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Kein Mensch auf der Welt ist so elend, jämmerlich und arm, daß er nicht seine Neider hätte; denn schließlich nimmt jeder Baum, mag er noch so wenig Platz beanspruchen und noch so karge Nahrung dem Boden entziehen, wenigstens Luft und Licht in Anspruch und wirft einen Schatten, der, nach Ansicht des Nachbars, das ihm allein zukommende Licht verdunkelt. Während wir wachsen, wächst der andern Verdruß über unser Wachstum, und wenn einer gefällt ist, atmen so und so viele erleichtert auf; denn nun können sie sich in der Lücke ausbreiten.

So geht es bei kleinen Leuten wie bei großen. Nur pflegen die kleinen ihre Schadenfreude ganz naiv an den Tag zu legen, weil sie es nicht gelernt haben, ihre Naturanlage kunstvoll hinter sogenanntem Takt zu verbergen.

Die Maukschen befand sich gewiß in keiner beneidenswerten Lage. Sie war Witwe. Zwar besaß sie ein Häuschen, aber das war so baufällig, daß man sich schier wundern mußte, wie es im stande sei, die vielen darauf lastenden Hypotheken zu tragen.

Sie litt an Rheumatismus, und die Frostbeulen an ihren Füßen waren auch keine angenehme Zugabe, wenn man einem Gewerbe nachhing, das einen jahraus jahrein bei jeder Witterung in die entferntesten Häuser des Kirchspiels führte. Zudem wurde das Amt der Leichenfrau nur schlecht bezahlt.

Und trotzdem hatte die Witwe ihre Feinde. Der Brotneid war auch gegen sie rege. Unter den Frauen des Dorfes gab es manch eine Anwärterin für dieses Amt. Man fand, die Mankschen habe es nun lange genug innegehabt, und gönnte ihr von Herzen, daß die Arbeit, die sie an Hunderten von Verblichenen ausgeübt hatte, nun endlich auch an ihr vollzogen werde.

Aber Mutter Mauksch war aus zähem Holze geschnitten. Das Leben hatte tüchtig an ihr herumgezaust, ohne sie doch unterzukriegen. Daß sie einmal ein hübsches Mädchen gewesen, das manches Burschen Herz beunruhigt hatte, sah man ihr freilich nicht mehr an. Das Alter hatte ihren Rücken krumm gezogen und ihrem Gesicht einen starren, harten Ausdruck gegeben. Sah man näher zu, so erkannte man, daß dieses Gesicht überdies stark von Pockennarben entstellt war.

Ihre Lippen schienen das Lächeln längst verlernt zu haben. Vielleicht brachte das ihr Beruf mit sich. Wer jahraus jahrein mit den Toten zu schaffen hat, dem ist es wohl nicht zu verdenken, wenn er ernst dreinblickt und die Menschen verächtlich betrachtet, wie sie durch die kurze Spanne des Lebens zum Ende hasten. Ruhig Blut, mein Sohn, der du dich so ungebärdig stellst, so alle Vernunft und Vorsicht in den Wind schlägst, du fällst der Maukschen ganz sicher in die Hände! Und du, Mädchen, das sich brüstet in jugendlicher Hoffart, als ob man sein Leben lang siebzehn wäre, dir bereiten die alten Hände auch noch das Brautlager, anders als du dir's gedacht hast!

Man fürchtete die Maukschen im Dorfe, sprach von ihrem »bösen Blicke«. Wenn sie die Straße hinabschritt, in der einen Hand den Stock, in der andern die Tasche mit den Werkzeugen ihres Berufes, dann verstummte der Spott, für den alte gebrechliche Leute sonst nicht zu sorgen brauchen. Die Kinder lärmten nicht mehr ausgelassen, tuschelten scheu, wie von Bangigkeit befallen. Die Leichenmutter ging mit gleichgiltiger Miene an alt und jung vorbei; sah sie aber einen an, dann war es, als dringe der Blick ihm durch und durch.

