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1. Die Dürre



Eines gleichen Frühlings wußte sich niemand im ganzen Dorfe zu erinnern. Seit der Schnee verging, war noch kein einziger Tropfen Regen gefallen; erbarmungslos blank und glänzend stand der Himmel Tag für Tag über den Bergen, und selten nur kam es vor, daß ein schimmerndes Wölkchen versuchte, das öde Blau zu durchschiffen. Es gelangte aber nicht weit, denn schnell ward es dünn und durchsichtig wie ein zarter Schleier und alsbald war es verschwunden, ausgetrunken von der heißen Luft. Der Bach, dessen Rauschen und Brausen um diese Zeit sonst weithin vernommen ward, schlich und rieselte mit ein paar dünnen Wasserfäden durch die sonnigen Steinblöcke, auf denen das Moos vertrocknet war, und bildete an einzelnen Orten stille, glasklare Teiche, in denen die Forellen ängstlich hin und her huschten. Die sonst so ruhelose Sägemühle am unteren Ende des Dorfes war mitten in der Arbeit stehen geblieben, und das wenige Wasser, das noch vorhanden war, plätscherte und tropfte von einer Schaufel des feiernden Rades in die andere. Was war sonst auf den berieselten Bergwiesen zu beiden Seiten des Thales für eine klingende Musik gewesen von lebendigen Quellen, die, in Rinnen und Röhren hin und her geführt und über das üppige Gras geleitet, fröhlich in der Sonne blitzten und alle Zeit noch vermocht hatten, nach gethaner Pflicht einen plätschernden Ueberfluß an den Bach abzuliefern. Aber das wenige Wassergeriesel, das jetzt aus dem so quellenreichen Walde noch hervorkam, ward gleich anfangs von dem durstigen Wiesenboden aufgetrunken; statt des sonst überall so üppigen Grüns war eine fahle Färbung verbreitet, und bis zu dem fast ausgetrockneten Bach gelangte kein Tropfen mehr. Weiter hinauf, wo sich in verschiedenfarbigen Flecken und Streifen die Felder bis an den dunklen Hochwald hinaufzogen, sah es noch schlimmer aus, denn niedrig und dürftig standen die Saaten auf dem sonst so fruchtbaren Boden, und hätte nicht der starke nächtliche Tau des Gebirges sie allezeit ein wenig erquickt, so wären sie wohl ganz vergangen.

Eine trübe Stimmung herrschte im Dorf, und vielleicht noch nie, seitdem es stand, hatten so viel forschende Augen den Himmel gemustert, und noch nie war von den klugen Wetterverständigen so viel prophezeit worden. Aber alles Prophezeien nützte nichts und wurde leider nicht zu Wasser, sondern immer wieder zu Sonnenschein.

Der alte Lindenbauer saß an einem schönen Sonntagnachmittag unter dem Schatten der uralten Linde vor seiner Hausthür und trank verdrießlich seinen Schoppen Roten. Neben ihm auf der hölzernen Bank hockte sein Sohn, ein hübscher, zwanzigjähriger Bursche, und flocht an einem Peitschenstiel aus Wacholderzweigen.

Der alte Bauer paffte aus seiner kurzen Stummelpfeife still vor sich hin, blickte in die sonnenflimmernde Landschaft und knurrte nur zuweilen ein wenig. Endlich trank er einen langen Zug, räusperte sich bedächtig und sprach: »Weißt du, Joseph, Verlaß ist in diesem verdrehten Jahr auf nichts mehr. Siehst du da wieder den Abendberg, was? Wie war es immer, so lang ich denken kann und wie mir mein Großvater schon erzählt hat? ›Wenn der Abendberg eine Mütze aufsetzt, da gibt's Regen, ehe vierundzwanzig Stunden um sind.‹ Und das kam so sicher wie das Amen in der Kirche. Siehst du, heute hat er sich wieder seine Kappe tief über die Ohren gezogen, aber glaubst du wohl, daß es morgen regnen wird? Gott bewahre, fünfmal hintereinander ist es schon nicht mehr eingetroffen! Die Welt ist konträr geworden.«

Dann knurrte er wieder ingrimmig, paffte heftig vor sich hin und sah zu, wie die heiße Luft über seinen Feldern zitterte.

Der junge Mensch hatte zu der Rede des Vaters nur genickt, dann sagte er:

»Ja, wenn wir jetzt keinen Regen bekommen, da ist es mit dem Futter zu Ende. Am Erlenbruch da finden die Kühe noch eine Woche was, dann ist es vorbei. Sie lassen alle Tage mehr nach mit der Milch, die Liese steht schon beinahe trocken und war sonst die beste.«

Der Alte kratzte sich hinter den Ohren und brummte etwas, das wie ein Fluch klang. Dann fuhr der Sohn fort:

»Dort, hinter dem Abendberg, soll schöne Weide sein, genug für hundert Kühe.«

»Was nützt uns das!« sagte der Alte verdrießlich. »Aus dem verwünschten Wald ist noch niemand wiedergekommen außer dem Mühlenhannes, und der ist verrückt geworden. Dort wächst das Irrkraut, und wer darauf tritt, der geht in die Irre, bis er verschmachtet.«

»Aber der Herr Picus,« warf nun der Sohn ein, »der wandert dort doch überall herum und sammelt seine Kräuter, und es thut ihm nichts. Er hat doch damals den Mühlenhannes gefunden und zurückgeführt. Freilich, den Verstand konnt' er ihm auch nicht wiedergeben!«

»Ja, Herr Picus,« sagte der Alte, »der kann mehr als Brot essen. Den wird der Leibhaftige auch wohl in seinem Hauptbuch zu stehen haben.«

»Herr Picus thut niemand was zuleide,« erwiderte Joseph. »Mit seinen Kräutertränken hat er schon vielen geholfen, und er verschickt sie weithin, bis ins Holland, sagen die Leute. Soll ich ihn, wenn morgen wieder kein Regen kommt, mal fragen, wie er es macht, daß der verrufene Wald ihm nichts anhaben kann? Wenn er's mir sagt, da suche ich die Wiesen hinter dem Abendberg, und unseren Kühen ist geholfen. Sonst müssen wir sie verkaufen oder sie kommen um.«

Der Alte wollte nicht heran an diesen Vorschlag, als aber am Abend seine Kühe eingetrieben wurden und er sah, wie ihnen die Hüftknochen hervortraten und alle Rippen zu zählen waren, da brummte er: »Na, kannst es ja mal versuchen mit dem Herrn Picus!«



2. Herr Picus



Als sich am frühen Morgen des nächsten Tages der Abendberg wieder in voller Klarheit zeigte, so daß man jegliches Bäumchen und jeden Stein auf seinem Gipfel zählen konnte, und sich der Himmel ebenso glänzend blau über das Thal wölbte wie immer, da packte die alte Bäuerin allerlei Gaben in einen Korb, die sie für geeignet hielt, den Herrn Picus günstig zu stimmen. Da hinein kam ein Häflein Lindenhonig vom vorigen Jahre, weißgelb und schon verzuckert, aber noch von köstlichem Geschmack, dazu eine stattliche Rauchwurst, dergleichen niemand in der ganzen Gegend so wohl gelang als ihr, und ein paar Flaschen vom Besten, der schon zwölf Jahre im Keller lag. Während sie so kramte, fiel ihrem Sohn Joseph ein Ring ins Auge aus gelbem Metall, der auf dem Bort lag. Der war daumsdick, von länglicher Form und so groß, daß man die vier Finger der ganzen Hand hineinstecken konnte. Dieses sonderbare Gerät, dessen Gebrauch niemand im Dorfe zu erklären wußte, hatte er einst unter einem großen Stein gefunden, wo es in alter Zeit wohl jemand verborgen haben mußte. Da ihm nun einfiel, daß Herr Picus für derlei seltsame Dinge und Altertümer eine besondere Liebe zeigte und allerlei Steinbeile, bronzene Schwerter und sonstiges altes Gewaffen sorglich aufbewahrte, so legte er auch diesen merkwürdigen Ring mit in den Korb und machte sich auf den Weg. Dieser war sonst gar beschwerlich, denn er führte auf steilen Pfaden über das Gebirge; jetzt aber, da die Bäche fast leer waren, konnte man viel näher und ganz bequem zu dem Wohnorte dieses seltsamen Laboranten kommen durch eine schmale Felsschlucht, die sonst wegen der brausenden Gewässer eines Baches unzugänglich war, desselben, der später das freundliche Thal in seiner ganzen Länge durchfloß.

