Rossinis Jubiläum ist verklungen, und die Artikel der Tagesblätter zu seinen Ehren oder Unehren sind verrauscht. Was mir in den letzteren am meisten zu denken gab, ist die nachlässige Art, mit welcher man über die Einzelschönheiten, über die elementar musikalischen Offenbarungen des Meisters hinweggeht, um die Frage einzig nach Auffassung, Charakteristik, Dramatik und »Tiefe« zu stellen. Von dem Rossinischen Feuer des Tempo, von dem schwebenden Flug seiner Allegri, von dem zauberhaften Dekrescendo am Schluß seiner Einleitungen zur Ouverture (z. B. bei Tancred und Semiramis), von dem goldenen Vokalklang seiner a capella-Stücke (z. B. der As-Dur-Intermezzi im Barbier und im Othello), von dem wunderbaren Rücken der Harmonie in den Übergängen, von den schwellenden Akzenten seiner Melodien, welche die Seele schon auf rein psychomechanischem Wege zum Jauchzen zwingen, von seiner Kunst, durch die einfachste Intervallenfolge innerhalb des Dreiklanges beiläufig Kavatinen und Refrains zu gestalten, und tausend andern Genialitäten kaum eine Andeutung; als ob das Nebensachen wären.
Ich behaupte aber, der öffentlichen Meinung zum Trotz, daß das die Hauptsache und das übrige die Nebensache sei. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich mir erlauben, gegenüber der maßlosen Überschätzung der Kunst oder vielmehr des Kunstmäßigen und Beziehungsvollen gegenüber der elementaren, unmittelbar durch sich selbst, ohne Rücksicht auf den Zusammenhang wirkenden Schönheit ein warnendes Wort zu sprechen. Es gibt nicht bloß unsterbliche Werke, sondern auch unsterbliche Motive, ja unsterbliche Takte. Mag auch die Form des Ganzen noch so verfehlt, der Oberzweck, dem die Einzelheit dienen soll, noch so ungereimt und vergänglich, der Ausdruck noch so unpassend für den bestimmten Anlaß sein, Melodien, Motive und Harmonienfolgen ersten Ranges können zwar vergessen und verstäubt, nie aber entwertet werden. Ein Umschwung der Mode oder auch bloß ein naives Ohr und Gemüt – und sofort strahlt ihr Glanz wieder wie vor hundert Jahren.
Umgekehrt schwebt über der zweckmäßigsten, geschlossensten Kunst, wofern sie nicht in ihren Unterabteilungen mit Einzelschönheit auszahlt, die Drohung, eines Tages zu veralten und dann auf Nimmerwiedersehen. Die Nachwelt wird das Plan-, Zweck- und Gesetzmäßige der Form als ein Zeugnis des starken Willens achtend erwähnen, aber die betreffenden Werke der Geschichte überweisen und zwar der Geschichte des barbarischen Fleißes, dahin, wo die indischen Welt- und Zeichensysteme, die spekulative Philosophie, die scholastische Theologie und zahlreiche ähnliche kunstvolle Spintisierungen eines die Grundlage verlassenden Menschengeistes kaserniert wohnen. Eine Kunst ohne Einzelschönheiten, die für sich allein schon unmittelbar bezaubern, ist ein Zeichen barbarischer Völker oder Zeiten. Ich nenne das etwas ungenau aber deutlich: Wischnu.
Wer sich gegen diese Behauptungen sträubt, dem möchte ich folgendes zu bedenken geben:
Erfahrungsmäßig wird der schaffende Künstler hauptsächlich von den Einzelheiten eines Gemäldes entzückt, während der Laie, der Kunstkenner und der Ästhetiker ausschließlich den Zweck und die Kunstmäßigkeit des Ganzen ins Auge fassen. Niemand wird aber darüber im Zweifel sein, welches der beiden Urteile maßgebender ist. Ferner: die größten Meister der geschlossenen Form, z. B. Shakespeare, Schiller und Dante, haben gleichwohl der Einzelschönheit so großes Gewicht beigemessen, daß Seite für Seite, ja Satz für Satz mit solcher ausgerüstet erscheint. Man nenne mir doch solche Kunstwerke der Vergangenheit, welche einzig und allein durch ihre dramatische oder sonstige planmäßige Kraft fortlebten. Dagegen sind ewige Werke, denen Form oder Schluß fehlt, in einer erlauchten zahlreichen Elite vorhanden: z. B. Ilias, Orlando, Don Quichote. Endlich das schlagendste Beispiel: die göttliche Komödie. Als Gesamtkunstwerk für uns Wischnu, durch die Einzelschönheiten in Ewigkeit genießbar.
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2012
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