Mutter Mauksch hielt sich fernab von den Menschen; ein Grund mehr, weshalb man sie nicht liebte. Unterhaltungen über den Gartenzaun, Klatsch unter der Hausthür – sonst das Labsal der Weiber – war nichts für die mürrische Alte. Ihre Gange hatten alle den nämlichen Zweck. Wenn sie in ein Haus eintrat, dann wußten die Nachbarn auch ohne Todesanzeige, was sich dort ereignet habe.

Kühl und gleichgiltig, wie sie durch die Dorfgasse schritt, unberührt scheinbar von Menschenleid und Menschenfreude, waltete Mutter Mauksch auch am Totenbette ihres Amtes. Langjährige Erfahrung ersetzte, was ihren alten, verkrümmten Fingern vielleicht an Flinkheit abhanden gekommen sein mochte. Sie kannte keine Furcht, keinen Ekel, kein Mitgefühl. Daß einer sich nicht mehr rühren, nicht mehr sprechen und atmen konnte, war für sie das natürlichste Ding von der Welt.

Die Toten waren geduldig, fügsam und vernünftig. Von ihnen brauchte man sich nicht allerhand dummer Streiche zu versehen, vor denen man bei den Lebenden niemals sicher war. Sie liebte diese stillen Leute.

Manchmal wurde ihr im Trauerhause außer dem, was sie zu fordern hatte für ihre Dienste, Speise und Trank gereicht. Kaffee und Bier trank sie; aber den Branntwein, der ihr oft genug angeboten wurde, wies sie standhaft ab. Was aber sich irgendwie dazu eignete, wickelte sie in ein großkariertes Tuch, das sie zu solchem Zwecke jederzeit bei sich führte. Sie galt für geizig, für gierig und kramhaft, weil sie alles, was sie erraffen könne, nach Haus schleppe. Ihre Neiderinnen – von denen wir gehört haben – wußten Wunderdinge zu erzählen von den Schätzen, welche sie in ihrer Spelunke zusammenscharre.

Allerdings war Mutter Mauksch keine Verschwenderin; sie wendete jeden Groschen dreimal um, ehe sie ihn ausgab. Sie hatte aber auch allen Grund, sparsam zu sein, denn die Schulden, die ihr Mann ihr hinterlassen hatte, wollten verzinst sein. Zudem besaß sie jemanden, für den sie zu sorgen hatte, einen Menschen, ärmer noch und elender als sie: Bierlich-August, ein alter Junggeselle, der seit Jahren bei ihr lebte.

In welchem Verhältnisse die beiden zu einander standen, wußte niemand recht. Bierlich wohnte weder zur Miete bei Mutter Mauksch noch hatte er das Ausgedinge. Freiwillig gewährte sie ihm Herberge und Kost.

Die Vater des Ortes waren zufrieden damit, daß Bierlich-August, dieser alte Vagabund, der das Arbeiten für eine Beschäftigung ansah, mit der sich nur die Dummen abgaben, bei der Leichenmutter einen Unterschlupf gefunden hatte; auf diese Weise fiel er wenigstens der Gemeinde nicht zur Last. Aber die Zungen mißvergnügter Nachbarinnen kamen nicht zur Ruhe; es galt als ausgemacht, daß Bierlich-August der Geliebte sei von Karoline Mauksch.

Der alten Frau kam dergleichen Gerede nicht zu Ohren, und wenn sie es vernommen hatte, würde sie's kühl gelassen haben. Verstehen konnte ja doch niemand, warum ihr Bierlich mehr wert war als alle andern Menschen zusammen.

Sonderbar, das mußte man sagen, war der Geschmack der Frau. Weder in Wesen noch Erscheinung hatte Bierlich-August etwas besonders Anziehendes. Seine ungeschlachte Figur war durch einen schlecht verheilten Schenkelbruch entstellt. Das rechte Bein, von oben ab verkrümmt, glich einem Sägebügel; durch die Öffnung, welche auf diese Weise in seinem Gangwerk entstanden war, konnte man immer einen Ausschnitt der jenseitigen Landschaft erblicken. Die Straßenjugend hatte das natürlich längst herausgefunden und machte es sich zum Jux, durch dieses wandelnde Fenster Steine zu werfen. Und wenn dann Bierlich-August, der das Fluchen beim Militär erlernt und auf der Walze weiter gepflegt hatte, in fürchterliche Verwünschungen ausbrach, war das Vergnügen der Rangen erst vollkommen; vor seinen Fäusten war man ja verhältnismäßig sicher, da der alte, lahme Kerl niemanden verfolgen konnte.