Joseph wanderte aufwärts und stand bald vor der steilen Felswand, aus deren schmaler Schlucht der Bach hervorkam. Hier war es glühend heiß, die Sonne strahlte von dem grauen Felsen zurück, und nichts Lebendiges war zu bemerken als einige Schmetterlinge, die dort lautlos umherflogen. Dazu herrschte Stille ringsum, nur das leise Rieseln der spärlichen Wasserader auf dem Grunde des Baches war vernehmlich.

Eine angenehme Kühle umfing ihn, als er in die Schlucht eintrat, und wachsende Dämmerung, je weiter er sich vorwärts bewegte, denn die Wände zu beiden Seiten stiegen mächtig empor, und von oben schaute nur ein schmales Streifchen des blauen Himmels herein. So schritt er eine lange Weile zwischen den feuchten, tropfenden Steinmauern dahin und kletterte über die Felsblöcke immer höher empor, bis es allmählich lichter ward und vor ihm helles Grün im Schein der Sonne glänzte. Er verschnaufte eine Weile und hörte nun vor sich ein schnelles, taktmäßiges Hacken und dazwischen zuweilen den gellen Schrei eines Schwarzspechtes.

Der Bach durchströmte hier ein kleines, fast überall von steilen Seitenwänden umgebenes Thal, aus dem zwischen umhergestreuten Felsblöcken einige gewaltige Edeltannen aufgeschossen waren. In einem sonnigen Winkel dieses Thales, wo die mächtige Platte eines aus der Wand vorragenden Felsblockes ein natürliches Dach bildete, hatte sich Herr Picus angesiedelt und sich aus Balkenwerk und Steinen ein wunderliches, aber warmes und wetterdichtes Haus gebaut, in dessen einzigem großen Raum er sicher und behaglich hauste und auf einem gewaltigen steinernen Feuerherde seine mannigfaltigen Elixiere und Kräutertränke kochte.

Das emsige Hacken und das Schreien des Schwarzspechtes dauerte fort, als Joseph die unregelmäßigen Steinstufen emporstieg, die aus dem Bette des Baches zu jenem Thalgrunde hinaufführten, und schon erblickte er das wunderliche Haus und die vor ihm aufgespeicherten Brennholzvorräte, als sich plötzlich von einem Haufen gelblich-weißer Späne mit gellendem Warnungsgeschrei und großem Geräusch ein Schwarzspecht erhob und die Flucht ergriff. Man sah die rote Kappe des seltsamen Gesellen noch einmal aufleuchten und dann war er verschwunden, ob hinter der großen Edeltanne oder in der schwarzen Thüröffnung des Hauses, das blieb zweifelhaft. Dort, wo der Vogel scheinbar gesessen hatte, waren lange, schmale Späne zum Feueranmachen teils sauber aufgeschichtet, teils lagen sie neben einem großen Holzscheit, als seien sie eben erst heruntergehauen worden. Das hatte ja fast den Anschein, als sei das Tier dort mit Holzkleinmachen beschäftigt gewesen. Dem guten Burschen ward etwas wunderlich zu Mut und das Herz klopfte ihm bänglich, als er nun langsam auf das Haus zuschritt. Rings herrschte ein schwerer, narkotischer Duft, denn an einzelnen sonnigen Stellen war der Boden urbar gemacht worden, und allerlei seltsame, aromatische Pflanzen standen dort mit unerhörten Blüten geziert. Aus dem hoch aufgemauerten Schornstein des Hauses kam ein leichter, veilchenfarbiger Rauch und verlor sich allmählich in die Zweige der Edeltannen.

Als Joseph in den dämmerigen Raum eintrat, war er zu Anfang geblendet, bald aber erkannte er den Herrn Picus, der sich gerade an dem Feuerherde zu thun machte und neues Holz in die Flammen warf. Aus dem Kessel darüber tönte ein feines, weinerliches Singen und Miauen, das sich gar seltsam anhörte. Herr Picus war ganz schwarz gekleidet und trug auf dem Haupt ein feuerrotes Käppchen, darunter schaute ein pergamentenes Vogelgesicht hervor mit gelben, stechenden Augen und einer langen, spitzen Nase, mit der er, wenn er nach seiner Gewohnheit den Kopf lebhaft bewegte, stets nach irgend etwas zu hacken schien. So warf er nun auch plötzlich den Kopf zu Joseph herum und fragte mit einer hohen, gellenden Stimme:

»Nun, was bringst du? Was willst du haben? Denn wenn der Bauer was bringt, will er auch was haben!« Dann kicherte er, als hätte er den schönsten Witz gemacht, und fuhr fort: »Soll's was sein für den Magen oder für das Herz, gegen die Gicht oder für die Liebe? Es ist alles da, alles da!« rief er und schwenkte seine Hand gegen die Hinterwand seines Zimmers, wo auf Borten unzählige Fläschchen standen von den wunderlichsten Formen, kugelige mit langen Hälsen und vierkantige mit kurzen, bauchige und schlanke, kleine und große. In den einen leuchtete es wie Rubin, in den anderen wie Smaragd, in diesen veilchenblau, in jenen goldgelb.

Joseph hob den Deckel von seinem Korbe und sagte:

»Meine Mutter schickt hier ein paar Kleinigkeiten und läßt Euch einen schönen Gruß sagen.«

»Weis her, weis her!« rief Herr Picus eifrig und holte das Honighäflein hervor. »Süße Sachen, süße Sachen!« murmelte er befriedigt. »Schön, schön!« Dann hob er die Wurst heraus und fuhr mit seiner Nase darauf los, als wolle er gleich hineinhacken. Er beroch sie mit Kennermiene und rief dann: »Lecker, lecker! Gefällt mir!« Darauf hielt er eine der Flaschen gegen das Licht und schmunzelte: »Kenn' ich, kenn' ich! Ist von dem alten!« Und seine spitze Zunge kam hervor und befeuchtete wohlgefällig die schmalen ledernen Lippen. Dann sah er auf dem Grund des Korbes noch etwas schimmern, und dem aufmerksamen Joseph entging es nicht, mit welcher Gier er nach dem Ringe griff und wie seine gelben Augen dabei funkelten. Er nahm ihn, wog heimlich in der Hand seine Schwere und drehte ihn sehr eifrig hin und her; dann suchte er seine Aufregung zu dämpfen und sich ein gleichgültiges Aussehen zu geben. »Danke, danke für das Ringelchen!« sagte er. »Kann's zwar nicht gebrauchen, aber weil's ein altes Stück ist.« Und damit legte er ihn scheinbar gleichgültig zu dem übrigen.

Joseph nahm ihn sofort wieder an sich und sprach:

»Der gehört nicht dazu, der ist wohl nur zufällig in den Korb gekommen.«

Der Alte war aber fest entschlossen, das Stück an sich zu bringen, denn er hatte sofort erkannt, daß es ein sogenannter Eidring war aus alter Heidenzeit von dem reinsten Gold und wohl über hundert Thaler wert. Er sagte darum in schmeichlerischem Ton:

»Söhnchen, Söhnchen, nun sag, was wünschest du von mir? Um den Ring werden wir schon einig!«

»Ihr sollt ihn gern haben, wenn Ihr mir sagt, was ich wissen will,« erwiderte Joseph, der das begehrte Kleinod fest umschlossen hielt, und dann trug er ihm sein Anliegen vor.

Herr Picus fing an, erklecklich zu wimmern, als er vernahm, was der junge Mensch wollte.

»Ja, das glaub' ich. Söhnchen, das glaub' ich, Söhnchen! In dem verwunschenen Wald am Abendberg da wachsen die herrlichsten Kräuter der Welt. Wenn da erst jeder ungestraft herumstapfen darf, da würden die anderen Laboranten bald kommen und mir alles fortrupfen und ich hätte das Nachsehen. Dann könnten sie ebenso gute Tränke machen als ich. Ja, ja!«

Joseph drehte den Ring in seiner Hand, ließ ihn in der Sonne blitzen und steckte ihn dann langsam in die Tasche. Herr Picus aber geriet in große Unruhe, kraute sich hinter den Ohren und lief in seinem Zimmer umher, während er mit den Armen schlug, als ob er aufstiegen wollte, und von Zeit zu Zeit, sonderbare Wehrufe ausstieß; dann kramte er zwischen seinen unzähligen Flaschen und schloß endlich eine eisenbeschlagene Truhe auf und wühlte darin längere Zeit. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, und näherte sich Joseph wieder.

