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Die Hochschätzung der dichterischen und künstlerischen Persönlichkeit, die fast selbstverständlich scheint, ist gleichwohl das Produkt einer raffinierten Kultur. Der naive Mensch genießt ein Kunstwerk wie einen Kuchen: er läßt sich's schmecken ohne sich im mindesten um den Verfertiger zu kümmern, ja ohne nur nach seinem Namen zu fragen.

So tut das Kind mit seinen Bilderbüchern, dem es vollständig einerlei ist, ob sie von Meggendorfer oder Flinzer oder wem sonst herrühren. So tut der Lehrjunge, welcher eine Opernmelodie pfeift, deren Herkunft zu erfahren ihn nicht kümmert. So tun unsere Dienstmädchen, die wir ins Theater schicken, indem sie nachher zwar genau den Hergang des Stückes zu erzählen, aber gewiß nicht den Namen des Verfassers zu nennen wissen. So tat jener Schullehrer, von welchem uns erzählt wird, daß er auf die Frage nach der Bedeutung der Worte Uhland und Schiller in einem Gedichtbuch die Antwort erteilte, das wären geheime technische Winke für den Setzer.

In unliterarischen Zeitaltern verfährt eine ganze Nation mit der nämlichen Nachlässigkeit, so daß sogar umfangreiche und schönheitsgewaltige Riesenwerke ohne Verfassernamen auf uns gekommen sind, so z. B. die homerischen Gedichte und die Nibelungen. Dann nennt man's Volkspoesie; ein Titel, der einen verhängnisvollen Irrtum einschließt. Was man Volkspoesie nennt, ist im Grunde einfach anonyme Poesie. Auf welche Weise aber die Anonymität entstand und noch heute entsteht, das können Sie alltäglich kontrollieren, da jetzt wie vor zweitausend Jahren der naive Mensch, mit andern Worten das Volk, jedes Kunstwerk anonym genießt, anonym weitergibt und hiermit binnen kurzer Zeit anonymisiert. Gehen Sie in die Dörfer und fragen Sie die Leute, die den »guten Kameraden« oder »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« singen, nach den Verfassern; sie haben die Namen in der Schule gelernt, aber nachher wieder vergessen; existierte nicht eine Wissenschaft der Literaturgeschichte, so wären sie bald für die ganze Welt vergessen. Wie denn in der Tat populäre Gedichte solcher Männer, welche die Literaturgeschichte zu erwähnen nicht der Mühe wert hält, in zwei Generationen schon fast gänzlich anonymisiert erscheinen, auch wenn man ursprünglich den Verfasser gar wohl kannte und nannte. So erging es dem Verelilied, dem Doktor Eisenbart, dem lieben Augustin und den sämtlichen patriotischen Nationalhymnen. Die Gelehrten kennen den Verfasser noch, das Volk hat ihn bereits vergessen. Zuweilen gelingt es der Gelehrsamkeit, eine bereits im Verlöschen begriffene Identität in elfter Stunde künstlich wieder aufzufrischen, wie z. B. für die Wacht am Rhein und den Struwelpeter.

Wie unbefangen, ich möchte fast sagen, wie dreist sich das Volk alles und jedes, was ursprünglich persönlich war, als sein eigenes nationales Produkt aneignet, das können Sie am besten beurteilen, wenn Sie nach der zeitlichen Entfernung auch die räumliche befragen, indem Sie sich einfach über die Grenze bemühen. Was diesseits noch als das Erzeugnis eines bestimmten Verfassers gilt, heißt jenseits schon Volkspoesie. Heine's allbekanntes, hundertmal gedrucktes Lied von den schönsten Augen wurde mir in Rußland ganz fröhlich als russisches Volkslied angeboten. Was würden Sie aber vollends dazu sagen, wenn ich Ihnen als möglich hinstellte, daß Beethovensche Sonaten einmal als Volkslieder aufmarschierten? Nun, ich habe es mit eigenen Ohren und Augen erlebt. Eine Zigeunerbande kündigte eine alte zigeunische Volksweise an und sang unter diesem Titel: den ersten Satz der Sonate pathétique samt der Introduktion und ohne die Läuferpassagen zu vergessen! Solche Erfahrungen und Beobachtungen sind geeignet, bei Denkenden den landläufigen Begriff von Volkspoesie zu korrigieren. Nämlich Volkspoesie ist nicht unpersönliche Poesie, nicht Produkt irgendeiner kollektiven Volksseele, sondern einfach eine nachträglich anonymisierte Anthologie von verschiedenen Verfassern und zwar meistens von gebildeten Dilettanten, denen ausnahmsweise aus Unvorsichtigkeit etwas Gelungenes passierte. Von den großen individuellen Künstlern zu der Volkspoesie flüchten, heißt einfach die Meister der Kunst gegen Schullehrer, Pfarrer und Advokaten vertauschen.

Wenn nun dergestalt das Volk, also der naive Mensch, ein eingefleischter Anonymisator ist, so sehen Sie leicht ein, daß von hier bis zum modernen Persönlichkeitskultus ein ungeheurer Weg zurückgelegt werden mußte.

Vor allem mußte gelernt werden, daß das Kunstwerk einen idealen Wert von unermeßlicher Höhe repräsentiert; was bekanntlich dem naiven Menschen nichts weniger als leicht eingeht. Dichterprodukte, welche der moderne Bildungsstaat mit Gold aufwägt und deren Auffindung dem glücklichen Gelehrten Ruhm, Ehren, Orden und Pensionen einbringt, gibt das Volk als wertlose Schnurrpfeifereien verächtlich von Mund zu Mund und von Großmutter zu Enkel. Was für eine Mühe hatten die Sammler, die herrlichen Volksepen der Serben vorgetragen zu erhalten! Denn die Sänger schämten sich des »kindischen Zeuges«. Ähnlich erging es Grimm bei der Sammlung der deutschen Volksmärchen. Überall und immer gilt dem Ungebildeten die Kunst für Tand und der Künstler für einen Tändler. Wer seine Kindheit im Volke zugebracht hat, weiß davon zu erzählen.

