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An Clara Rilke



Paris, 11 Rue Toullier
Dienstag, den 2. September 1902




...Gestern, Montag nachmittag 3 Uhr, war ich zuerst bei Rodin. Atelier Rue de L'Université 182. Bin auf der Seine hingefahren. Er hatte Modell. Ein Mädchen, hatte ein kleines Gipsding in der Hand, an dem er herumkratzte. Er ließ die Arbeit im Stich, bot mir einen Sessel an, und wir sprachen. Er war gut und mild. Und mir war, als kennte ich ihn immer schon. Als sähe ich ihn nur wieder; ich fand ihn kleiner und doch mächtiger, gütiger und erhabener. Diese Stirne, die Art, wie sie zur Nase steht, die aus ihr herausfährt wie ein Schiff aus dem Hafen ... das ist sehr merkwürdig. Stil von Stein ist in dieser Stirn und dieser Nase. Und der Mund hat eine Sprache, deren Klang gut, nahe und voll Jugend ist. So ist auch das Lachen, dieses verlegene und zugleich fröhliche Lachen eines schön beschenkten Kindes. Er ist mir sehr lieb. Das wußte ich gleich. Wir sprachen manches - (soweit meine seltsame Sprache und seine Zeit es zuließ.) ... Dann arbeitete er weiter und bat mich, alles zu besehen, was im Atelier steht. Das ist nicht wenig. Die "Hand" ist da. C'est une main comme-ça (sagte er und machte mit seiner eine so mächtig haltende und formende Gebärde, daß man glaubte, Dinge aus ihr wachsen zu sehen). - C'est une main comme-ça, qui tient un morceau de terre glaise avec des ... Und auf die beiden wundervoll tief und geheimnisvoll vereinigten Gestalten deutend: c'est une création ça, une création ... Wunderbar sagte er das ... Das französische Wort verlor seine Grazie und erhielt nicht die umständliche Schwere des deutschen Wortes: Schöpfung ... es hatte sich aus allen Sprachen losgelöst, losgekauft ... war allein in der Welt:
création...
Ein Basrelief ist da; Morgenstern nennt er es. Ein ganz junger Mädchenkopf mit wunderbar junger Stirn, klar, lieb, licht, und einfach, und tief unten im Stein taucht eine Hand auf, die die Augen eines Mannes, eines Erwachenden, vor der Helle schützt. Diese Augen sind beinahe noch im Stein (so wundervoll ist das Nochnichterwachtsein hier gesagt - so plastisch): man sieht nur den Mund und den Bart. - Ein Frauenporträt ist da. Es ist mehr da, als man sagen kann, und alles Kleine hat so viel Größe, daß der Raum des Ateliers H sich ins Unermessene zu dehnen scheint, um alles zu umfassen.
