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1. Es kommt Besuch



Der achtundzwanzigste August des nächsten Jahres war ein bemerkenswerter Tag, denn als ich am Nachmittag von meinem Büro nach Hause kam, war unterdessen ganz plötzlich Besuch angekommen. Frau Lore, die sich schon am Vormittag zufällig eingefunden hatte, um sich nach ihrer Tochter umzusehen, kam mir strahlenden Angesichts mit dieser Nachricht entgegen. Dieser Besuch stellte sich dar als ein höchst sonderbarer kleiner Herr mit mangelhaftem Haarwuchs und einem ältlichen, verdrießlichen Gesicht, das so rot war wie eine Schlackwurst. Sein Benehmen war höchst anspruchsvoll und seine erste Tat bei der Ankunft in unserer Häuslichkeit war gewesen, mit ungemein lauter Stimme und mit grenzenloser Rücksichtslosigkeit sein allerhöchstes Mißfallen mit allem und jedem auszusprechen. Drei Frauenzimmer, meine Schwiegermutter, Lotte und eine fremde weise Frau von behäbigem und freundlichem Aussehen hatten sich bemüht, allen seinen Wünschen gerecht zu werden, sie hatten ihm die schmeichelhaftesten Dinge gesagt, sie hatten ihm ein Bad bereitet, sie hatten ihn in köstliche weiche Leinwand gekleidet, ihn sanft in Kissen gehüllt und ihn in einen schönen funkelnagelneuen Wagen gelegt, der sonderbarerweise schon seit einiger Zeit im Hause bereit stand. Dies hatte ihn endlich so weit beruhigt, daß er in einen tiefen Schlaf gefallen war. Man sagte mir, daß Schlafen und Trinken die einzigen Beschäftigungen des kleinen Herrn wären, die nur unterbrochen würden durch Äußerungen kräftigen Unwillens und andere sehr wichtige Tätigkeiten, die fortwährend Veranlassung zu kleinen Wäschen geben. Trotz aller dieser wenig empfehlenden Eigenschaften des neuen Gastes herrschte Glück und Freude über ihn in der ganzen Wohnung, und auch ich muß gestehen, daß ich über seine Ankunft außerordentlich vergnügt war, und daß ein ungekanntes Gefühl von Würde mich durchströmte wegen der Standeserhöhung, die mir durch diesen Besuch zuteil geworden war. Am glücklichsten aber war wohl Frieda, die zwar etwas blaß, aber mit seligem Lächeln in ihrem Bett lag, den Kopf immer ein wenig nach jener Seite hingewendet, wo der kleine Mann in seinem Wagen ruhte.

Nach einer Weile klingelte es und als ich hinging, um zu öffnen, stand Hühnchen vor der Tür. »Ich weiß alles«, rief er, »Lore hat mir eine Postkarte geschickt. Hurra!« Dann ging er eilig in das große Vorderzimmer und zog mich geheimnisvoll an der Hand nach sich. Er öffnete die Tür des Berliner Zimmers und sah vorsichtig hinein. »Sie sind alle hinten, was?« fragte er dann. Ich bejahte dies.

»Teuerster«, sagte er dann, »du siehst mich jetzt an der Schwelle des Greisenalters stehen. Ich bin zwar erst sechsundvierzig Jahre alt und habe noch kein graues Haar, aber die Tatsache ist nicht zu leugnen: Ich bin Großvater, ein richtiger veritabler, unanfechtbarer Großvater. Das freut mich ganz unmenschlich und ich muß, teuerster Schwiegersohn, ich muß, und wenn es mein Leben kosten sollte, ich muß in diesem feierlichen Augenblick einen Indianertanz loslassen, sonst gehe ich zugrunde. Es soll meine letzte Jugendtorheit sein, und keine Handlung sollen deine Augen ferner von mir sehen, die nicht eines Großvaters würdig wäre, und als solche nicht im Panoptikum ausgestellt werden könnte. Hurra! Hurra! Hurra!«

Und damit tanzte er los ohne Gnade und schwang sein Bein wie ein Jüngling und, ich will es nur gestehen, ich tanzte mit, daß die Möbel zitterten, die Uhren klirrten und die ganze leicht gebaute Mietskaserne ins Wackeln kam, und am anderen Tag in der Zeitung stand, Falbs Theorie der kritischen Tage habe sich wiederum bewährt, denn in dem Haus Frobenstraße Nummer 36 habe Herr Doktor Ramann (der über uns drei Treppen hoch wohnte) am achtundzwanzigsten August nachmittags vier Uhr fünfundfünfzig Minuten die Spuren eines leichten Erdbebens bemerkt.

»So«, sagte Hühnchen, indem er nach Beendigung dieser Orgie doch ein wenig schnaufte, »nun ist mir wieder ganz wohl, sonst wären mir die versetzten Großvaterfreuden am Ende in die Glieder gefahren. Tanzen in solchen Fällen ist furchtbar gesund. Schon in alten Zeiten tat man das. Denk nur an David.«

Dann aber hob er den Zeigefinger auf und sprach mit großer Wichtigkeit: »Nun aber, lieber Schwiegersohn, kommt eine Frage von ungeheurer Bedeutung und diese lautet: Wie soll dieser Sohn heißen?«

»Ja«, sagte ich, »wir schwanken. Ich bin für Werner, Frieda für Konrad und deine Frau für Gottfried.«

Nun hätte man aber das pfiffige Gesicht sehen sollen, das Hühnchen machte, und den Ausdruck erhabenen Triumphes hören, mit dem er sagte: »Ja, hättet ihr Großvatern nicht!«

Dann nahm er mich an den Schultern, schob mich vor sich her in mein Zimmer vor dem Abreißkalender und rief: »Nun, was steht da: August, 28. Donnerstag. W. v. Goethe geb. 1749. Merkst du was? O, du bist doch so ein halber Literaturmensch und mußt dir das von mir erst sagen lassen. Wie also soll dieser Sohn heißen?«

»Wolfgang!« antwortete ich.

»Gut!« rief Hühnchen, »setz dich einen 'rauf.«

In diesem Augenblick ertönte vom Schlafzimmer her ein krähendes Geschrei und Hühnchen spitzte die Ohren. »Ha«, sagte er, »das ist Musik, das ist noch mehr wert als Wachtel sein hohes C, das ist Nachtigallengesang in meinem Ohr. Wolfgang schreit, mein Enkel meldet sich. Die Gelegenheit ist günstig. Auf zur Besichtigung!«

Ich muß hier nun offen gestehen, daß ich, was die Bewunderung neugeborener Kinder betrifft, ein Barbar bin wie die meisten Männer. Es war mein Sohn, es war sogar mein erster Sohn, dieses froschartige rötliche Etwas mit dem merkwürdigen Faltenwurf an den Beinen, und ich liebte ihn und war stolz auf ihn, ganz gewiß. Auch konnte er wundervoll durchdringend schreien, bei welchem Geschäft er mit Leib und Seele war, und beträchtlich zappeln mit seinen kleinen Gliedmaßen, aber schön war er durchaus nicht. Er hatte, wie überhaupt alle Neugeborenen, wenig Menschenähnliches an sich. Die Augen der Frauen sehen darin anders, und als Frau Lore ihn ausgebündelt hatte, sah sie ihn mit schwärmerischem Gesichtsausdruck von der Seite an und sagte mit dem Ausdruck tiefster innerlicher Überzeugung: »Ein schönes Kind, ein wahrer Engel, und ganz der Vater!« »Ganz der Vater!« wiederholte Lotte, die ihn von der anderen Seite ebenso schwärmerisch betrachtete. »Ganz der Vater«, fuhr Hühnchen fort, indem er mich etwas schalkhaft dabei ansah.

Als ich dann einen schüchternen Versuch machte, meine gegenteiligen vorhin geäußerten Ansichten zum Ausdruck zu bringen, kam ich schön an.

»Aber Männchen!« sagte Frieda, und:

»O pfui!« Frau Lore.

»Rabenvater!« rief Hühnchen.

Lotte sagte nichts, aber ich merkte, sie räsonnierte inwendig und unterdrückte Majestätsbeleidigungen.

Als ich nachher mit Hühnchen wieder allein war, sagte er zu mir: »Lieber Schwiegersohn und junger Vater, ein Mann von Erfahrung, ein Großvater spricht zu dir Worte der Weisheit. Merke wohl, was ich dir sage: Neugeborene Söhne sind immer schön, sie mögen aussehen wie sie wollen; sie sind immer ›ganz der Vater‹ und darüber hat dieser glücklich zu sein. Seine Opposition hat er zu unterdrücken, selbst wenn es ihm noch so sauer wird. Denn nützen wird sie ihm niemals etwas, ebensogut könnte er gegen Naturgesetze ankämpfen und die Schwerkraft leugnen, oder die Tatsache, daß zweimal zwei vier ist. Und daß das weibliche Geschlecht so denkt und mit anderen Augen sieht als wir, das mußt du achten, denn das ist ein Ausfluß jener herrlichsten Eigenschaft, die Gott in die Seele des Weibes gelegt hat, jener Kraft, die höher ist als Berge und tiefer als die See, – man nennt sie Mutterliebe.«

Ich schwieg ein wenig beschämt.

Frau Lore ließ es sich nicht nehmen, bei uns zu bleiben und die erste Pflege des Kindes zu übernehmen, und ich siedelte für die nächste Zeit in das kleine dreieckige Fremdenzimmer über. Hühnchen, der nun so lange einsam in Steglitz hauste, aß mittags bei uns, ehe er in sein neues Heim zurückkehrte. Denn im vorigen Jahr bereits hatte er sein kleines Haus verkauft und sich einstweilen ein anderes ebenso kleines mit einem etwas größeren Garten gemietet mit der Absicht, später, wenn er ein passendes Grundstück fände, sich anzukaufen und sich dort ein ganz wunderbares Haus zu bauen.

»Eine Dichtung soll es werden«, sagte er, »zwar ganz einfach und ohne jeglichen ›Schtuck‹, aber sinnig durchgearbeitet wie eine Novelle von Theodor Storm. Zweckmäßigkeit und Behaglichkeit sollen wie ein sanfter Schimmer von ihm ausstrahlen, man soll die Empfindung haben, alles in diesem ganzen Haus könne gar nicht anders sein, als wie es ist. Aber das ist eine ganz besonders schwierige Aufgabe«, schloß er dann mit sorgenvoller Miene und gerunzelter Stirn.

In seiner freien Zeit saß er denn auch regelmäßig am Reißbrett und »dichtete«, wie er es nannte, das heißt er entwarf Grundrisse von Häusern mit dazu gehörigen Gartenplänen. Er hatte schon eine ganze Mappe voll gedichtet. Oder er streifte mit Frau Lore auf Nachmittagsspaziergängen durch Steglitz und Umgegend und besah sich Grundstücke, wodurch er fortwährend wieder zu neuen Plänen angeregt wurde. In solcher Beschäftigung des steten Projektmachens gefiel er sich so wohl, daß eigentlich niemand mehr an den Ernst dieser Sache glaubte.

Frieda erholte sich rasch und blühte bald wieder wie eine Rose, und die kleine Knospe an ihrer Brust nahm ebenfalls zu an Weisheit und Schönheit und ward jeden Tag ein wenig menschenähnlicher. In der letzten Hälfte des Oktobers wollten wir taufen und Hühnchen, Onkel Nebendahl, Bornemann und Doktor Havelmüller sollten Gevatter stehen. Frieda betrieb die Vorbereitungen zu diesem kleinen Fest mit großer Wichtigkeit, denn bis jetzt hatten wir wohl zwei oder drei Freunde des Abends bei uns gesehen, doch noch niemals so viele wie diesmal zu Mittag, und obwohl nur, uns mit eingeschlossen, sieben Personen zu bewirten hatten, so bangte sich ihr kleines Hausfrauenherz doch ein wenig.

Die ersten, die kamen, waren Hühnchen und Frau. Hühnchen zog, als er kaum eingetreten war, eine kleine Schachtel aus der Tasche und holte daraus einen einfachen silbernen Becher hervor. »Mein Angebinde für den Sohn«, sagte er. »Dieser Becher hat Zauberkraft, denn trinkt man daraus hundert Jahre lang jeden Morgen regelmäßig, ganz einerlei welches Getränk, so wird man unfehlbar uralt. Möge er daraus Kraft und Gedeihen saugen und möge ihm wie seinem großen Geburtstagsgenossen ein Leben voller Glück und segensreicher Arbeit zuteil werden.«

Bald hernach fand sich Doktor Havelmüller ein, zog mit geheimnisvoller Miene etwas in Seidenpapier Gewickeltes hervor und sagte: »Denkt euch nur, liebe Freunde, mein Grundstück Neugarten in Tegel ist unerschöpflich in Überraschungen. Seit ihr im vorigen Mai dort wart, habe ich seine Fauna mit einundzwanzig Spezies und seine Flora gar um neununddreißig bereichern können. Und unter der Gruppe der Raubtiere befindet sich etwas ganz Großartiges, nämlich ein Bär, ein unzweifelhafter wirklicher Bär, Ursus arctos. Der ist aber auch mit einem dicken roten Strich ausgezeichnet. War seinem Führer, einem braven Polacken weggelaufen, hatte sich durch eine Zaunlücke gezwängt, hatte mir sämtliche Johannisbeeren abgefressen und sonst noch schauderhafte Verwüstungen angerichtet. Und ich genieße das Glück, darüber zuzukommen. Sie sagten nachher alle, ich könne Entschädigung von dem Kerl verlangen. ›Was Entschädigung‹, sagte ich, ›ich bin ja selig. Soll ich dem armen Vagabunden, der seine kümmerliche Nahrung aus diesem hungrigen Tier zieht, seine paar Groschen abzwacken? Nein, meine Entschädigung steht hier‹, sagte ich und zeigte auf mein Buch, wo es angemerkt war, wie gesagt, schön dick rot unterstrichen: Ursus arctos, festgestellt am 16. Juli abends 7 Uhr 3 Minuten. –

Mit den Pflanzen ist es aber scheinbar nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen. Ich hege einen düsteren Verdacht gegen meinen Freund Johannes, der im vorigen Jahr, wenn wir Pflanzen bestimmten, sich oftmals dort in höchst verdächtiger Weise zu tun gemacht hat. Denn in diesem Jahr zeigte sich eine ganz merkwürdige Bereicherung der Flora mit Pflanzen, die hier gar nicht vorkommen, wie zum Beispiel roter Fingerhut, Zimbelkraut und ähnliches. Da ich nun weiß, daß er sich allerlei Samen von seinen Reisen mitbringt oder aus Erfurt bezieht, um ursprünglich wildwachsende Pflanzen in seinem Gärtchen zu ziehen, so vermute ich hier schändlichen Betrug. Doch dies alles nur nebenbei. Denn was ich eigentlich erzählen wollte, ist noch viel merkwürdiger. Als ich aufgefordert wurde, hier Gevatter zu stehen, da sagte ich mir: was schenkst du deinem Patchen? Da ich nun, wie ihr wißt, des Gebrauches der Wünschelrute kundig bin, so dachte ich: ›Wer weiß, ob mir nicht mein Grundstück Neugarten, das so unerschöpflich reich an Merkwürdigkeiten ist, auch hier aushilft?‹ In der letzten Vollmondnacht machte ich einen Versuch mit der Rute und richtig, nach einigen Hin- und Widergängen schlug sie mächtig, ganz in der Nähe von Kiefer Nummer 11. Ich grub und grub nun in fieberhafter Aufregung ein fürchterliches Loch so tief, daß ich fast schon die Antipoden Hurra schreien hören konnte, und endlich, endlich stieß ich auf etwas Hartes. Es war ein Stein von der Größe eines Kinderkopfes. Unter diesem Stein aber – wer beschreibt mein Staunen, meine Wonne, meine Überraschung – fand ich dies hier, verehrten Freunde.«

Damit beseitigte er rasch das Papier und bot einen Becher von sogenanntem oxydierten Silber dar.

»Offenbar römische Arbeit«, sagte Havelmüller und betrachtete das Gefäß wohlgefällig von der Seite. »Jedenfalls zur Zeit der Völkerwanderung dort vergraben.«

Merkwürdige Ahnungen beschlichen mich, als nun Bornemann, rot und leuchtend wie der Vollmond beim Aufgang, ebenfalls mit einem Paket von höchst verdächtigem Aussehen in der Hand, eintrat. Dieser machte nicht viel Worte, sondern wickelte sein Papier auseinander und zog daraus, wie das bei seiner durstigen Gemütsart ja auch gar nicht anders zu erwarten war, ebenfalls einen Becher hervor und zwar einen, der gegen die anderen ein Riese war.

»Geräumiges Lokal, was?« sagte er wohlgefällig. »Daraus soll dein Sohn immer trinken.«

Ich bedankte mich natürlich herzhaft und stellte den Becher zu den übrigen. »Warum«, dachte ich seufzend, »hast du nicht sieben Paten geladen? Bei so seltener Einmütigkeit hätte dein Sohn für jeden Tag der Woche einen Becher gehabt und reizvolle Abwechslung hätte bereits die Tage seiner frühesten Jugend verschönt.«

Dann kam der Pastor mit seinem würdevollen Adjutanten und die feierliche Handlung nahm ihren Anfang.