Seinen großen, runden Schädel schützte ein struppiges Dach von ziemlich gut erhaltenem, graugelbem Haar. Sonnabends ließ er sich rasieren; nach dem Stande seines Bartes hätte man, in Ermangelung eines Kalenders, sagen können, welcher Wochentag ungefähr sei. Vorderzähne führte Bierlich nicht mehr. Über seiner schiefgezogenen breiten, stets feuchten Unterlippe hing vom frühen Morgen ab die Tabakspfeife, auf deren Porzellankopf das Bildnis eines rotwangigen Tirolermädchens zu erblicken war.

Schon manches Jahr war verflossen, seit Karoline Mauksch und August Bierlich jung gewesen. Sie gehörten dem nämlichen Jahrgange an, waren zusammen zur Schule gegangen, waren zu gleicher Zeit eingesegnet worden, hatten dann gemeinsam auch die Jugendbälle besucht.

Es gab nicht mehr viel Leute im Dorfe, die so weit zurückdenken konnten; längst war es in Vergessenheit geraten, daß Karoline und August damals als versprochene Brautleute gegolten hatten. In der Lebensperiode, wo sich auf dem Lande die meisten jungen Leute für immer binden, in der Zeit zwischen siebzehn und zwanzig, war er mit ihr gegangen.

Dann wurde er zum Militär einberufen, und dort überlegte er sichs anders. In der Stadt gab's ja viele Mädchen; man hatte als hübscher Kerl die Wahl. Schnell war ein anderer Schatz angeschafft.

Als er das erste Mal nach Haus kam auf Urlaub, kannte er Karolinen nicht mehr. Abends in der Schenke von ihr angeredet, verhöhnte er sie vor aller Welt. Sie sähe ja aus, als habe sie mit ihrem Gesicht auf einem Rohrstuhl gesessen; damit spielte er auf die frischen Pockennarben an, die ihre Züge in der That nicht zierten.

Karoline Mauksch verließ weinend das Lokal und ward von da an nie wieder auf einem Tanzboden gesehen.

Später heiratete sie einen Witwer mit mehreren Kindern. Gut hatte sie's in der Ehe nicht. Sie bekam Prügel zu kosten vom Manne und geringschätzige Behandlung von den Stiefkindern; arbeiten mußte sie wie eine Magd. Die Kinder, die sie selbst zur Welt brachte, waren kränklich und starben früh. Schließlich wurde der Mann krank, sie pflegte ihn, bis er starb. Die Stiefkinder überließen ihr das verschuldete Haus und machten sich davon. Mochte sie zusehen, wie sie mit der verwahrlosten Wirtschaft fertig wurde.

Mutter Mauksch schlug sich schlecht und recht durch. Sie baute ihre Kartoffeln und hielt sich Ziegen, um den Grasgarten auszunutzen, der zum Häuschen gehörte. Schließlich verdiente sie sich als Leichenfrau auch ein paar Groschen.

Eines Tages in der Dämmerstunde klopfte es an ihre Thür. Sie öffnete vorsichtig zunächst nur das Schiebefenster, um nachzusehen, wer draußen sei; denn als einzelstehende Frau mußte man auf der Hut sein vor Dieben und anderen schlechten Menschen.

Ein strolchartig aussehender Bursche stand draußen. Trotz des Dämmerlichtes erkannte sie ihn sofort: es war August Bierlich.

Sie ließ ihn ein. Er war betrunken, kein ganzes Stück hatte er auf dem Leibe, alles beschmutzt und in Lumpen.

Zunächst gab sie ihm zu essen, gestattete, daß er sich bei ihr Wärme und seinen Rausch ausschlafe.

Er blieb den nächsten Tag, die nächste Woche. Abgemacht wurde nichts zwischen ihnen. Bierlich ging einfach nicht wieder fort, und sie jagte ihn nicht hinaus. Wie ein herrenloser Hund war er ihr zugelaufen. Kein Mensch dachte daran, ihn abzuholen; er gehörte zu jenen Fahrenden, die jeder nur zu gern von sich läßt, weil sie zu nichts Besserem taugen, als ordentlichen Leuten zur Last zu fallen.