»Es ist nicht um den Ring,« sagte er, »aber ich hab' dich immer gern gehabt, Söhnchen, und dann dauert mich auch eure Not, dauert mich wirklich. Wenn du schweigen kannst und schwören willst, es nie zu verraten, da will ich dir das Mittel geben. Du brauchst nur deinen Ring in die rechte Hand zu nehmen und zu sagen: ›Ich schwör's!‹«

Als Joseph sich hiezu gern bereit erklärte, da öffnete Herr Picus seine Hand, überreichte dem jungen Burschen ein winziges pergamentenes Päckchen und sagte: »Wer Farnsamen bei sich trägt in seinen Schuhen, der ist gefeit gegen das Irrkraut. Und nun gib mir den Ring.«

Joseph traute dem Alten noch nicht so recht.

»Ist es auch wirklich das rechte Mittel?« fragte er mißtrauisch, indem er das unscheinbare Päckchen zwischen den Fingern drehte.

»Der Habicht soll mich schlagen, wenn's nicht wahr ist!« rief Herr Picus, »Gib her, ich schwör's dir auf den Ring.«

So wurden denn die beiden Leute handelseins, und Joseph machte sich vergnügt wieder auf den Abstieg, während Herr Picus ebenso vergnügt zurückblieb, seinen goldenen Ring in der Sonne glänzen ließ und zuweilen in ein anhaltendes, vergnügtes Kichern ausbrach.



3. Die Wanderung



Es war noch früh am Tag, als Joseph wieder in den Lindenhof zurückkehrte, deshalb packte er schnell sein Bündel und beschloß, noch an demselben Tag aufzubrechen, denn je eher er eine Weide für die darbenden Kühe fand, desto besser war es. Er nahm Abschied von seinen Eltern und wanderte auf dem nächsten Wege dem Gebirge zu. Als er auf der Brücke über den Bach schritt, saß da unten auf einem großen Steine der Mühlenhannes, ließ sich die Sonne auf seinen wirren Haarschopf scheinen und brüllte sein sonderbares Lied:


»Das Haar wie Feuer,
Der Leib wie Schnee,
Und die Augen so grün wie Glas ...«



sang er gerade, als Joseph vorüberkam.

Da der Verrückte nun sah, daß jener mit einem Bündel auf dem Rücken dem Abendberge zuwanderte, so unterbrach er sich und rief: »Glück auf, Glück auf! Und grüß den alten Uhu!« Dann lachte er so gräßlich, daß Joseph, von Schauer erfüllt, schneller ausschritt.

Im Walde war es schwül und still, und ein Duft nach Harz und vertrockneten Pflanzen herrschte überall. Das Gras am Boden war versengt, die Kräuter ließen die Blätter hängen, und die kleinen Wäldchen von Heidelbeeren und jung aufgeschossenen Bäumchen, die die großen, moosigen Felsblöcke bedeckten, begannen zu verdorren. Je weiter Joseph den Berg hinanwanderte, desto wilder ward die Gegend, desto mächtiger die verstreuten Felsblöcke, und desto gewaltiger die Bäume. Es waren meist Edeltannen, zuweilen aber standen dazwischen große Horste uralter Eiben von unbeschreiblich ehrwürdigem Aussehen.

Als er schon über eine Stunde bergauf gestiegen war, sah er etwas Dunkles, Mächtiges zwischen den Tannenstämmen ragen, und beim Näherkommen fand er eine uralte, turmdicke Eiche, die mit der ungeheuren Wölbung ihrer laubigen Kuppel einen ebenen, runden Platz beschattete. Rings um diesen Platz standen im Kreise, wie von Menschenhand geordnet, Felsblöcke in regelmäßigen Entfernungen voneinander, und unter der alten Eiche, dicht am Stamm, lag ein großer Stein, in dessen Oberfläche sich einige Vertiefungen und Rinnen befanden. Gerade über diesem hatte der riesige Baum eine Höhlung wie eine Altarnische, und plötzlich schrak Joseph heftig zusammen, denn in dieser Höhlung saß ein ungeheurer Uhu und blickte mit großen, runden Augen ruhig auf ihn hin. Als nun der junge Mann, dem es an diesem düstern Orte mit seinem feierlichen Schweigen gar nicht geheuer war, eilend vorüberschritt, drehte das stolze Tier langsam den Kopf und folgte ihm mit den Augen, bis er hinter den Felsen verschwunden war. Joseph sah nach dem Stande der Sonne und schritt rüstig weiter, bis er plötzlich durch ein leises, seines Winseln zu seinen Füßen erschreckt wurde. Er stand und blickte zu Boden, konnte aber nichts bemerken als ein seltsames Kraut, das mit seinen langen Ranken gleichsam wie suchend durch das Moos hinirrte. Er setzte den Fuß weiter und war eben im Begriff, wieder auf eine solche Ranke zu treten, als er nochmals das seine Winseln hörte und zu seinem Schrecken bemerkte, daß die Ranke sich wie ein lebendes Wesen vor seinem Fußtritt zurückzog. Er machte einen Satz, um aus dem Bereich dieser unheimlichen Pflanze zu gelangen, und wanderte unverdrossen weiter in dem verwunschenen Walde.

Bäume und Felsen, Felsen und Bäume, immer dasselbe. Und merkwürdig eben war die Gegend geworden, nirgends sah er einen Hang emporsteigen, wie vorhin, da er doch stetig aufwärts geschritten war. Felsen und Bäume, Bäume und Felsen; sie waren sich alle so merkwürdig ähnlich. So wanderte er wohl eine Stunde, da sah er plötzlich etwas Dunkles, Mächtiges zwischen den Tannenstämmen ragen, und als er näher kam, fand er dieselbe uralte Eiche, die er vorhin schon gesehen hatte. Voll Grauen rannte er vorüber, der alte Uhu drehte langsam den Kopf und sah ihm ruhig nach.

Aus dem Bereich dieser schauerlichen Gegend gelangt, setzte er sich auf einen Stein, und die Schrecken der Einsamkeit kamen über ihn. Herr Picus hatte ihn betrogen, denn der Farnsamen half ihm nichts. Nun suchte er nach dem Päckchen in allen Taschen mit steigender Angst und konnte es nicht finden. Endlich kam es ihm zwischen die Finger, allein was nützte es, daß er das Mittel bei sich trug, wenn es doch nichts half!

Nun galt es, wieder herauszukommen aus diesem verwünschten Walde, und das erschien ihm gar nicht so schwer, denn den Herweg hatte er sich gut gemerkt. Dann wollte er Herrn Picus wohl zur Rede stellen.

Er sah nach dem Stande der Sonne und machte sich auf den Rückweg. Aber sonderbar, der Boden senkte sich nirgends thalwärts, es blieb alles eben, und die Zeichen, die er sich beim Aufstieg gemerkt hatte, fand er nicht wieder. Ueberall nur Felsen und Bäume, Bäume und Felsen, einer wie der andere, und ehe er es sich versah, war er wieder bei der alten Eiche. Er rannte schaudernd vorüber; der alte Uhu blickte ihm nach wie vorhin. Nun war ihm, als höre er weit in der Ferne das schauderhafte Gelächter des Mühlenhannes, und ganz leise und dumpf seinen Zuruf: »Glück auf. Glück auf! Und grüß den alten Uhu!«

Er sank wieder auf denselben Stein, und die Verzweiflung überkam ihn. Noch einmal zog er das Päckchen hervor und betrachtete es. Es stand nichts darauf, als ein sonderbares, magisches Zeichen wie eine Vogelklaue und das Wort »Farnsamen« in zierlichen Schriftzügen. Endlich verfiel er darauf, es zu öffnen. Er fand darin ein seines bräunlichgelbes Pulver und wollte das Pergament schon wieder schließen, als er bemerkte, daß auf der Innenseite auch etwas geschrieben war. Unter demselben Zeichen einer Vogelklaue, wie draußen, stand dort ebenfalls: »Farnsamen«, und dahinter noch etwas: »So du davon in deine Schuhe thust, ist gut gegen die Irrwurz.«

Wie eine Last fiel es ihm plötzlich von der Seele, und zugleich erinnerte er sich, daß Herr Picus nicht allein gesagt hatte: »Wer Farnsamen bei sich trägt,« sondern hinzugefügt hatte, »in seinen Schuhen.« Doch das war ihm ganz entfallen. Nun streute er ein wenig von dem Pulver in diese hinein und machte sich erneuten Mutes auf die Wanderschaft.