Mein Sohn benahm sich während dieser sehr angemessen, und sämtliche Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes rechneten ihm das hoch an und betrachteten dies als einen schlagenden Beweis seiner frühzeitigen Klugheit und Bildung. Nachdem nun der kleine neue Christ, der ganz grell aus seinen weißen Spitzen und rosa Schleifen hervorschaute, genügend gelobt und bewundert war – selbst Bornemann ließ sich hinreißen, ihn für ein »ganz manierliches Würmchen« zu erklären – verabschiedete der Geistliche sich, und der Täufling zog sich unter Aufsicht einer Frau aus den unterirdischen Regionen, die Frieda für diesen Tag angenommen hatte, wieder in seine Gemächer zurück. Wir aber »erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahl«.

Es war natürlich, daß wir alle seit jener Zeit zum erstenmal wieder vereinigt waren, daß wir des Polterabends, der Hochzeit und ihrer lustigen Zwischenfälle gedachten, und Hühnchen sagte dann ganz traurig. »All die kleinen behaglichen Räume, wo wir damals so lustig waren, sind nicht mehr. Bald nachher mußte ich mein Häuschen verkaufen, wie ihr wißt. Es wurde abgebrochen und in wahnsinniger Hast ein großer Kasten dort aufgeführt. Jetzt ist er schon bewohnt, und gerade dort, wo sich mein kleiner Garten befand, hat sich ein Materialwarenhändler eingemietet. Ich war heute morgen dort, um mir eine Kleinigkeit zu kaufen, und bei dieser Gelegenheit mit wehmütigen Gefühlen die schaudervolle Veränderung zu betrachten, die dort stattgefunden hat. Ach, wo sonst an dem Weinspalier unser Fliegenschnäpperpärchen sein Nest zu bauen pflegte, war jetzt die Backplaumenschiebelade. Wo mein Springbrunnen seinen feinen Strahl in die Lüfte sendete, lief jetzt die Essigtonne. An der Stelle, wo meine Rosen blühten in üppiger Pracht, dufteten Berliner Kuhkäse, Limburger und andere liebliche Sorten, und an dem Ort meines Napoleonsbutterbirnbaums stand ein fettglänzender Kommis und verkaufte mit einem Lächeln wie Sirup für'n Sechser Essig und für'n Sechser Öl. Sic transit gloria mundi.«

In diesem Augenblick schallte draußen die Haustürglocke und der Postbote brachte ein Paket an mich von Onkel Nebendahl, dem vierten Paten. Zu meiner Beruhigung war es ziemlich umfangreich und gab deshalb zu einer von uns bereits gehegten stillen Befürchtung keine Veranlassung. »Auspacken!« hieß es allgemein. Obendrauf lag ein Brief, und nachdem ich ihn durchflogen hatte, mußte ich unwillkürlich auflachen. Ich las die Stelle vor, die diese Wirkung auf mich gehabt hatte. »Meine Frau hat ein paar fette junge Hähne eingepackt, davon soll Frieda sich ordentlich stärken, und von mir ist das andere kleinere Paket. Aus dem silbernen Becher, der darin ist, soll euer Wolfgang – warum habt ihr ihm aber so einen schnurrigen Namen gegeben, der gar keine Mode mehr ist – daraus soll er also viele schöne fette Milch trinken, daß er strebig und stämmig wird und ein tüchtiger Jung'.«

Das war nun der vierte Becher, und ich stellte ihn unter dem donnernden Gelächter der Anwesenden zu den übrigen. »Sie wollen deinen Sohn mit Gewalt zu einem Saufbold machen«, sagte Bornemann, dem diese Sache offenbar eine gewaltige Freude bereitete.

Wir hatten die Suppe, den Zander und die Hammelkoteletts mit Gemüse hinter uns, und nun erschien ein Gericht, das Hühnchen zu kühnen Vergleichen mit den schwelgerischen Gastmählern der alten Römer anfeuerte, nämlich Krammetsvögel, die mit den Füßen durch die Augen gespießt und mit Speckschürzchen angetan, stilvoll zugerichtet, bräunlich und schön eine große Schüssel füllten. Alle sahen mit Wohlgefallen auf dieses Gericht, nur Frieda schien mir es mit einer scheuen Ängstlichkeit zu betrachten, was ich auf den Umstand schob, daß sie sich bisher noch nie mit der Zurichtung dieser wohlschmeckenden Tierchen befaßt hatte. »Sehr gut!« sagte Hühnchen, nachdem er den ersten Vogel zerlegt und gekostet hatte. »Vorzüglich!« rief Havelmüller. »De-li-kat!« schmunzelte Bornemann. Doch alle diese schmeichelhaften Urteile reichten nicht hin, Friedas Unruhe zu beseitigen, die immer größer wurde, und es schien mir, als wenn ihre Blicke angstvoll von Teller zu Teller schweiften. Hühnchen war mit dem zweiten Vogel beschäftigt und es herrschte eine Weile Schweigen, nur das geschäftige Klappern der Messer und Gabeln war vernehmlich. Da sagte Hühnchen plötzlich mit einem Ausdruck leichten Schauers vor dem Geheimnisvollen und Unerklärlichen: »Die Wunder der Natur sind doch unerschöpflich. Dies ist nun schon der dritte Magen, der aus diesem Krammetsvogel hervorkommt.«

»Mir dagegen«, sagte Havelmüller, »ist es höchst angenehm aufgefallen, daß der Krammetsvogel, den ich soeben zerlegte, zwar durchaus keinen ungenießbaren Magen, dagegen eine Fülle von delikaten Lebern und zwei Herzen enthielt.«

»Da muß meiner sehr gefräßig gewesen sein«, rief Hühnchen.

»Und meiner sehr gefühlvoll«, sagte Havelmüller. Frieda aber saß da hochrot und mit einem Ausdruck zwischen Weinen und Lachen und rief nun endlich: »Ja, nun ist es heraus! Es ist nämlich ein Unglück geschehen. Lotte hat die Dinger noch niemals zurechtgemacht, und als ich nun heute im Berliner Zimmer mit Tischdecken zu tun hatte, da fiel mir mit einem furchtbaren Schreck ein, daß ich ihr gar nicht gesagt hatte, sie dürften nicht ausgenommen werden. Fast in demselben Augenblick war ich auch schon in der Küche. ›Lotte‹, sagte ich ›sind die Krammetsvögel schon gerupft?‹ ›Jawoll‹, sagte sie ›und ausgenommen hab' ich ihr auch schon‹. Ich dachte, der Boden sollte unter mir wegsinken. ›O Lotte‹, rief ich, ›was hast du gemacht, die dürfen ja nicht ausgenommen werden‹. ›Ja, wo kann ich das wissen‹, sagte Lotte, ›ich hab' das Eingetüm da all in die Schal' gemacht‹. Das war ein Hoffnungsstrahl. Ich holte zwei Teelöffel und nun saßen wir und füllten das ›Eingetüm‹ sorgfältig wieder hinein und dachten, es sollte niemand was merken. Zuletzt war noch was übrig, das haben wir verteilt, wo Platz war. Zuletzt banden wir sauber die kleinen Speckschürzchen darüber und gaben uns den schönsten Hoffnungen hin. Aber Papa ist zu schlau, der läßt sich nichts vormachen.«

»Anatomische Kenntnisse, mein Kind!« sagte Hühnchen und schmunzelte pfiffig dazu.

Frieda war aber noch immer dem Weinen nahe und bat nun in rührend kindlichem Ton: »Nicht wahr, es schadet doch nicht so sehr, es ist doch nicht so unverzeihlich schlimm.«

Ich nickte ihr freundlich zu, und während Hühnchen und Lore sie von beiden Seiten streichelten, legte Bornemann seine mächtige Hand auf die Stelle seines ungeheuren Vorhemdes, wo er sein Herz vermutete, und strahlte voller Wohlwollen auf sie hin. Havelmüller aber sagte: »Sie haben die Anziehungskraft dieses an und für sich schon köstlichen Gerichtes nur vermehrt, indem Sie ihm durch das eingeschlagene Verfahren alle Reize des Glückspiels verliehen haben. Wäre ich ein Kochbuchschreiber, so würde ich diese Zubereitungweise unter dem Namen Krammetsvögel à la Lotto in mein Werk aufnehmen.«

Diese Wendung, die Havelmüller der Sache zu geben verstand, ward mit Zustimmung begrüßt und wir alle priesen den Geist unseres Freundes, der es so geschickt verstanden hatte, die Nessel des Irrenden in den Lorbeer des Erfinders zu verwandeln.



2. Es kommt noch mehr Besuch



Ich will einen hohen Preis aussetzen für den, der mir ein Dienstmädchen nachweisen kann, das einen Vetter hat, und bin überzeugt, daß ich mein Geld behalten werde. Einen »Cousin« dagegen haben sie alle ohne Ausnahme und sollten sie ihn aus der Erde graben. Diese liebliche verwandtschaftliche Beziehung dient ihnen gern zur Entschuldigung, wenn sie in einem vertraulichen Umgang mit männlichen Wesen getroffen werden, und ist natürlich sehr geeignet, die Herrschaft zu entwaffnen, denn wer wollte wohl ein solcher Barbar sein, mit rauher Hand in den Verband einer Familie zu greifen und nahe Verwandte am Verkehr miteinander zu hindern. Unter Umständen aber tritt für den Cousin auch der »Landsmann« ein, der von ihnen ebenfalls wie eine Art Verwandter, etwa im Sinn der schottischen Clanschaft, betrachtet wird. Lotte war merkwürdigerweise schon über zwei Jahre bei uns und hatte sich noch immer sowohl ohne Cousin als auch ohne Landsmann beholfen, als Frieda einmal gegen Abend ganz blaß aus der Küche kam und zu mir sagte: »Du, ich habe mich sehr erschrocken, denn eben als ich in die Küche kam, war bei Lotte ein Mann. Sie hatten mich wohl nicht gehört, weil ich auf Hausschuhen ging, und als ich plötzlich in die Küche trat, da war es mir, als führen sie auseinander. Lotte war hochrot und tat, als ob der Mann gar nicht da wäre, und klapperte mit den Ringen auf dem Feuerherd, obgleich es heute abend gar nichts zu kochen gibt. Der Mann aber stand da und wußte nicht, wo er mit seinen Händen und seinen Augen bleiben sollte, und tat ebenfalls, als ob er gar nicht da wäre. Und in der ganzen Küche roch es nach Pferden. Ich war so erschrocken, daß ich gar nicht wußte, was ich sagen sollte, und nahm nur schnell ein Sahnetöpfchen, als sei ich darum gekommen, und ging wieder hinaus. – Was macht man nun dabei? Es geht doch nicht, daß fremde Männer Lotte in der Küche besuchen.«

»Die noch dazu nach Pferden riechen«, sagte ich.

»Ach scherze doch nicht«, erwiderte Frieda, »es ist mir sehr ernst.«

»Na, ich will mal hingehen«, sagte ich.

»Aber werde nur nicht so heftig«, bat sie. »Sieh mal, du bist ja sonst immer so ruhig, aber wenn du außergewöhnlicherweise mal aus dir herausgehst, dann wirst du gleich so furchtbar wild.«

»Sei nur ohne Sorge«, sagte ich, »ich will sein wie ein Lamm, aber wie ein energisches Lamm.«

Als ich in die Küche kam, befand sich der Mann dort nicht mehr, und Lotte putzte mit verzehrendem Eifer irgendein Geschirr.

»Lotte«, sagte ich, »was hatten Sie eben für Besuch?«

»Das war ja man bloß mein Landsmann«, sagte sie und hörte auf zu scheuern, denn arbeiten und zugleich sprechen, das überschritt ihre geistige Befähigung. Dann fuhr sie mit einer gewissen Entschlossenheit fort, indem sie zwischendurch immer ein Stückchen putzte: »Er is mit mich aus ein Dorf. – Er kennt mir schon lang'. – Wir sind zusammen eingesegnet. – Er is bei die Anibusgesellschaft bei die Ferde. – Er verdient sich sein schönes Lohn.«

»Ja«, sagte ich, »das ist alles ganz gut, aber Sie wissen doch, was wir gleich zu Anfang ausgemacht haben, daß Sie Bräutigambesuch in der Küche nicht haben dürfen.«

Nun fing sie aber an ganz mächtig zu kichern und rief: »Er is ja gar nich mein Bräutigam, er is ja bloß mein Landsmann.«

Da ich nun auf diese feinen Unterschiede nicht eingearbeitet war, so beruhigte ich mich dabei, und es ward nun ausgemacht, daß ein fernerer Austausch heimatlicher Erinnerungen und landsmannschaftlicher Gefühle abends nach getaner Arbeit und nach vorher eingeholter Erlaubnis vor der Haustüre stattzufinden habe, und somit ward diese Angelegenheit zu allgemeiner Zufriedenheit erledigt.

Wir sahen denn die beiden später auch manchmal um die Zeit der Abendröte in spärlicher Unterhaltung nebeneinander wandeln oder zusammen vor der Haustüre stehen. Da diese sich neben meinem kleinen Zimmer befand, so fing ich bei geöffnetem Fenster zuweilen drollige Bruchstücke ihrer Gespräche auf. Einmal unterhielten sie sich über die Titel des Großherzogs von Mecklenburg-Schwerin. »Ja«, hörte ich Lotte sagen, »unser Großherzog hat auch szu un szu viele Titels.«

»Wie heißen sie doch man all noch?« fragte der Pferdemensch, »Großherzog von Mäkelburg, Fürst zu Wenden, Schwerin und Ratzeburg, auch Graf zu Schwerin, der Lande Rostock und Stargard Herr... ich krieg's gar nich all mehr zusammen, es is noch 'n ganz Teil mehr.«

»Wo Sie das all auswendig wissen!« sagte Lotte bewundernd.

»Ja«, fuhr der Pferdemensch fort, »un nu könnt' er sich ja noch mehr Nams geben nach seine Güter un was ihn sonst noch gehört. Er könnt' sich ja noch nennen: Herr zu Ludwigslust und Herr von Raben-Steinfeld un so. Aber das tut er nich, das is ihn viel zu klein.« Das Gespräch ward für eine Weile durch das Rollen eines Wagens übertönt und deshalb verlor ich den Übergang zu der nächsten Unterhaltung, die sich, wie es schien, um gesalzene Heringe drehte. Denn ich hörte nur noch, wie der Landsmann den großartigen Ausspruch tat: »Ja, das muß ich nu sagen, so 'n rechten schönen weichen Matjeshering, der is mich viel lieber as 'n schlechten.« Nun waren aber die beiden guten Leute beim Essen angelangt, eine Unterhaltung, bei der jedem echten Mecklenburger ganz besonders das Herz aufgeht, und damit kamen sie in flottes Fahrwasser und steuerten alsbald auf die Gans los.

Als mein Freund Bornemann einmal gefragt wurde, welcher Vogel den größten poetischen Reiz auf ihn ausübe, antwortete er ohne Zögern: »Die Bratgans.« Ähnlichen Anschauungen huldigten auch Lotte und der Landsmann. Sie sprachen von diesem Vogel mit Hochachtung, Sachkenntnis und Liebe und zeigten sich wohl bewandert in den verschiedenen Formen seiner Zubereitung. Als sie aber auf das heimatliche Schwarzsauer kamen, nahmen ihre Stimmen einen elegischen Klang an und ich merkte, es war ihnen zumute wie dem Schweizer, wenn er in der Fremde das Alphorn hört. »Ja, hier kennen sie das nich«, sagte Lotte in mitleidigem Ton, »un all so 'n schönes Essent, als wie Apfel un Getoffel un rote Grütz' un Mehlgrütz' un Mehlbutter un Musgetoffel mit Buttermilch un all so was, das kennen sie hier auch nich.«

»Ja, in Mäkelburg is 's schön«, sagte nun der Landsmann elegisch, »un was 'n richtigen Mäkelbürger is, der wird's in die Frömde nie recht an.«

»Jawoll«, erwiderte Lotte, »das muß ich Beifall geben. Un was ich sonst noch sagen wollt, nu denken Sie sich bloß mal an: Was hier in 'n Keller den Schuster seine Frau is, die is aus Dräsen, un die hat mich erzählt, in Sachsen da füllen sie die Gäns' mit Beifuß. Haben Sie woll so was mal gehört?«

»Ne, wo is 's einmal möglich?« rief der Landsmann, und die unglaubliche Tatsache, daß man für diesen Zweck anstatt der uralt geheiligten Äpfel und Backpflaumen ein bitteres Unkraut nehmen könne, das an Feldwegen wächst, mußte unendlich viel Komisches für die beiden haben, denn sie brachen in ein anhaltendes Lachduett aus.

Derartig harmloser Art waren die Unterhaltungen dieser beiden Landsleute und da auch der Pferdemensch uns in seinem Wesen sehr wenig von einem Don Juan zu haben schien, so sahen wir diesem Verkehr bald mit Beruhigung zu.