Bierlich-Augusts Leben war abenteuerlich gewesen; die Penne, das Korrektionshaus, das Trinkerasyl hatte er kennen gelernt. Nicht immer war es so schlimm um seinen Wandel bestellt gewesen, es hatte auch zwischendurch Zeiten gegeben, wo er arbeitete und sein Brot verdiente. Aber diese Perioden waren immer seltener und kürzer geworden. Nachdem er Jahrzehnte hindurch die Heimat gemieden, war er endlich doch wieder dorthin zurückgekehrt. In seinem Gedächtnis schimmerte wie ein schwaches Lichtchen die Erinnerung an eine, die ihn einstmals geliebt hatte. Eine Ahnung lebte in seinem dumpfen Geiste, daß er, aus dessen Hand kein Hund einen Bissen Brot mehr nehmen wollte, bei Karoline Mauksch Barmherzigkeit finden würde und Verzeihen.

Er hatte sich nicht getäuscht, seine ehemalige Braut wies ihn nicht von ihrer Schwelle. Sie gewährte ihm Obdach und alles, was er zu seines Leibes Nahrung und Notdurft nötig hatte. Niemals litt er Mangel an Tabak für seine Pfeife. Selbst einen schwarzen Anzug mit dazu gehörigem Hut schaffte Mutter Mauksch ihm mit der Zeit an, damit er Sonntags wie andre Männer anständig zur Kirche gehen könne.

Es wäre alles wunderschön gegangen, wenn Bierlich das Saufen hatte lassen können. Was ersann Karoline Mauksch nicht alles, um ihn aus den Klauen des Schnapsteufels zu befreien. Sie ließ nach altem Rezepte einen Fisch in Branntwein verrecken und setzte Bierlich den Trank heimlich vor. Der ausgepichte Säufer goß das Zeug in seine harte Gurgel hinab wie Wasser. Nicht den geringsten Eindruck machte das auf ihn. – Sie schloß ihn in seiner Kammer ein, er stieg durchs Dachfenster aus, um ins Wirtshaus zu gelangen. Als sie dem Wirt Geld versprach, wenn er dem Menschen keinen Schnaps mehr verabreichen wolle, ging Bierlich weit über Land in andere Gasthäuser, wo er ihn jederzeit bekam. Sie versteckte das Geld vor ihm, er wußte sich zu helfen, versetzte Kleider und Hausrat und verschaffte sich auf diese Weise Mittel zur Befriedigung seiner Leidenschaft.

Mutter Mauksch führte einen fruchtlosen Kampf. Sie versuchte es mit Härte. Tagelang ließ sie ihn nicht ins Haus ein, wenn er von seinen Fahrten zurückkehrte, abgerissen und abgebrannt. Da lag er dann draußen im Garten und schlief sich nüchtern. Kam er aber und winselte um Einlaß, so nahm sie ihn schließlich doch wieder auf. Gut erging es ihm dann freilich nicht. Sie strafte den alten Sünder ab wie einen Schuljungen, und er, dem der Alkohol immer noch so viel Kraft in seinen mächtigen Fäusten gelassen hatte, um mit jedem Frauenzimmer fertig zu werden, wagte keinen Finger zu rühren gegen die Greisin.

Da kam den erzieherischen Versuchen seiner Freundin ein Unfall, den Bierlich-August erlitt, in ungeahnter Weise zu Hilfe.

Eines Nachts nämlich, als er schwer betrunken nach Haus schwankte, stürzte er von der Brücke in das Eis des gefrorenen Dorfbachs hinab, brach den Oberschenkel und lag stundenlang dort unten, bis Vorübergehende ihn bemerkten und aufhoben. Man hielt ihn für tot und schaffte ihn in das Haus der Leichenmutter.

Unter den Händen der alten Frau kam der Erstarrte wieder zu sich. Monate hindurch rang er mit dem Tode. Nur der aufopfernden Pflege, die ihm Karoline Mauksch angedeihen ließ, hatte er es zu verdanken, wenn er dem schweren Unterleibsleiden, das er sich im eisigen Wasser geholt, nicht erlag. Sein Bein blieb krumm, trotzdem es der Doktor geschient hatte. Bierlich-August war ein Krüppel geworden.