Dann mußte man darauf aufmerksam werden, daß das Gediegene in den Künsten seltener gefunden wird als im Handwerk, daß mehreres Tüchtige aus der nämlichen Quelle zu fließen pflegt, daß Tausende nichts, einer unermeßlich viel Schönes zu leisten vermag. Das Erstaunen hierüber begründet den populären Ruhm, welcher nicht sowohl demjenigen zuteil wird, der Großes, als demjenigen, der wiederholt Auffälliges leistet. Dann pflegt das Volk auch, nachdem es sich einmal mühsam einen imponierenden Namen gemerkt, ihm alles herren- und namenlose Kunstgut zuzuschreiben, wovon die Literaturgeschichte der alten Völker viele Beispiele aufweist. Danken Sie an die Psalmen Davids und an die Sprüche Salomos, von welchen neun Zehnteile »unecht« sind, das heißt von anonymisierten Verfassern stammen. Also statt »Jedem das Seine« urteilt das Volk in Kunstsachen: »Wer da hat, dem wird gegeben.«

Ein weiterer und sehr schwieriger Schritt war die Beobachtung, daß Vollkommenes im Kleinen oder Großen nur von persönlich Großen geschaffen werden kann. Wie ungemein schwierig diese Erkenntnis ist, zeigt Ihnen die Schar der lyrischen Dilettanten, welche in ihrem harmlosen Gemüt keine Ahnung davon haben, daß auch das kleinste Lied eine hervorragende Originalität des Dichters voraussetzt, sondern allen Ernstes von irgendwelcher Begeisterung Gelingen hoffen. »Die Gunst der Stunde.« »Der Kuß der Muse.« Schön und gut. Leider genießt diese Gunst nur derjenige, der ohnehin Günstling ist, und die Muse küßt nur Gesichter mit scharf ausgeprägtem Profil. So ausschlaggebend ist in aller Kunst die Persönlichkeit, daß selbstschaffende Künstler aus der geringfügigsten Probe sofort zu entscheiden vermögen, ob derjenige, der diese einzige Seite geschrieben, überhaupt ein Berufener oder ein Schwächling ist.

Es hat also die Frage nach der literarischen Persönlichkeit des Dichters und Künstlers ihre hohe Berechtigung; ja auf sie reduziert sich schließlich die wahre Kunstkritik.

Allein diese Frage kann auch ausarten und sie ist ausgeartet. Dies geschieht aber, sobald literarhistorische Überbildung das Kunstwerk in die zweite Linie, die Persönlichkeit des Künstlers dagegen in die erste rückt. Verschiedene Beweggründe haben unsere Generation hierzu verführt: Byzantinisches Klimbim, ich meine den Götzendienst und die Heiligenlegenden um unsere Klassiker herum, ferner andächtige romanhafte Klatschsucht, welche nicht in Frieden sterben kann, ehe sie jedem Künstler ein Liebschäftchen angekuppelt hat (denn all unsere Kunstweisheit mündet ja schließlich in Frauengestalten), ferner allerlei ethischer Aberwitz, wie und was maßen des Künstlers höchstes Kunstwerk sein Leben sein solle (eine Forderung, welche Shakespeare zu einem bedenklichen Pfuscher erniedrigen würde) und endlich die Hauptsache: Die wachsende Unfähigkeit, das Kunstwerk aufrichtig zu genießen. Deshalb gibt man seine Visitenkarte beim Künstler ab.

So ist ein Dichterkultus und eine Geniesucht endemisch geworden, deren schädliche Wirkungen auf die Literatur ich Ihnen hier in der Kürze natürlich nicht entwickeln kann. Wenn Sie jedoch etwa vielleicht glauben, daß dergleichen den Patienten angenehm sei, so bitte ich um die Erlaubnis, das Gegenteil behaupten zu dürfen. Zwar nicht etwa, als ob es den Geschmack der hohen Herren beleidigte, daß man ein gar so übertriebenes Wesen von ihnen machte! Denn der Künstler oder Literat, welcher in seinem Herzen zugebe, daß man ihn überschätze, muß erst noch geboren werden. Sondern einfach, weil die Sucht nach der Persönlichkeit des Künstlers naturgemäß von fertigen Vorstellungen, also von Forderungen begleitet ist, welche der Berufene unmöglich erfüllen kann, während der gehalt- und haltlose Nachahmer sich ihnen mit Leichtigkeit anpaßt. Dann geht es mit den zugedachten Ehren, wie wenn Sie den Amseln Brot streuen. Die Sperlinge werden davon fett; die Amseln aber frißt die Katze.

Nämlich die Forderungen eines Zeitalters an des Dichters Persönlichkeit sind unfehlbar ungereimt. Erstens weil sie ihm zumuten, dem retuschierten Bild zu gleichen, das von einem Vorhergegangenen abstrahiert wurde; zweitens weil die Forderungen alle fünfzehn Jahre wechseln und überdies mit Vorliebe einander widersprechen, so daß der arme Musenwurm, um den populären Wünschen zu genügen, wenigstens vier verschiedene Charaktere besitzen müßte; drittens, weil die Forderungen meistens einen kleinen Stich ins Kindische haben.