Als unser Wolfgang schon bald zwei Jahre alt war und fleißig auf seinen kleinen Beinchen im Hause herumpuddelte, kam plötzlich wieder Besuch, und zwar diesmal in Gestalt eines lieblichen Fräuleins, das ebenfalls nach Aussage aller weiblichen Wesen übermenschlich schön und »ganz die Mutter« war. Hühnchen ließ sich durch dieses Ereignis sogar zu Versen hinreißen, die lauteten:


»Welch wundervolles Märchen!
Hurra, hurra! Ein Pärchen!«



In der Taufe sollte dieses kleine Mädchen den Namen Helene erhalten und zu dieser feierlichen Handlung hatten wir außer anderen auch Tante Lieschen eingeladen, eine alte Dame, die früher eine kleine Stellung im großherzoglichen Schloß zu Schwerin innegehabt hatte und nun von ihrer Pension und den Zinsen eines kleinen Vermögens in derselben Stadt ganz behaglich lebte. Es hatte sie einen großen Entschluß gekostet, die Reise nach Berlin anzutreten, einem Ort, den sie sich vorzugsweise von Mördern, Dieben, Einbrechern, Bauernfängern, Falschmünzern, Betrügern und Angehörigen ähnlicher interessanter Geschäftszweige bewohnt dachte, die nur darauf lauerten, sie sofort beim Betreten dieses Gomorras um das Ihrige zu bringen. »Mein lieber Neffe«, hatte sie geschrieben, »hole mich doch ja vom Bahnhof ab, ich sterbe sonst vor Angst, wenn du nicht da bist.« Nun, ich fand mich auch zur rechten Zeit dort ein und hatte das Glück, gerade neben dem Wagen zu stehen, wo von rückwärts etwas sehr bekanntes, eingemummeltes Weibliches, in der einen Hand eine Reisetasche, in der anderen einen Pompadour, hinausstieg. Ich nahm ihr leise, ohne ein Wort zu sagen, die Reisetasche aus der Hand und sah im nächsten Augenblick in ein von Angst versteinertes Gesicht. Doch ihre Züge verklärten sich, als sie mich erkannte, und sie rief: »Gott sei Dank, du bist es! Gott sei Dank! Ich dacht', es ging' schon los.«

Dann als wir mit dem Strom der Menschen dem Ausgang und der Gepäckausgabe zustrebten, fielen ihre Augen auf eine Tafel, auf der stand: »Vor Taschendieben wird gewarnt!«

»O wie schrecklich, wie schrecklich!« flüsterte Tante Lieschen: »Sieh mal, was da steht! Und ich habe über hundert Mark bei mir. Wo ist denn mein Portemonnaie? Gott sei Dank, ich hab' es ja noch!«

Dann blickte sie sich scheu um und flüsterte mir wieder zu: »Du, hinter uns geht einer, der hat solche Diebsaugen.«

»Liebe Tante«, sagte ich, »das ist ein harmloser Arbeiter, Taschendiebe sehen vornehmer aus.« Ich setzte sie nun in eine Droschke und ließ sie zu ihrem Entsetzen allein, um das Gepäck zu besorgen. Der Zug war stark besetzt gewesen, und es dauerte etwas lange, bis ich mit einem Gepäckträger und dem stattlichen Korb zu dem Wagen zurückkehrte. Sie hatte unterdessen sichtlich wieder entsetzliche Angst ausgestanden und ihr Gesicht klärte sich sehr auf, als sie sich wieder unter meinem Schutze befand.

»Du, dem Kutscher trau' ich nicht, er sieht so veniensch aus!« sagte sie. »Wenn er uns nur richtig fährt. Und denk' mal, unterwegs bin ich, weil das Damencoupé besetzt war, ›für Nichtraucher‹ gefahren, mit drei Männern zusammen, die waren ganz gewiß Bauernfänger. Denn, stelle dir nur vor, sie spielten Karten. Es war gewiß das fürchterliche ›Kümmelblättchen‹, denn sie brauchten ganz schreckliche Ausdrücke dabei, wie zum Beispiel ›der grüne Junge‹ und der ›rote Junge‹, und ›Null auf'n Bauch‹, und sprachen eine Art Gaunersprache, wovon ich kein Wort verstand. Denk' dir meine Angst. Wenn sie mich nun aufgefordert hätten zum Mitspielen, was hätt' ich da machen sollen?«

Ich lachte laut auf. »Aber, Tantchen«, sagte ich, »das waren drei harmlose Philister, die Skat spielten.«

Tante Lieschen war aber schon wieder auf neue Angstgedanken gekommen. »Du«, sagte sie, »der Kutscher fährt und fährt und biegt in immer neue Straßen ein, paßt du denn auch auf, wo er uns hinfährt? Wenn er nun... o du mein Schöpfer, wo ist meine Handtasche?« – »Hier, Tantchen, es ist ja alles da!«

Wir kamen nach Hause zu einer früheren Zeit, als man uns erwartet hatte, und als ich die Tür aufschloß, fand ich inwendig die Kette vorgehängt. Klingeln konnte ich nicht, weil dieser Mechanismus, einer Lieblingsgewohnheit von ihm folgend, einmal wieder nicht in Ordnung war, und auf mein Klopfen ward mir nicht aufgetan. Pauline, das neue Kindermädchen, war mit Wolfgang nach den Schöneberger Wiesen, Frieda von notwendigen Besorgungen noch nicht zurückgekehrt, und Lotte konnte dies Klopfen, wenn sie sich hinten in ihren Regionen befand, nicht hören. Die vorgehängte Kette und die Schwierigkeiten, in die Wohnung zu kommen, beunruhigten Tante Lieschen sehr. »Ach, da sieht man ja, wie ihr euch einschließen und einriegeln und einketten müßt!« jammerte sie. »Bei uns in Schwerin ist das nicht nötig. Wenn ich da ausgehen will, da schließe ich zu und hänge den Schlüssel auf die Türangel. Dann weiß jeder, der mich besuchen will, daß ich nicht zu Hause bin, und Diebe gibt's da nicht.«

Wir mußten uns zur Hintertür der Wohnung begeben und als wir über den Hof gingen, sah ich Lottes Kopf am Fenster des Fremdenzimmers. Sie lugte, durch das Geräusch unserer Schritte aufmerksam gemacht, dort aus und kam dann, wie es mir schien, mit sehr rotem Kopfe und einer seltsamen Verwirrung, um uns die Hintertür zu öffnen. Ich schickte sie fort, damit sie den Reisekorb von der Droschke hole, und als Tante Lieschen und ich dann bei dem kleinen Fremdenzimmer vorbeikamen, führte ich sie hinein und überließ sie dort eine Weile sich selber.

Schrecken über Schrecken stürzten auf die arme Tante ein, seit sie den Fuß in das fürchterliche Berlin gesetzt hatte, und die zufällige Zukettung der Tür war ein wichtiges Glied zu einer Verkettung von Umständen, wie sie bei der Gemütsart von Tante Lieschen nicht schrecklicher ausgedacht werden konnte. Denn kaum war sie kurze Zeit in dem kleinen Zimmer gewesen, als sich Fürchterliches ereignete. Sie hatte ihre Reisebekleidung abgelegt und ordentlicherweise wollte sie diese gleich in den Kleiderschrank hängen. Als sie aber die Tür dieses Möbels öffnete, stand darin – o Grauen und Entsetzen – ein Mann, ein Mann, der, wie sie auf den ersten Blick hätte sehen müssen, fast noch mehr Angst hatte als sie, der an allen Gliedern zitterte und vor entsetzlicher Verlegenheit nicht vermochte, den Mund aufzutun. Dafür aber hatte Tante Lieschen kein Auge. Sie sah nur, daß es wirklich so zuging in dem entsetzlichen Berlin, wie sie es sich gedacht hatte, und daß der erste Schrank, den sie öffnete, gleich einen schauderhaften Einbrecher enthielt. Sie war so entsetzt, daß sie nicht einmal einen Schrei auszustoßen vermochte. Aber sie nahm sich zusammen, denn hier, so sagte sie sich, ging es ums Leben. Mit zitternder Hand grub sie ihr Portemonnaie hervor und hielt es dem entsetzlichen Mann entgegen. »Nehmen Sie, nehmen Sie, lieber Herr Einbrecher, und schonen Sie mein Leben. Es ist alles, was ich habe!«

»Ich bin ja man bloß der Landsmann von das Mädchen«, stotterte der vermeintliche Einbrecher, »von die Lotte. Die Herrschaften haben uns ja übergerascht und da hab' ich mir in das Schrank verstochen. Ach, verraten Sie mir nich un lassen Sie mir gehn.«

»Nehmen Sie alles, nehmen Sie meine Reisetasche, aber gehn Sie doch!« jammerte Tante Lieschen, die in ihrer Aufregung und Angst gar nicht verstand, was der Mann sagte.

»Ach, verraten Sie mir nich un lassen Sie mir doch gehn!« wimmerte der Landsmann wieder in seiner Angst, und so lamentierten sie eine Weile in gegenseitiger Furcht gegeneinander an. Die Tür des geöffneten Schrankes verdeckte nämlich zum Teil den Ausgang des engen Zimmers und in der Lücke stand die zitternde Tante, die nicht zu fliehen wagte, aus Furcht, sowie sie den Rücken wendete, den Mordstahl im Nacken zu haben. So konnte der unglückselige Landsmann nicht hinaus, ohne meine Tante beiseite zu schieben, und das wagte er nicht. Nun aber kam ein Umstand hinzu, der ihn alle Rücksicht vergessen ließ, denn ich war aufmerksam geworden auf die seltsamen jammernden Stimmen, die sich dort vernehmen ließen, und das Geräusch meiner nahenden Schritte brachte den Landsmann zur Verzweiflung. Er faßte einen furchtbaren Entschluß, stürzte aus dem Schrank hervor, schob meine Tante zur Seite auf einen Stuhl und entfloh. Ich hörte einen furchtbaren gellenden Schrei und dann das Geräusch polternder Schritte über den Korridor nach der Küche hin, und als ich nun schnell hinausstürzte, fand ich die gute Tante bleich und zitternd in einer entsetzlichen Verfassung.

»Ist er fort?« flüsterte sie fast tonlos.

»Wer?« fragte ich.

»Der Räuber, der Einbrecher, der schreckliche Mörder!« wimmerte sie. »Er fuhr auf mich los und wollte mich umbringen. Er machte Augen wie ein Tiger!«

Ich wollte zur Küche eilen, doch Tante Lieschen schrie: »O Gott, er läßt mich allein!« Sie klammerte sich krampfhaft an meinen Arm und ich mußte sie mitnehmen. In der Küche fand ich Lotte mit schlotternden Knien, bleich und von Tränen überströmt.

»Herr du meines«, jammerte sie, »es war ja doch man bloß mein Landsmann. Er bimmelte an die Küchentür un wollte mich bloß mal was sagen, un indem daß ich keine Zeit hätte, indem daß ich doch die Fremdenstub' zurechtmachen müßt', da hab' ich ihn gesagt, er sollt' man 'ne Momang bei mich reinkommen. Un da is gleich der Herr übern Hof gekommen un da verfehrte ich mir ganz fürchterlich, indem daß der Herr das doch verboten hätte, un in mein Angst un meine Biesternis verstach ich ihm in das Schrank!« Die letzten Worte brachte sie nur noch mühsam hervor und brach dann in ein schluchzendes Geheul aus.

Ich hatte Mühe, mir das Lachen zu verbeißen, nahm aber gewaltsam all meine Würde zusammen und hielt Lotten eine schöne Standrede. Dann kehrte ich mit Tante Lieschen in die vorderen Zimmer zurück und hier sagte diese mit finsterer Entschlossenheit: »Du, wann geht der nächste Zug nach Schwerin?«

»Das weiß ich nicht, liebe Tante!« antwortete ich.

»Aber ich muß es wissen!« sagte sie, »denn du kannst nicht verlangen, daß ich noch eine Stunde in diesem fürchterlichen Ort bleibe. Muß ich noch einmal so etwas erleben, so ist es mein Tod. Ich fühle schon so ein Ziehen im Rücken, ich glaub', ich krieg' meine Zustände.«

Ich wandte alle Mittel der Beredsamkeit an, doch anfangs wollte es mir gar nicht gelingen, sie zu beruhigen. Dann kam Frieda nach Hause und half mir Öl auf die aufgeregten Wogen der Tantengefühle zu gießen, und als dann endlich Wolfgang erschien und ihr rosig freundlich und zutraulich entgegenlief, da sah man, wie sie schwankend ward. Nachdem wir sie endlich glücklich am Eßtisch hatten und es uns gelungen war, ihre zerrütteten Nerven mit Beefsteak und Bratkartoffeln zu kräftigen und ihren gesunkenen Lebensmut durch ein Gläschen süßen Weines wieder aufzurichten, da entschloß sie sich wenigstens, einen Versuch zu machen, wie es sich in dieser Mördergrube leben ließe. Als dann am Abend Hühnchen und Frau Lore erschienen, und ihr mit sonniger Gutherzigkeit freundlich entgegen kamen, da schien das Spiel gewonnen, denn sie mußte sich doch wohl im stillen sagen, daß ein Ort, wo so harmlose und gute Leute friedlich und fröhlich lebten, doch nicht ganz von Gott verlassen sein könnte.

Trotzdem war die Nacht, die diesem Tage folgte, für sie und uns nicht ruhevoll. Ich hatte ihr kleines Zimmer am Abend sorgfältig abgeleuchtet, um festzustellen, daß nirgendwo ein Mörder sich verborgen halte, ja sogar die Waschtischschiebelade hatte ich scherzweise aufgezogen und untersucht, ob sie nicht etwa einen einbrecherischen Däumling berge, doch trotzdem ließ ihre rege Phantasie die arme Tante nicht ruhen, und ein jedes unbekannte Geräusch schreckte sie aus kurzem Schlaf wieder empor. Das erstemal klopfte sie leise, aber eindringlich etwa um Mitternacht. Ich sprang aus dem Bett, und sie flüsterte durch das Schlüsselloch: »Hörst du denn nicht, da draußen bohrt immer was.« Ich beruhigte sie, so gut ich konnte. Nach einer Stunde etwa erschreckte sie das Stampfen der Pferde, die ihren Stall auf dem Hofe hatten, und ich mußte wieder hinaus und sie durch das Schlüsselloch aufklären. Dann gab's eine Weile Ruhe, bis endlich gegen fünf Uhr ein neues Entsetzen sie erfaßte.

»Hörst du denn nicht«, flüsterte sie durch das schon mehrfach benutzte Sprachrohr, »wie es arbeitet im Keller? Dort brechen sie durch die Decke.« Und ich merkte, wie ihre Stimme vor Angst zitterte.

»Ach, teuerste Tante, so schlafe doch«, sagte ich fast ein wenig unmutig, »das ist ja nur die Wasserpumpe.« Das Haus war nämlich noch nicht an die Leitung angeschlossen und wurde durch eine im Keller stehende Pumpe versorgt, die einen Behälter auf dem Boden füllte und frühmorgens in Betrieb gesetzt wurde. Das allergrößte Entsetzen aber erfaßte sie, als kurz vor sechs Uhr Lotte vorne in der Wohnung die Rolljalousien der Fenster nach der Straße zu aufzog. Dieses fürchterliche und unbekannte Geräusch brachte sie mit einem Satz aus dem Bett und an das Schlüsselloch.

»Hörst du denn wieder nicht«, rief sie, »das sind Brecheisen!« Ich mußte natürlich wieder hinausklettern, sie zu beruhigen, und so ging es die ganze Nacht bettaus, bettein, Policke, Polacke, und meine gute Tante verfuhr wie Macbeth gegen mich, sie mordete den Schlaf.

Jedoch trotz alledem verlor sie ihre Furcht vor dem entsetzlichen Berlin in einiger Zeit, und als wir, nachdem unsere kleine Helene getauft war, einmal mit ihr ins Panoptikum gingen, war sie merkwürdigerweise nicht davon abzuhalten, sich die Schreckenskammer anzusehen, und schien zwischen all den scheußlichen Puppen mit den starren wächsernen Mördergesichtern ein wundervolles Grausen zu empfinden. Zwar fuhr sie alle Augenblicke entsetzt zusammen, wenn so ein ausgestopftes Scheusal hinter ihr stand und es ihr dann vorkam, als rege es sich, zwar sagte sie bei Betrachtung der Folterinstrumente und der Richtschwerter, auf denen sie noch Spuren von Verbrecherblut zu sehen glaubte: »Igittegittegitt, wie greulich!« zwar huddelte sie sich sehr vor dem Massenmörder Thomas, der trotz seiner schwarzen Seele so friedlich aussieht wie ein Brauereibesitzer, und dennoch war sie nicht eher wegzubringen, bis sie die letzte aller dieser Scheußlichkeiten in sich aufgenommen hatte. Wir sind stark geneigt zu glauben, daß der Besuch dieses Tempels der Greulichkeit den Glanzpunkt ihrer Berliner Erinnerungen bildet.

Wenn Tante Lieschen sich in unserer Wohnung aufhielt, so ging ein bestimmter Prozentsatz des ganzen Tages damit verloren, daß sie ihre Brille suchte, ein Sport, an dem sich das ganze Haus eifrig zu beteiligen pflegte mit Einschluß des kleinen Wolfgang, der mit großem Eifer an den unmöglichsten Orten nach ihr forschte. Mir ist in meinem Leben kein optisches Instrument dieser Art bekannt geworden, das eine so geringe Anhänglichkeit an seine Herrschaft und eine solche Abneigung gegen einen ständigen Wohnsitz gezeigt hätte, wie dieses. Nun hatte unser Kindermädchen Pauline zwei- oder dreimal das verlorengegangene Seheisen mit großer Geschwindigkeit wieder aufgefunden und war deshalb bei Tante Lieschen in den Geruch einer guten Spürnase gekommen, so daß sie gleich bei Beginn der Suche zu rufen pflegte: »Pauline, Pauline, haben Sie meine Brille nicht gesehen? Ach, suchen Sie doch mal, Sie können ja so schön finden!« Und merkwürdigerweise entdeckte mit wenigen Ausnahmen Pauline den Flüchtling an den unglaublichsten und verstecktesten Orten mit großer Schnelligkeit.