Es dauerte weitere lange Monate, ehe er den Gebrauch seines gebrochenen Beines so weit bekam, daß er sich ins Dorf wagen konnte. Man fand ihn sehr verändert, die Krankheit hatte ihn zahm gemacht. Ein Jahr lang beinahe war kein Branntwein über seine Lippen gekommen. Es war gegangen auch ohne Schnaps, was er früher nicht für möglich gehalten hätte. Am Wirtshause humpelte er jetzt mit steifem Blicke vorüber, als sähe er es nicht. Es hatte wahrhaftig den Anschein, als sei Bierlich-August von der Trunksucht geheilt.

So ging es ein paar Jahre. Jetzt, wo er ihr nicht mehr entwischen konnte, hatte ihn Mutter Manksch ganz anders im Zügel als zuvor. Sie hielt das Heft in Händen, in jeder Beziehung. Bar Geld, das er für Tabak brauchte, bekam er in die Hand gezählt, und über jeden Pfennig mußte er Rechenschaft ablegen. So wußte sie ihn in Nüchternheit zu erhalten, bis ihm die Enthaltsamkeit zur Angewöhnung wurde.

August Bierlich fing an, zu den respektabeln Leuten des Dorfes zu zählen. Hatte er doch drei Feldzüge mitgemacht. Er rückte daher mit den Jahren in die Zahl der Veteranen ein, mit denen bei festlichen Gelegenheiten paradiert wurde.

Für angestrengtes Arbeiten zeigte er auch jetzt noch keine große Neigung, aber Karoline Mauksch wußte ihn zu allerhand nützlichen Hantierungen anzustellen. Er mußte wenn sie außer Hause war, das Küchenreisig zerkleinern, den Topf am Feuer rücken, die Ziegen melken und sie mit Futter versorgen.

Die beiden Leute lebten miteinander friedlicher als manches Ehepaar. Zärtlichkeiten gab es nicht zwischen ihnen, was auch die Klatschbasen darüber hin und her erzählen mochten im Dorfe. Es vergingen Tage, wo kaum ein Wort gewechselt wurde. Mutter Mauksch war keine Freundin vom vielen Sprechen, und Bierlich liebte nicht, den Mund zu öffnen, weil er dann seine Pfeife, die er in Ermangelung von Zähnen mit den Lippen hielt, hätte loslassen müssen. Auch trug er in seinem großen Kopfe nicht allzuviel Gedanken mit sich herum. Zu den Hellen hatte er niemals gehört, und seine Erinnerungen, aus denen er manches Interessante hätte berichten können, waren ihm bei jenem verhängnisvollen Sturze auch etwas durcheinandergeraten.

Eines Tages beging der Militärverein seine Fahnenweihe. Bierlich hatte als alter Krieger eine Einladung dazu erhalten. In seinen Sonntagsachen, frisch rasiert, mit den Denkmünzen aus drei Feldzügen geschmückt, humpelte er zum Festplatz. Mutter Mauksch hatte ihm eine abgezählte Summe Geldes mitgegeben, die zu zwei Glas Bier gerade reichte. Er solle noch vor dem Dunkelwerden zurückkommen, hatte sie ihm eingeschärft.

Auf dem Festplatz war ein Podium errichtet, Masten erhoben sich, mit Eichenlaub und Tannenzweigen umwunden, Fahnen wehten, Böllerschüsse wurden abgefeuert, eine Ehrenwache präsentierte das Gewehr, weißgekleidete Mädchen schmückten die Krieger mit Schleifen und Blumen. Deputationen überreichten Bänder und schlugen Nägel in den Schaft der neuen Fahne. Dazu Musik, Trommelwirbel, Reden, Hochs und Hurras!

Es wurde einem ganz feierlich zu Mute. Und als nun gar der Herr Major die Front der Veteranen abschritt und an Bierlich, der im ersten Gliede stand, Worte der Anerkennung richtete, ihm die Hand schüttelte und ihn »Kamerad« nannte, da begann sich dem alten Knaben im Kopfe alles zu drehen. So war er sein Lebtag nicht geehrt worden.