Und nun heute: heute fuhr ich um 9 Uhr früh mit der Bahn nach Meudon (gare Montparnasse, von da in 20 Minuten Fahrt). Die Villa, die er selbst un petit château Louis XIII genannt hat - ist nicht schön -. Sie hat 3 Fenster Front, rote Backsteine mit gelblichem Rahmenwerk, ein graues, steiles Dach, hohe Kamine. Die ganze "malerische" Unordnung des Val Fleury breitet sich davor aus, eines schmalen Tales, in dem die Häuser arm sind und aussehen wie in italienischen Weinbergen: (und Weinberge sind wohl auch hier, denn des Ortes steile schmutzige Straße, durch die man geht, heißt rue de la Vigne...); dann geht man über eine Brücke, noch ein Stück Straße, an einer kleinen, auch ganz italienisch aussehenden Osteria vorbei. Links ist die Tür. Zuerst eine lange Kastanienallee, mit großem Kies bestreut. Dann eine kleine Holzgattertür. Wieder eine kleine Holzgattertür. Dann kommt man um die Ecke des kleinen rotgelben Hauses und steht - vor einem Wunder, - vor einem Garten von Steinen und Gipsen. Sein großer Pavillon, derselbe, der auf der Ausstellung am Pont Alma gestanden hat, ist nun in seinen Garten übertragen, den er scheinbar ganz ausfüllt, mit noch einigen Ateliers, in denen Steinhauer sind und in denen er selbst arbeitet. Dann sind noch Räume zum Tonbrennen und zu allerhand Handwerken. Es ist ein ungeheuer großer und seltsamer Eindruck, diese große helle Halle mit allen ihren weißen, blendenden Figuren, die aus den vielen hohen Glastüren hinaussehen wie die Bevölkerung eines Aquariums. Groß ist dieser Eindruck, übergroß. Man sieht, noch ehe man eingetreten ist, daß alle diese hundert Leben ein Leben sind, - Schwingungen einer Kraft und eines Willens. Was da alles ist - alles, alles. Der Marmor von La prière: Gipsabgüsse fast von allem. - Wie das Werk eines Jahrhunderts ... eine Armee von Arbeit. Da sind Riesenvitrinen, ganz erfüllt mit wundervollen Bruchstücken der Porte de L'Enfer. Es ist nicht zu beschreiben. Da liegt es meterweit nur Bruchstücke, eines neben dem andern. Akte in der Größe meiner Hand und größer ... aber nur Stücke, kaum einer ganz: oft nur ein Stück Arm, ein Stück Bein, wie sie so nebeneinanderhergehen, und das Stück Leib, das ganz nahe dazu gehört. Einmal der Torso einer Figur mit dem Kopf einer anderen an sich angepreßt, mit dem Arm einer dritten ... als wäre ein unsäglicher Sturm, eine Zerstörung ohnegleichen über dieses Werk gegangen. Und doch, je näher man zusieht, desto tiefer fühlt man, daß alles das weniger ganz wäre, wenn die einzelnen Körper ganz wären. Jeder dieser Brocken ist von einer so eminenten ergreifenden Einheit, so allein möglich, so gar nicht der Ergänzung bedürftig, daß man vergißt, daß es nur Teile und oft Teile von verschiedenen Körpern sind, die da so leidenschaftlich aneinanderhängen. Man fühlt plötzlich, daß es mehr Sache des Gelehrten ist, den Körper als Ganzes zu fassen - und vielmehr des Künstlers, aus den Teilen neue Verbindungen zu schaffen, neue, größere, gesetzmäßigere Einheiten ... ewigere ... Und dieser Reichtum, diese unendliche, fortwährende Erfindung, diese Geistesgegenwart, Reinheit und Vehemenz des Ausdrucks, diese Unerschöpflichkeit, diese Jugend, dieses immer noch Etwas, immer noch das Beste zu sagen haben ... Das ist ohnegleichen in der Geschichte der Menschen. Dann sind Tische, selles, Kommoden ... ganz bedeckt mit kleinen Stücken - goldbraun und ockergelb gebrannten Tons. Arme nicht größer als mein kleiner Finger, aber von einem Leben erfüllt, das einem das Herz klopfen macht. Hände, die man mit einem Zehnpfennigstück zudecken kann, und doch von einer Fülle des Wissens erfüllt, ganz genau determiniert und doch nicht kleinlich ... als hätte ein Riese sie unermeßlich groß gemacht: - so macht dieser Mensch sie in seinen Verhältnissen. Er ist so groß; wenn er sie ganz klein macht, so klein er kann, sind sie immer noch größer als die Menschen ... bei diesen kleinen Dingen, die überall sind und die man in die Hand nehmen kann, ging es mir ähnlich wie damals in Petersburg vor der kleinen Venus aus den Ausgrabungen ... Davon ist hundert und hundert da, nicht ein Stückchen dem anderen - jedes eine Empfindung, jedes ein Stück Liebe, Hingabe, Güte und Forschung. Ich war in Meudon bis gegen 3 Uhr. Rodin kam von Zeit zu Zeit zu mir, fragte und sagte manches, nichts Wichtiges. Die Grenze der Sprache ist zu groß. Ich habe ihm heute meine Gedichte gebracht - wenn er sie doch lesen könnte ... Ich denke jetzt, daß das Jüngste Gericht ihm etwas sein müßte. Er blätterte sie sehr aufmerksam durch. Die Ausstattung überraschte ihn, glaub ich, besonders beim Buch der Bilder. Und da stehn nun diese dummen Sprachen hilflos wie zwei Brücken, die nebeneinander über denselben Fluß gehen, aber durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Es ist nur eine Bagatelle, ein Zufall, und es trennt doch ...