Wir waren darüber einigermaßen verwundert, denn auf Pauline paßte sonst treffend der Ausspruch aus Hermann Marggraffs »Fritz Beutel«, der so lautet: »Denn sie war damals noch sehr dumm, fast dümmer noch, als sie aussah, obwohl sie ihrem Aussehen nach doch immer noch dümmer hätte sein können, als sie war.« Dieser Dummheit ward nur von ihrer Unordnung die Waage gehalten, und wie Fritz Reuter mal von einem polnischen Wirtshaus sagt: »Dor streden sick nu Hiring, ollen Kes' un Fuselbramwin, wer am düllsten stinken wull«, so waren auch jene beiden obengenannten Eigenschaften bei Pauline in einem steten Wettstreit begriffen, und noch jetzt, nachdem sie lange schon unser Haus verlassen hat, vermögen wir nicht zu entscheiden, ob sie unordentlicher als dumm oder dümmer als unordentlich war. Heruntergefallene Haarflechten, ausgerissene Rockfalten, Löcher in den Hacken, oder zwei verschiedenfarbige Strümpfe, irgendein solches Kennzeichen, oder auch manchmal alle zugleich, waren immer an ihr bemerklich. Mir ist sie besonders erinnerlich geblieben durch das einzige Lied, das sie kannte und dem kleinen Wolfgang und der noch kleineren Helene unermüdlich vorsang. Aber auch davon weiß ich nur noch den ewig sich wiederholenden Refrain, der lautete:


Grünkohl, Grünkohl!
Ist die beste Pflanze!



Darf man von diesem Bruchstück auf das Ganze schließen, so kann man wohl annehmen, daß sein Dichter von den vielen Stufen, die zum Gipfel des Parnasses führen, eine der untersten bewohnt hat. Ich für meinen Teil habe Liebigen in Verdacht.

Das war also Pauline, und um so mehr fiel es uns auf, daß sie bei dieser einen besonderen Gelegenheit eine so große Findigkeit und Geschicklichkeit bewies. Wir glaubten schon, es läge hier ein Fall vor, der öfter in der Natur vorkommt, wo ganz besonders bornierten Persönlichkeiten oft einzelne sehr hervorragende Fähigkeiten verliehen sind, zum Beispiel die Geige zu streichen, oder Wortwitze zu machen, oder im Schachspiel sich auszuzeichnen. Ich kannte auch mal einen Mann, der weiter nichts verstand, als auf zehn Schritte durch ein Schlüsselloch zu spucken, aber das auch unfehlbar. So glaubten wir denn, die Natur habe sich bei Pauline erschöpft, indem sie ihr einzig und allein die Fähigkeit erteilt hatte, verlorengegangene Brillen mit unfehlbarer Sicherheit wieder aufzufinden. Jedoch damit ging es uns wie jenem Junggesellen, der seinen seit kurzem verheirateten Freund antraf, wie er sich einen Knopf annähte. »O, was machst du da?« rief er, »ich denke, du bist verheiratet?« »Ja glaubst du«, rief der Ehemann, »daß meine Frau dazu Zeit hat?« »O weh«, sagte der andere ganz betrübt, »nun fällt das auch noch weg!«

Denn angeregt durch ihre ersten wirklichen Erfolge in dem Auffinden dieser Brille, hatte Pauline, wie später herauskam, um dieses Ruhmes noch öfter teilhaftig zu werden, mit der bekannten Dummpfiffigkeit, die manchmal den Beschränkten eigen ist, das der Tante unentbehrliche Instrument an allen möglichen Orten versteckt, um es nachher mit scheinbar wunderbarer Spürkraft wieder aufzufinden. Tante Lieschen aber versank fast in Tiefsinn über ihre zunehmende Zerstreutheit und Vergeßlichkeit, die sie veranlaßten, ihre Brille auf dem Grund von Papierkörben, in Ofenröhren, unter Tischdecken und an anderen wunderlichen Orten zu deponieren, ohne daß ihr nachher eine Erinnerung davon blieb.

An die Greuel von Berlin, die bei näherer Besichtigung in nichts versanken, hatte sich die Tante, wie gesagt, bald gewöhnt, doch wurde sie zuletzt durch ein anderes Schrecknis vertrieben, das ihr in ihrem Heimatort ebensogut drohte wie hier. Tante Lieschen war nämlich mit einer entsetzlichen Gewitterfurcht behaftet, und als es eines Tages zu blitzen und zu donnern begann, zog sie sich in den finstersten Winkel der Wohnung zurück und hörte nicht auf zu lamentieren und zu klagen. Da ich nun nicht wünschte, daß Wolfgang dadurch mit derselben Gewitterfurcht angesteckt würde, die mir die eigene Kindheit verbittert hatte, so hielt ich ihn möglichst von ihr fern und ließ ihn mit Pauline vorne sich aufhalten, während Frieda und ich der Tante Gesellschaft leisteten, denn allein gelassen unter solchen Umständen, wäre sie vor Angst gestorben. »Ach«, sagte Tante Lieschen, »in meiner jetzigen Wohnung in Schwerin, da geht es ja, aber als ich noch aufm Schloß wohnte, da waren die Gewitter viel stärker. – O du mein Schöpfer, das war ein Blitz, das hat eingeschlagen. Hör' doch den Donner!« Es kam aber dennoch eine kleine Pause, und nur der Regen strömte stärker und rauschender herab. Ich suchte sie zu trösten damit, daß es in Berlin eigentlich nie einschlüge und daß sogar des Nachts wegen eines Gewitters niemand aufstände, sondern ruhig weiter schliefe, wenn er es vor dem Lärm könnte. Doch das erregte nur ihren Zorn und sie fand es barbarisch und unchristlich. »Sieh mal, liebe Tante«, sagte ich, »hier sind so viele hohe Häuser und Giebel und Zacken und Eisenspitzen und Fahnenstangen und Telephonleitungen, da weiß das Gewitter vor lauter Auswahl gar nicht, wo es hineinschlagen soll, und läßt es lieber ganz.«

Das wollte ihr aber nicht einleuchten und sie fand meine Rede sehr frivol. Als dann die Blitze sich wieder mehrten und der Donner stärker rollte, rief sie mit einemmal:

»O du hast ja wohl Stiefel an?«

»Ja, warum nicht liebe Tante?«

»Da sind doch Nägel drin!« rief sie, »und Eisen zieht doch den Blitz an. Das wissen ja sogar die drei Realschüler, die bei dem Schuster in Pension sind, wo ich meine Wohnung gemietet habe. Sie sind sonst Bambusen, wie alle Jungs in diesem Alter, aber wenn ein Gewitter ist, dann leisten sie mir Gesellschaft und ich geb' ihnen 'n bißchen Kuchen und 'n klein' Glas Wein, denn solche Jungs können ja essen und trinken, wenn auch Pech und Schwefel vom Himmel fällt. Aber als sie in der Schule gehabt haben, daß Eisen den Blitz anzieht, da haben sie sich immer draußen die Stiefel ausgezogen und sind auf Socken zu mir gekommen.«

Ich konnte ihr nun nicht wohl sagen, daß dies ein alberner Schülerstreich gewesen sei, und daß die Bengels sie sicher zum besten gehabt hätten, und mußte wahrhaftig hinaus, um mir die Stiefel auszuziehen, damit mir der Blitz nicht in die Beine führe.

Das Gewitter nahm aber mehr und mehr an Stärke zu, und Pauline graute sich in dem Vorderzimmer, mit dem kleinen Wolfgang allein zu sein. Ich ließ sie deshalb nach hinten gehen, nahm den Jungen auf den Arm, blieb dort, damit er das angstvolle Lamentieren der Tante nicht hören sollte, und zeigte ihm, am Erkerfenster stehend, die Blitze als ein schönes Schauspiel. Wenn dann so ein recht starkes Himmelsfeuer sein verzweigtes Flußnetz über den regengrauen Himmel schoß, so sah der kleine Wolfgang mich an und sagte: »Vater, der war doch schön!«

Das Gewitter nahm jedoch fortwährend an Stärke zu, die Blitze häuften sich und wurden rasch von einem kurzen Donner gefolgt, der klang, als wenn ein ungeheures Eisengerüst plötzlich zusammenstürze. Dann plötzlich ein blendend heller Schein, als ob die Luft in Feuer stände, und damit zugleich: »Rack!« ein furchtbarer Knall. Das war dem kleinen Wolfgang denn doch ein wenig zu viel. Er schlug beide Händchen vor die Augen und sagte mit etwas schüchternem Ton: »Vater, das war wohl sehr schön?« »Ja, mein Kind«, sagte ich, »das war sehr schön!« obgleich mir doch ein wenig blümerant zumute war. Jedoch nun schien sich die Macht des Gewitters erschöpft zu haben, allmählich vergrollten die Donner in der Ferne, der Regen verrauschte und bald schien die Sonne durch die letzten funkelnden Tropfen, während die überschwemmte Straße sich mit unternehmenden Jünglingen füllte, die mit nackten Beinen in den trüben Wasserlachen jauchzend herumwateten.

Tante Lieschens Verfassung kann man sich denken. Bei dem entsetzlichen Schlag war sie emporgefahren und hatte sich einige Male um sich selbst gedreht. Da sie sich aber nicht entscheiden konnte, aus welcher der drei Türen des Zimmers sie fliehen sollte, so war sie kraftlos wieder auf den Stuhl zurückgesunken, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und stöhnte. Nach einer Weile ließ sich das Bimmeln der Feuerwehr vernehmen. »Was ist das, was ist das?« rief Tante Lieschen.

»Das ist die Feuerwehr!« sagte Frieda ganz ruhig.

»Mein Gott«, rief Tante Lieschen nun, »findest du nicht auch, daß es hier so sengerich riecht? Wie kannst du nur so ruhig sein? Wo ist denn das Feuer?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Frieda, »aber es scheint mir, als wenn die Wagen hier ganz in der Nähe halten!«

Das war nun Tante Lieschen außer allem Spaß, und da das Gewitter so plötzlich nachgelassen hatte, wagte sie sich in das Vorderzimmer, wo ich mit Wolfgang stand und den Arbeiten der Feuerwehr, die einige Häuser weiter vor einem Hause hielt, zuschaute.

»Da stehst du so ruhig und guckst!« rief Tante Lieschen, »packt ihr denn nicht eure Wertsachen zusammen?« Und sie fingerte mit zitternden Händen an ihren Ohrringen herum, zog ihre beiden Ringe ab, löste ihre Amethystbrosche vom Halse und steckte in ihrer Verwirrung alles säuberlich in die Tasche.

»Aber liebe Tante«, rief ich lachend, »es ist ja drei Häuser weit ab. Und hier kannst du es, wer weiß wie oft, sehen, daß, wenn ein Dachstuhl brennt, die Leute drei Treppen hoch im Vertrauen auf ihre Feuerwehr ruhig aus dem Fenster sehen!«

»O wie entsetzlich!« sagte Tante Lieschen.

»Und außerdem handelt es sich hier gar nicht um Feuer«, fuhr ich fort. »Bei der Überschwemmung durch den Platzregen ist ein Keller voll Wasser gelaufen und die Feuerwehr pumpt es nun wieder heraus.«

Das wirkte sehr beruhigend auf die Tante und sie bemerkte nun mit einemmal, daß ihre Ringe fehlten. »Du mein Schöpfer«, rief sie, »wo sind meine Ringe? Und meine...« Hier ward sie plötzlich dunkelrot, ging ganz kleinlaut vor den Spiegel und tat sich ihre Schmucksachen wieder an.

Damit war aber die Sache noch nicht abgetan, denn den ganzen Nachmittag über fürchtete sie sich vor der Rückkehr des Gewitters.

»Diese Art Gewitter kenn' ich«, sagte sie, »die kommen immer wieder und, wenn's nicht eher ist, in der Nacht.«

Und obwohl sie damit nicht recht behielt, kamen wir wiederum diese ganze Nacht nicht zur Ruhe. Denn bald hielt sie das Rollen eines Wagens für fernen Donner, bald das Laternenlicht des Kutschers, der über den Hof ging, nach seinen Pferden zu sehen, für einen Blitz, bald schien es ihr sengerich zu riechen, und so spielten wir wiederum bis zum Morgen Policke, Polacke, und die letzte Nacht, die sie in unserem Hause zubrachte, war ebenso unruhig wie die erste.

Denn diese war wirklich ihre letzte Nacht in Berlin, und das entschied sich am nächsten Morgen, als die Zeitung kam. Dort fand sich folgende Notiz: »Ein Gewitter, das in den gestrigen Nachmittagsstunden, begleitet von einem gewaltigen Platzregen, über Berlin niederging, hat mannigfachen Schaden angerichtet und in den verschiedensten Stadtgegenden ward die Feuerwehr zu Hilfe gerufen, um das in die Kellerräume gedrungene Wasser zu entfernen. Auch schlug ein Blitz in das Haus Frobenstraße Nummer 37 und zertrümmerte einen Schornsteinaufsatz, ohne zu zünden oder sonst weiteren Schaden anzurichten.«

»Du meine Zeit«, jammerte Tante Lieschen, »das ist ja das Haus nebenan. Und das kriegen wir erst heut aus der Zeitung zu wissen. O welch eine entsetzliche Stadt! Nun frag' ich aber: Wann geht der nächste Zug nach Schwerin?«

Sie ließ sich durchaus nicht mehr halten und am Nachmittag dampfte sie ab. Den Eindruck, den der vermeintliche Einbrecher auf sie hervorbrachte, hatte sie überwunden, aber dies ging über ihre Kräfte. An einem Ort, wo man erst am anderen Tage aus der Zeitung erfuhr, daß im Nebenhause der Blitz eingeschlagen hatte, da konnte sie nicht länger leben. Es hieß auch ferner bei ihr: »Einmal und nicht wieder!« Berlin hat sie nie wieder gesehen.



3. Allerlei von Kindern



Hühnchen als Großvater zu sehen, war eine wirkliche Freude, und obwohl er in sehr jugendlichem Alter zu dieser Würde gelangt war, so mußte man doch sagen, er war dazu geboren. Die Mischung von großväterlichem Ernst und kindlicher Vertraulichkeit in seinem Wesen war bewunderungswürdig und ward nur durch die Geduld übertroffen, mit der er sich den phantastischen Launen seiner Enkelkinder fügte. Er war alles, was sie wollten, ein Elefant, ein Pferdebahnwagen, ein Kamel, eine Dampfmaschine, ja sogar scheußliche Lindwürmer darzustellen gab er sich her. Denn einst, als er bei uns war und sich mit den Kindern auf dem Teppich balgte, während ich in meinem kleinen Zimmer noch eine notwendige Arbeit zu erledigen hatte, ward ich gerufen, um ein lebendes Bild in Augenschein zu nehmen, das die drei darstellten und das an die Phantasie des Beschauers die ungeheuerlichsten Anforderungen stellte. Es betitelte sich: »Der Ritter Sankt Georg mit dem Drachen.« Hühnchen wand sich als Lindwurm am Boden, während der vierjährige Wolfgang, auf den Knien liegend, das Pferd darstellte. Auf ihm saß die kleine zweijährige Helene als Ritter Georg und zielte mit einem Spazierstock auf den furchtbar aufgesperrten Rachen des greulichen Ungetüms, während dieses mit seinen Krallen mächtig ausholte.

Sogar zu Dichtungen regten ihn seine Enkel an. Als der kleine Wolfgang zwei Jahre alt war, spielte er vorzugsweise mit zwei wolligen Holztieren, einem Lamm und einem Hund, deren Fell er mit einem Kamm und einer kleinen Bürste eifrig bearbeitete, an welchem seltsamen Spiel er ein unerschöpfliches Gefallen fand. Dazu machte Großpapa ein kleines Märchen, das später zum eisernen Bestand der Kinderstube gehörte und allen unseren Kindern, wenn sie in gleichem Alter waren, nicht oft genug erzählt werden konnte. Es lautete: »Es waren einmal ein Wauwau und ein Mählamm, und es waren einmal ein Kamm und eine Bürste. Da sagte das Mählamm zur Bürste: ›Komm, Bürste, bürste mich!‹ Da sagte aber der Wauwau zur Bürste: ›Nein, Bürste, bürste mich!, Nun sagte das Mählamm zum Kamm. ›Komm, Kamm, komm, kämme mich!‹ Aber gleich sagte auch der Wauwau zum Kamm: ›Nein, Kamm, komm, kämme mich!‹ Da taten Kamm und Bürste sich in ihr Futteral und sprachen: ›Alles zu seiner Zeit! Geduld, Geduld verlaß mich nicht!‹«

Von den vielen Versen, die er auswendig konnte und den Kindern zu ihrem Jubel vorsang und vorsagte, will ich nur ein kleines Gedicht mitteilen, das mir bemerkenswert ist, weil es mir vorkommt, als müßte der Verfasser Hühnchens gekannt und sie unter dem Bild dieser Vogelfamilie dargestellt haben. Es lautete:


Bei Goldhähnchens
Bei Goldhähnchens war ich jüngst zu Gast!
Sie wohnen im grünen Fichtenpalast,
In einem Nestchen klein,
Sehr niedlich und sehr fein.

