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Daß unserer Zeit das Epos verwehrt wäre, dieser Satz gehört zu den kostbarsten Edelsteinen im Phrasenkästlein jedes Gebildeten. Klopft man dann schüchtern an die Pforten der Gehirne, bittet man um gnädige Begründung, so erhält man ein verdrossenes Munkeln von Primitivzeitaltern der Völker, Jugend der Menschheit, Naivität der Weltanschauung als der alleinigen zuträglichen Atmosphäre für das Epos. Übrigens verstehe sich die Sache gewissermaßen von selber, wie ja schon die völlige Abwesenheit dieser Kunstform in der Neuzeit beweise, verbunden mit der glänzenden Entwicklung des Romans, der eben für das neunzehnte Jahrhundert das wahre echte Epos wäre. Item, es ist eine ewige Grundwahrheit.

Also, weil das Homerische Zeitalter die genannten Vorbedingungen erfüllte, darum? weil sie uns fehlen, darum nicht?

Gut. Der Gedanke läßt sich hören. Aber zu prüfen, nicht wahr? ob denn auch die Tatsache, mit welcher man um sich schlägt, zutreffe, ob wirklich das Homerische Zeitalter jene Vorbedingungen erfüllte, das fällt niemand ein. Das ist vermutlich ebenfalls eine ewige Grundwahrheit. Oder wozu hat man denn sonst Schlagwörter, als daß sie einem das Denken, das Wissen, das Lernen und ähnliche Unbilden ersparen? Und wenn einer über ein Zeitalter nicht einmal das Primitivste weiß, so muß es doch ein Primitivzeitalter sein. Ich habe hier nicht Geschichte zu dozieren. Allein wenn die kecke Art, wie Homer mit seinen Göttern umspringt, eine naive Weltanschauung bekundet, wenn die über und über blasierte, verfaulte Kultur des jonischen Kleinasiens einen Kindheitszustand vorstellen soll, wenn die unaufhörlichen Klagen über die Gegenwart, die wehmütige Sehnsucht nach der Vergangenheit, die Verzweiflung an der Zukunft Jugend der Menschheit bedeuten, dann beanspruche ich das Recht, das neunzehnte Jahrhundert einen Kindheitszustand und die Barrisons naiv zu nennen.

Das ist das linke Bein, auf welchem die ewige Grundwahrheit hinkt. Nun das rechte Bein:

»Urzustand, Kindheitszustand, Jugend der Menschheit,« »Naivität der Weltanschauung,« »Blüte, Reife, Alter der Völker«. Wer vermißt sich hiermit zu disputieren wie mit bekannten Größen? Wenn ich nun behauptete, daß die Menschheit niemals jung und kein Zeitalter jemals naiv war? Und ich behaupte das in der Tat. Gibt es denn eine Biologie der Völker? Weiß etwa jemand, wann ein Volk jung und wann alt ist? Getraut sich einer zu entscheiden, ob z. B. die gegenwärtigen Deutschen oder Russen ein altes Volk oder ein junges sind? ob sie am Anfange oder in der Mitte oder vor dem Ende stehen? oder wo sonst?

Mehr noch! Oder vielmehr noch weniger!

Wir wissen ja gar nicht einmal was das ist, ein »Volk«; ob das mit Muttersprache und Tradition oder mit Staatsverfassung, Politik, Grenzen und Vaterland oder mit Sitten, Gebräuchen, Festen und Religion übereins läuft. Geschweige daß wir auch nur ein einziges Lebensgesetz der Völker kennten, vorausgesetzt, daß eine abstrakte Kollektivperson »Volk« überhaupt Lebensgesetze habe. Darum ist alle Weisheit von naiven Weltanschauungen, von Kindheit und Jugend der Menschheit, von jungen und alten Völkern Aberwitz.

Übrigens geht es mit dieser ewigen Grundwahrheit wie mit den andern ewigen Grundwahrheiten. Nimmt man sich die Mühe, sie etwas genauer zu untersuchen, so entdeckt man unfehlbar rechts unten in der Ecke mit kleinen Buchstaben einen Eigennamen, ein fecit daneben und eine Jahreszahl dahinter. Die ewige Grundwahrheit, daß das Epos nur jugendlichen Völkern eigne, diese ewige Grundwahrheit hat im Tübinger Stift studiert und spricht schwäbischen Dialekt. Vor Vischer wußte kein Mensch ein Sterbenswörtchen von ihr. Noch im achtzehnten wie in sämtlichen früheren Jahrhunderten galt das Epos für das nächste und höchste Ziel jedes Dichters. Lessing stellte es obenan, Goethe versuchte, Schiller ersehnte es. Und die berühmte Sonne Homers, wo ist denn die geblieben? Die hat vermutlich Sonnenfinsternis?

Ich weiß so gut wie ein anderer, was Vischer wert ist. Allein, daß nun dem wackern Schwaben-Jesaias zuliebe hinfort alle Welt den verkauzten Einfall, den Roman für das Epos zu kaufen, durch Zuchtwahl weiter fortpflanzen sollte, das wäre doch wahrlich ein Schwabenstreich der Menschheit.

Warten sollten wir mit dem Epos, bis wieder einmal Primitivzustände, naive Weltanschauungen und Völkerjugend sich gnädig herbeibequemten? Da könnten wir bis an der Tage Abend warten. Denn dergleichen wird niemals wiederkommen, weil es niemals dagewesen ist.

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Tag der Veröffentlichung: 05.09.2012

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