Die Geschichte steht mir zum Zeugen, daß ich nicht übertreibe. Ein Jahrzehnt lang wird als unerläßliche Bedingung der Anerkennung vom Dichter verlangt, daß er beständig greine und seufze. Ein anderes Mal soll er als verrückter Pudel mit offenem Hemdenkragen und zerrissenem Gemüte einherstürmen und zwischen zwei Reimen drei Herzen knicken. Wieder ein andermal soll er harmonisch ausgeglichen auf der linken Zehenspitze balancieren, den kleinen Finger zierlich an den Mund gedrückt wie eine Terpsichore. Dann plötzlich wieder lautet die Parole: Ruppigkeit und Struppigkeit. Wer keine Borsten aufweist, wer kein in der Wolle gefärbter Philister, kein Erzpedant ist, dem wird jetzt die Dichterqualität abgesprochen. Und kaum daß man sich etwas von dem Schrecken erholt hat, siehe da: nun soll er wieder vom Scheitel bis zur Sohle psychopathisch sein wie eine stigmatisierte Nonne.

Bemerken Sie wohl, daß für alle diese Forderungen Beispiele aus der Geschichte und Gegenwart vorliegen, und daß jedesmal die Forderung als unerläßlich gehandhabt wird.

Was sind nun demgegenüber die wirklichen gemeinsamen Merkmale der dichterischen Privatpersönlichkeit? Es verlangt ja nach ihnen nicht bloß die fürwitzige Neugier, sondern auch jenes edle Dankgefühl, das uns auffordert, demjenigen, dessen Werk uns Genüsse intimster Art geschenkt, näher zu treten. Außerdem hat die Frage einen psychologischen, ich möchte sagen: naturwissenschaftlichen Reiz.

Ich hoffe nun, Sie werden es mir nicht als mephistophelische Denkungsart auslegen, wenn ich Ihnen im folgenden den Satz zu beweisen suche, daß die nähere Bekanntschaft mit der Privatpersönlichkeit des Dichters in den meisten Fällen kein Gewinn heißen darf, sondern daß man sich vielmehr zu seiner räumlichen oder zeitlichen Entfernung Glück wünschen soll. Nicht als ob ich meinte, die Wertschätzung verlöre durch die Bekanntschaft. Gleich Ihnen bin ich davon überzeugt, daß die Vorzüge die Fehler und Schwächen überwiegen. Allein die Vorzüge liegen nicht für jeden auf der Hand, während die Fehler derart sind, daß sie den geselligen Verkehr beeinträchtigen, wenn nicht gar in Verdruß verwandeln. Schon aus einem einzigen flüchtigen Besuch erwächst in vielen Fällen das Gefühl der Enttäuschung, welches nicht immer bloß in kindlichen Voraussetzungen des Besuchers seinen Grund hat. Bedenklicher noch wird der vermeintliche Verlust durch häufigeren Umgang. Da pflegt der mitgebrachte Nimbus gänzlich zu verfliegen. Öfterer Verkehr, wenn er oberflächlich bleibt, ist sogar das sicherste Mittel, einen hervorragenden Mann zu unterschätzen. Geistreich sagt das La Bruyère: »Wer kennt einen großen Mann am wenigsten? Seine Bekannten.« Erst die Freundschaft und die Liebe findet den persönlichen Wert des Privatcharakters unter den zahlreichen Schwächen heraus, und selbst dazu bedarf es eines milden und großen Herzens. Denn auch da handelt es sich nicht sowohl um Genießen und Bewundern, als um Ertragen und Entschuldigen. Als der schwedische König Karl XIII. der Witwe des berühmten Dichters Bellmann dazu gratulierte, einen so großen Mann zum Gemahl gehabt zu haben, seufzte sie: »Ach Gott, Majestät, wenn Sie nur wüßten, wie unausstehlich er war!« Der Grund der Unausstehlichkeit oder sagen wir richtiger und gerechter: der Unersprießlichkeit des dichterischen Privatcharakters beruht nun nicht etwa in Kleinheit, die den Gegensatz zur künstlerischen Größe bildete, wie der Neid der Mittelmäßigen das Verhältnis darstellen möchte, sondern die Unerquicklichkeit ist eine unvermeidliche pathologische Folge seines Schaffens, also eine Berufskrankheit. Während aber andere Berufsarten nur den Körper krankhaft beeinflussen, zieht die fortdauernde produktive Phantasiearbeit auch noch das Temperament und mitunter sogar den Charakter in Mitleidenschaft.

Von den enormen Anforderungen, welche der Dichterberuf, wenn er mit Ernst und Größe aufgefaßt wird, an den Menschen stellt, von den peinlichen Gewissenssorgen und Seelenängsten, welche der eigentlichen Arbeit vorangehen, macht man sich nämlich kaum eine ahnende Vorstellung. Es ist nichts weniger als das Opfer eines ganzen Lebens, täglich von neuem dargebracht. Die Muse »besucht« nicht ihren Auserwählten, sondern sie tyrannisiert ihn schonungslos von frühester Jugend bis zum letzten Atemzuge.

Wenn Sie die Biographien ausgezeichneter Dichter lesen, so werden Sie finden, daß meistens schon das Kindesalter einen fortwährenden Krieg bildete, indem diejenige Eigenschaft, welche ich den Keim alles Talentes nennen möchte, nämlich die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, in Konflikt mit der Autorität, das heißt mit der Konvention geriet. Zwietracht mit Eltern oder Lehrern sind da das allergewöhnlichste.

Die sogenannte Entwicklungsperiode geht meist unter entsetzlichen Seelenstürmen vor sich, welche hart am Grabe vorbeiführen, während ebendieselben Gewitter das Herz mit denjenigen Blitzfunken laden, aus welchen später bei reifem Können die großen Werke gemacht werden.