Jetzt war es anders denn vorhin. Klar und deutlich lag der Weg vor ihm, der zur Höhe führte, und seine Füße wandelten von selber den richtigen Pfad. Als er fast die Höhe des Bergrückens erreicht hatte, der sich zur Seite zu dem mit gewaltigen Felstrümmern besäten Gipfel des Abendberges auftürmte, fiel ihm auf, daß der Boden grüner wurde, und die Kräuter frisch und üppig dastanden. Hier war offenbar der Regen nicht ganz ausgeblieben. Nach einer Weile ward es licht vor ihm zwischen den Bäumen, und zugleich vernahm er ein Hämmern und Pochen unzähliger Spechte, sowie die schrillen Rufe dieser Vögel. Dann trat er hinaus auf eine Stelle grausiger Verwüstung. Hier war vor Jahren ein Wirbelsturm durch den Wald gegangen und hatte einen breiten Streifen vollständig niedergelegt, nur einige wenige jüngere Bäume mit zerzausten Wipfeln waren stehen geblieben. Aber die alten Riesen lagen alle am Boden, wild durcheinander ihre verdorrten Wipfel mischend. Sie waren mit ihren gewaltigen Wurzeltellern einfach umgekantet wie riesige Leuchter und hatten den ganzen Boden in ihrem Umkreis mit emporgenommen; sogar einzelne mächtige Felsblöcke hingen an diesen senkrecht hochstehenden Erdwänden, von dem Geflecht der Wurzeln fest umklammert. Aus dem also freigelegten Boden war ein üppiges Gewirr von Himbeersträuchern, hohem Gras und den verschiedensten Kräutern emporgeschossen, insonderheit der giftige Fingerhut stand dort in ganzen Wäldern und leuchtete mit roten und gelblich weißen Blüten überall hervor.

Ehe sich Joseph in diese Wildnis hineinwagte, stand er eine Weile und blickte sich um. Die Sonne war schon im Sinken, bestrahlte rötlich die vorragende Kuppe des Abendberges und säumte die Wipfel des ringsum aus der Ferne dämmernden Waldes mit Gold. Und in dieser Abendstille war es ihm, als vernehme er das unsägliche, mannigfache Knirschen und Wirken der zahllosen Käfer und Holzwürmer, die in den gewaltigen Baumleichen unablässig thätig waren. Jedoch übertönt wurden diese leisen Geräusche durch das emsige Trommeln und Hacken der Spechte von allen Arten, die sich wohl an dieser reichbesetzten Tafel aus der ganzen Umgegend zusammengefunden hatten.

Dann schritt Joseph weiter und suchte zwischen den haushohen Wänden der Wurzelgeflechte und über die gefallenen Riesenstämme seinen Weg. Nicht weit war er gegangen, da schreckte ihn ein leises, träges Rascheln im Gras, so daß es ihm kalt den Rücken herablief. Er gewahrte den zickzackstreifigen Rücken einer Kreuzotter, die sich langsam entfernte. Nun tastete er mit seinem Stock vor sich her, wie er weiter schritt, und dann raschelte es bald hier, bald da; zuweilen bäumte sich auch solch giftiges Geziefer zischend auf und biß wütend nach dem Stecken. Hier und dort sah er auch derlei häßliches Gewürm an einem freien Fleck zusammengeringelt liegen; sie waren schön, fett und groß und schauten mit bösen Augen auf ihn hin. Er sehnte sich hinaus aus diesem Wirrsal. Dazu war rings ein süßer, schwerer Duft verbreitet nach trockenen Nadeln und Aesten, die den ganzen Tag in der Sonne gebrütet hatten, und nach allerlei wunderlichen Kräutern, deren unbekannte Blüten ihn wie mit Augen anblickten.

Plötzlich fuhr er wieder schreckhaft zusammen, denn mit gellendem Geschrei stieg in seiner Nähe ein Schwarzspecht empor und schoß geräuschvoll davon. Und was war das? An der Stelle, wo der Vogel verschwunden war, ging ja Herr Picus in seiner schwarzen Kleidung und mit dem roten Käppchen auf dem Haupte in gebückter Stellung umher, scheinbar emsig nach Kräutern suchend. Schon wollte er ihn freudig anrufen, da blickte er näher zu und sah, es war nur ein seltsam gekrümmter Wurzelstock, über den die roten Blüten des Fingerhutes emporragten.

Endlich hatte er dieses Spechtparadies und Otternnest hinter sich und schritt mit erleichtertem Herzen in dem dunkelnden Walde weiter. Er mußte daran denken, sich eine Stelle zum Nachtlager zu suchen, aber in der Nähe dieses giftigen Gewürms wäre er um keinen Preis geblieben. Der Boden senkte sich wieder, und Joseph folgte nun dem Lauf eines klaren Baches, der reichlich mit Wasser gefüllt war. Wie köstlich erschien ihm dies üppige Murmeln, Rauschen und Plätschern nach so langer Entbehrung.

Die Finsternis lagerte sich zwischen den Stämmen und aus dem fernen Dunkel des Waldes schallte zuweilen schon ein Eulenruf, da fand Joseph einen Ort, der ihm zusagte und wo er zu übernachten gedachte. Hier hielt er seine Abendmahlzeit und stieg dann in einen Baum, wo er sich, so gut es ging, aus abgebrochenen Zweigen ein Lager bereitete.

Als es ganz dunkel war, kam der Mond herauf, und seine schimmernden Lichter wandelten durch die Finsternis. Bald hier, bald da glänzte das flimmernde Gewässer des Baches aus der nächtlichen Schwärze. Langsam wanderte der leuchtende Schimmer weiter und glitt über die sprudelnden Fälle, hob hier einen Strahl von flüssigem Silber hervor und ließ dort hundert blitzende Lichter auf bewegter Fläche tanzen. Und in der Stille der Nacht hörte man deutlicher die endlose Musik des Gewässers, das metallene Tönen, das Gurgeln, Rieseln und Plätschern und Klänge wie von silbernen Glöckchen. Doch noch andere Töne vernahm Joseph zu der melodischen Begleitung des Baches. Aus der Ferne der silbernen Nacht kam der Gesang einer schönen weiblichen Stimme, als wäre der Mondschein zu Klang geworden, eine holde, schwermütige Melodie, wie ein sanftes Wiegenlied für die schlafende Natur. Und im Horchen auf diesen Gesang entschlief er endlich.



4. Das Waldfräulein



Am anderen Morgen in der Frühe, als noch nebelgraue Dämmerung im Walde lag, erwachte Joseph auf seinem harten Lager, hielt seine Morgenmahlzeit zu einem frischen Trunk aus dem Bach, und als die ersten Strahlen der Sonne die Wipfel streiften, setzte er seine Wanderung fort. Ihr Ziel war näher, als er dachte, denn da er, dem Laufe des Baches folgend, um eine vorspringende Felsenkuppe bog, schien es licht durch die Stämme und eine kurze Weile später lag vor seinen Augen ein herrliches Wiesenthal, eingeschlossen von sanft ansteigenden Bergwänden. Da er so lange den Anblick reichen, frischen Grüns entbehrt hatte, so däuchte ihn diese blumige Wiesenmulde, durch die der Bach in blanken Bögen dahinging, während ihm plätschernde Quellen von allen Seiten zueilten, ein wahres Paradies. Nun hatte er gefunden, was er suchte, und eilend machte er sich auf den Rückweg. Es gelang ihm, den großen Windbruch mit seinen giftigen Insassen zu vermeiden, und da er nun nicht mehr gezwungen war, in die Irre zu gehen, erreichte er schon nach wenigen Stunden das Dorf auf einem Wege, der gar keine Schwierigkeiten darbot. Dort herrschte große Freude über die geglückte Unternehmung, und am nächsten Morgen in aller Frühe schon zog er mit seinen Kühen zu dem neu entdeckten Paradiese.