Was hat es gegeben? Schmetterlingsei,
Mückensalat und Gnitzenbrei,
Und Käferbraten famos –
Zwei Millimeter groß.

Dann sang uns Vater Goldhähnchen was:
So zierlich klang's wie gesponnenes Glas.
Dann wurden die Kinder besehn:
Sehr niedlich alle zehn!

Dann sagt' ich: »Adieu!« und: »danke sehr!«
Sie sprachen: »Bitte, wir hatten die Ehr',
Und hat uns mächtig gefreut!«
Es sind doch reizende Leut'!



Und was konnte Großpapa nicht alles machen! Das erste war, wenn er kam, daß ihm alle Invaliden gebracht wurden, an denen es in einer Kinderstube nie fehlt, und daß er sich den Fischleimtopf holte. Hühnchen brachte sie alle zurecht, er setzte den Pferden neue Beine an und den Wagen gab er die Räder wieder. Soldaten, die höchst unmilitärischerweise ihre Gewehre verloren hatten, bewaffnete er aufs neue und kein Tier in der Arche Noahs gab es, das nicht schon einmal in seiner Kur gewesen wäre. Wolfgang hatte aber auch einen solchen felsenfesten Glauben an die unfehlbare Kunst seines Großvaters, daß einst, als ein kleiner Knabe bei einem wilden Straßenspiel das Bein gebrochen hatte und die Mutter darüber weinte und lamentierte, er auf diese zuging und sagte: »Nich weinen, Frau! Großpapa mit Fischleim wieder heil machen!«

Schon als Wolfgang vier Jahre alt war, baute Hühnchen ihm einen gewaltigen Drachen, und als wir ihn einst in Steglitz besuchten, ließen die beiden ihn steigen. Nachher sagte Hühnchen zu mir: »Eigentlich habe ich hier nicht ganz ehrlich gehandelt, denn der Junge ist für dieses Vergnügen noch viel zu klein und hat sehr wenig davon. Ich will dir nur offen gestehen, daß mich schnöde Selbstsucht geleitet hat, denn obwohl ich Großvater bin: Drachen steigen lassen, macht mir noch ganz ungeheuer viel Spaß!«

Unter Hühnchens Fingern ward jedes Stückchen Papier zum Spielzeug und nahm hunderterlei Form und Gestalt an, und was für komische Männchen, Tiere, Mützen und sonstige Dinge er aus einem Taschentuch gestalten konnte, war einfach unglaublich. Gab man ihm eine Anzahl schwedischer Streichholzschachteln, ein wenig steifes Papier, ein bißchen Zwirn, einige Streichhölzer, etwas Siegellack und eine Schere, so machte er daraus die halbe Welt. Zum Beispiel eine schöne Waage mit Schalen aus Streichholzschachteln, oder ganze Güterzüge mit Achsen aus Streichhölzern und Rädern von steifem Papier, die sich zur großen Wonne der Kinder »ordentlich drehten«, oder den Palantin der Prinzessin von China, den Staatsschlitten des Kaisers von Rußland, Mühlenräder, die mit Sand getrieben wurden, und wer weiß was sonst noch.

Jedes Weihnachtsfest und jeder Geburtstag brachte ein neues Bilderbuch seiner Fabrik, wozu er die Bilder aus illustrierten Journalen, Anzeigen und dergleichen sammelte und sorgfältig in einen Band aus steifen Papier klebte. Komische Unterschriften oder kleine selbstgemachte Verse bildeten den Text zu diesen Bilderbüchern. Im Hühnchenschen Hause kam überhaupt nichts um. Jedes Stückchen Stanniol, jede Scherbe bunten Glases, jeder blanke Knopf, jedes Gummibändchen und was sonst an Wertlosigkeiten und Abfall im Haus vorkommt, wurde aufbewahrt und fand gelegentlich eine manchmal geradezu geniale Verwendung.

Am ersten Ostertag fuhren wir alle stets nach Steglitz und in Hühnchens Garten wurden Eier gesucht. Er mußte wohl ein besonders gutes Verhältnis mit dem Osterhasen haben, denn in Hühnchens Garten legte dieser rätselhafte Vierfüßler, der seinen einzigen Kollegen in der Eierproduktion, das wunderliche Schnabeltier, sowohl in der Reichhaltigkeit seiner Erzeugnisse so fabelhaft übertrifft, die herrlichsten Eier. Da gab es goldene und silberne und solche, die in allen Farben des Regenbogens glänzten. Da gab es welche, die nach der Methode, die im Spreewald angewendet wird, mit den herrlichen Ornamenten geziert waren, und einige sogar hatte ihr Erzeuger mit seinem eigenen Bildnis geschmückt und mit deutlicher Pfote darunter geschrieben: »Z. fr. Erg. Der Osterhase.«

Großpapa Hühnchen war natürlich infolge so trefflicher Eigenschaften der Liebling aller meiner Kinder und selbst der kleine Werner, der zwei Jahre nach Helene geboren war, streckte ihm schon, als er noch ganz klein war, vom Arme seines Mädchens die Händchen entgegen und krähte vor Vergnügen. Sein besonderer Liebling aber war Helene. Unsere Kinder hatten alle etwas Sonniges in ihrem Wesen, das mochte wohl eine Erbschaft von ihrem Großvater sein, aber Helene hatte diese Eigenschaft im höchsten Grade. Wir nannten sie nur das Sonnenkind oder Großpapas Sonnenschein. Von ihrem freundlichen Gesicht ging stets ein heller Schimmer aus und auf ihrem braunen Haar lag es wie ein goldiger Glanz. Sie hatte auch mit dem Sonnenschein ein besonderes Verhältnis und spielte sogar mit ihm. Als das Kind fast vier Jahre alt war, rief mich meine Frau einmal um die Mittagszeit, als die Sonne zwischen den Vorhängen hindurch einen breiten Strahl in das Schlafzimmer sendete, und zeigte mir ein holdes Bild. Dort kniete Helenchen vor einem Stuhl, auf den das himmlische Licht mit ganzer Kraft funkelte, und griff mit den zarten Händchen in den hellen Sonnenschein und versuchte ihn mit zierlicher Bewegung der Finger in die dunklen Ecken zu streuen. Außer dem Sonnenschein liebte sie die Blumen, die seine Kinder sind, und oft rührte es mich tief, wenn sie bei unseren Spaziergängen das kleine dürftige Blumenwerk, das an den staubigen Wegen wuchs, mit heller Freude begrüßte und die kümmerlichen Glöckchen und Sterne sorglich in der kleinen warmen Hand nach Hause trug. Wie arm sind doch die Kinder einer so großen Stadt gegen die auf dem Lande. Wir waren in dem Sommer, da Wolfgang sechs Jahre alt wurde, und nun zum Herbst die Schule besuchen sollte, vom Onkel Nebendahl auf sein Pachtgut eingeladen und ich werde nie vergessen, wie ich mit den beiden älteren Kindern das erstemal im Felde spazieren ging. Wir gelangten auf einem Fußsteige durch Kornfelder zu einem wenig befahrenen Landweg, der über und über mit Blumen bewachsen war und weithin in schimmernder Farbenpracht vor uns lag. Die Kinder betrachteten dieses Paradies anfangs mit einer heiligen Scheu, und Helene sagte nur wie überwältigt: »O Blumen, Blumen, Blumen!«

Dann stellte Wolfgang mit zaghafter Schüchternheit die Frage: »Dürfen wir uns hier wohl ein paar pflücken?«

Ich sagte: »Sie gehören euch alle! Pflückt so viele ihr wollt!«

Dies erschien ihnen wie ein Märchen, denn sie waren nur an die staubigen Wegränder der nächsten Berliner Umgegend und an das Nolimetangere des Tiergartens gewöhnt, und so unzählig wie herrenlose Blumen hatten sie noch niemals beieinander gesehen. Sie stürzten sich nun wie zwei jauchzende Schwimmer in diesen Blumenstrom und gerieten in einen förmlichen Rausch über die Fülle dieser Reichtümer. Bald tauchten sie unter zu den roten Blüten des Klees, bald erhoben sie sich wieder und stürzten zu den goldenen und weißen Tellern der Wucherblume, bald wurden sie gelockt von den großen hellblauen Blütensternen des Wegewarts, bald von den roten Büscheln der Flockenblumen oder den goldenen Knöpfen des Rainfarns. Als sie nun aber im angrenzenden Kornfeld die purpurnen Köpfe des Mohns, die leuchtenden Raden, den dunkelblauen Rittersporn und vor allem die Kornblumen, nach ihrem Sinne die Königin dieser ganzen Gesellschaft, erblickten, da glaubten sie sich in einem Zauberlande. Das sind nun allerdings wieder Freuden, die ein Landkind, das mit dergleichen als gemeinen Dingen groß geworden ist, niemals kennenlernt.

So rauften und rupften sie, bis sie so viel von der schimmernden Farbenpracht dieses Ortes zu großen Büscheln vereinigt in den Händen trugen, daß diese den Reichtum nicht mehr zu fassen vermochten. Ich band ihnen die Sträuße mit Binsen zusammen und wie große Schätze trugen sie sie nach Hause.

»Vater«, sagte Wolfgang dann, nachdem er eine Weile still und ernsthaft nachgedacht hatte: »Onkel Nebendahl ist wohl sehr, sehr reich?«

»Warum meinst du das, mein Kind?«

»Weil er so furchtbar schrecklich viele Blumen hat!«

Onkel Nebendahl und seine Frau, die ebenso behäbig, rundlich und glänzend aussah wie ihr Mann, hätten unsere Kinder in aller Gutmütigkeit fast umgebracht, wenn wir nicht stets auf der Hut gewesen wären. Wie so manche Landleute geneigt, das städtische Leben als ein Hungerleben anzusehen, waren sie stets darauf aus, sowohl während als außerhalb der regelmäßigen Mahlzeiten, deren es täglich fünf gab, unsere Kinder bis obenhin voll guten Sachen zu stopfen. In Sonderheit Onkel Nebendahl war der Ansicht, ein ordentlicher Junge auf dem Lande müsse stets, wie er sich ausdrückte, »mit den Vorderfüßen im Fliegenschrank stehen«, so habe er es auch gemacht und er sei darum auch stets ein »Bostbengel« gewesen. Als Mittel, solches Ziel auch bei Wolfgang zu erreichen, empfahl er die reichliche Vertilgung von Butterbroten in der Zwischenzeit und zwar von dem großen Landschwarzbrot, dessen Scheiben ungefähr einen halben Quadratfuß Oberfläche haben. Ein einziges solches Ungetüm, ungefähr zwei Zentimeter dick und mit einem halben Zentimeter Butter und desgleichen Leberkäse darauf, hätte meinen Sohn, der an so schweres Geschütz nicht gewöhnt war, auf der Stelle niedergeworfen.

Helene, obwohl sie ihn im Punkt des Essens ebenfalls nicht befriedigte, war auch sein Liebling. »Diese kleine Dirn'«, sagte er, »is immer vergnügt un so fix zu Bein wie'n Brummküsel, un tanzt un singt un springt den ganzen Tag. Wenn ich manchmal so sitz und grätz mich un ärger' mich über die Wirtschaft, un die kleine Dirn' kommt rein, un so drat sie man in der Tür is, da is sie auch schon bei mir un sitzt mir aufn Schoß un guckt mich an mit'n Gesicht, als wenn die Sonn' in 'n goldenen Becher scheint – ja denn ist aller Ärger gleich weg. Un alle Kreatur is ihr gut, das mit Wasser wird' ich mein Lebtag nicht vergessen.«

»Wasser«, hieß nämlich ein ungemein böser Kettenhund, der einzig und allein nur vor dem Onkel und dem Mann, der die Kühe fütterte und auch ihn mit Nahrung versorgte, Achtung hatte, die übrige Menschheit aber ohne alle Ausnahme in die Waden biß, wenn er ihrer habhaft werden konnte. Diese bösartigen Naturanlagen hatten ihn, nachdem er eine genügende Anzahl von Kindern und großen Leuten in unverantwortlicher Weise geschädigt hatte, eine andauernde Anstellung als Kettenhund eingetragen, und die ewige Gefangenschaft, die solcher Beruf mit sich brachte, hatte sein Gemüt natürlich nur noch mehr verdüstert. So lebte er denn in seiner geräumigen Hütte einsam als ein Sonderling und Menschenfeind, keine andere Freude kennend als, sobald ein fremder Mensch den Hof betrat, an der rasselnden Kette einem Teufel gleich herumzutoben und zu rasen und seinem sinnlosen Zorn und Ingrimm durch ein fanatisches Gebell und durch Beißen in Steine Luft zu machen. Wegen der oftmaligen Wiederholung dieses Manövers war rings um seine Hütte ein tief ausgetretener Kreis beschrieben und in diesen wagte sich weder Mensch noch Tier, mit Ausnahme der frechen Sperlinge, die vor nichts der Welt Respekt haben.

Nun ward am zweiten Tage unserer Anwesenheit auf dem Gut bald nach Tisch bemerkt, daß Helene verschwunden war. Man suchte und rief sie im Hause und im Garten, allein es kam keine Antwort. Endlich sah jemand zwei zierliche Kinderstiefel neben dem Kopf des bösen Kettenhundes, der scheinbar tückisch brütend in seiner Hütte lag. Ein tödlicher Schreck befiel uns alle, als dies bekannt wurde, Frieda ward leichenblaß und selbst Onkel Nebendahl verfärbte sich. Er ging allein auf die Hütte zu, indem er uns anwies, im Hintergrund zurückzubleiben. Der Hund richtete sich auf, als er seinen Herrn sah, fletschte die Zähne und knurrte bedenklich. In diesem Augenblick vermochte sich Frieda nicht mehr zu halten und sie rief mit lauter Stimme: »Helene! Helene!«

Da rappelte sich in der Hütte etwas empor und neben dem zottigen Kopf des Hundes erschien das rosige Angesicht des kleinen Mädchens. Es rieb sich anfangs ein wenig verschlafen die Augen und sah dann von Glück strahlend auf uns hin.

Frieda wagte nicht mehr zu rufen, sondern winkte nur eindringlich mit der Hand. Da sagte die kleine Helene zu ihrem Nachbar: »Adjö, Hund, nun muß ich wieder zu meine Mama«, und dabei tätschelte sie ihm den zottigen Kopf, während der Köter gerührt winselte, ihr die Hand zu lecken versuchte, und mit dem Schwanz wedelte, wie man aus dem Klopfen gegen die Wand der Hütte vernehmen konnte. Dann, als sie ruhig und seelenvergnügt zu uns ging, folgt ihr der Hund bis an den Kreis, der die Grenzen seines Reiches bezeichnete, und winselte und günste nach ihr und stellte ein Bild dar, unter das man gleich hätte schreiben können: »Die Sanftmut in Hundegestalt.«

Nachher erzählte sie: »Ich war so traurig von den Hund, daß er immer so allein is und an der Kette und kann gar nicht rumspringen wie Karo und Fips und Bergmann. Und da bin ich hingegangen und hab' ihm viele schöne Blumen gepflückt. Die mocht' er aber gar nicht leiden und hat sich gar nich gefreut. Und da war seine Wasserschale ganz leer und er hatte immer die Zunge 'raus und den Mund auf und machte immer so.« Sie ahmte das Jichern eines Hundes nach. »Und da bin ich an den Trog gegangen und hab ihm Wasser in seine Schale gefüllt. Und das hat er all ausgetrunken und seine Zunge wie einen Löffel dabei gemacht und es hat immer schlapp, schlapp, schlapp gesagt. Und da sind wir beide in sein Haus gegangen und da hab' ich ihm die Geschichte von dem Wauwau und dem Mählamm erzählt. Die mocht' er woll gern leiden und hat immer mit'n Schwanz an seine Hütte geklopft. Und dann haben wir beide 'n bißchen geschlafen. Und dann hat mich Mama gerufen. Und nun ist die Geschichte aus.«

Dies war das letzte Jahr, da wir die Zeit unserer Sommerfrische uns selber auswählen durften, denn im nächsten Herbst kam Wolfgang zur Schule und von dieser Zeit an geriet natürlich das ganze Haus unter den Zwang dieser öffentlichen Einrichtung. Mir kommt es nach meinem bescheidenen Verstand manchmal so vor, als wenn der Schule eine Wichtigkeit beigelegt würde, die nicht ganz der Übertreibung ermangelt. Eine mir bekannte Dame ward kürzlich von einer Freundin gefragt, warum sie so niedergeschlagen aussähe – Da rief jene aus: »O die Schande, die Schande! Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll! Ich kann niemandem mehr in die Augen sehen!« Und so lamentierte sie noch eine ganze Weile weiter. Nachher kam es heraus, daß weiter sich nichts ereignet hatte, als daß ihr ältester Junge nicht versetzt worden war und sich nun mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder in einer Klasse befand. Und man glaube ja nicht, daß eine solche Anschauung so vereinzelt dasteht. Die Menschen scheinen ganz vergessen zu haben, daß man das beste im Leben erst nach der Schule lernt.