Anläßlich dieser Jugendstürme bemerken wir folgende auffällige und beherzigenswerte Tatsache. Anstatt daß die Spiegelung der Außenwelt dann am reinsten geschähe, wenn die Seele am ruhigsten ist, wie es das Gleichnis vom Wasser wünscht und die landläufige Meinung behauptet, geben gerade diejenigen Dichter, welche die tiefsten Seelenstürme erlebten, die besten Beobachter. Die berühmte Beobachtungsgabe großer Dichter besteht nämlich nicht in einer bewußten Aufmerksamkeit auf das, was außer ihnen vorgeht; vollends das Studiensammeln und Dokumentenschnöbern ist ein untrüglicher Heimatschein der Stümperei. Vielmehr verhält sich die Sache so: Die Aufmerksamkeit ist nach innen gerichtet; währenddessen läuft aber allerlei Äußerliches, Unerwünschtes dem Künstler vor das Beobachtungsglas, wie die Fliege über das Teleskop. Dieses Äußerliche wird mit dem Willen beseitigt, bleibt aber, wie überhaupt alles und jedes, unbewußt im Gedächtnis haften und findet sich dort vor, falls der Dichter es später zu irgendeinem Zwecke braucht.

Nun besteht aber das Merkwürdige darin, daß die Fähigkeit zu solcher unbewußter Gedächtnisaufnahme um so größer ist, je bewegter, je erfüllter die Seele sich in dem betreffenden Moment befindet, ein Gesetz, dessen Wahrheit Sie im Leben an sich selbst erproben können. Welche Menschen, welche Naturszenen, welche Örtlichkeiten haften am lebhaftesten in Ihrer Erinnerung? Etwa jene, die Sie absichtlich beobachten? z. B. die Städte, die Menschen, die Gegenden, die Sie als müßige Touristen in Augenschein nahmen? Gewiß nicht, sondern im Gegenteil, jene, an welchen Sie mit teilnahmslosem Willen vorbeigingen, während Ihr Gemüt von einem wichtigen Ereignis aufgerührt war. Was wir z. B. auf einem durchgehenden Pferde, den Tod vor Augen, wahrnehmen, das wird vom Gedächtnis bis in die unbedeutendste Einzelheit aufgeschrieben. Ähnlich bei einem großen Schmerze, also etwa bei einem Leidgange, oder bei einer großen Freude. Und immer lautet das Gesetz so: je vollständiger die Seele aufgerüttelt und der Geist absorbiert ist, desto schärfer wird das Zufällige unwillkürlich beobachtet. Die Beobachtungsgabe des Dichters beruht also gerade in seiner Abkehr von der Wirklichkeit, verbunden mit seinem starken Innenleben. Jetzt werden Sie wohl auch begreifen, warum den professionellen Naturalisten die Schilderung der Wirklichkeit so unendlich schwer wird, und warum gerade den Idealisten die gewaltigsten realistischen Werke gelingen, wovon Ihnen unter anderm der Däne Paludan Müller ein Beispiel gibt. Um ein großer Realist zu werden, muß einer tief nach innen geblickt haben. Mit dem lieblichen Bilde unserer Musenalmanache, das uns den Dichter darstellt, wie er aus olympischen Kristallaugen die Natur mit überlegener objektiver Ruhe aufsaugt, ist es also nichts.

Unter wachsenden Gemütsorkanen bricht sich endlich ein Erstlingswerk mit vulkanischer Gewalt Bahn, dessen Erfolg oder Mißerfolg nicht selten die Gefühlssphäre für das ganze übrige Leben bestimmt. Mißerfolg erzeugt entweder Entmutigung oder, was bei den Echten häufiger vorkommt, Verbitterung. Das Selbstbewußtsein, durch die Ablehnung mächtig gesteigert, setzt sich in Opposition, und jede Äußerung erhält fortan einen Beigeschmack von Leber. Selbst Charaktergröße schützt nicht davor, falls sich der Mißerfolg öfters wiederholt, wie wir an dem Beispiel eines der Größten, nämlich Grillparzers, es lernen. Wer sich aber darüber aufhalten möchte, daß der Mißerfolg eine solche verderbliche Rückwirkung hat, anstatt daß man einfach mit frohem Mut weiterarbeitete, der vergißt, daß der Dichter in sein Werk, namentlich in sein Erstlingswerk, seine ganze Seele hineingelegt, weshalb dessen Schicksal ihn ins Herz trifft.

Von dieser verbitterten, verkannten Spezies brauche ich Ihnen nicht weiter zu reden, denn jedermann gibt zu, daß nicht leicht eine unumgänglichere, unerquicklichere Menschenklasse gefunden werden kann, als der verkannte oder der sich verkannt glaubende Poet.

Hat umgekehrt Erfolg stattgefunden, dann erwartet das Publikum einfach die Fortsetzung und wird irre, wenn sie ausbleibt. Sie bleibt aber meistens jahrelang aus und muß es bleiben, weil zwischen instinktiver eruptiver Einmalschöpfung und bewußtem stetigem Kunstwirken ein gewaltiger Unterschied und eine weite Kluft besteht. Jetzt heißt es erst festen Fuß in der Kunst fassen, sich in allen Formen umsehen und dasjenige Gebiet finden, in welchem die gegebene Individualität das Höchste leisten wird. Eine schwere und bange Aufgabe, die nur mittels Fehlversuchen und unermüdlicher Willenskraft gelöst wird. Ein halbes, oft ein ganzes Jahrzehnt kann darüber hingehen.