O, wie die Tiere brüllten, als sie den Duft der frischen Wiesen witterten. Die matten Augen begannen zu glänzen, und obwohl sie durch lange Entbehrung kraftlos und von der weiten Wanderung ermüdet waren, so rannten sie doch ihrem Hirten davon, und bald standen sie alle bis an die Kniee in dem frischen Grün und rupften nach Behagen das fette Gras und die saftigen Kräuter. Joseph sah ihnen vergnüglich eine Weile zu, dann ließ er sie unter der Obhut seines getreuen Hundes und wanderte in der Gegend umher, in der Hoffnung, eine Höhle oder sonst einen Unterschlupf zu finden, oder einen Platz, der zur Anlegung einer Hütte geeignet sei. In der Mitte dieses lieblichen Thales war ein kleiner Hügel gelegen wie eine Insel. Auf seinem Gipfel trug er eine mächtige Buche, und unter dieser leuchtete es in rötlichem Schimmer, denn der ganze Hügel war mit wilden Rosenbüschen bedeckt, die tausende von zarten Blüten dem Lichte darboten. Die Büsche mit ihren dornigen Zweigen hielten dort alles umsponnen, nur ein schmaler Pfad führte zu dem Baume empor. Als nun Joseph dort oben stand in den Rosendüften unter der Buche, deren reiner Stamm schimmerte wie mattes Silber, da ward ihm wunderlich zu Mut, denn ihm war immer, als stünde jemand neben ihm, als fühle er den Anhauch eines warmen Menschenleibes. Ein süßes Grauen überlief ihn. Ueber den Rosen spielten die Schmetterlinge in der Luft, im Sonnenschein standen glänzende Schwebefliegen, und in den Blättern des Baumes säuselte zuweilen ein leichter Wind, daß es klang wie sanfte Musik, gleich dem holden Gesange, den er in der vorletzten Nacht gehört hatte. Dann, wenn der Wind schwieg und wieder Stille herrschte, nur unterbrochen von dem leisen Rieseln der Gewässer, da glaubte er sanfte Atemzüge zu vernehmen, und zuweilen ging es wie ein Seufzer durch die Luft. Da ihm solches diesen lieblichen Ort unheimlich machte, so wanderte er weiter durch das Thal und kam in eine Gegend, wo es durch eine zerklüftete Wand begrenzt wurde und große, herabgestürzte Steinblöcke im Grase lagen. Auf den Vorsprüngen der steilen Felsen hatten sich rankende Gewächse angesiedelt und hingen aus den Spalten hernieder, zarte, grüne Schleier über den grauen Stein hinbreitend, und dort, wo sie am dichtesten, fast bis auf den Boden niederhingen, ward in den Lücken ein tiefes Schwarz sichtbar. Joseph schob die Ranken beiseite und fand den Eingang zu einer geräumigen Höhle, welche Entdeckung er mit Freuden begrüßte. Er schaffte alsbald seine auf dem Rücken und den Hörnern der Kühe mitgebrachten Geräte und Vorräte hinein, bereitete sich ein Lager aus weichem Laub, sammelte Feuerholz in dem benachbarten Walde, griff unter den Steinen des Baches einige stattliche Forellen und war so bald aufs schönste eingerichtet. Er hielt seine Mahlzeit, trieb gegen Abend seine Kühe in diese Gegend zum Melken und saß dann noch eine Weile auf dem Stein vor seiner Höhle, während der Tag langsam in die helle Juninacht hinüberdämmerte. Zu seinen Füßen lag der Hund und ringsum die satten Kühe, behaglich wiederkäuend. Dann, als der Mond groß und rot hinter fernen Tannenzacken emporstieg und die Gewässer lauter durch die Stille der Nacht rauschten, streckte er sich auf sein Lager und entschlief bald süß und sanft. Doch um Mitternacht erwachte er wieder von einem leisen Winseln seines Hundes, das aber sogleich wieder verstummte. Ein apfelartiger Duft nach den Blättern der wilden Rose war in der Höhle verbreitet, vielleicht stand der Wind gerade von dem kleinen Hügel her. Er stützte den Kopf auf und horchte eine Weile. In der Oeffnung der Höhle stand die weißliche Junimondnacht, und nichts war vernehmlich als die unablässige Musik der Gewässer oder ein vereinzelter Glockenton, wenn eine Kuh das Haupt bewegte. Schon wollte er sich niederlegen, da vernahm er wieder den wunderbaren Gesang näher und deutlicher als damals, ja, sogar die Worte konnte er verstehen:


»Die Rosen blühen im Mondenschein
In der silbernen Juninacht,
Wenn alles schläft – mein Herz allein.
Mein Herz nur pocht und wacht.

Die Rosen blühen ohne Zahl
Beisammen froh gesellt,
Die Quellen rieseln und rauschen zu Thal
Selbander in die Welt.

Ich weiß eine Blume, die blüht allein
In der stillen Mondennacht,
Wenn alles schläft – mein Herz allein.
Mein Herz nur pocht und wacht.«



Ein holdes Grauen überlief Joseph bei diesem Gesang, und lange noch lauschte er, als er verstummt war. Doch alles blieb still, und über dem vergeblichen Lauschen schlief er endlich ein.

Am andern Morgen in der Dämmerung, als er von dem Läuten der weidenden Kühe erwachte, war wieder der Duft nach wilden Rosen das erste, das ihm bemerklich ward, und als er sich aufrichtete, sah er bei dem einfallenden Morgenlichte, daß überall im Umkreise seines Lagers und über ihn hinweg dergleichen zarte Blumen gestreut lagen, und ein verwunderliches Grübeln befiel ihn über diese seltsame und liebliche Thatsache. Und als er nachsann, welch ein Wesen es wohl sei, das seine Einsamkeit teile und sich durch so anmutige Kundgebungen bemerklich mache, da fiel ihm eine Märe ein, die man im Dorf erzählte, und die er, wer weiß wie oft schon, gehört hatte.

»Draußen hinter dem Abendberge,« so erzählte man, »liegt eine wunderschöne Wiese. Dort wohnt das Waldfräulein Hechta in einem Rosenhage. Wenn man dreimal an die schöne Buche klopft, die dort steht, so tritt sie herfür, und wem sie ihre Liebe schenkt, der wird zum Glücklichsten unter den Sterblichen. Denn so er die Probe besteht und dem Fräulein die Treue bewahrt, steigt aus dem Rosenhügel ein prächtiges Schloß empor und er wird herrschen mit ihr über alle Lande weit umher. Aber ringsum in den Wäldern wächst das Irrkraut, und niemand findet vor oder zurück, der sich dort hineinwagt.«

Diese Geschichte ging dem jungen Manne den ganzen Morgen durch den Kopf, und unablässig sah er von ferne nach dem kleinen Hügel hinüber. Dorthin zog es ihn mit sehnsüchtiger Gewalt, und dennoch hielt ihn wieder eine bange Scheu zurück. Endlich um die Mittagszeit konnte er diesem seltsamen Drange nicht mehr widerstehen und immer näher kam er dem Orte seiner Sehnsucht. Die Sonne glühte am wolkenlosen Himmel und kein Grashalm regte sich. Verschlafen rieselten die Quellen über den steinigen Grund, und der Bach murmelte und rauschte wie im Traum. In dem Wipfel der Buche, die mit blanken, glänzenden Blättern regungslos dastand und ihre flachen Zweige wie Hände offen hielt, um den Sonnenschein aufzunehmen, saß ein Pirol und ließ unablässig seine flötenden Rufe ertönen; es war, als riefe er lockend zu unsäglichem Glücke. Joseph stieg langsam den Pfad zwischen den Rosen empor und stand nun vor dem silbergrauen Stamm der schönen Buche. Ihn schauderte, denn wie ein zitternder Seufzer der Erwartung hauchte es wieder durch die Luft.

Sein Herz pochte, daß er es zu hören glaubte, als er nun den Zeigefinger krümmte und langsam die Hand erhob. Eine Weile schwebte sie zögernd, dann in raschem Entschluß klopfte er dreimal leicht an den Stamm, Da ging es wie ein leichtes, silbernes Lachen durch die Luft, wie ein Lachen der Erlösung, und ihm war, als höre er auf der anderen Seite des Baumes ein sanftes Geräusch. Als er sich zögernd dorthin wandte, sah er auf dem Stein unter der Buche eine helle, weibliche Gestalt sitzen, so schön, daß er bis ins Herz hinein erschrak. Sie erhob sich, das lange Haar von der Farbe des roten Goldes wallte zurück, und mit einer Gebärde lieblicher Hoheit streckte sie ihm die Hand entgegen.

»Sei mir gegrüßt. Holder,« sagte sie; »du bliebst gar lange.«

Joseph wagte es kaum, diese rosendurchschimmerte Lilienhand zu ergreifen, und stand stumm und hölzern vor der wunderbaren Schönheit dieses Weibes. Sie war gekleidet in ein weißes, sich anschmiegendes Gewand, darin blühende Ranken wilder Rosen in zarten Farben eingewebt waren, aber lieblicher noch als jenes Weiß schimmerten die schönen Arme, der wohlgerundete Nacken und das blühende Antlitz.

Als nun Joseph so Hand in Hand mit ihr dastand und ihm die Purpurröte ins Gesicht stieg über dies liebliche Abenteuer, da ging ein sanftes Lächeln über das Antlitz des Waldfräuleins und die Schöne sprach: »Warum küssest du mich nicht, da du doch der Rechte bist? Ach, wie lange schon wart' ich dein!«

Damit legte sie den Kopf an seine Brust und sah vertraulich zu ihm empor. Und der Blick dieser Augen, die bald im dunkelsten Blau des Himmels, bald in jenem herrlichen Grün leuchteten, das der bewegten See im Sonnenschein eigen ist, berauschte Joseph, daß er sich, seine Scheu vergessend, zu den so lieblich dargebotenen Lippen niederbeugte. Und der Pirol im Wipfel der schönen Buche erhob noch einmal seinen Jubelruf, dann schwang er sich auf und zog, goldglänzend im Schein der Sonne, zum Walde hinüber.



