Seit ungefähr zwei Jahrzehnten reißt in Deutschland – und nicht nur in Deutschland – mehr und mehr der Brauch ein, die Neugierde des literarischen Publikums durch Vexiertitel zu reizen. Unter Vexiertiteln verstehe ich solche Titel, welche anstatt den Inhalt zu benennen oder zu erklären, ihn geflissentlich verhüllen.
Das geschieht, indem man entweder eine nebensächliche Anekdote oder ein geringfügiges Requisit oder etwas Ähnliches aus dem Texte in den Titel erhebt (Typus: »Fledermaus«); oder indem man einen abstrakten Gedanken, den das Buch oder das Stück zu beweisen vorgibt, mit irgend etwas Auffälligem, womöglich Vierfüßigem, vergleicht und hierauf das verglichene Bild zur Überschrift wählt (Typus: »Der schwarze Schleier«). In letzterem Falle geht es tatsächlich so zu, daß der Verfasser erst einen marktschreierischen Titel ausklügelt und nachträglich irgendwo im Text das Gleichnis anbringt, welches er dann, um den Titel zu rechtfertigen, mit ein paar lehrhaften Worten pedantisch und aufdringlich auseinandersetzt.
Mit diesem System lassen sich das gewöhnlichste Schablonendrama und der gemeinste Assessorroman mit dem wunderbarsten Namen taufen. Z. B. »das rote Kaninchen«, oder »der fliegende Frosch«, wenn etwa die Hauptpersonen nach unmöglichen Zielen jagen; es braucht ja bloß irgend jemand irgend einmal im Verlaufe des Werkes den Begriff der Unmöglichkeit mit einem roten Kaninchen oder einem fliegenden Frosch zu versinnbildlichen.
Nun wundere ich mich keineswegs, daß die Reklame dieses raffinierte Mittel erfunden hat, denn die Reklame ist ebenso pfiffig wie skrupellos. Dagegen wundert mich, daß je länger je mehr auch vornehmere Geister dieses unfeine Mittel nicht verschmähen und daß dasselbe ohne Widerspruch hingenommen wird. Ist es doch schon so weit gekommen, daß, wenn ein Roman mit dem Titel »Sappho« oder ein Theaterstück mit dem Titel »Tilly« erscheint, jedermann als selbstverständlich voraussetzt, daß das Werk jedenfalls nicht von Sappho und nicht von Tilly handeln werde.
Gegen dieses Versteckenspielen möchte ich mir nun erlauben, ein ernstes Bedenken auszusprechen. Nämlich abgesehen von der Pfiffigkeit des Kunststückchens, welche an sich schon nicht würdig, jedenfalls nicht vornehm ist, finde ich, wenn ich den Kunstgriff prüfe, daß er auf einer Lüge beruht. Denn wenn einer das, was er meint, absichtlich so ausdrückt, daß der Leser oder Hörer etwas anderes darunter verstehen muß, so lügt er. Den Einwand der Geringfügigkeit aber lasse ich nicht gelten. Auch die kleinste Krebspustel beweist Krebs. Wenn ich daher die Schriftsteller eines ganzen Zeitalters mit den Überschriften Unwahrheiten sagen höre, so muß ich auf einen allgemeinen Mangel an Empfindlichkeit für Wahrheit und Unwahrheit schließen. Aus diesem Grunde schlage ich vor, zu dem alten ehrlichen Brauch zurückzukehren, solche Überschriften zu wählen, welche nicht irreführen, sondern weisen, d. h. entweder den Inhalt andeuten oder den Hauptgedanken aussprechen, oder den Hauptnamen nennen.
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2012
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