Hat endlich der einzelne dasjenige Feld erkannt und erobert, auf welchem er fortan als Herr und Meister schalten wird, dann beginnt erst recht die Arbeit. Eine selige, beneidenswerte Arbeit, weil Erntearbeit, aber eine Arbeit von einer Intensivität wie keine andere. Und wohlverstanden: vor jedem neuen Werk muß wieder von vorne angefangen und um die Form gerungen werden. Es gibt keine Meister im populären Sinn, so nämlich, daß einer seine Kunst ein für allemal im reinen hätte. Selbst ein Schiller zwang jedes seiner Dramen nur mit Müh und Sorgen. Und hinfort wird bis zum letzten Atemzug die Arbeit nicht mehr ruhen. Denn wen unsterbliche Motive heimsuchen, dem steht es nicht frei, sie anzunehmen oder sie abzulehnen oder auch nur sie aufzuschieben. Er muß sie ins Werk setzen, und ob dabei sein armes Leben zugrunde ginge. Bei solchen Künstlern, deren Begabung eine reiche ist, wird deshalb der Produktionstrieb, wenn einmal die entsprechende Kunst der Ausführung erworben ist, ein geradezu fieberhafter.

Also eine ruhelose, wenn auch keineswegs freudenlose Arbeit von beispielloser Anspannung bis zur Besessenheit, das ist die Bedingung des Künstlers und Dichters großen Stils. Entweder Okkupation oder Präokkupation, niemals völlige Pause. Können Sie nun hoffen, mit einem derart in sein Lebenswerk gefangenen Menschen gedeihlichen Umgang zu pflegen? mit ihm zu »schwärmen« oder ihm überhaupt nur für irgend etwas anderes ein tieferes Interesse einzuflößen? Unmöglich. Rücksichtslos wird er entfernen, ja nötigenfalls zerstören, was ihn hemmt: Menschen und Verhältnisse. Und mit Recht. Denn Menschen und Verhältnisse vergehen, sein Werk aber soll bleiben. Dadurch kommt er freilich in den Ruf des Egoismus, wie übrigens jeder fleißige Mensch. Hätten wir nur viel von demjenigen Egoismus, der sich einem idealen Werk opfert! Mit welcher Naturgewalt aber bei energisch produktiven Künstlern das jeweilige Arbeitsthema den Menschen gefangen nimmt und für alles andere verstockt und verblendet, dafür besitzen wir einen hübschen Ausdruck von Balzac. Als ihm einmal ein Freund wichtige Nachrichten brachte, unterbrach er ihn: »Sprechen wir lieber von der Wirklichkeit,« sagte er und fing an von einer seiner Romanfiguren zu reden. Das trifft den Nagel auf den Kopf: dem Künstler und Dichter großen Schlages ist sein Werk Wirklichkeit, alles andere verhängt ein Schleier. Nicht etwa wegen »Begeisterung«; denn ein großer Geist ist nie »begeistert«, sondern wegen Pflichtgefühl oder richtiger wegen des Bewußtseins dessen, was er tun kann und deshalb tun muß.

Indem ich dem Dichter Begeisterung abspreche, muß ich wohl dieses Paradoxon etwas erklären. Erhebung und zwar hohe Erhebung findet gewiß statt, ja, sie bildet die Grundbedingung des Schaffens, allein nur in der allerersten Zeit wird diese als Exaltation empfunden, später lebt der produktive Künstler dermaßen mit der Phantasie beständig in der Höhenluft, daß eine Steigung von ihm selber nicht mehr wahrgenommen wird. Selbst die Vision oder Konzeption oder wie man den plötzlichen Keimprozeß der geistigen Schöpfung sonst nennen will, stellt sich nicht mehr unter Erschütterungen des ganzen Menschen ein, wie in der ersten Jugend, sondern nur unter seelischem Bildglanz, durch welchen eine tiefe Traurigkeit zittert. Denn alle Wahrheit, von der Höhe des Lebens geschaut, ist traurig, und die Visionen, die sich dem erwachsenen Dichter aufdrängen, tragen das Totenhemd begrabener Hoffnungen. Sich innerlich aufzuschwingen, um in den Lüften nach Einfällen zu jagen, das fällt keinem Meister ein; der hat genug zu tun, die von selbst auferstehenden Toten teils zu bannen, teils zu befriedigen. Wie Odysseus in der Höhle, als die Schatten ihn bestürmten, um Leib und Leben bettelnd, so daß er sich ihrer mit dem Schwarte erwehren mußte. Die meisten Schatten lassen sich abwehren, einige von ihnen aber werden so zudringlich, so lästig, so drohend, daß ihre Forderung bewilligt werden muß. Das sind die Stoffe, die man wirklich ausführt, das werden die Bücher, die man schreibt. Auch während der Ausführung versagt sich der Meister den Genuß der Begeisterung an den eigenen Bildern. Stoff und Arbeit, Aufgabe und Lösung, das sind seine Kategorien; richtig und genau zu vollfertigen, was die Konzeption erheischt, ist seine bange Sorge. Was an Schönheit dabei abfällt, heimst er eifrig ein, aber ohne sich dabei aufzuhalten, ohne es aufzukosten, wie es der Anfänger tut, und wie es später der Genießende tun wird und tun soll und darf; weil aller Fortschritt darauf beruht, daß das Erstaunliche als selbstverständlich empfunden werde. Das ganze Verhältnis, ich meine den Unterschied zwischen der poetischen Schwärmerei des Anfängers und der Kaltblütigkeit des Meisters angesichts der entzückendsten Visionen hat La Bruyère sehr schön in folgendem Paradoxon ausgedrückt: »Der Unterschied zwischen einem Genie und einem Pfuscher,« sagt er, bestehe darin, »daß der Pfuscher sich bemüht, erhaben zu sein, während das Genie sich damit begnügt, exakt sein zu wollen.« Ich möchte Ihnen noch folgendes erklärende Bild empfehlen: der Dichter, der sich begeistert, mahnt mich an den Knaben, der an der Mauer eines Weinberges die verzweifeltsten Sprünge ausführt, um womöglich zufällig eine Traube herunterzureißen; wer dagegen groß genug ist, um an die Rebstöcke hinanzureichen, der wählt sich festen Standes mit scharfem Auge die schönsten Muskateller und seine Sorge ist hauptsächlich darauf gerichtet, daß beim Pflücken keine Beeren verloren gehen.

