er es nicht mit Bestimmtheit sagen – dieser Nebel raubt ihm sämtliche Sinne und sein innerer Kompass spielt verrückt. Trocken schluckend hüllt sich Finn fester in seinen Schal, zieht die Mütze tiefer, atmet durch und fährt los.
Langsam und vorsichtig.
Angst lähmt seinen Körper, schleicht sich wie ein ungebetener Gast in seinen unsicheren Fahrstil. Das Gefälle beschleunigt die zur Perfektion gewachsten Bretter immer mehr. Finn will bremsen. Da ist es schon zu spät. Im nächsten Moment passiert er einen roten Pfosten, der den Pistenrand kennzeichnet. Bevor er reagieren kann, schießt er über eine Erhebung und fühlt, wie er die Bodenhaftung verliert. Für einen winzigen Moment ist es, als würde Finnley fliegen.
Frei und schwerelos.
Im nächsten Augenblick holt ihn die Erdanziehung ein und er verliert an Höhe. Ein Schrei entreißt sich seiner Kehle. Immer schneller fällt der verängstigte Finn Richtung Boden und schlägt hart auf. Die Luft entweicht aus seinen Lungen. Ein Spasmus hindert ihn am Einatmen. Der rechte Ski wird augenblicklich von seinen Schuhen gerissen, während sich der linke nicht löst. Kalter, nasser Schnee umhüllt ihn, rinnt in seinen Nacken. Finnley kann nicht atmen, fühlt, wie ihm der schwere Schnee die Luft abdrückt.
Dunkelheit.
Ich streife durch den dunklen, verschneiten Wald, renne so schnell wie ich kann, fühle mich endlich frei und lebendig. Ein überwältigendes Gefühl, das meinen sehnigen, muskulösen Körper mit neuer Energie und Kraft flutet, mich zu neuen Höchstleistungen treibt. Meine samtig weichen Pfoten tragen mich derart schnell wie nie zuvor. Mit einem animalischen Heulen zolle ich dem erwachenden Vollmond meine Achtung, zeige der Natur, dass ich zurück in ihrer Umarmung bin. Markerschütternd dröhnen meine mächtigen Rufe durch das kahle Geäst. Der Nebel stellt für mich kein Problem dar. Ich kann Hindernisse riechen, erahnen, voraussehen und ihnen geschickt ausweichen. Ich kann es nicht erklären. Ich sehe die Dinge, bevor sie vor meinen Augen auftauchen – in dieser Gestalt zumindest. Ich brauche nicht zu sehen, sondern nur zu fühlen. Im nächsten Moment taucht aus dem grauen Schleier eine mächtige Tanne auf. Ich weiche ihrem dicken Stamm geschickt aus. Schnee fällt auf mein dichtes Fell, beflügelt mich, noch schneller zu stürmen. Vor mir liegt eine tiefe Senke, durch die sich ein Bach schlängelt. Die Wasseroberfläche ist zugefroren und scharfe Steine ragen aus dem Schnee. Ich überwinde die Senke mit einem gekonnten Sprung. Für ein paar Sekunden schwebe ich durch die Luft, schließe meine Augen und genieße das magische Gefühl von Schwerelosigkeit, absoluter Freiheit und Glück. Sicher lande ich auf der anderen Seite im weichen Schnee und fege weiter.
Endlich frei, endlich ungezwungen.
In der Stadt fühle ich mich eingeengt, beobachtet und unwohl. Hier oben, in den Bergen, hier kann ich so sein wie ich bin, kann heulen, sprinten, jagen, genau wie es sich für meinesgleichen gehört. Nur für ein paar Millisekunden berühren meine Pfoten den Schnee, bevor ich zu einem nächsten Sprung ansetze. Vor meinem geistigen Auge flackern Bilder des jungen Mannes auf, dem ich heute Morgen geholfen habe. Er sah verzweifelt und hilfsbedürftig aus. Ich musste ihm einfach helfen. Wie er da im Schnee gelegen hat.
Süß. Anziehend. Sexy.
Finn, hat ihn dessen Freund gerufen. Finn, ein schöner Name. Meine Sinne haben mich auf ihn aufmerksam gemacht, bevor ich ihn entdeckt habe. Sein Geruch ist derart einzigartig, dass mich dieser Mensch magisch in seinen Bann zieht. Ich musste ihn kennenlernen und wurde nicht enttäuscht. Er war liebenswert, lustig und scheu wie ein kleines Reh. Dennoch habe ich das Feuer in ihm gespürt, als er mir Kontra gegeben hat. Es war die schönste Schleppliftfahrt, die ich je erlebt habe, und wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Wie gerne hätte ich ihn berührt, hätte seinen frierenden Körper mit meinem gewärmt.
Ein verzweifelter Schrei durchdringt die Stille und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich erstarre in meinen Bewegungen, bleibe stehen und horche in die junge Nacht hinein. Einen ähnlichen Schrei, nicht ganz so verzweifelt, habe ich heute Morgen gehört. Finn. Ist ihm etwas zugestoßen? Ich muss nachsehen. Instinktiv renne ich los, beginne nach ihm zu schnuppern und tatsächlich: unverfälscht nehme ich seinen Eigengeruch war. Diese betörende Süße, die mich ruft, mich um den Verstand bringt und jegliche Zurückhaltung in mir erstickt. Langsam trete ich aus dem schützenden Wald und sehe ihn durch den sich langsam lichtenden Nebel. Finn. Er liegt im Schnee, Gesicht gen Himmel gereckt. Bewusstlos. Ich sehe, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt. Atemwolken dampfen vor seinem halbgeöffneten Mund in den frühabendlichen Himmel.
Er atmet!
Erleichterung macht sich in mir breit. Der Ski an seinem linken Fuß hat sich nicht gelöst. Ich tappe aus dem Wald in seine Richtung. Langsam und vorsichtig. Als ich näherkomme, rieche ich ihn noch intensiver. Sein Aroma hat sich für meinen feinen Geruchssinn verändert. Es ist derart anziehend und verlockend, dass meine animalischen Instinkte durchbrechen und ich vor Gier geschüttelt werde. Wie lange habe ich kein Tier mehr gerissen?
Zu lange!
Ich verfalle in eine Art blinde Raserei, die ich nur kontrollieren kann, indem ich mich zurückziehe. Langsam verschwinde ich zurück in den Wald. Mein Herz schmerzt, weil ich ihm helfen will, aber eine Gefahr für ihn darstelle. Diese tiefe Zerrissenheit bewegt mich dazu, mich im Gehölz hinzulegen und aus der Dunkelheit zu ihm hinüberzusehen, über ihn zu wachen. Ich kann ihn nicht wärmen oder ihm helfen. Nicht als Tier. Und eine Verwandlung ist im Moment unmöglich. Ich starre zu ihm und hoffe inständig, dass er bald aufwacht.
Banges Warten beginnt.
Na, wie hat euch diese kleine Leseprobe gefallen? Finn und Soba steht eine spannende Reise bevor, das dürft ihr mir glauben.
Mehr Informationen? Auf meinem Blog findet ihr Antworten.
Liebe Grüße
Euer Marc Weiherhof
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2016
Alle Rechte vorbehalten