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Vor mir liegt ein halbes Dutzend im vergangenen Jahre erschienener und von verschiedenen Verfassern geschriebener Bücher, welche sämtlich mit einer Widmung »An meine Mutter« versehen sind. Da ist es wohl am Platze, ein Wort, das, wie ich vermuten muß und hoffen darf, schon oft gesagt worden ist, nochmals zu sagen.

Bücher, die man drucken und durch eine Verlagshandlung kreuz und quer in die unbekannte Welt verbreiten läßt, sind eine Angelegenheit der Öffentlichkeit, nicht der Familie. Weder die Mutter, noch die Frau, noch die Tante des Verfassers kommt hier in Betracht. Daß ein erwachsener Mensch, wenn er das unschätzbare Glück hat, seine Mutter noch unter den Lebenden zu besitzen, ihr seine besten Gefühle der Liebe, Ehrfurcht und Dankbarkeit widmet, versteht sich von selbst, ist auch kein Dichtergeheimnis. Ein Parlamentsredner gibt an Familienpietät dem Schriftsteller nichts nach; dennoch fällt ihm nicht ein, eine Rede über die Zuckersteuer mit einer Anhänglichkeitsfloskel an die Adresse seiner liebsten Angehörigen einzuleiten. Ich verstehe ja und achte die Gesinnung, ich fühle sogar mit, ich lasse mich willig rühren und schließe überdies aus der Widmung auf die Gutartigkeit und Liebenswürdigkeit beider, des Verfassers und der Mutter. Es würde mich aber ein ähnlicher Pietätsausdruck auch am Parlamentsredner rühren. Warum tut der Parlamentsredner nichts dergleichen? Weshalb läßt er sich diesen Vorteil entgehen? Weil er ein größeres Taktgefühl besitzt, weil er spürt, daß man der Öffentlichkeit nicht Vertraulichkeit, sondern Ehrerbietung schuldet. Eine Nation ist ein zu erhabener Wert, um als Münze für ein Familiengeschenk zu dienen, und das Publikum eine zu hohe Person, als daß man ihm zumuten dürfte, sich in seiner Gesamtheit in unbestimmter Richtung nach einer unbekannten Dame zu verneigen, wie ehrwürdig dieselbe an sich sein möge. Ich weiß nicht, wie es andern ergeht; ich verspüre in solchen Fällen stets einen leisen Kitzel, dem Verleger das Buch ungelesen zurückzusenden, mit der Begründung, daß ich leider zufällig nicht die Ehre hätte, die Mutter des Verfassers zu sein. Freilich behält schließlich das Mitgefühl die Oberhand; allein ich habe dem Verfasser schon etwas verzeihen müssen, ehe er nur Zeit hatte, mir seine metrischen Fehler zu entwickeln, und das ist etwas zu früh.

Ein altes Herkommen verschuldet den Mißbrauch und entschuldigt ihn im Einzelfalle; ja, die Kunstgeschichte muß ihn in den Augen derer, denen erlauchtes Beispiel schon Gesetz bedeutet, sogar rechtfertigen. Dichter und Künstler entrichteten einst auf dem Titel oder gar innerhalb des Werkes selbst beliebigen, uns gleichgültigen Herren und Damen ihren Höflichkeits- oder Anhänglichkeitstribut. Maler schenkten uns zu einer herrlichen Madonna Tuchhändler und Ratsherren mit in den Kauf; Musiker verschnörkelten den Titel ihrer unsterblichen Werke mit dreimeterlangen adligen Namen. Ob jedoch dergleichen auf uns erhebend wirke, das frage ich jeden Unbefangenen. Übrigens gehört die Huldigungspflicht der Vergangenheit an; gegenwärtig sieht sich der Künstler und Schriftsteller zum großen Vorteil seiner Standeswürde ihrer entbunden. Darf er nun dafür seinerseits willkürlich die Welt veranlassen, ihm den privaten Gefühlstribut, den er jemand schuldet, mitzahlen zu helfen? Nein; der Mutter des Schriftstellers gebührt das erste Exemplar eines Werkes, das Werk selber aber gehört einer anderen Dame: ehedem nannte man sie Muse, jetzt heißt sie die Kunst. Ihr allein soll ein Kunstwerk gewidmet werden. Da sich übrigens diese Widmung von selbst versteht, bleibt unter allen Widmungen bei weitem die geziemendste: gar keine Widmung.

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Tag der Veröffentlichung: 05.09.2012

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