Die Schule, wie sie heute besteht, ist eine Art von Forstkultur, und die einzelnen Klassen bedeuten Schonungen verschiedenen Alters. Sieht man eine Kiefer, die sich frei nach allen Seiten hat entwickeln können, so wird man erfreut durch die kraftvolle Eigenart dieses Baumes, den man dann gar wohl der südlichen, um so vieles berühmteren Pinie vergleichen kann. In der Schonung aufgewachsen aber werden alle Stämme gleich lang und schlank und ebenmäßig, und sind oben mit einem öden grünen Büschel versehen, aber sie geben ein vortreffliches Nutzholz. Das gleiche erzielt auch die Schule. Sie drückt die Begabten herab zur schönen goldenen Mittelmäßigkeit und zerrt die minder Begabten zu dieser begehrenswerten Stufe empor. Und wie das Auge des Forstmannes lacht, wenn er eine so gut bestandene Schonung betrachtet, wo ein Baum aussieht wie der andere, so freut sich auch der richtige Schulmeister, wenn er seine schöne gleichmäßige Ware an die nächste Klasse abliefern kann.

Dieses Forstmeisterprinzip mag wohl ganz gut und nützlich sein, aber richtige Kiefern sind das nicht mehr, die man dort erzielt, sondern Bauholzkanditaten. Und wenn nicht manchmal trotz alledem ein solcher Baum durch günstige Umstände Luft und Licht um sich bekäme, daß er sich entwickeln kann nach seiner zwar einer etwas knorrigen Eigenart zu kraftvoller und eigentümlicher Schönheit, so wüßten wir am Ende gar nicht einmal mehr, wie eine Kiefer wirklich aussieht.

Es war ein wichtiger Tag, als ich hinging, um meinen jungen Pflänzling in diese große Baumkultur einzureihen. Er ging frisch gewaschen und gekämmt und sauber angezogen gar fröhlich und erwartungsvoll mit, denn er wußte ja nicht, daß die schönste Zeit seines Lebens, da er im Sonnenscheine fröhlich wachen und seine jungen Zweige nach allen Seiten breiten konnte, nun vorüber sei. Von nun an galt es, in Reihen zu stehen unter dem Zwang einer unerbitterlichen Dressur.

Ein Saal nahm uns auf, in dem die feierliche Stille nur durch gedämpftes Flüstern unterbrochen und jedes unschuldige helle Kinderstimmchen, das sich erhob, gleich wieder zur Ruhe getuscht wurde. In der Mitte dieses Saale stand ein ungeheurer grüner Tisch und um dieses herum saßen die Mütter, eine jede mit ihrem ebenfalls wohlgekämmten und säuberlich angezogenen Sprößling zur Seite. Die in weit geringerer Anzahl versammelten Väter standen mit den ihrigen an den Wänden herum. Dann ward die Tür nicht schüchtern und vorsichtig, sondern mit herrischem Ruck geöffnet, und unter erwartungsvollem Flüstern erschien der Herr Direktor und begab sich mit raschem Schritt an das obere Ende des Tisches. Zu beiden Seiten von ihm nahmen zwei Unterlehrer Platz und die Sache wurde feierlich. Für diesen Tag hatte der Gewaltige einen Teil seiner erhabenen Größe abgelegt und indem er mit beiden Händen seinen grauen Backenbart auszog, blickte er wie ein wohlwollender und gut aufgelegter Monarch über die zukünftigen kleinen Schüler dahin, deren unschuldige Kinderaugen auf ihn gerichtet waren. Dann wurde der erste Name aufgerufen und alle diese kleinen Menschenkinder nacheinander in die neue Fessel eingeschmiedet. Der Gewaltige schien guter Laune zu sein und machte allerlei kleine Scherze, die mit beifälligem Gemurmel aufgenommen wurden, und schien sehr verwundert, als eines dieser Knäblein trotzdem von der Feierlichkeit dieses Moments so ergriffen wurde, daß, als es seinem zukünftigen Oberlehrer die Hand reichen sollte, es in ein lautes Schluchzen ausbrach. »Du ahnungsvoller Engel du«, dachte ich, während andere dieser Knirpse im Bewußtsein ihrer stärkeren Männlichkeit lächelnde Blicke auf ihre Mütter oder Väter warfen. Dann ward ein neuer Name aufgerufen und eine blühend aussehende Dame trat hervor, die dem Direktor schon bekannt zu sein schien. »Der wievielte ist denn das, den Sie uns bringen?« fragte er wohlwollend.

»Der fünfte!« sagte die Dame und ein leichtes Rot stieg ihr in das blühende Antlitz. Der Direktor nickte wohlwollend und legte wie segnend dem Kleinen die Hand auf das Haupt, während in der Korona ein murmelndes Geflüster des Beifalls und der Bewunderung laut wurde und die glückliche Mutter mit unterdrücktem Stolz vor sich hin blickte. Der Zufall wollte es dann, daß auf ein zwerghaftes kleines Männlein, das kaum über den Tisch blicken konnte, ein Enakssohn folgte, ein Riesenkind, das die meisten seiner Genossen um mehr als Haupteslänge überragte. Der Direktor legte sich in den Stuhl zurück und maß den Jungen mit bewundernden Blicken. »Wie alt bist du, mein Sohn?« fragte er. »Sechs Jahr!« ertönte ein festes aber dünnes Stimmlein. »Alle Achtung!« rief der Direktor, »du bist ja ein Riese!« Wieder allgemeines Vorbeugen und bewunderndes Geflüster rings im Umkreis und possierlich war es zu sehen, wie alle Mütter und alle Väter die ihrigen mit den Augen maßen, um sie dann mit jenem Riesenkind zu vergleichen, während der zu diesem gehörige Vater sich große aber vergebliche Mühe gab, Gleichmut zu heucheln. Endlich kamen auch wir an die Reihe und im Nu war mein kleiner Wolfgang aus einem freien Spielkind in einen Schüler der dritten Vorschulklasse verwandelt und in die große Schonung eingereiht.

Wir waren zu derselben Zeit aus der Frobenstraße fortgezogen und hatten eine neue Wohnung in der Flottwellstraße, nahe dem Karlsbad. An dieser Wohnung fand Hühnchen ganz besondere Vorzüge. »Dergleichen«, sagte er, »kann man doch nur in einer Großstadt haben. Aus den Vorderfenstern schaut ihr auf den Güterbahnhof der Potsdamer Bahn und habt das brausende Treiben des Weltverkehrs vor Augen, aus den Hinterfenstern blickt ihr aber in das Idyll friedlicher, blühender und ausgedehnter Gärten, wo lauter Grün und Vogelgesang ist, wo junge Mädchen in hellen Kleidern auf den Steigen wandeln und fröhliche Kinder spielen. Da ist für jede Stimmung gesorgt.«

Von dieser Wohnung aus machte Wolfgang seinen ersten Schulbesuch, und da der Weg zu meinem Büro ebenfalls in dieser Richtung lag, so begleitete ich ihn des Morgens, während das Mädchen ihn nachher wieder abholte. Doch nach einigen Tagen kam der große Moment, wo er zum erstenmal allein gehen sollte, und dieses Unternehmen erfüllte ihn mit großer Wichtigkeit. Ich hatte mir vorgenommen, ohne sein Wissen hinterherzugehen, um zu sehen, wie die Sache abliefe, denn wir trauten seinem Ortssinn nicht so recht.

Ich sehe das kleine tapfere Männchen noch immer vor mir, wie es mit dem Ränzel auf dem Rücken so wichtig und zuversichtlich in die mächtige Riesenstadt hineinstapfte. Zuerst unter der Überführung der Potsdamer Bahn hindurch, dann am Kanal entlang, immer vorwärts, ohne sich umzusehen. Bei der Schöneberger Brücke mußte er links abbiegen, das tat er aber nicht, sondern tüffelte immer mutig weiter. Nun, er konnte auch über die Möckernbrücke gehen, obwohl es etwas weiter war; vielleicht hatte das Mädchen mit ihm schon einmal diesen Weg gemacht. Aber auch an der Möckernbrücke ging er ohne Zaudern vorüber und immer weiter den Kanal entlang. Mich überkam etwas wie Rührung, als der kleine Mann so unverdrossen und zuversichtlich auf seinem falschen Wege fortpilgerte, immer geradeaus in die weite Welt hinein. Denn wenn er auf diesem Wege fortfuhr, dann kam er wohl schließlich über Südrußland und Westsibirien nach China, aber niemals in seine Schule.

Nun wollte ich die Brücke an der Großbeerenstraße noch abwarten, nur um zu sehen, ob ihm auch dann noch keine Bedenken kämen, allein auch hier schickte er sich an, ohne Zaudern weiterzuwandern, immer in schnurgerader Richtung auf China los. Doch nun beschleunigte ich meine Schritte und holte ihn ein. »Junge, wo willst du denn eigentlich hin?« fragte ich.

Er wunderte sich natürlich gar nicht darüber, daß ich plötzlich da war, sondern sagte ganz ruhig: »Ich will in meine Schule, Vater.«

»Aber, was gehst du denn für einen Weg?« fragte ich, und er antwortete. »Ich geh' doch so lange, bis das Wasser alle ist, und dann kommt doch der Platz, wo all die Kohlen sind, und dann der, wo immer die Pferde reiten, und dann der große Torweg« – er meinte den Tunnel, der unter den Anhalter Bahn durchführt – »und dann bin ich gleich da.«

Nun war es heraus. Er hatte niemals beachtet, daß wir stets über die Schöneberger Brücke nach links abgebogen waren, und daß aus diesem Grunde dann das Wasser »alle« geworden war, und wartete nun, immer geduldig weiterschreitend; daß diese Erscheinung endlich eintreten sollte. Ach, der Kanal mündete in die Spree und das Wasser wäre ihm immer zur Seite geblieben bis nahe der böhmischen Grenze, wo dieser Fluß entspringt, da endlich erst wäre es »alle« geworden.

So unbedeutend dies kleine Erlebnis auch ist, so werde ich es doch nie vergessen, und solange ich lebe, werde ich es vor mir sehen, wie der kleine Mann mit seinem Ränzel auf dem Rücken so unverdrossen und voll kindlichen Vertrauens in die weite Welt hinauswanderte.



4. Dunkle Stunden



Es gibt Wege, von denen Kinder und große Leute nicht zurückkehren, wenn sie sie einmal gewandert sind.

In diesen Blättern, die von Leberecht Hühnchen und seinen Nachkommen handeln, hat bisher eitel Sonnenschein geherrscht und sie waren angefüllt mit der Schilderung des bescheidenen Glückes harmloser und friedfertiger Menschen. Darum scheue ich mich fast fortzufahren und möchte einhalten vor der finsteren Unbegreiflichkeit, mit der das Schicksal seine Lose streut.

Doch nicht vollkommen wäre dieses Lebensbild, wollte ich verschweigen, was ferner geschah. Auch vermag ich es jetzt niederzuschreiben, was mir vor kurzem noch unmöglich erschien. Denn also ist das menschliche Gemüt von einem gütigen Schöpfer eingerichtet, daß das Düstere und Traurige im Laufe der Zeiten verblaßt und sich verschleiert, das Liebliche und Holde aber stets in helleren Farben glüht. Und so mag es denn niedergeschrieben werden!

Ich war einst an einem schönen Novembertag – denn auch dieser Monat hat solche, die voll künftiger Frühlingsahnung sind – mit meinen beiden ältesten Kindern zum erstenmal hinausgegangen bis zum Kreuzberg, der damals noch nicht wie jetzt mit Anlagen, Wasserfällen, Teichen und Felsgruppen bedeckt war, sondern seinen geböschten sandigen Abhang kahl zur Schau trug und den beliebtesten Spielplatz der Kinder in der Umgegend darbot. Es ist sehr leicht, über den Kreuzberg zu spotten und zu lachen, aber bei Bergen und Menschen kommt es ganz darauf an, in welcher Umgebung sie sich befinden, wenn man sie nach ihrem Wert schätzen soll. Der Bürgermeister von Kuhschnappel ist bei sich zu Hause ein großer Mann, in Berlin aber ein ganz kleiner Provinziale, und einer von ungeheuer vielen. Ebenso sinkt der Brocken neben dem Gaurisankar zu einem Maulwurfshaufen zusammen, und vergleicht man den Brocken wieder mit dem Kreuzberg, so darf man diesen kaum einen Erdkrümel nennen. Aber der Gaurisankar liegt in Asien und der Brocken ist weit, und da nun in der unmittelbaren Nähe des großen Präsentiertellers, auf den Berlin gebaut ist, keine größere Erhebung sich vorfindet, als der Kreuzberg, so muß er mit seinen sechsunddreißig Metern, die er über den niedrigsten Punkt dieser Stadt emporragt, für einen sehr vortrefflichen Berg gelten. Und ich glaube fast, daß weder der Gaurisankar noch der Brocken meinen Kindern ein solches Vergnügen bereitet haben würde, wie dieser behagliche Sandhaufen, auf dessen sanfter Böschung sie eilig in die Tiefe rennen konnten, um sie alsbald wieder mit glühendem Eifer emporzuklettern. Und sie erkannten ihn an und bewunderten ihn. »O so hoch, so hoch!« sagte Helene, als wir an seinem Fuße standen, und Wolfgang rief aus: »Vater, ich hätte nie gedacht, daß es so hohe Berge gibt!«

Als wir aber von diesem Spaziergange gegen Abend wieder nach Hause kamen, wollte Helene nichts essen, legte sich auf das Sofa und klagte über Schmerzen. Wenn sonst sehr lebhafte und muntere Kinder sich auf das Sofa legen und teilnahmlos werden, ist immer etwas Bedenkliches im Anzug, und wir ließen noch an demselben Abend unseren alten guten Arzt kommen. Dieser machte ein bedenkliches Gesicht, verordnete etwas und versprach, am nächsten Morgen wiederzukommen. Die Nacht war schlaflos und voller Schmerzen für das Kind. Rührend war es, wie das kleine tapfere Mädchen sein Wimmern zu unterdrücken versuchte, um das jüngste kleine Brüderchen nicht zu wecken. Am anderen Morgen kam der Arzt und war sichtlich erschrocken über die Fortschritte der Krankheit. Ich glaube, er hatte schon damals keine Hoffnung mehr. Er verordnete Eisumschläge und Opium gegen die Schmerzen. Als ich vom Büro nach Hause kam und mein Kind sah, in hohem Fieber liegend und mit von Angst und Schmerzen verzerrten Zügen, da fiel es mir plötzlich wie eine schwere Last aufs Herz. Frieda war rastlos tätig in der Pflege und voller Hoffnung, ich ließ ihr diesen Anker. Hühnchen und Frau, die benachrichtigt waren, kamen und sprachen tröstliche Worte. Sie wußten eine Menge von glücklichen Fällen der Errettung aus solcher Krankheit, aber es schien mir, sie glaubten selbst nicht daran.

Als sie spät am Abend gingen, konnte Hühnchen weiter nichts sagen als: »O lieber, lieber Freund! Wir wollen beten zu Gott!«

Und dann kam die Nacht, die lange, furchtbare Nacht, von der ich ganz gewiß zu wissen glaubte, es sei die letzte. Wir gingen nicht zu Bett, Frieda saß im Schlafzimmer und wachte und ich wanderte meist ruhelos in der Wohnung umher. Es war eine dunkle, wolkenverhangene Novembernacht und an dem dunstigen Himmel kein Stern zu schauen. Und wie ich so wanderte und wanderte, immer von den hinteren zu den vorderen Räumen und wieder zurück, und bald aus dem Küchenfenster in die nächtlichen Gärten starrte, bald auf der Straßenseite auf die verschwommenen Lichtschimmer des ausgedehnten Bahnhofes, da sprach es in mir unaufhörlich: »Warum, warum? – Warum diese liebliche, unschuldige Mädchenblüte? Was hat sie denn getan? Warum, warum?«

Und eine andere solche ruhelose, entsetzliche Nacht fiel mir ein, als vor einem Jahr Wolfgang schwerkrank danieder lag und ich allein bei ihm wachte, weil er wegen der Ansteckung abgesperrt war. Es war der Höhepunkt der Krankheit, und als ich mich gerade mit den Kleidern ein wenig aufs Bett gelegt hatte, begann der Junge zu phantasieren. Plötzlich lag er auf seinen Knien und spielte eifrig mit eingebildeten Dingen. Er legte etwas, das man nicht sah, bald hierhin, bald dorthin, und dann huschte er schnell mit der Hand hinterher, als entliefe es ihm. »Wolfgang, was machst du denn?« fragte ich.

