Ganz mit Unrecht hat man die Ballade unter die epischen Dichtungsgattungen rechnen wollen. Denn die Gestaltung eines Epos, auch des kürzesten, erfordert ganz andere Fähigkeiten und Stimmungen als die Ballade. In der Verlegenheit wählte die Poetik folgendes Auskunftsmittel: nicht episch, nicht lyrisch, folglich »lyrisch-episch« oder »episch-lyrisch«. Ob das logisch sei, scheint mir zweifelhaft. Ein Tier, das weder ein Hund, noch eine Katze zu sein scheint, ist deshalb keine Hundekatze.
Ich frage einfach: Wer schreibt und wer schrieb von jeher Balladen? Die Literaturgeschichte antwortet: der Lyriker. Daraus ziehe ich den Schluß, daß die Ballade zur lyrischen Poesie gezählt werden muß. Indirekte Lyrik; Lyrik mit einer Maske vor dem Gesicht.
Weit wichtiger als die Definition der Ballade, welche, beiläufig gesagt, niemand gelingt, ist die Unterscheidung ihrer Unterabteilungen. Denn die Unterscheidung verfeinert das Stilgefühl und läßt neue Aufgaben finden. Da ergibt sich denn vor allem die Trennung der naiven Volksballade von der bewußt und virtuos ausgearbeiteten Kunstballade. Zwei gewaltige Hälften, welche ihrerseits wiederum eine Menge von Unterabteilungen haben.
I.
Ich beginne mit der Volksballade. Dieselbe hat entweder einen mythologischen Hintergrund oder, als Ersatz dafür, einen Idealismus menschlicher Übermacht, vor allem der Königskrone. Ich spreche daher von mythologischen Balladen und von Königsballaden.
Die mythologische Ballade beschäftigt sich mit alten degenerierten Heidengöttern, welche, aus Religion und Weltanschauung vom Christentum verdrängt, im Volksaberglauben weiterspukten, am liebsten mit Nixen und Elfen. Diese Götter greifen handelnd in das Menschenschicksal ein. Sie werden ursprünglich als menschenfeindliche Wesen aufgefaßt; ihre Begegnung bringt Unheil. Deshalb hat die echte naive Volksballade meist tragischen Ausgang und grausige Stimmung.
So noch bei Bürger.
Die Gespensterballade und die blutige Schauerballade sind Unterarten, beziehungsweise Abarten und Unarten der mythologischen Ballade. Merkwürdig übereinstimmend erscheinen die mythologischen Gestalten in der Volkspoesie der verschiedensten Nationen. Sie treffen die Nixen und Elfen unter andern Namen fast überall.
Wenn Sie die zweite Art der Volksballaden, die Königsballaden, nachfühlen wollen, so müssen Sie sich erinnern, daß die Krone dem Mittelalter als etwas mit dem Übersinnlichen Verwandtes erschien. Hat doch im Volksmärchen der Königssohn ungefähr Feenrang. Die Königsfamilie erscheint wie eine höhere Art Mensch, deren bloßer Name schon idealistisch wirkt und deren Wesen und Gebaren durch einen glänzenden Schimmer verhüllt wird. Deshalb keine Spur einer Charakteristik, so wenig wie die Phantasie Engel charakterisiert. Mich wandelt, wenn ich so einen Balladen- oder Märchenkönig sehe, immer die Lust an, mit ihm Skat zu spielen. Es sind Kartenspielkönige.
Es ist übrigens die Königswürde nicht unerläßlich für einen Helden der Königsballade. Es können andere Stände dafür vikariieren, vorausgesetzt nur, daß der Stand einen idealistischen und edlen Schimmer in der Volksphantasie gewinnt. Ich betrachte die Heldenballade, die Ritterballade, die Sängerballade, die Liebesballade nur als Unterarten der Königsballade.
Bekannterweise, aber auch merkwürdigerweise, versteht die Volksphantasie das Kunststück, famose Verbrecher mit einem idealistischen Nimbus zu umgeben, vorausgesetzt, daß der Verbrecher in wohltuender Ferne arbeitet oder regelrecht halspeinlich unschädlich gemacht worden ist. Denn vorher lautet es anders.
Es gibt daher auch eine Halunkenballade und zwar in reichhaltigem Assortiment. In Osteuropa erhält der Heiduck, der Kosak, deren Name ursprünglich einen räuberischen Freibeuter besagt, die poetische Verklärung; in Westeuropa sind es Banditen und Privaträuber, Rinaldo Rinaldini, Fra Diavolo und dergleichen. Den Korsaren hat sogar ein Dichter vom Range Byrons zum Liebling erwählt. Und noch heutzutage ist kein Geköpfter vor dem Besungenwerden sicher. Die mörderliche Bänkelsängerei der früheren Jahrmärkte ist ein echter direkter Abkömmling der alten Volksballade.
Dagegen hat die Volksphantasie niemals dem Gericht, den Betreibungsbehörden, dem Steuerwesen und den Pfändungsbeamten eine poetische Seite abgewonnen. Es gibt keine Polizeiballade.
II.
Nun zur zweiten Hälfte der Balladendichtung: zur Kunstballade.
Es genügt nicht, daß ein Künstler sich der Volksballade zuwende, damit eine Kunstballade entstehe. Denn der Künstler kann sich seiner Persönlichkeit und seiner Bildung entäußern, um die Naivität der Volkspoesie nachzuahmen. So handelten zum Beispiel Bürger und Uhland. Dann entsteht ein archaistisches Kunstwerk, das heißt ein solches, welches absichtlich im Geiste einer entschwundenen Zeit oder entschwundener Vorstellungen und Stilformen arbeitet. Wenn Mendelssohn Fugen und Oratorien im Geiste Bachs komponierte, so komponierte er archaistisch: wenn unsere Baumeister Häuser in Rokoko oder Gotik bauen, so bauen sie archaistisch.