5. Der Abschied



Nun lebte Joseph den ganzen Sommer hindurch in einer Welt voll eitel Glück und Wonne und seliger Erwartung noch schönerer Zukunft. Kaum konnte er es manchmal fassen, daß er dies schönste aller Wesen sein eigen nennen und diese Welt von Liebreiz in seine Arme schließen dürfe, und immer neu erschien sie ihm in der Frische des Morgens, der Glut des Mittags und der seligen Ruhe des Abends. Aber die Tage glitten dahin, eilend wie ein munterer Bach, der im Sonnenschein blitzende Lichter wirft, und ehe er es sich versah, war der Herbst ins Land gekommen. Da saß er eines Tages mit Hechta auf dem Stein unter der schönen Buche, die schon einen Kreis roten Laubes um sich ausgebreitet hatte. Aus dem fahlen Grün der wilden Rosen leuchteten wie Scharlach die Hagebutten hervor und farbige Herbstschmetterlinge schwankten umher oder plätteten ihre Flügel auf besonnten Steinen, Die blaßvioletten Herbstzeitlosen blühten ringsum, seines Gespinst zog durch die klare Luft und hoch aus dem Blau kamen die Rufe wandernder Kraniche. Die beiden Liebenden waren verstummt und schauten still hinaus in die sonnige Vergänglichkeit. Da griff Hechta zu der schönen, goldbesaiteten Laute, die neben ihr lehnte, und während ihre schönen Finger sanft darüber hinglitten, daß es klang wie leises Quellengeriesel und das Flüstern des Laubes im sanften Abendwinde, begann sie zu singen:


»Abschiedshauch durchweht die Lüfte,
Letzte Farben, letzte Düfte,
Und ein letzter holder Klang. –
Wo sind jene schönen Tage,
Da aus jedem Blütenhage
Tönte Nachtigallensang?

Zwar noch blüht die letzte Rose.
Doch die bleiche Herbstzeitlose
Schimmelt schon im Wiesengrün.
Sie verschlief das beste Wetter,
Und nun eilt sie, ohne Blätter
Sich beizeit noch auszublühn.

Träumerisch in sich versunken
Und wie von Erinnrung trunken
Liegt die Welt so blau und weit.
Sehnsuchtsvoll, mit sanfter Klage,
Still gedenkend goldner Tage
Und der schönen Rosenzeit!«



»Hörst du es rufen in der Luft?« fragte sie dann. »Es geht zum Abschied, meine Zeit ist um.«

Joseph erschrak, denn daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er sah ihr fragend in die Augen. Ein leiser Luftzug kam von den Bergen das Thal entlang, rauschte durch das Gezweige der schönen Buche und sandte einen rotgoldenen Regen welken Laubes herab.

»Die Blätter fallen,« sagte Hechta zusammenschauernd, und strich das rote Laub von ihrem Schoß, »ich muß hinunter. Morgen wirst du mich nicht mehr sehen. Hab Dank für deine Liebe und lebe wohl für immer!«

Joseph war durch diese Mitteilung ganz zu Boden geschlagen und faßte sie kaum. Als sie dann seine Verzweiflung sah, da ging es wie ein helles Licht über ihre Züge, und sie sprach:

»Möglich ist es, daß wir uns wiedersehen, ja, daß wir für immer vereinigt leben im höchsten Glück, Aber eine Probe mußt du bestehen, allzu schwer für den menschlichen Wankelmut. Du mußt mir Treue bewahren, bis der Frühling ins Land kommt, bis das erste Buchengrün im hellen Lichte steht.«

Joseph konnte nicht fassen, wie sie daran zweifeln möge. Das war doch eine Bedingung, allzu leicht zu halten. Denn wie könnte er wohl Augen haben für ein anderes weibliches Wesen in der Welt, da sich ihm die Schönheit selbst lieblich geneigt hatte. Sie aber sprach mit stillem Ernst:

»Achte die Prüfung nicht gering, die ich dir auferlege, denn ein Schimmer wie aus einer schöneren Welt wird um dich sein, wenn du wieder ins Dorf zurückkehrst, und sie werden dir nachstellen. Es gibt liebliche Dirnen da draußen, und kein Menschenherz wird gefunden, das nicht einmal seine schwache Stunde hätte. Bedenk es wohl, es ist dein sicherer Tod, wenn du dein Versprechen brichst, in dreien Tagen mußt du dann sterben.«

Als nun aber Joseph seine unwandelbare Liebe beschwor und sie anflehte, ihm ihr Vertrauen zu schenken, da strahlten ihre Augen von unendlicher Liebe und sie sprach:

»O, du Holder, ja, ich glaube dir! So komm denn und nimm das Zeichen unseres Bundes.« Sie wickelte dann um den Ringfinger seiner linken Hand eine seine Strähne ihres goldfarbigen Haares, zog eine blitzende Schere hervor, schnitt das Haar ab und drückte einen Kuß darauf. Da ward es zu einem festen goldenen Ringe, der den Finger eng umschloß, »Dieser Ring mag dich stets mahnen an dein Versprechen. So du aber im geringsten dagegen handelst, wird sich sein Glanz trüben. Wird er aber gar schwarz werden, dann wehe dir, denn das ist das Ende.«

Derweilen hatten sich fern um den Abendberg schwere Dünste gelagert, der Himmel hatte sich verfinstert und der Sonnenglanz schwand plötzlich hinweg. Im Walde wogten die Wipfel durcheinander und eine wirbelnde Säule welken Laubes erhob sich hoch in die Luft. Dann kam sie eilend über die Wiese herangewandelt, und als Hechta dies sah, da rief sie klagend:

»Weh, so früh schon, ach, so früh schon!«

Sie umarmte Joseph eilend und küßte ihn; dann kam der Sturm heran und riß sie von ihm hinweg, während rauschend und brausend die letzten Blätter der schönen Buche in die Luft flogen. Aus einer dichten Wirbelwolke roten Laubes hörte Joseph noch einmal Hechtas Ruf: »Leb wohl, leb wohl!« und als sich diese Wolke lockerte und zerstreute und mit dem Sturme weiterzog, da war das schöne Waldfräulein verschwunden. Es half Joseph nichts, daß er sich fast die Finger wund klopfte und die Luft mit seinen Wehrufen erfüllte; nur durch die blattlosen Zweige der schönen Buche säuselte der Wind ein sanftes Klagelied.



6. Die Prüfung



Am nächsten Tage lag Schnee auf dem Gipfel des Abendberges und Joseph zog mit seinen Kühen zurück in das Dorf. Dort konnte man sich nicht genug verwundern über das stattliche und glänzende Aussehen der wohlgenährten Tiere. Der Lindenbauer klopfte sie wohlgefällig auf den Hals, ging um sie herum und lobte sie mächtig. Die Bäuerin aber konnte ihren Sohn nicht genug ansehen, so stattlich und schön war er geworden. Dies war auch das Urteil der ganzen Weiblichkeit im Dorfe, und selbst solche Mädchen, die schon ihre Schätze hatten, konnten nicht umhin, nach ihm zu blicken und ein wenig zu seufzen, wenn sie an die ihrigen dachten. Die anderen nun gar warfen ihm sehr wohlwollende Blicke zu, aber es half ihnen nichts. Denn ob die schüchterne Käthe rot ward und auf ihr Busentuch blickte, wenn er vorüberkam, ob die lustige Grete ihm von ihrem Garten aus ein paar neckische Verschen zusang, ob die kecke Vroni ihn beim Vorübergehen herausfordernd mit der Schulter anstieß und ihm einen Blick zusandte, der Eisen hätte schmelzen können, so machte das alles keine Wirkung, er blickte sie ruhig an und ging kaltsinnig weiter, denn der Gedanke an das holde Waldfräulein war wie ein Nebel um seine Sinne. Da er nun auch nimmer den Tanzboden besuchte, wo allsonntäglich die jungen Burschen die hübschen Mädchen herumschwenkten, noch die Spinnstuben, da man Schnurren und Spässe erzählte und allerlei verliebte Thorheit trieb, so galt er bald für stolz und hochfahrend, und sie nannten ihn spöttisch den Prinzen vom Abendberge.