»Ich spiele doch mit meinem Kaufladen!« sagte er, »aber es läuft mir ja immer alles fort, da... da... da...«

»Kind«, sagte ich, »du träumst!« und drückte ihn sanft wieder in die Kissen. »Ach ja!« sagte er dann und legte sich geduldig auf die Seite. Aber nach einer Weile trieb er wieder dasselbe Spiel. Da ergriff mich dieselbe Unruhe wie heute, und ich fing an zu wandern, immer leise im Zimmer auf und ab. Und als ich dann einmal am Fenster stand und in die nebelige Nacht hinausstarrte, die ebenso hoffnungslos ausschaute wie die heutige, da sah ich etwas oder glaubte etwas zu sehen. War es ein Bild, das meine aufgeregte Phantasie mir vorlog? Dort zwischen den Büschen des Vorgartens stand es wie eine lange hagere, zugeknöpfte Gestalt schemenhaft, aber erkennbar. Es war, als warte es auf jemanden. Und nun schien es mir, dieses schattenhafte Wesen nehme eine Uhr hervor und blicke forschend darauf hin, und dann aus finsteren Augenhöhlen zu dem Fenster empor, wo ich stand. Und dann nickte sie, als wollte sie sagen: »Es ist Zeit.« Da sprach es in mir, inbrünstig, obwohl ich keinen Laut auf meine Lippen brachte: »O geh, geh, du Entsetzlicher, Grausamer, Erbarmungsloser, geh fort und laß ihn mir. Ich flehe dich an aus den Tiefen meiner Seele. Es sind ja so viele, die sich sehnen nach dir, denen du kommst als ein Erlöser, als ein lieblicher Bote des Friedens. Dorthin wende deinen Schritt und laß ihn mir, laß mir mein Kind!«

Und mir war, als zaudere er, der grausige Schatten. Bückte er sich nicht und pflückte ein dürftiges Blümchen, das dort zwischen spärlichen Halmen stand, und schwand dann hinweg wie Rauch, daß nur der einsame traurige Nebel dort blieb? Vom Bett meines Sohnes hörte ich ruhige Atemzüge zum erstenmal in dieser Nacht. Er schlief. Am anderen Morgen kam der Arzt und seine Augen leuchteten, als er das Kind sah. »Gott sei Dank!« rief er, »nun sind wir durch!«

Es kam etwas wie Trost aus dieser Erinnerung. War ich nicht auch damals so tödlich verzagt gewesen, und mein Herz war doch so bald wieder leicht und fröhlich geworden. Aber ich sehnte mich nach einem Zeichen. Und so wanderte ich wieder ruhelos durch die ganze Wohnung und sah bald hier, bald dort aus dem Fenster in die dunstige, wolkenverhangene Novembernacht und suchte nach einem Stern. Wenn ich nur einen fände, ein ganzes, kleines, winziges Himmelslicht, nur ein Fünkchen, dann sollte es ein Hoffnungszeichen sein. Überall war aber nur das einförmige, schwimmende Grau und so starrte ich, bald hier, bald dort sehnsüchtig suchend, in die düstere, trostlose Wolkennacht, bis der trübe Morgen heraufdämmerte.

Dann kam der letzte entsetzliche Kampf. Wir saßen zu beiden Seiten des Bettchens und mußten sehen, wie unser holder Liebling mit dem Entsetzlichen rang. Dann wieder schien sie schmerzlos zu sein und schöne holde Bilder zu schauen, vielleicht schon aus einer besseren Welt. In den Augen lag ein überirdischer Glanz und mit rührendem Stimmchen sang sie ihre kleinen Lieder. Dann pflückte sie Blumen, bald hier, bald dort, von der Decke und vom Bettrand, und ordnete sie zierlich in der Linken, beschaute sie und sagte »ah!« dazu in einem holden Ton. Dann wieder waren es Früchte, sie führte sie zum Mund, machte »ei!« und klopfte sich mit dem Händchen die Brust. Und zuletzt schlief sie ein, das Köpfchen ein wenig zur Seite geneigt und die Augen halb geschlossen. Immer langsamer und seltener wurden die Atemzüge, zuletzt hob sich die Brust noch einmal kaum merklich – ein zarter, leiser Hauch, und es war zu Ende. –

Ich legte ihr die Hände zusammen und drückte ihr die Augen zu. Wir beide hatten in diesem Augenblick dieselbe unerwartete Empfindung. Unsere Herzen waren leicht, als sei eine schwere Last von ihnen genommen und eine wunderbare, fast selige Ruhe kam über uns. So sehr überwog das Gefühl, daß unser Kind den Frieden gefunden, und die Erlösung von furchtbaren Leiden in diesem Augenblick den Schmerz über seinen Tod.

Bald darauf kamen Hühnchen und Frau, doch ich verzichte darauf, ihren Schmerz zu schildern. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich Hühnchen ganz gebrochen. »Grausam, lieber Freund, grausam, grausam!« sagte er und rang die Hände umeinander.

Die notwendigen Verrichtungen lenkten meinen Geist wohltätig ab davon, mich in den nach der kurzen Ruhe um so heftiger ausbrechenden Schmerz zu vertiefen. Und während ich all das Notwendige bei der Polizei, bei dem Standesamt, bei dem Prediger, dem Leichenwagenfuhrmann, dem Totengräber, dem Buchdrucker und was sonst erforderlich war, besorgte, umgaukelten meine aufgeregte Phantasie fortwährend wechselnde Bilder. Ich sah mein holdes Kind immer, wie es noch lebte, und zu allen diesen Vorstellungen gingen mir tönende Worte durch meinen Sinn, es war ein Kampf, den mein innerer Mensch auf eigene Hand unternahm, um alle die schrecklichen Eindrücke des Leidens und des grausamen Todes zurückzudrängen.

Ich sah sie, wie sie mit dem Sonnenschein spielte, o so deutlich erblickte ich den schimmernden Kranz loser Härchen um ihr liebliches Haupt und die zierlichen Finger vom himmlischen Licht rosig durchleuchtet. Dann war sie wieder um mich her wie bei unseren Spaziergängen, leicht wie eine Elfe und flink wie eine Eidechse. Ich sah die Fingerchen hinabtauchen in das staubige Gras der Wegeränder und sah und hörte das zierliche Mädchen, wie es mir mit leuchtenden Augen drei kümmerliche Blümchen entgegen hielt und dazu rief: »O Vater, sieh wie schön!« Und dann wieder sah ich sie jauchzend untertauchen in eine unerschöpfliche Blumenfülle des Landweges, oder schaute sie am Rande des Kornfeldes, das hoch über ihr Haupt ragte, wie sie zierlich und vorsichtig die blauen Sterne der Kornblumen und die feurig leuchtenden Köpfe des Mohnes hervorholte. Ach, es war ja gar nicht zu glauben, daß dies alles dahin war und statt dessen ein blasses, starres und kaltes Bild. »Du lebst, du lebst in mir!« sagte ich unwillkürlich vor mich hin.

Vom anderen Tage ab kamen die Blumen, herrliche und kostbare Kränze von Freunden und Bekannten in reicher Fülle. O so viel schöne Blumen hatte sie nie gehabt, als sie noch lebte. Und doch, wieviel kostbarer waren sie damals gewesen, die drei armen kleinen Blümchen in ihrer lebenswarmen Hand.

Als Helene schon im Sarg lag, kam ein kleines, fünfjähriges Mädchen, armer Leute Kind, aus der Nachbarschaft und brachte ein dürftiges Sträußchen, das sie sich wohl beim Gärtner erbettelt hatte. Helene hatte öfters mit diesem Kind gespielt, und da mich diese Gabe rührte, so gab ich der Toten die halb verwelkten Blumen in die starren Hände. Später aber kam von Freundeshand ein herrlicher Strauß des Schönsten, das in dieser ungünstigen Jahreszeit zu haben war. Als ich nun darauf dachte, ihn unterzubringen, da erschien mir das andere Sträußchen doch gar zu vertrocknet und häßlich, und ich beschloß, dafür meinem Kind die neuen Blumen in die Hände zu geben. Doch wie durchschauerte es mich, als ich den sanften Versuch machte, ihr das Sträußchen zu entziehen, denn ich hob die Hände mit auf; sie hielt es fest. »Ja«, rief ich, »du sollst sie behalten, mein Kind!« und legte die anderen Blumen daneben.

Dann kam das Begräbnis, und was an diesem Tag geschah, steht wie ein Traum vor meinen Augen. Sie kamen alle, die guten Freunde und Bekannten, und sprachen tröstliche Worte, wenn sie es vermochten, oder drückten die Hand, wenn ihnen dies nicht gegeben war. Aber was sind tröstliche Worte für einen frischen Schmerz, den auch die Zeit nicht heilen, sondern nur lindern kann. Und als der Prediger sprach, sah ich nur Friedas bleiches Gesicht und ihre starren Augen, die noch keine Tränen gefunden hatten. Dann kamen die vier schwarzen Männer und hoben den mit Blumen über und über bedeckten Sarg empor. »In Gottes Namen!« sprachen sie dabei und gingen im Taktschritt davon.

»Sie nehmen mir mein Kind!« rief Frieda plötzlich, trat einen Schritt vor und blickte mit irren Augen auf die Männer hin. Man umringte sie und sprach ihr Trost zu, und ich eilte mit Hühnchen hinab zu den Wagen. Ein paar andere Freunde folgten in einem zweiten Gefährt. Es war ein grauer, trüber Novembertag; zuweilen stäubte ein wenig Regen.

Das Grab auf dem Zwölfapostelkirchhof hatte Hühnchen ganz mit Blumen und Grün ausschmücken lassen, und so in lauter Blumen haben wir unseren Liebling begraben und mit Blumen haben wir ihn zugedeckt.

Als ich mit Hühnchen wieder zurückfuhr, faßte er meine beiden Hände und sagte: »O du mein lieber, guter, beklagenswerter Freund! Nun bin auch ich kein Glücksvogel mehr. Sieh mal, als meine guten Eltern starben, da waren sie alt und müde. Sie fielen ab vom Baume des Lebens wie eine überreife Frucht an einem stillen, dämmernden Herbstabend, wenn kein Luftzug geht. Es war der Lauf der Natur. Dies aber ist anders. Dies Kind war die schönste der Natur. Wie gerne mochte ich mir ausmalen, zu welch herrlicher, köstlicher Frucht sie noch einmal ausreifen würde, zu einer solchen, die ihre ganze Umgebung mit lieblichem Duft erfüllt und allen Menschen wohlgefällig ist. Und nun ist alles dahin, mit grausamer Hand plötzlich vernichtet. Ja, lieber Freund, nun bin ich kein Glücksvogel mehr!« Und er drückte beide Hände vors Gesicht, seine Brust ward von heftigem, mühsam zurückgekämpftem Schluchzen erschüttert und die Tränen liefen ihm unter den Fingern hervor.

Von nun ab hatten wir in den folgenden Jahren ein neues Ziel für unsere Spaziergänge. Das war der kleine Efeuhügel auf dem Zwölfapostelkirchhof. Zu Häupten liegt darauf ein weißer Marmorstein und ein wilder Rosenstrauch ist in seine Mitte gepflanzt. Um diesen herum tauchen im ersten Frühling die hellblauen Sterne der Szilla und die farbigen Becher des Krokos aus dem dunklen Efeulaub hervor mit lieblichem Schimmer, und im Juni steht der üppig wachsende Rosenstrauch in blaßroten Blüten. Um diese Zeit war ich kürzlich mit meinen beiden Knaben dort. Es war ein schöner, sonniger Junitag und auf dem von Efeuranken fast verdeckten Stein, gerade auf dem Namen, saß eine schön gestreifte Eidechse und sonnte sich. Regungslos, mit etwas erhobenem Kopf blickte sie mit den goldenen Augen auf uns hin. Die Kinder sahen mich schweigend an und der kleine Werner, der jetzt sechs Jahre alt ist, forderte mich nicht auf, wie er sonst unfehlbar getan haben würde, sie zu greifen, sondern sagte zuletzt halb fragend und halb überzeugt von der Richtigkeit seiner Anschauung: »Das ist Helenchens Eidechse!«

»Ja«, antwortete ich, »das ist Helenchens Eidechse!« und ein holder Schauer durchrieselte mich, da ich gedachte, wie im Leben dies Kind gerade so zierlich und flink gewesen war wie diese Eidechse, die auf seinem Grab saß und uns mit geheimnisvollen Augen anblickte.



5. Ein neues Haus und neues Leben



Hühnchen hätte nicht er selber sein müssen, wenn nicht in kurzer Zeit der unverwüstliche Sonnenschein seines Innern wieder zum Durchbruch gekommen wäre, nur mit dem Unterschied, daß sich unter den Saiten seines Gemütes nun eine befand, die wehmütig nachklang, so oft sie auch nur leise berührt wurde.

Im nächsten Sommer nach dem Tode unseres Kindes kam er, nachdem er sich fast acht Tage lang gar nicht hatte sehen lassen, in der freudigsten Aufregung zu uns.

»Teuerster Freund«, sagte er, als er kaum das Zimmer betreten hatte, »vor kurzem habe ich eine Idee gehabt, die mich förmlich berauschte. Du weißt, wie glücklich ich war damals über den Einfall, dich zu bitten, zu uns zu ziehen, als hätte ich damals schon ahnen können, wieviel Liebes und Holdes daraus für uns alle erwachsen würde. Aber diese neue Idee ist noch viel glanzvoller. Wie ein Blitz aus blauer Luft kam sie mir plötzlich und sie lautet so: Warum baue ich mir eigentlich kein Haus, in dem für uns alle Platz ist, für euch und uns. Ich frage dich, gibt es was Einfacheres und Gesünderes als diesen Einfall, und doch hat es über fünf Jahre gedauert, bis er mir kam. Nun weiß ich endlich, weshalb mir alle meine vielen Pläne bis jetzt nicht gefielen, denn ich dachte dabei immer nur an uns zwei einsamen Leute. Und denke dir, kaum hatte ich diese Idee gefaßt, da kam einer und bot mir ein Grundstück an. ›Ein Fingerzeig des Himmels!‹ sagte ich mir. Als ich aber dies Grundstück sah, da dachte ich bloß: ›O Isis und Osiris!‹ Denke nur, den schönsten Traum meines Lebens sah ich vor mir verkörpert, denn es war ein Teich darin. Verstehst du? Ein ganz unzweifelhafter, veritabler Teich mit Wasserrosen, Schilf und Rohrbomben. Ich fing fast an zu zittern vor Angst, ich könnte meine Begier nach diesem Grundstück zu deutlich verraten. Ich sage dir, mit wahrhaft übermenschlicher Anstrengung habe ich Gleichgültigkeit geheuchelt, während die verlockendsten Phantasiebilder von Gondelfahrten im Mondschein, von Entenzucht und Fischereivergnügen mich umgaukelten. Was meinst du, wenn ich in der Mitte eine Insel anschütte mit einem Schwanenhäuschen darauf. Für Schwäne ist der Teich allerdings nicht recht geräumig genug. Aber deine Kinder könnten auf der Insel Robinson spielen. Und wie denkst du über Karpfen? Oder bist du mehr für Karauschen? Und ich will nur gleich damit herausschießen – ich hab' es schon. Das Grundstück nämlich. Obwohl es über einen Morgen groß ist, war es gar nicht so sehr teuer, weil es nämlich ziemlich weit vom Bahnhof liegt. Eine gute halbe Stunde zu gehen. Aber für Menschen wie wir, die eine sitzende Lebensart führen, ist die notgedrungene Bewegung, die diese Entfernung mit sich bringt, ja Goldes wert. Ich kann dies nur für einen weiteren Vorzug dieses Grundstückes halten. Nicht? Was?«

In mir war die Befürchtung aufgestiegen, Hühnchen hätte sich durch diesen, nach seiner Meinung so überaus wertvollen Teich die Augen verblenden lassen und ein Grundstück erworben mit zwar manchen wässerigen, aber wenig irdischen Vorzügen, und dieser Ansicht gab ich schüchtern Ausdruck.