Die Kunstballade entstand, als ein Dichter, ohne sich seiner Bildungshöhe und seiner Kunst zu entäußern, mit seiner ganzen Persönlichkeit sich der Ballade annahm. Und jener Dichter war, wie Sie wissen, Goethe. Er hat die Kunstballade geschaffen. Tiefeingreifende, wenn auch nicht auffällige Unterschiede von der Volksballade zeigt die Goethesche Kunstballade; Unterschiede im tiefsten Innern wie in der äußern Form.
Der ursprüngliche mythologische Gehalt wird in der Kunstballade allegorisch gedeutet und rationalistisch erklärt. Die ehemaligen Götter sind nur noch bildliche Umschreibungen der Naturkräfte. Die tragische und grausige Stimmung kommt abhanden; an ihre Stelle tritt ein hoher Gedankengehalt, der alles durchgeistigt. Ruhe und Anmut, Klarheit und Schönheit der Bilder, des Tons und der Sprache durchsonnen die Goethesche Kunstballade; so daß, selbst wenn ein tragisches Ende erfolgt, keinerlei Rührung, geschweige denn Erschütterung bewirkt wird; denn die Befriedigung des ästhetischen Sinns ist so stark, daß selbst der Bericht des Todes die Harmonie nicht stört. Witz und Humor, ja sogar das Lehrhafte, tritt in der Goetheschen Ballade zutage.
Nicht ausnahmslos ist die Goethesche Kunstballade der Volksballade überlegen. Den Erkönig z. B. mit seiner etwas aufdringlichen Rationalistik vermag ich nicht als ebenbürtig mit seinen naiveren Vorbildern zu erkennen und ich stehe mit diesem Urteil unter den Dichtern nicht allein. Aber im ganzen bedeutet die Goethesche Ballade eine Erhöhung, und zwar eine gewaltige Erhöhung.
Wenn Sie nun ein Rezept haben wollen, um zu erkennen, ob eine Ballade der Volksballade, beziehungsweise ihrer Nachahmung: der archaistischen Ballade angehöre, so fragen Sie sich einfach: »Hat die Ballade einen klaren Gedankensinn, oder, was dasselbe ist, eine durchsichtige Symbolik?« Wenn ja, dann ist es eine Kunstballade. Denn die Volksballade arbeitet aus der Stimmung, die Kunstballade aus dem Gedanken.
Von allem bisher Behandelten grundverschieden sind die Schillerschen Balladen. Diese sind überhaupt nicht aus dem Stamm der Volksballaden gewachsen, auch nicht darauf gepfropft, sondern eine selbständige Pflanze mit eigenen Wurzeln. Von der Ballade haben sie nichts als den Namen; und dieser Name ist verfänglich, wie eine Etikette, die durch Verwechslung auf eine andere Flasche geheftet wird.
Soll man die Willkür der Benennung bedauern? Ich glaube nicht; denn hierdurch wird der Begriff der Ballade erweitert, wenn schon etwas gewaltsam. Die Poetik gewinnt damit einen Obertitel für die erzählende Lyrik im allgemeinen, und ein solcher Titel ist wünschenswert, vielleicht sogar nötig, einerlei wie er laute. Nur muß man verstehen und sich verständigen. Wenn einer z. B. an den Schillerschen Balladen das Wesen der Ballade im allgemeinen studieren wollte, wie das mit Bürger und Uhland und teilweise auch mit Goethe gelingen kann, so würde er auf abenteuerliche Irrtümer verfallen.
Was sind denn die Schillerschen »Balladen«? Vielleicht historische Balladen? Scheinbar ja, in Wirklichkeit nein, denn historisch kann bloß heißen, was durch sein Thema der Weltgeschichte angehört. Es genügt aber nicht, daß etwas vergangen und einer tot ist oder nie gelebt hat, damit er zur Weltgeschichte gehöre.
Wie heißen denn die Helden der Schillerschen Balladen? Was tun sie? Wann haben sie gelebt? Haben sie überhaupt wirklich gelebt? Beantworten Sie sich diese Fragen, die Schillerschen Gedichte in der Hand, so werden Sie auch die Antwort auf die Frage finden, was die Schillerschen Balladen sind: nämlich Anekdotenballaden.
Der gründliche Geschichtskenner, der unvergleichliche Geschichtsdramatiker ist in seinen Balladen der großen Geschichte aus dem Wege gegangen und hat geflissentlich die staubigsten Winkel der vergessensten Anekdotensammlungen abgesucht. Warum tat er das? Weil er unbedeutende Themen brauchte, um daran seine Riesenkraft und Meisterlust spielend zu betätigen. Der gegebene Stoff, das Geschichtchen, ist nichts; ja oft noch weniger als nichts, nämlich unleidlich; aber keines, das nicht Schiller zur Unsterblichkeit, zum Gemeingut aller Nationen erhebt. Er braucht ja bloß etwas anzurühren, so hat es den Stempel seiner Meisterhand. Schiller mißlingt überhaupt nichts.
Goethe und Schiller und ihre Nachfolger haben das Gebiet der Kunstballade keineswegs erschöpft. Überhaupt erschöpft ja niemand die Kunst.
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2012
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