Skizze
(1895/96)
So ein rechter Begräbnistag. Feucht, finster, dickatmig. Der vierspännige Totenwagen rollte schwer über die glatten, runden Pflastersteine, die im Herbstlicht wie kahle Schädel glänzten, und seine Räder furchten tief die grauen, schmutzigen Lachen. Die Knechte der Leichenbestattungsanstalt trollten mürrisch mit den schwelenden Lichtern nebenher. Ihnen folgte die Menge der Leidtragenden. Von den Frauenzimmern zeugte nur eine dichte Reihe schwarzer Schleier, die sich wie berußte Spinngewebe zwischen dem Leichenkarren und den blanken Cylinderhüten der männlichen Trauergäste ausspannten. Die vorzüglichste Beschäftigung der ganzen, tiefbetrübten Gesellschaft war, Kleider und Hosen vor dem aufspritzenden Kot zu hüten; mit rührender Aufmerksamkeit tappten sie nach denjenigen Steininseln, die am meisten aus der unermeßlichen Flut aufragten; und auf so manchem Gesichte stand der wohlwollende Wunsch zu lesen, der Selige hätte besseres Wetter für seine beschwerliche Reise abwarten mögen. Zwei Herren nur, die in der dritten Reihe gingen, unterhielten sich ziemlich rege. An den Mienen konnte man ablesen, daß sie menschlich-milde Musterung hielten über des Verstorbenen Taten und Erlebnisse. Das endliche Ergebnis schien recht befriedigend. Sie nickten sich zu mit jenem ernsten Blick, der bei Leichenbegängnissen und anderen öffentlichen Festlichkeiten das geheime Erkennungszeichen biederer Männer bildet. Dann strich der eine sich die Falten im Gesichte glatt und raunte mit schwerwiegender Bewegung des rechten, schwarzen Handschuhs: »Ein Charakter.« Der Nachbar fand diesen Ausdruck so treffend, daß er nur imstande war, denselben mit verstärkter Betonung nachzusprechen: »Ein Charakter.« Und jetzt noch einmal der Biedermannsblick; dabei trat der eine so heftig in eine Pfütze, daß sein Hintermann ein unwilliges Gebrumm vernehmen ließ. Dann sprach keiner von beiden mehr ein Wort. Es ward still. Nur die Räder des Totenwagens knarrten, und die getretnen Lachen glucksten leise.
Der »Charakter« war zur Welt gekommen als Sohn eines Mannes von mäßigem Wohlstande. Herr M., der Vater, besaß ein kleines Haus, einen großen Ehrbegriff und ein züchtiges Ehweib. Also ziemlich viel.
Noch atmete der kleine M. nicht die Carbolluft der Wöchnerinnenstube, als die Frauen, welche der jungen Mutter beistanden, schon unter einander Blicke tauschten und tuschelten: »'s wird ein Bub.« Sie verfolgten jede Bewegung der Frau, um in immer erregterem Tone ihre Vermutung auszusprechen. Und als endlich auf die brennende Frage die lebendige, rotbraune, faltige Antwort kam, da wars ein Bub! Der kleine M. wuchs und ward wie jeder andere; es kam die Zeit, da sich seine weichen Vorderfüßchen in ebensolche Hände umwandelten, und da die Finger dieser Hände nicht mehr auf den Dielen kribbelten, sondern mit Vorliebe sich in Mund und Nase aufhielten. Darauf folgten die Jahre der Christbäume und Schaustellungen. Der Knabe wurde jede Woche ein- bis zweimal in die eiskalte ›gute Stube‹ gerufen; dort glotzte man ihn an, betastete ihm Haare, Wangen und Kinn, lehrte ihn fein artig Pfoten reichen und gegebenen Falls seinen klangvollen Vornamen mit bescheidener Größe aussprechen. Alle Welt fand ihn allerliebst, dem Vater, der Mutter, dem oder jenem Oheim »aus dem Gesicht geschnitten«, und wenige schieden ohne die erhabene Weissagung, der Knabe wird sich gewiß auch in der Schule seinerzeit sehr brav erweisen. Der Kleine hatte diesen Ausdruck hellseherischer Bewunderung oft genug vernommen. Und ohne viel Mühe, ja, ohne eigentlich zum Bewußtsein seines Erfolges zu kommen, überstand er die Volksschule, kletterte mit rühmenswerter, etwas pedantischer Sicherheit die acht Sprossen der Gymnasialleiter aufwärts und ging dann noch ein Jahr in den Hörsälen der Universität ein und aus, worauf er in der Stille der väterlichen Schreibstube verloren ging. Eines Tages munkelte man, der junge M. werde die Leitung des Geschäftes aus den Händen seines alternden Erzeugers nehmen, und kurz darauf geschahs. Der Vater starb bald, und der neue Herr wußte das Ansehen des Hauses zu wahren durch strenge Pünktlichkeit und ziemlichen Fleiß. Oft vernahm der unschlüssige Kaufmann aus dem Munde seiner Freunde, daß man sich erzähle, er habe große Unternehmungen vor, und staunender Bewunderung voll über den ihm zugeschriebenen Tatendrang begann er wirklich so manchen von seinen unterschobenen Plänen auszuführen; und so mancher gelang. So ging Jahr um Jahr hin. Die Verwirklichung der ihm vom Gerede der Menge zugesprochenen Absichten hatte seinen Wohlstand bedeutend vergrößert und nichts war natürlicher, als daß die Munkelmänner sich von der bevorstehenden Verlobung M.'s manches zuraunten. Das Gerücht kam zu seinen Ohren; er wandte von da ab fast unwillkürlich seine Aufmerksamkeit der bezeichneten Braut zu, und in wenigen Wochen rieselte das säuselnde »Ja« der Erwählten in den rauschenden Brummbaß des jungen Gatten. Er hatte auch diesmal nicht die Erwartung der Leute getäuscht; er war ja doch ein Charakter!