Bier gab es in Menge, geradezu aufgenötigt wurde es einem. Bezahlen durfte man nichts; die Veteranen hatten ja Freitrunk. Es blieb daher nicht bei den zwei Glas, die ihm von der Gestrengen daheim genehmigt worden waren.

Als es dunkel wurde im Freien, begab man sich ins Wirtshaus. Bierlich wollte, eingedenk seines Versprechens, eigentlich nach Haus, aber eine Anzahl ausgelassener junger Leute nahm ihn in ihre Mitte. Man zog mit ihm im Triumphe zur Schenkstube, die er seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Hier wurde ihm zur Feier des Tages Wein vorgesetzt. Wein, den hatte er nicht getrunken, seit er mit der Landwehr aus Frankreich zurückgekehrt war.

Nun setzte man ihm zu, er solle von seinen Kriegserlebnissen erzählen. Bierlich-August war nicht geübt im Sprechen, aber der Wein löste ihm die Zunge. Es ging ein wenig bunt durcheinander; er bramarbasierte mit seinen Heldenthaten in der Schlacht, dann wieder waren es seine Erfolge beim schönen Geschlecht in Frankreich, deren er sich rühmte. Den Champagner aber hatten sie dort getrunken aus Fässern.

Die jungen Leute, in deren Mitte er saß, stießen sich an. Man schenkte ihm frisch ein, sobald er ausgetrunken hatte.

»Bravo, August, bravo! Hast bei der Leichenmutter das Saufen doch nicht ganz verlernt!«

Da saß nun Bierlich-August mit feuerrotem Kopfe und perorierte. Bei besonderen Kraftstellen aber, wenn ihn das Gedächtnis verließ, schlug er mit der mächtigen Faust auf den Tisch, daß Gläser und Flaschen gegeneinander tanzten.

Bis ihn ein Wörtlein, das ihm ein Bekannter zuflüsterte, jählings verstummen machte.

»August, die Maukschen kommt!«

Der große Held war auf einmal sehr kleinlaut geworden. So schnell es sein Bein erlaubte, nahm er Reißaus. Die jungen Leute standen ihm bei. Er wurde nach der Hinterthür gebracht, während man die Witwe Mauksch am Eingange festzuhalten wußte.

Sie war gekommen, ihn abzuholen. Auf ihre Frage, wo Bierlich sei, bekam sie allerhand zur Antwort. Der eine behauptete: ihr Schatz sei in der Kegelbahn und schiebe Kegel. Ein andrer wollte ihn in der Kammer der Mägde erblickt haben. Ein dritter schließlich verstieg sich zu der Behauptung: Bierlich-August sei auf dem Tanzboden und tanze einen Hopser.

Als die alte Frau sich überzeugt hatte, daß er nicht am Kneiptisch sitze, wo sie ihn sicher vermutet hatte, schlug sie den Heimweg ein, unterwegs mit der Laterne hierhin und dahin leuchtend, ob sie nicht irgendwo eine Spur von ihm entdecken könne. Eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, hätte nicht kummervoller sein können, als sie des alten Burschen halber.

Es war Karoline Mauksch schlecht ergangen ihr Leben lang. Nur einmal war das Glück bei ihr eingekehrt, nur einmal hatte auch sie erfahren, was es heißt: von Herzen froh sein. Das war damals gewesen, als sie und Bierlich-August Liebesleute waren. Und nun, wo ein halbes Jahrhundert seitdem mit Sorgen und Plagen vergangen war, bildete diese Erinnerung den strahlenden Hintergrund, von dem in die trüben Tage des Greisenalters ein Lichtschimmer fiel. Für den Mann aber, dem sie das verdankte, wahrte Karoline im verborgensten Winkel ihres Herzens ein Gefühl unverwüstlicher Zärtlichkeit.

Es bildete den einzigen Triumph ihres Lebens, daß er nach langer Irrfahrt endlich doch zu ihr zurückgekehrt war; über nichts empfand sie mehr Befriedigung, als daß es ihr gelungen war, August Bierlich wieder zum Menschen zu machen.