Mit einem solchen ruhelosen Weben und Schaffen in der Sphäre des Gemüts und der Phantasie sind aber schwere Störungen des Temperaments und des Nervensystems ganz unvermeidlich. Das kann nur der bestreiten, der nicht weiß, was Phantasiearbeit heißt, oder der sich in eine entgegengesetzte Theorie verrannt hat.

Aus mißverstandenen Beispielen hat man nämlich versucht, ein Evangelium der Gesundheit und Kraft mit obligatorischer Hygiene für den Dichter zu verfassen. Mit Gesundheit und Kraft der Kunst erklärt sich wohl jeder einverstanden. Aber robuster Künstler und Dichter mit Hausknechtsnerven ist ein Ding der Unmöglichkeit. Damit macht die Natur einen Pompier oder Kanonier, aber nicht einmal einen großen Kapitän. Alexander, Napoleon und Friedrich der Große zeigen ebenfalls nervös-sentimentale Symptome. Solange die Welt steht, werden Phantasiemenschen schwere neurasthenische Störungen aufweisen. Es tut mir leid, daß es so ist, aber es ist so. Und niemand soll mir einwerfen, daß das bei den ganz Großen anders wäre. Dante ist wohl meines Wissens auch ein ganz Großer; auch wird schwerlich jemand seine Kunst eine ungesunde nennen. Nichtsdestoweniger würde er heutzutage nach der modernen Gesundheitstheorie wegen seiner Halluzinationen und seiner Ohnmachten ein »erbärmlicher Schwächling« heißen und energisch mit Kaltwasser behandelt werden. Shakespeare, dessen Kunst doch, wie ich vernommen habe, ebenso kräftig als gesund ist, wurde wegen seiner persönlichen »Süßlichkeit« verspottet. Dem würden unsere Kraftkritiker unfehlbar Holzspalten verordnet haben.

Die mindeste Einsicht in den menschlichen Organismus reicht übrigens hin, um zu erraten, daß dem auch gar nicht anders sein kann, daß fortgesetzte konzentrierte Phantasietätigkeit, überdies mit Gemütsaffekten kompliziert, unvermeidlich pathologisch stimmen muß. Schon angestrengte Geistesarbeit steht ja bei den Ärzten in fatalem Kredit; und ein kerngesundes Nervensystem, wie man es dem Künstler zumuten möchte, hat überhaupt bloß der Muskelarbeiter. Mehrere bedeutende Denker, darunter der Philosoph Lotze, haben ausgesprochen, daß vom sanitarischen Standpunkte aus der Geist als ein unnützer, wenn nicht schädlicher Schmarotzer des Körpers betrachtet werden müsse.

Von der Phantasie aber gilt das in ungleich höherem Grade: Rechnet doch einer der berühmtesten französischen Psychiater, nämlich Moreau von Tours, jede Phantasietätigkeit schon unter die krankhaften seelischen Zustände. So erzählt er von einem Krankheitsfall, in welchem der Patient abwesende Personen nach Belieben sich habe vorstellen können, mit allen Einzelheiten der Gesichtszüge. Also das einfache Erinnerungsvermögen wird von dem Herrn Doktor schon als Seelenstörung aufgefaßt. Daß einem die Geliebte in rosigem Schimmer und goldenem Schein strahlt, zählt er unter eine bestimmte Rubrik der Geisteskrankheiten: unter die Erotomanie. Wie übertrieben und aberwitzig eine solche psychiatrische Gendarmenkritik sein mag, so zeigt sie uns doch den Weg, auf welchem wir wandeln: Wo immer ein Mensch vorzugsweise ein Phantasieleben statt ein nach außen gerichtetes führt, da bewegt er sich schon in der Richtung zur Krankheit; einstweilen zahlt er der Neurasthenie mit allen ihren Folgen einen reichen Tribut. Ein Künstler und mehr noch ein Dichter, während er mit einem großen Werk beschäftigt ist, steht unter den Bedingungen jener Geisteskranken, welche ein sogenanntes Doppelleben führen. Lange Zeit mag der Verstoß gegen die Natur ungestraft bleiben, es genügt aber oft eine Kleinigkeit, ein äußerer Schicksalsschlag oder ein deprimierender Gemütsaffekt, um plötzlich die Geistesstörung öffentlich zu dokumentieren. Die Literaturgeschichte gibt uns leider nur allzu häufige Beweise hierfür. Doch muß man sich ja vor einer Verwechselung hüten: Genie an und für sich ist nicht Wahnsinn, sondern im Gegenteil außerordentlicher Tiefsinn und Scharfsinn, wie denn die großen Dichter immer zugleich die besten Denker gewesen sind. Aber die Betätigungen des Genies, diese unausgesetzte Präokkupation, dieses angespannte Phantasieleben, diese angestrengte Riesenarbeit führt durch die Stationen der Neurasthenie und Hysterie leicht zur Störung des geistigen Gleichgewichtes.

Wenn Sie einem, der die verschiedensten Geistesarbeiten versucht und verglichen hat, ein Urteil aus seiner eigenen Erfahrung erlauben wollen, so gestatte ich mir die Bemerkung, daß die kleinste dichterische Produktion, und flösse sie auch noch so leicht und schnell und scheinbar ohne Gemütsaffektionen, die Nerven mehr erschöpft als tagelange konzentrierte Denkarbeit.

