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Ein Kaufmann zu Venedig saß,
Der über Meer gefahren wâs
Nach Kaufmannsgut, wie ich es las;
Im vierten Jahr
Kam er mit reicher Habe;
Als er kam nach dem Hause sein,
Sah laufen er im Saal allein
Ein Knäbelein von Jahren zwein,
Mit weißem Haar.
Er sprach: »Weß ist der Knabe?«
Die Frau sprach: »Hör'! In einer Nacht
Lag ich und war ganz munter
Und also herzlich dein gedacht';
'Nen Eiszapfen herunter
Aß ich vom Dach: von dessen Art
Ich schwanger ward.
Ist das nicht großes Wunder?

»Schau an, mein Mann, von diesem Eis
Gebar ich dieses Knäblein weiß.«
Der Mann vermerkt' die List mit Fleiß
Und wohl verstand, Daß sie die Eh' gebrochen;
Doch that er, als nähm' er's nicht wahr.
Als alt der Knabe vierzehn Jahr,
Sprach er: »Mein Weib, nimm wahr, ich fahr'
In fremdes Land
Drei Jahr und ein'ge Wochen.
Den Knaben will ich nehmen mit,
Daß ich ihn Handel lehre.«
Dem Weib gefiel der Anschlag nit,
Sie wehrt' dem Manne sehre.
Zurückzubringen er verhieß:
Da sie ihn ließ
Hinführen nach dem Meere.

Allda verkauft' den Knaben frei
Er einem Kaufmann der Türkei
Und fuhr dann heim; da tönt' der Schrei
Der Frau: »Das Kind,
Wo ließest's auf der Reise?«
Er sprach da: »Als wir fuhren hin,
Die Sonne überhitzig schien
Auf deinen Sohn, und hat auch ihn
Zerschmolzen g'schwind.
Als ob er sei von Eise.«
Die Frau verstand die List sofort,
Gedacht' an den Eiszapfen;
Gar still verschluckte sie die Wort'.
Recht wie ein Hund den Krapfen. –
Darum, wer weit wegreist, der schau',
Daß ihm die Frau
Dieweil nicht ess' Eiszapfen.



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