Und nun hatten sie ihr den alten Kerl doch verführt! In welcher Kneipe mochte er jetzt sitzen, oder in welchem Straßengraben die Nacht verbringen? Sie erwartete das Schlimmste.

Noch in zwei andre Wirtshäuser ging sie an diesem Abend. Nirgends wollte man Bierlich gesehen haben. Gänzlich ermattet kehrte sie schließlich heim. Im Zimmer war keine Spur von ihm zu entdecken, und das Bett in seiner Kammer stand unberührt.

Den Rest der Nacht verbrachte Mutter Mauksch wachend auf der Ofenbank, auf jedes Geräusch draußen lauschend, in der Hoffnung, daß er doch noch kommen möchte. Ob er etwa Angst hatte, sich nicht ins Haus getraute? Der alte dumme Kerl! – Sie war geneigt, ihm zu verzeihen. Wenn er nur käme! Er mochte ruhig sein; prügeln würde sie ihn diesmal nicht.

Gegen Morgen begannen die Ziegen zu meckern und mit den Hörnern gegen die Bretter ihres Verschlages zu stoßen. Der alten Frau fiel ein, daß sie ja am Abend zuvor kein Futter bekommen hatten, weil Bierlich nicht zurückgekehrt war, und sie in ihrem Kummer an die Tiere nicht gedacht hatte.

Mutter Mauksch ging daher auf den Boden des Häuschens, wo in einer Ecke der Heuvorrat lag. Sie nahm ein Paar Armvoll. Dabei berührte sie einen nachgiebigen Gegenstand im Heu. Nun untersuchte sie den Haufen näher; siehe da, es kam eine Hand, ein Arm zum Vorschein!

Hatte er sich hier versteckt vor ihr und schlief seinen Rausch aus! Und noch dazu in den Sonntagsachen! – das war der Alten doch außer dem Spaße.

»Steh auf, besoffenes ...!« rief sie und wollte ihn emporreißen. Aber der Körper war schwer und plump, kalt fühlte er sich an.

Die Leichenmutter hätte wohl wissen können, was solche Anzeichen zu bedeuten hatten; trotzdem befühlte sie ihn lange, ehe sie es sich eingestand: er war tot, mausetot!

Mit zitternden Händen zog sie den schweren Mann unter dem Heu hervor, mühselig schaffte sie ihn die Treppe hinab ins Zimmer. Sie hätte ja Nachbarn herbeirufen können zur Hilfe, aber das wollte sie nicht. Keinen Menschen ging das hier etwas an. Der Tote gehörte ihr zu.

Sie that an ihm, was sie an Hunderten von Leichen gethan hatte; that es ordentlich und gründlich, mit der Sachlichkeit, die ihr zur Gewohnheit geworden war. Keine Thräne netzte ihre hageren, pockennarbigen Wangen. Sie nahm das Geschehene als Schicksal hin. Einmal hätte er ja doch sterben müssen, und es war schließlich besser für ihn, daß er vor ihr gegangen war. Denn was wäre aus ihm geworden ohne sie! –

Schwer gelitten schien er nicht zu haben; die Züge des alten Burschen, ihr so wohl vertraut, waren friedlich. In seiner Brusttasche steckte die geliebte Pfeife. Als ob er geahnt hätte, daß es die letzte sein würde, die er geraucht, hatte er sie noch gründlich gereinigt, ehe er zu der Fahnenweihe ging. Rasieren hatte er sich auch lassen, der Feier zu Ehren. Kurz, Bierlich-August war wohl vorbereitet zu der letzten Reise.

Als Mutter Mauksch mit allem fertig war, ließ sie sich neben der Leiche nieder. Sie betrachtete ihn lange, wie er so dalag, ihr Liebster.

Nun kam doch auch etwas Salziges in die alten Augen. Sie seufzte. Jetzt war das Leben für sie wertlos geworden.

Sie würde keine Leiche mehr anrühren hiernach. Für wen sollte sie sich jetzt noch abquälen, für wen sorgen und schaffen? – Der Entschluß stand fest: heute noch wollte sie ihr Amt kündigen.

Für sie galt es nun warten; warten, bis auch bei ihr der Freund anklopfen würde, der keinen vergißt.

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