Jeder Dichter wird also, vorausgesetzt, daß er energisch mit großen Plänen umgeht, mehr oder weniger die Symptome eines Nervenkranken aufweisen. Daraus erklären sich seine berühmten »unbegreiflichen« Schwächen. Ihm dieselben zum Vorwurf zu machen, ist so gescheit, als wenn man einen Soldaten, der eine Wunde ins Bein erhalten hat, darum tadeln wollte, daß er schwankt.

Freilich eine Quelle des Genusses für die Nebenmenschen ist diese krankhafte Reizbarkeit keineswegs, ebensowenig wie der Umgang mit einer hysterischen Frau.

Ich habe mich nun oft gefragt, ob die Reizbarkeit des Künstlers irgendwelche spezifische Merkmale trage, die von der allgemeinen nervösen Reizbarkeit sich unterscheiden. Vielleicht können wir ein solches spezifisches Merkmal in der Maßlosigkeit und Nachhaltigkeit der Reaktion auf äußere Eindrücke erblicken. Ein Tadel, eine unwillkürliche Vernachlässigung wird als tödliche Beleidigung empfunden, ein schnödes Wort will nicht aus dem Gedächtnis weichen, wo es vielmehr von Tag zu Tag größere Proportionen annimmt. Und ähnliches mehr, ja bis zum Verfolgungswahnsinn; wie wir es in Goethes Tasso lesen und in der Wirklichkeit erleben.

Die psychologische Erklärung hierfür ist leicht zu finden. Empfindsamkeit kann nicht ohne Empfindlichkeit bestehen; das Gemüt des Künstlers hat Tasten, welche leichter anschlagen und Saiten, welche länger nachklingen als das beim Normalmenschen der Fall ist. Auch muß derjenige, dessen Ohr gewohnt ist, den Gesprächen von Phantasiegestalten zu lauschen, die wirkliche materielle Rede des Nebenmenschen als einen gewaltsamen Eingriff wahrnehmen. Er wird sich auf Schritt und Tritt beleidigt wähnen und, indem er seinerseits gegen vermeintliches Übelwollen reagiert, vielleicht ungerecht werden. Hier haben Sie ein Beispiel, wo die Neurasthenie den Charakter alteriert.

Psychologisch interessant, weil auf den ersten Blick unbegreiflich, ist die Hinneigung zur Taktlosigkeit, von welcher wir seit Simonides über Ovid bis Rousseau und in unsere Tage merkwürdige Beispiele haben. Man sollte meinen, daß der feinsinnigsten, weiblichsten Männerklasse nichts so fernliegen sollte als Taktlosigkeit. Allein ebenso sehr wie Gefühlsplumpheit kann Gefühlsraffiniertheit Taktlosigkeit erzeugen, weil Takt die Übereinstimmung einer Äußerung mit dem mittleren temperierten Gefühl des normalen Nebenmenschen bedeutet. Wessen eigenes Gefühl von dieser mittleren Temperatur abweicht, sei es nun nach oben oder nach unten, der wird den jeweiligen Gefühlszustand des Nebenmenschen nicht erraten und sich demzufolge unangemessen äußern. Deshalb ist mit Einsamkeit fast immer einige Taktlosigkeit verbunden.

Von Künstlern und Dichtern zu reden, ohne ihre sprichwörtliche Eitelkeit zu erwähnen, möchte manchem als ein grobes Versäumnis vorkommen. Ich gestehe indessen, daß ich diese Eigenschaft bei Großen nicht habe beobachten können und halte den Vorwurf vielmehr für einen Ausfluß von Mißverständnissen und auch ein wenig von Bosheit.

Was ist Eitelkeit? Ein Sichzugutetun auf seine Privatperson. Nun widerspricht schon die Tatsache, daß große Künstler sich in die Einsamkeit zurückziehen, der Eitelkeit. Denn eitle Menschen brauchen Geselligkeit, um sich bewundern zu lassen.

Will man aber mit dem Vorwurf der Eitelkeit zu verstehen geben, daß Autoren gerne von ihren Werken reden, daß das Lob derselben ihnen wohltut, die Verwerfung derselben sie schmerzt, daß sie sich überhaupt angelegentlich um die Wertschätzung ihrer Leistungen durch die Mitwelt kümmern, so wird zwar die Tatsache zutreffen, nicht aber der Vorwurf. Abgesehen davon nämlich, daß Selbstbewußtsein über eine brave, wichtige und mühsam geschaffene Leistung nichts Eitles, sondern vielmehr etwas Mannhaftes ist, so bekundet die Lust von dem zu reden, was einem das Wichtigste ist, was die Gedanken erfüllt, einfach Naivität. Der Dichter redet gerne von dem Werke, das ihn eben beschäftigt, wie eine Mutter von einem Kinde, das ihr Sorge macht.