Nur bei der Tochter seines nächsten Nachbarn, der schönen Annemarie, gab es eine kleine Ausnahme, dort wagte er nicht hinzusehen, wenn er vorüberging. Er hatte sie früher gern gehabt, und auch sie hatte ihn mit den schwarzbraunen Augen stets gar lieblich angeblickt, wenn er sie grüßte und hatte den roten Mund zum Lächeln verzogen, daß die weißen Zähne hervorblitzten. Er hatte auch wohl eine Weile am Gartenzaun mit ihr geplaudert, doch das war nun vorüber, denn seit er von der Wiese hinter dem Abendberge zurückgekehrt war, vermied er sie ebenso wie die anderen.

Unterdes war der Winter ins Land gekommen und hatte die Berge mit Schnee bedeckt, und der Bach ging schwärzlich und dampfend zwischen den mit Eis verglasten Steinblöcken dahin. Wie endlos erschien Joseph dieser Winter, denn seine Sehnsucht war einzig auf den Frühling gerichtet, und sein Haupt mit lieblichen Sommergedanken der Erinnerung und Hoffnung gefüllt. Und wenn sich die anderen Burschen und Mädchen auf den Sonntag freuten, so war er ihm nur lieb, weil dann wieder sieben Tage um waren und der Lindenbauer an seinem Wandkalender mit Rotstift einen dicken Strich durch die Woche machte. Doch der alte Kalender ging zu Ende, der neue ward in Gebrauch genommen, und mit rotem Zickzack fraß sich auch in diesen die Vergangenheit immer weiter hinein. Schon gab es einzelne schöne, verheißungsvolle Tage, wo über der grünen Saat, die aus dem Schnee hervorgetaut war, schon die Lerchen sangen; immer eifriger läutete die Kohlmeise ihr Frühlingsglöckchen, und endlich schallte auch der flötende Schlag der Drossel aus den Wipfeln des Waldes. Von den Bergen plätscherte es in tausend neuen Rinnsalen, die Bäche schwollen und rauschten ungestüm dahin, und hier und da auf den Wiesen schimmerte blankes Wasser im Sonnenschein. Und wie sich die selige Unruhe in der Natur mehrte, wie das Knospen und Keimen und Blühen begann und der Gesang der Vögel immer reicher von allen Zweigen schallte, da ward auch die Sehnsucht in dem Herzen des jungen Mannes größer und kaum konnte er noch die Zeit erwarten, da sich sein holdes Glück vollenden sollte.

Als die Knospen der Buchen kurz davor waren, sich aufzuthun, ward eine große Hochzeit im Orte gefeiert, denn der reichste Bauer im Unterdorfe verheiratete seine Tochter. Davon konnte sich Joseph nicht ausschließen, obwohl er es gerne gethan hätte, und fand sich dort auch in seinem besten Staat ein. Als man sich nach der Trauung an den mit Wein und Speisen schwerbeladenen Tisch setzte, fand es sich, daß er die Annemarie zur Tischnachbarin erhalten hatte. Er mußte unwillkürlich staunen, wie schön sie war, denn in dieser Gesellschaft kam ihr keine gleich. Doch obwohl er fröhlich gestimmt war, weil er am Morgen gesehen hatte, daß ein einziger warmer Regen die Knospen der Buchen öffnen konnte, so blieb er doch stumm und einsilbig, denn vor seiner Nachbarin hegte er eine stille Furcht, und er vermied es, sie anzusehen. Sie aber schien nicht darauf zu achten, plauderte und lachte mit den anderen und strahlte scheinbar vor Glück. Allmählich ward die Gesellschaft lauter und brausender, denn der Bauer hatte seinen besten Roten aus dem Keller hergegeben, und man trank sich fleißig zu. Da konnte Joseph doch manchmal nicht umhin, seine Nachbarin heimlich anzusehen, die so unbekümmert um ihn plauderte und lachte, daß die weißen Zähne hervorschimmerten, während die schwarzbraunen Augen in verhaltenem Glanze leuchteten.

Als dann nach dem Essen das Kreischen der Fiedel, das Gequäk der Klarinette, das Geblöke des Horns und das Knurzen des Kontrabasses zum Tanze lud, da konnte sich Joseph ebenfalls nicht ausschließen. Er tanzte mit der hübschen Käthe, die sich so andächtig und feierlich herumdrehte, als sei es eine heilige Handlung. Sie hielt dabei die Augenlider mit den langen seidenen Wimpern niedergeschlagen, und nur zuweilen sendete sie einen schüchternen Blick empor und ihre roten Wangen färbten sich noch ein wenig tiefer. Er tanzte mit der lustigen Grete, die zu der Melodie des Hopsers allerlei kecke Verschen sang und ihn mit glänzenden Augen anfunkelte, er tanzte mit Vroni, die sich gar zuthunlich an ihn schmiegte, allein der schönen Annemarie ging er aus dem Wege. Doch plötzlich stand diese vor ihm, in ihren Augen funkelte es und um den schönen Mund zuckte es, und ehe er recht wußte, wie es geschah, hatte er sie in den Reigen geführt. Bald traten die anderen zurück und bildeten einen Kreis um das schöne Paar, denn die Annemarie tanzte so leicht wie eine Feder und so zierlich wie eine Bachstelze, und Joseph verstand es ebenfalls am besten im Dorfe, Selbst die Alten aus dem Nebenzimmer kamen herbei und sagten, besser hätte man in der guten alten Zeit auch nicht getanzt, und das wollte etwas sagen. Annemarie blickte ihn aber nicht an, sondern sah über seine Schulter hinweg ins Leere.

Als nun die Lustbarkeit zu Ende ging und alle sich auf den Heimweg begaben, ging es nicht anders, als daß Joseph die schöne Annemarie nach Hause brachte, denn sie wohnten beide am äußersten Ende des oberen Dorfes. Zu Anfang hatten sie noch andere Begleitung, doch als sich diese scherzend und lachend in die Nebengassen nach ihren Häusern verloren hatte, wanderten sie allein und schweigend durch die wolkenverhangene Frühlingsnacht. Es war ein Wehen und Sausen in der Luft, sehnsuchtsvoll brauste es durch das junge Laub und die knospenden Wipfel, und mit leidenschaftlichem Rauschen stürmte der Bach durch die Nacht dahin. Zuweilen fielen ein paar vereinzelte Regentropfen und sprühten auf die glühenden Gesichter, dann wieder kam der Mond durch eine Wolkenlücke und warf ein kurzes Licht auf schäumende Gewässer und weißliche Blütenbäume.

Die beiden jungen Leute waren in ihrer schweigenden Wanderung thalaufwärts geschritten, bald hörte Joseph die leichten, festen Schritte und das zarte Rauschen der Gewänder neben sich, bald hinter sich, je nachdem die Breite des Pfades es zuließ, und so waren sie endlich am Ende ihres gemeinschaftlichen Weges angelangt. Wo das kleine Pförtchen unter dem Nußbaum in den Garten ging, standen sie, und Joseph reichte dem Mädchen die Hand zum Abschiede. Zugleich kam der Mond noch einmal wieder hervor, warf sein Licht über das ganze Thal, über die Pfade, die sie gegangen waren, und die stillen Häuser, die mit schwarzen Fenstern in ihren Gärten lagen, aus den Bach, der hier und da aus dem Dunkel blitzte, und auf das schöne Antlitz, das mit schwarzbraunen Augen auf ihn hinblickte. Das Mädchen ließ seine Hand nicht los, sondern hielt sie fest umspannt, und dann brach es hervor aus den Tiefen einer aufgeregten Seele und eines leidenschaftlich bewegten Herzens.

»O, du schlechter Mensch,« sagte sie mit bebender Stimme, »was hab' ich dir gethan? Was hab' ich verbrochen, daß du mich verachtest, daß du mich nicht ansiehst, daß du nicht mit mir redest, daß du mir aus dem Wege gehst? O, so schön du aussiehst, so schlecht bist du!«

Joseph war erschrocken, er wußte nicht, was er sagen sollte. »O Annemarie!« brachte er nur heraus.

»O du, o du!« rief sie und ihrer selbst nicht mehr mächtig, schlang sie die Arme um ihn und barg den Kopf an seiner Brust, während ein krampfhaft schluchzendes Weinen den jungen Leib erschütterte. Joseph suchte sich sanft aus den lieblichen Schlingen zu lösen, allein nur noch fester schloß sie sich an und noch hilfloser klang das Weinen an seiner Brust. Er ward von Mitleid bewegt und mußte nicht, wie er sie trösten sollte. Und als er sich niederbeugte und ihr, während er sie sanft von sich zu drängen suchte, verwirrte Worte zuflüsterte, kam es, daß er, im Bestreben, freundlich gegen sie zu sein, sie sanft auf die Stirn küßte. Da wandte sich das thränenüberströmte Antlitz voll gegen ihn, und ohne zu wollen, mußte er die Thränen fortküssen, und so geriet er an den schwellenden Mund, der sich ihm sehnsüchtig entgegendrängte.