Längere Zeit planten die guten Bürger in M.'s Wohn- und Vaterstadt den Bau eines Theaters. Nun weiß jedermann, daß noch kein Bühnenhaus aus gutem Willen, sondern sogar die allereinfachsten wenigstens aus schlechten Brettern errichtet worden sind. Von dem ersteren Material besaßen die Leute genug, zur Beschaffung des letzteren fehlte das Geld. Die fürsorglichen Stadtväter setzten die gerunzelten Stirnen früh morgens auf, und es wurde übel genug vermerkt, wenn einer das Zeichen ernster Würde abends beim Biertisch aufzubehalten vergaß.
Wie ein Frühlingssturm flog da einst das Gerücht durch die Stadt, M. habe beschlossen, das zum Baue des Musentempels nötige Geld vorzustrecken. Und wie der Lenzwind die Vogelstimmen wachweckt, so rief diese Nachricht allenthalben klangreiches Lob hervor. Eine Abordnung des Stadtrates, das tauige Winterapfelgesicht des Herrn Bürgermeisters an der Spitze, trat wenige Stunden später in die Stube des Gönners. Das Oberhaupt dankte von beständigem Freudeglucksen unterbrochen für das hochherzige Geschenk. M. stand eine Weile ratlos da. Bald aber erriet er den Sinn dieser Freudebezeugung. Ein leichter Schatten zog über seine Stirne. Schon wollte er sich dieser Zumutung erwehren; dann aber fiel ihm ein, daß er durch diese scheinbare Wankelmütigkeit sich und sein Haus schädigen könne, und mit sauer-süßem Lächeln nahm er den Kontrakt entgegen, auf welchem eine nicht unbedeutende Summe verzeichnet stand. So wuchs der Ruhm und Ruf M.'s von Jahr zu Jahr. Seit man in ihm nun auch den Kunstfreund erkannt hatte, erzählte man bald von dem, bald von jenem einheimischen Talent, das durch M.'s hochherzige Unterstützung gefördert worden sei.
Nur ein Einzigmal hätte der ›Charakter‹ die Erwartungen der Leute fast betrogen. Man sprach heimlich von einem »freudigen Ereignisse«, das im Hause M. »bevorstehe«. Und neugierige Blicke folgten der jungen Frau, sobald sie sich auf der Straße zeigte. Der edle Kaufherr gab sich denn auch alle redliche Mühe, die Menge recht bald zufriedenzustellen. Allein diesmal ward ihm das Glück untreu. Mit unwilligem Staunen stellten die guten Bürgerinnen fest, daß die M. noch immer anschließende Jacken trage, und daß da nichts »los sein« könne. Dann tuschelten sie leise und doch vernehmlich genug, eine Franzensbader Kur könne nichts schaden. Und siehe da, als Herr M. auch diesmal wie hätte es anders sein können die öffentliche Meinung zu der seinigen gemacht hatte, hielt sein Weibchen ganz genau nur die vorgeschriebene Zeit ein, um an die Stelle der anschließenden Jacken einen Radmantel treten zu lassen. Der ›Charakter‹ war gerettet.
Der Ruf des Ehrenmannes M. war bald über die Marken der Stadt gedrungen. Lang sprach man schon von einem Orden. Der bekannte Kaufherr tat jetzt auch die nötigen Schritte, und es ward ihm nicht zu schwer, in einigen Monaten mit vollem Knopfloch und leerem Gerede den ergebenen Gratulanten seinen innigen Dank zu sagen.
Auf einer winterlichen Geschäftsreise zog sich M. eine heftige Verkühlung zu, die ihn aufs Krankenlager warf. Ein Lungendefekt, von dem sein Arzt schon vor zwanzig Jahren gefaselt hatte, machte sich jetzt geltend. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Seine Frau besuchte ihn mit zurückhaltender Teilnahme. Der Kranke will Ruhe, pflegte sie zu sagen, wenn sie im gemütlichen Wohnzimmer neben den von Trost überfließenden Nachbarinnen saß.
Eines Morgens wurde der Schwerkranke aus schwülen Fieberträumen durch lärmende Stimmen emporgerissen. Er fuhr auf, starrte irren Blicks umher und fragte mit matter Stimme die Barmherzige Schwester, was das solle. Und als diese schwieg und ihm Ruhe gebot, läutete er seinen alten Diener herbei und stellte ihm dieselbe Frage.
Der hielt auch nicht hinterm Berge, kratzte sich den Kopf und polterte:
»Mein Gott, das dumme Pack sagt alleweil, der Herr ist schon tot; denen solls der Teufel ausreden ...« und er schlürfte wieder hinaus.
Der Fiebernde schaute ihm groß nach.
Dann legte er sich auf die linke Seite und schlief ein...
Er war eben ein Charakter.
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2010
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