Nach 12 bat Rodin mich zum déjeuner, das wurde im Freien eingenommen; es war sehr seltsam. Madame Rodin (ich hatte sie schon vorher gesehen - er stellte mich nicht vor) sah müde, gereizt und nervös und nachlässig aus. Mir gegenüber saß ein französischer Herr mit einer roten Nase, dem ich auch nicht vorgestellt wurde. - Neben mir ein kleines. sehr liebes Mädchen von etwa 10 Jahren (von der ich auch nicht erfuhr, wer sie ist...). Kaum hatte man sich gesetzt, - so beklagte sich Rodin über die Unpünktlichkeit des Essens; er war schon ausgezogen, um zur Stadt zu fahren. Darauf wurde Mme Rodin sehr nervös. Comment, sagte sie, puis-je être partout? Disez-le à Madelaine (wahrscheinlich die Köchin), und nun kam eine Flut hastiger und heftiger Worte aus ihrem Munde, die nicht eigentlich böse klangen, nicht häßlich, aber wie von einem schwer gekränkten Menschen, dessen Nerven alle im nächsten Augenblick springen werden. Eine Unruhe kam in ihren ganzen Körper - sie begann alle Dinge auf dem Tische ein wenig zu schleudern, so daß es aussah, als wäre man schon nach Tisch. Alles, was so ordentlich bereitgelegen hatte, war, wie nach der Mahlzeit, irgendwo verstreut liegen geblieben. Diese Szene war nicht peinlich, nur traurig. Rodin war ganz ruhig, sprach sehr ruhig weiter, weshalb er sich beklagte, motivierte seine Klage ganz genau, sprach sanft und unbeugsam zugleich. Endlich kam ein ziemlich schmutziger Mensch, brachte einige Sachen (die gut zubereitet waren), trug sie herum und nötigte mich, wenn ich nicht wollte, mit sehr gutmütiger Art zuzugreifen: er hielt mich offenbar für äußerst schüchtern. Ich habe noch kaum je ein so seltsames déjeuner mitgemacht. Rodin war ziemlich gesprächig, - sprach manchmal sehr rasch, daß ich es nicht verstand, meist aber deutlich. Ich erzählte von Worpswede - von den Malern (von denen er nichts wußte); er kannte, soviel ich sah, nur Liebermann und Lenbach - als Illustrator ... Das Gespräch war nicht konventionell, auch nicht anders, so irgendwie. Manchmal nahm Madame auch teil, stets sehr nervös und leidenschaftlich redend. Sie hat graue Locken, dunkle, tiefliegende Augen, sieht mager, nachlässig, müde und alt aus, von irgendwas gequält. Nach Tisch sprach sie sehr freundlich zu mir - erst jetzt als Hausfrau -, lud mich ein, immer wenn ich in Meudon wäre, am déjeuner teilzunehmen etc. Morgen gleich früh gehe ich wieder hinaus und vielleicht noch einige Tage: es ist unendlich viel. Es strengt aber furchtbar an - erstens wegen der Menge, zweitens weil alles weiß ist; man geht unter den vielen blendenden Gipsen in dem ganz hellen Pavillon wie im Schnee umher. Meine Augen schmerzen mich, meine Hände auch...

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Tag der Veröffentlichung: 04.11.2010

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