»Ach ja, ach ja,« flüsterte sie, »du bist doch gut.« Und sie wußte ihre Lippen so lieblich zu gebrauchen und sich so hingebend an ihn zu schmiegen, daß ihm das von Tanz und Wein erwärmte Blut wie Feuer durch die Adern rieselte, daß seine Glut sich an der ihrigen entzündete und er vergaß, was er nicht vergessen sollte.



7. Schluß



Als Joseph am anderen Morgen mit einem dumpfen Druck auf seinem Herzen erwachte, fiel sein erster Blick auf den Ring, und siehe, er war schwarz. Ein Todesschrecken überkam ihn. Er scheuerte und putzte so lange an ihm herum, daß der Finger wund wurde, allein es half nichts. Von bösen Gedanken gepeinigt, lief er den ganzen Tag ruhelos durch den knospenden Frühlingswald und verbrachte die nächste Nacht schlaflos. Am anderen Morgen fiel ihm ein, ob Herr Picus nicht helfen könne; der wußte doch sonst Mittel für und gegen alles in der Welt.

Jetzt aber, da der Bach, von den Gewässern des schmelzenden Schnees geschwellt, ungestüm durch seine enge Schlucht brauste, war der Herr Picus nicht so leicht zu erreichen, sondern der Weg zu ihm führte auf weiten Umwegen über die Schroffen des Gebirges und an steilen Abhängen vorüber. Als Joseph gegen Mittag das kleine Felsenthal erreicht hatte, fand er den Laboranten nicht zu Hause. Die Thür war verschlossen und das Thal einsam, nur von dem Getöse des Wildbaches erfüllt, der von dem Felsen herabstürzte und in der Tiefe gurgelte, kochte und schäumte. Dort saß Joseph eine lange Weile, schaute in das tobende Wasser- und Schaumgewirr und wartete. Endlich schrie ein Schwarzspecht einigemal so laut, daß jenes wütige Gebrause davon übertönt ward, und kurze Zeit hernach sah man Herrn Picus mit einem Kräuterbündel auf dem Rücken in das Thal herabsteigen.

Als Joseph sein Anliegen vorbrachte, schloß der Alte sein Haus auf, brachte aus einem Schränkchen eine kleine Flasche mit goldgelbem Inhalt zum Vorschein und sagte: »Das werden wir bald haben, bald haben. Wird wohl nicht echt sein, das Gold Schwindelware, Schwindelware! Zieh ab den Ring!«

»Das geht nicht!« erwiderte Joseph

»O was, o was,« sagte Herr Picus, »muß gehen!« Aber ob er auch mit allen Kräften daran zog und zerrte, der Ring wich nicht und saß fest, wie angewachsen, »Hm, hm,« sagte Herr Picus, »nun, woll'n 'mal sehen!«

Damit nahm er ein feines Hölzchen, fuhr damit in die Flasche, betupfte mit ihm vorsichtig den Ring und fing an, die Stelle mit einem Läppchen zu reiben. Aber der Ring blieb schwarz. Der Alte schüttelte den Kopf, holte ein großes, in Horn gefaßtes Glas und betrachtete dadurch aufmerksam den schmalen Reifen »Das ist nicht Arbeit von Menschenhand,« sagte er dann, »Söhnchen, Söhnchen, wer hat dir den Ring gegeben?«

Da beichtete Joseph und erzählte dem Laboranten alles, was geschehen war.

»O weh, o weh!« wimmerte der Alte; »schlimm, schlimm! Morgen sind die Buchen grün, das sah ich heut im Wald, und morgen ist der letzte Tag für dich. Da lauf hinaus und sieh, daß du Verzeihung gewinnst. Ich kann nicht helfen, kann nicht helfen, Schlimm, schlimm!«

Joseph kehrte in das Dorf zurück, den Tod im Herzen. Wie im Traum schritt er über die steilen Pfade und an den schwindelnden Abhängen entlang, in deren blau dämmernden Gründen die Frühlingsgewässer unablässig rauschten und brausten.

Am nächsten Morgen in der Frühe war er auf der Wanderung nach der Waldwiese. Die Luft war schwül und still, kein Blatt bewegte sich, der Abendberg hatte sich in Schleier gehüllt, und der Himmel war von weißlichem Dunste bezogen, in dem die Sonne nur wie ein matter Schimmer bemerklich war. Der Tag ward nicht heller, je weiter er fortschritt, sondern die unheimliche Dämmerung nahm zu, denn die Luft verdickte sich und stand blauschwarz hinter den Bergen. Durch die unheimliche Stille vernahm man zuweilen ein fernes, dumpfes Grollen.

Das grüne Wiesenthal durchbrausten unablässig die schäumenden Gewässer, und mit Mühe und Not erreichte Joseph, watend und springend, den kleinen, inselgleichen Hügel in der Mitte. Dort standen die Rosen im ersten jungen Grün, und die schöne Buche hatte eben die zarten hellen Blätter aus den braunen Knospen hervorgethan. Joseph schritt den schmalen Pfad hinauf. Hinter den Bergen ringsum grollte der Donner und zuweilen ging es durch die Luft wie ein banger Seufzer aus schwer bedrücktem Herzen. Lange stand er und wagte nicht, an den Stamm zu klopfen. Es ward immer dunkler, und in der blauschwarzen Luft zuckten die Blitze. Endlich ermannte er sich und klopfte zaghaft an. Da schallte ein Wehlaut tief aus gequälter Seele und das Waldfräulein stand vor ihm ganz in Schwarz gekleidet und marmorblaß. Joseph sank auf ein Knie, hob die Hände zu ihr empor und rief:

»Laß Gnade walten und verzeihe mir!«

Sie aber sah mit starren Augen auf ihn nieder.

»Weh, was hast du gethan!« sprach sie. »Nun kann dir niemand helfen, niemand. Lebewohl!« Sie beugte sich nieder und küßte ihn auf die Stirn. Da wogten die Bäume im Wald und beugten die Wipfel tief zur Erde. Nun kam es heran unter Brausen und Knattern wie ein Heer wütender Dämonen, der Wind stürzte sich heulend in das junge Laub der Buche und dann schritt ein gewaltiger Regen über die Wiese heran, wie eine große senkrechte Wand, während bald hier, bald dort mit jähem Krach die Blitze niederfuhren und das schreckliche Getöse des Donners unablässig war.

Waldfräulein Hechta aber stand hochaufgerichtet; ihr langes, rotgoldenes Haar flog im Wind, und mit ineinander gewundenen Händen sah sie starr zum Himmel empor. Da fuhr es hernieder wie eine mächtige Feuerkugel und zerspaltete die schöne Buche von oben bis unten. Zu ihren Füßen lag Joseph, vom Blitz erschlagen.

Im gleichen Augenblick aber neigte am Ende des Thales, wo der Bach durch eine enge Schlucht den Ausweg suchte, der Bergwald seine Wipfel, diese wogten eine Weile durcheinander und fuhren dann in grausiger Schnelle und mit einem Krachen, das das Rollen des Donners übertönte, in den Abgrund. Ein Bergsturz hatte die ganze Schlucht verschüttet und wehrte den Fluten des Baches den Ausgang. Mit grausiger Schnelle stieg das Gewässer in dem bereits überschwemmten Thale, und bald sah nur noch der kleine Rosenhügel wie eine Insel aus den Fluten hervor. Unter der zerschmetterten Buche aber saß, unbekümmert um Sturm und Unwetter und den ewig strömenden Regen, Waldfräulein Hechta und sah mit starrem Blick in die Vernichtung. – – –

Am anderen Morgen, als die Sonne vom klaren Himmel lachte und die kleinen Wellen des neu erstandenen Sees mit tausend Lichtern blinken ließ, begrub Hechta mit ihren eigenen zarten Händen den Geliebten unter den Rosen und zog sich dann zu langjähriger Gefangenschaft in die Tiefe zurück.

Der vom Blitz getroffene Baum zerfiel und vermoderte im Laufe der Jahre; an seiner Stelle ist eine neue Buche emporgewachsen, die nun schon stattlich ihre Zweige breitet. Um die Zeit, wenn die wilden Rosen blühen, hört man dort in schönen Mondscheinnächten zuweilen einen holden, schwermütigen Gesang.

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Tag der Veröffentlichung: 02.08.2012

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