Mit der angelegentlichen Besorgnis um den Ruhm der Werke aber hat es eine sehr ernste Bewandtnis. Vergessen Sie nicht, daß jeder Künstler und Dichter Grandissimo gegen Nullissimo spielt. Entweder er ist alles oder er ist gar nichts; denn ein Mittleres gibt es hier nicht. Nun ist niemand seiner selbst und des Wertes seiner Leistungen so sicher, daß er nicht Stunden schweren Zweifels oder selbst der Verzweiflung kosten müßte. Hat doch selbst Beethoven Zeiten gehabt, in welchen er keinen andern Trost fand als den, daß ihm ein Platz in der Musikgeschichte werde müssen eingeräumt werden. Um daher der bangen Zweifel auf immer ledig werden zu können, bedarf jeder, daß der Spruch seines Selbstbewußtseins von seinen Zeitgenossen unterschrieben werde. Darum auch die fürchterliche Rückwirkung der Nichtanerkennung. Denn in diesem Falle kann der Glaube an sich selbst nur um den schweren Preis der Menschenverachtung aufrechterhalten werden. Man sei daher mit dem Vorwurf der Eitelkeit etwas vorsichtiger. Übrigens beruht nach meiner Meinung die Popularität dieses Vorwurfs einfach auf einer Verwechselung. Nämlich nicht die Künstler und Dichter sind eitel, sondern gewisse Klassen, die durch persönliche Vorstellung wirken und die das Volk irrtümlich »Künstler« nennt: Schauspieler, Opernsänger und Zirkusleute, überdies – und nicht am wenigsten: die hochgeehrten Herren Dilettanten.

Auch vom Neid muß ich die Dichter freisprechen. Wenn mir jemand von einem bedeutenden Autor berichtet, daß er einen andern beneide, so sage ich unbedenklich: »Das ist nicht wahr,« auch wenn ich ihn gar nicht kenne. Denn wo wahres Talent waltet, da ist auch die Wertschätzung fremder Leistung so mächtig, daß das Gefühl für ihren Verfasser dasjenige der Achtung und der Freundschaft sein muß. Verhetzen kann man freilich durch Künste der Intrigen und der parteiischen Ungerechtigkeit einen gegen den andern, wie man Mendelssohn und Schumann verhetzt hat, allein auch dann kommt es bloß zu einer gewissen Animosität, die sogleich schwindet, wenn die hetzende Meute nachläßt, wenn die beiden Betreffenden sich allein gegenüberstehen. Die Geschichte der Kunst und Literatur legt von großer Kollegialität glänzende Zeugnisse ab. Vergleichen Sie z. B. die Maler und Dichter der Renaissance mit den Humanisten, so werden Sie finden, daß es nicht die Künstler und Dichter sind, die sich hassen, beneiden und schädigen, sondern eine andere staatlich bevorzugtere Menschenklasse.

Unendlich vieles gehörte noch von wegen des Themas hierher. Z. B. die Erörterung, warum wir bei Künstlern und Dichtern so häufig die sogenannte Sinnlichkeit (richtiger die Phantasiebetörung durch Schönheit der weiblichen Form) treffen, eine Frage, welche uns auf den Zusammenhang der Phantasie mit dem erotischen Nervensystem führen würde und welche von Nietzsche ebenso bündig als richtig beantwortet worden ist.

Allein meine Frist ist um. Ohnehin kann das Gesagte genügen, um Ihnen anzudeuten, warum ich den habituellen Umgang mit hervorragenden Dichtern nicht für ein Vergnügen, sondern für eine schwere Aufgabe halte. Zugleich aber auch für eine ernste. Denn man kann tief verletzen und Unersetzliches zerstören. Schonung ist unerläßlich. Man schuldet sie zwar nicht. Denn den Künstlernaturen Ausnahmerechte zuzugestehen, das gäbe eine saubere Geniewirtschaft! Wo aber einem Dichter aus freien Stücken Schonung zuteil wird, sei es von seiten eines liebenden Weibes oder eines hochsinnigen Maecenas oder einer großherzigen Nation oder Generation (wie sie Frankreich mit Rousseau übte), da weiht den edlen nachsichtigen Beschützern die Geschichte ihren schönsten Segen. Wer aber nicht vom Schicksal den Beruf erhalten hat, sich mit dieser Menschenklasse abzugeben, der bleibe besser ferne, eingedenk des weisen Sprichwortes unserer Nachbarn: weit vom Geschütz gibt alte Kriegsleut. Nämlich nicht bloß Schonung bedürfen die Literaten; sondern es ist ihnen auch Bedürfnis, andere nicht zu schonen. Mit deutlichen Worten: sie werden manchmal recht grob.

Eine Ausnahme nur mache ich: die Herren Kollegen. Diese werden durch den Umgang, sei er nun vorübergehend oder dauernd, Unersetzliches gewinnen, durch gegenseitige Mitteilung, Belehrung und Ermutigung. Den übrigen sind Unterhaltungen mit literarischen Berühmtheiten gänzlich unersprießlich. Entweder der Herr redet uns vom Wetter oder von der Salatkultur statt von Goethe und Schiller, oder er wirft einem technische Belehrungen an den Kopf, die ihn gerade interessieren, aber uns nicht; in keinem Falle wird er das tun, was wir von ihm begehren, nämlich poetisch werden. Ein echter Dichter wird überhaupt nie poetisch. Dergleichen müssen Sie sich von gebildeten Hausfreunden besorgen lassen.

Und nun zum Abschied, damit ich Sie mit einer erhebenderen Vorstellungsreihe entlasse, die bloße Nennung der beiden persönlichen Kardinalvorzüge des echten Dichters: sie heißen Edelmut und Seelengröße. Die schwersten Tugenden sind ihm gerade die leichtesten: Hingabe eines ganzen Lebens an einen idealen Zweck, ohne Lohn und oft auch ohne Hoffnung, Verzicht und Verzeihung, und die legendäre Vergeltung des Bösen mit dem Guten.

Das alles fließt ihm so natürlich aus dem Charakter wie aus dem Brunnen der Quell. Er kann gar nicht anders.

Wenn Sie aber finden sollten, daß die einzige Tugend der Großmut einen ganzen Rosenkranz von entstellenden Schwächen wett mache, so werde ich Ihnen nicht widersprechen.

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Tag der Veröffentlichung: 06.09.2012

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