»Thomas!« sagte Hühnchen vorwurfsvoll und dann entrollte er strahlenden Auges ein Papier, das er in der Hand trug: »Sieh her und bleibe deiner Sinne Meister!« rief er dann emphatisch, indem er zwei Bücher auf die Ränder legte, um die Rolle am Zurückschnellen zu verhindern. »Hier erblickst du bereits alles, das Haus, den Teich, die Gartenanlagen, ich habe bis gestern nach Mitternacht daran gearbeitet im Feuer der Begeisterung.«

»Siehst du das Haus? Seinen Grundriß halte ich für ein Meisterwerk, und jeder Architekt würde mich um die Lösung beneiden. Hier in diesem Flügel hat die Familie Hühnchen drei niedliche Zimmerchen. Sie begibt sich dort aufs Altenteil oder, wie man in Bayern sagt, ins Austragstüberl. Siehst du hier meinen Schreibtisch? Wenn ich die Augen erhebe, fallen meine Blicke auf den Teich und seine romantischen Ufer. Und dort wohnt ihr. Siehst du wohl das kleine Vogelstübchen neben deinem Arbeitszimmer? Was sagst du dazu? He? Dort in jener, von außen mit Rosen überrankten Erkernische hat Frieda ihren Nähtisch stehen und ihre Blumen. Dort wird sie sitzen wie eine Madonna im Grünen. Oben sind die Schlafzimmer, Kinder- und Fremdenstuben und sonstiges. Ahnst du, was dieser kleine Raum bedeutet? Das ist die Apfelkammer, denn in diesem Garten werde ich unermeßliches Obst bauen. Hier, das große Gebüsch in der Ecke, zwischen dem Gartenzaun und dem Teich, das ist der Nachtigallenwinkel. Dort wird eine Laube von wilden Rosen sein, deiner Lieblingsblume, und sonst undurchdringliches Buschwerk. Dort wirst du Nachtigallen und sonstiges vergnügliches Gefieder ansiedeln und an schönen Frühlings- und Sommerabenden 'n bißchen auf deinem geliebten Pegasus reiten.«

»Was ist denn das dort in der anderen Ecke?« fragte ich. »Da steht ja: Der Weinberg!‹«

»Ja«, sagte Hühnchen und sah ganz ungemein schlau aus, »das ist eben der Weinberg. Aber keiner von gewöhnlicher Art, sondern dort werde ich eine riesige Johannisbeerplantage anlegen. Die Beeren werden wir keltern und alljährlich ein Faß köstlichen Weines in unseren Keller eintun. Dann, wenn wir unseren Gästen davon vorsetzen, werden sie fragen: ›Ei, wo habt ihr denn diesen herrlichen Tropfen her?‹ Und stolz und schmunzelnd werden wir antworten: ›Hm, eigenes Gewächs.‹ – Von Nachbarschaft werden wir einstweilen nicht belästigt werden, denn in der ganzen Gegend hat sich noch kein Mensch angebaut. Wir werden dort hausen als die äußersten Pioniere der Kultur. Doch was schadet das, Berlin wird uns schon nachkommen. Wenn sich einer mal erst so weit hinausgewagt hat, so wirkt das, als sagte diese Ansiedlung fortwährend zu den weiter zurückliegenden: ›Tuck, tuck, mein Hühnchen!‹ und bald lassen sie sich locken und kommen ihm nach die Häuser und Häuserchen, und siehe da, in ein paar Jahren ist man eingebaut, fühlt einen erheblichen Stolz als ›ältester Ansiedler‹ und erzählt der erstaunt horchenden Jugend wunderbare Geschichten, ›wie es früher war‹.«

Als nach dieser Unterredung zwei Jahre vergangen waren, wohnten wir wirklich dort und fanden unser Heim über die Maßen wohnlich und schön, besonders die Kinder, die in dem ländlichen Aufenthalt herrlich gediehen. In dem Teich befand sich wirklich eine Insel von drei Meter Durchmesser und eine zierliche Gondel schaukelte auf seinen Wellen. Er ward bewohnt von sieben Fröschen und fünfunddreißig Karauschen, deren reichliche Vermehrung wir mit Spannung erwarteten. Die Reusen, um diesen Nachwuchs der wohlschmeckenden Fische einzufangen und der Bratpfanne zuzuführen, lagen schon bereit. Der Garten war vollständig bepflanzt, und, wer Augen hat zu sehen, sagte Hühnchen, der blickt in seine Zukunft wie in ein üppiges Füllhorn. Das einzige, was ihm mangelte, war Schatten, das aber ist ein Übelstand, sagte wiederum Hühnchen, dem die unverwüstliche Schöpferkraft der Natur mit jedem Jahr mehr abhelfen wird. Wir hatten dort einen Weingang, auch »der Poetensteig« genannt, an dessen Drahtwänden eine Anzahl von jungen Reben ihre ersten Kletterversuche machten. Wenn Hühnchen durch diesen Steig ging, so blickte er meist andächtig nach oben, wo nichts zu sehen war als Draht und Himmel, und als ich ihn einmal fragte, warum er das täte, sagte er: »O ich sehe im Geiste schon dort die Sonne durch das grüne Weinlaub schimmern und dazwischen die schwellenden Trauben niederhängen. Ein herrlicher Anblick!« In dem Garten befand sich eine Jelängerjelieberlaube, die besonders eingerichtet war zum Genuß der Abendröte, wenn sie sich in den »Fluten« des Teiches spiegelte. Sie hieß darum auch die »Abendlaube«. Der »Jelängerjelieber« machte jedoch seinem Namen noch wenig Ehre und die Laube bestand zumeist aus Latten und Hoffnung. In einer Ecke, die menschlicher Berechnung nach im Laufe der Jahre noch einmal die Aussicht hatte, recht schattig zu werden, stand in einem Kreise düsterer Nadelhölzer die »Philosophenbank«. »Ein nachdenklicher Winkel«, sagte Hühnchen, »hast du einmal schwierige Probleme auszugrübeln, so verrichte dies Geschäft hier, des Orts Gelegenheit ist günstig.« –

Auf Wasserkünste hatte Hühnchen in diesem Garten verzichtet, »denn«, sagte er, »wo die Natur selber in verschwenderischer Fülle für Wasser gesorgt hat, da würden solche Künste kleinlich wirken.«

Und wiederum vergingen zwei Jahre. – Damit bin ich zu der Grenze gelangt, wo Vergangenheit und Zukunft sich scheiden, und die Gegenwart beginnt, in der ich diese geringen Erlebnisse niederschreibe. Da nun die Zukunft ein unbekanntes Land ist, in dem nur Hoffnungen und Entwürfe wohnen, so ist damit von selber dieser Geschichte ein Ziel gesetzt. Wir sind eben an den großen Zaun gelangt, wo die Welt mit Brettern vernagelt ist. Da bleibt mir denn zum Schluß nichts übrig, als zu berichten, wie es den mannigfachen Leuten, die in dieser harmlosen Geschichte vorkommen, bis dahin ergangen ist, und die Billigkeit erfordert, daß ich zuerst dessen gedenke, der nicht mehr ist, und ihn voranstelle, obwohl er kein Mensch war, sondern nur der Rabe Hoppdiquax.

Dieses menschenfeindliche alte Ungetüm war ebenfalls mit nach der neuen Behausung übergesiedelt und wohnte dort in einem eigens für ihn hergerichteten Käfig, den Hühnchen auf dem Bauplan stets mit dem Ausdruck »Zwinger für wilde Tiere« bezeichnet hatte. Mochte ihm nun die Luftveränderung nicht bekommen sein, oder war es die Folge hohen Alters, er wurde hier nach kurzer Zeit blind, und es ging mit ihm eine Veränderung vor, die auf den, der den Stolz und das hochfahrende Wesen des früheren Hoppdiquax gekannt hatte, einen kläglichen Eindruck machte. Sobald er einen Schritt in der Nähe seines Käfigs vernahm, so saß er mit etwas erhobenen Flügeln und halb geöffnetem Schnabel da und bettelte unter heiserem Krächzen, wie die jungen Vögel zu tun pflegen. Steckte man ihm dann etwas geweichte Semmel in den Schnabel, so ließ er das wenig geschätzte Nahrungsmittel zuerst fallen und sagte nachträglich aber kläglich: »Quatschkopp... Quatsch... Quatsch... Quatsch... Quatschkopp!« Dann nahm er es mit dem Schnabel tastend wieder auf und verschluckte es mit verächtlicher Gebärde. Gab man ihm dagegen ein Stück Fleisch, da verklärten sich sichtlich seine Züge. Aus der tiefsten Kehle kam es wohlgefällig: »Da ist der Graf!« und alsbald verschlang er es. Allmählich aber ward er immer kümmerlicher, seine Füße wollten ihn nicht mehr recht tragen, und nun saß er oft eine lange Weile auf den Schwanz gestützt, mit gesträubten Federn und brütete vor sich hin. Dazwischen sagte er dann manchmal wie sinnend und in kläglichem Ton: »Ein rätselhafter Vogel! Ein rätselhafter Vogel!« Zuletzt ward er ganz elend, zitterte selbst im warmen Sonnenschein und bekam zuweilen Krämpfe. Als es zu Ende mit ihm ging, nahm Hühnchen ihn heraus und da er vor Frost zu beben schien, wickelte er ihn in ein wollenes Tuch und legte ihn auf das Sofa in eine Ecke. Zuweilen reichte er ihm ein Stückchen zartes Fleisch, das der Vogel mühsam hinunterwürgte. Zuletzt verweigerte er auch dies. Als er dann mit aufgesperrtem Schnabel nach Luft rang und Hühnchen ihn mit sanfter Hand im Nacken kraulte, da raffte der Rabe Hoppdiquax sich noch einmal auf, nahm alle seine Kräfte zusammen und biß Hühnchen in den Finger. Dann mit einem letzten Ausruf: »Quatschkopp... Quatsch...« hauchte er seine schwarze Seele aus.

Bei der Philosophenbank liegt er begraben und eine Eibe ist auf sein Grab gepflanzt. »Er war ein altes rätselhaftes Ungetüm«, sagte Hühnchen später einmal, »aber wer weiß, ob er etwas dafür konnte. Vielleicht haben trübe Schicksale, die wir nicht kennen, schon in früher Jugend sein Herz verbittert. Und wie er auch war, er fehlt mir, wenn ich an ihn denke. Ich hatte mich nun einmal an ihn gewöhnt. Mein alter Hoppdiquax!«

Von Hans Hühnchen ist nur zu sagen, daß er nach längerem Harren sein geliebtes »Feuer« heimgeführt hat und mit ihm in Westfalen wohnt, wo er an einem größeren Eisenwerk sich eine gute und dauernde Stellung erworben hat. Das »Feuer« hat ihm bereits zwei kleine Flämmchen verschiedenen Geschlechtes geschenkt, die nach dem allgemeinen Urteil ebenfalls ganz der Vater und ganz die Mutter sind.

Der Major ist sehr weiß geworden und sein Schnurrbart leuchtet wie Silber. Trotzdem hält er sich sehr stramm und schlägt noch mit derselben Kerbe die Hacken zusammen und erzählt mit derselben schnarrenden Stimme seine Geschichten, die durch ihr ehrwürdiges Alter nicht pointenreicher geworden sind. Seine Frau ist noch immer das feierliche Lineal mit der vornehmen Vergangenheit, als das wir sie zu Anfang kennengelernt haben, und wenn ihr Haupt nicht in Silberschimmer steht wie das ihres Gemahles, so flüstern böse Zungen im Geheimen viel von den Fortschritten der Chemie und den Geheimnissen des Drogenladens.

Die Stunde, wo ich Rache hätte nehmen können an meinem Freund Bornemann für seine Mondscheingeschichte am Polterabend, ist noch immer nicht gekommen. Es scheint, wir haben es hier mit einem eingefleischten und unverbesserlichen Junggesellen zu tun, denn allen Schlingen und Fallstricken, die dem wohlsituierten Mann von weiblicher Seite bis jetzt gelegt wurden, ist er mit großer Schlauheit entgangen. Jedoch betreibt er nicht mehr mit demselben Eifer und Opfersinn wie früher das Studium der Getränke Deutschlands und der umliegenden Länder, denn allzu eifrige Forschungen auf diesem Gebiet haben ihn kürzlich einer Schweningerkur in die Arme geführt, über deren höchst merkwürdigen Verlauf ich wohl ein anderes Mal berichte.

Doktor Havelmüller teilt noch immer seine Zeit zwischen dem aufgeregten Treiben der Weltstadt und seiner Einsiedelei in Tegel. Er hat sich noch immer nicht für den Stil seines zu erbauenden Hauses entschieden, hat aber die Flora und Fauna seines Grunstückes wieder beträchtlich vermehrt und dieses selbst durch angestrengte Arbeit in einen üppigen Garten verwandelt. Infolgedessen hat er in einer dichten Gebüschgruppe einen Mieter bekommen, auf den er sehr stolz ist. Dort wohnt nämlich Hochparterre eine Nachtigallfamilie. Wenn Doktor Havelmüller an diesem Buschwerk vorbeigeht, verfehlt er nie, den Hut zu ziehen und in verbindlichem Ton zu sagen: »Ich habe die Ehre!«

Von Onkel Nebendahl und Frau kann man sagen, daß es ihnen nur allzugut geht und sie blühen und gedeihen, besonders was die Breitenausdehnung betrifft. Sie müssen deshalb in jedem Frühjahr nach der Saatzeit beide nach Marienbad, und wenn sie auf der Rückreise durch Berlin kommen, so sprechen sie mit Genugtuung von dem Viertelzentner, den jeder von ihnen dort gelassen hat. Anzusehen ist es ihnen freilich nicht, denn sie opferten ihn aus der Fülle reichlichen Besitzes.

Von Tante Lieschen weiß ich, daß, trotzdem sie nie zu bewegen gewesen ist, noch einmal nach Berlin zu kommen, doch ihr Besuch des großen Babels eines der wertvollsten Juwelen ihrer Erinnerung bildet, und wenn sie zu der Strübing »im Tee« geht, wie sie zu sagen pflegt und dort ihre andere beste Freundin, die Rönnekamp, trifft, da erzählt sie gern von ihren schrecklichen Erlebnissen und von den schauderhaften ausgestopften Verbrechern, den Richtbeilen und Schwertern, und den entsetzlichen Folterinstrumenten, die sie gesehen hat. Die alten Damen fühlen dann ein schönes wohltätiges Gruseln und nicken mit den Hauben und freuen sich, daß sie beim freundlichen Summen des Teekessels sicher und wohl aufgehoben an einem Ort sitzen, wo dergleichen nicht vorkommen kann.

Was nun Lotte betrifft, so hat sie bereits vor längerer Zeit den Landsmann geheiratet und beide haben mit ihren Ersparnissen einen Obst- und Grünkramkeller aufgetan, mit dem ein schwungvoller Handel in Breslauer Ammenbier, Perleberger Glanzwichse und ähnlichen Spezialitäten, sowie der Betrieb einer Drehrolle verknüpft ist. Sie bedienen ihre Kunden in einem wundervollen Gemisch von Berliner Jargon mit ihrem schon aus Mecklenburg mitgebrachten trefflichen Hochdeutsch und erfreuen sich in ihrer Straße großer Beliebtheit. Es sind auch schon zwei flachshaarige Jungen da von vier und drei Jahren, und es darf nicht verschwiegen werden, daß der älteste, dessen Pate ich bin, merkwürdige Eile hatte, auf die Welt zu kommen. Als ich kürzlich mal vorbeikam, saßen diese beiden rotbackigen Flachsköpfe auf der Kellertreppe und jeder hatte einen kleinen zierlichen Leberfleck auf der Nase, der eine links, der andere rechts. In den Händen trug jeder ein großes Pflaumenmusbrot, in das er sich bereits bis über die Ohren hineingegessen hatte, und man sah es ihnen ordentlich an, wie ihnen solche gedeihliche Nahrung bekam. Lotte und ihr Mann sind es jetzt in Berlin vollständig »an« geworden, besonders seit sie ihren eigenen Herd haben, und sie ihm in anmutiger Abwechslung »Apfel un Getoffel, un Mehlgrütz', un Mehlbutter, un Musgetoffel mit Buttermilch un all solch schönes mäkelburgsches Essent« kocht. Um die Schlachtzeit aber, da gibt es Schwarzsauer mit Backbirnen und Klößen, und sie finden, daß es in Berlin ebensogut schmeckt wie in »Mäkelburg«.

Pauline ist verschollen. Sie schweifte, als sie von uns abging, in schneller Folge durch eine Reihe von Familien, unter großem Aufwand von Täuschung und Zerwürfnis auf beiden Seiten, und entschwand dann unseren Augen. Bornemann behauptet, er habe sie einmal wieder gesehen und sie sei mit einem »Naturforscher« verheiratet, den sie bei seinen mühseligen Forschungen nach Altertümern auf den Feldern um Berlin, wo Müll abgeladen werden darf, unterstütze. Er habe an einem Zaun in einer abgelegenen Gegend vor der Stadt einen Mann gesehen, der seine gesammelten Schätze sortiert habe, die Lumpen für sich, die Knochen für sich und die leeren Flaschen ebenfalls für sich. Neben ihm habe ein noch jugendliches, aber sehr schlampiges Weib gesessen und ihren schreienden Säugling in Schlaf zu singen versucht mit einem Lied, dessen Endreime gelautet hätten:


»Grünkohl, Grünkohl
Ist die beste Pflanze!«



»Wenn das nicht Pauline war«, so schloß Bornemann, »dann will ich ewig Wasser trinken!«

Der junge Kunstgelehrte Erwin Klövekorn ist jetzt als Assistent an irgendeinem Museum angestellt und hat ein ungemein »fleißiges« Buch über die Behandlung der Fingernägel auf den Bildern der italienischen Maler des Quattrocento geschrieben. Das Buch ist stellenweise so tiefsinnig, daß er es selber nicht versteht. Als Doktor Havelmüller es kürzlich bei uns liegen sah, denn der Verfasser hat dem Vater seines Freundes Hans Hühnchen ein Exemplar geschenkt, da schlug er es auf und betrachtete es mit leuchtenden Augen. »Die Literatur«, sagte er dann, »gewährt uns doch Genüsse der verschiedensten Art. Zum Beispiel, wenn ich dies Buch nur sehe, da durchrieselt mich gleich mit sonderbarem Wohlbehagen der Dank gegen die Vorsehung, daß ich nicht nötig habe, es zu lesen.«

Da nun aller der wichtigeren Personen, die in den Geschichten von meinem Freund Leberecht Hühnchen eine Rolle spielen, gedacht worden ist, so möchte ich zum Schluß noch jemanden erwähnen, der nun erst eintritt und dessen Geschicke noch von jenem Dämmer umhüllt werden, mit dem eine unbekannte Zukunft unseren Blick verschleiert.

Als ich ganz kürzlich von einer kleinen Geschäftsreise zurückkehrte, kam mir Hühnchen schon an der Gartenpforte entgegen und ich sah es ihm gleich an, daß sein ganzes Wesen verhaltene Freude war. Er schlang seinen Arm um mich, zog mich in den Weingang und sprach im Weitergehen: »O lieber Freund, die Vorsehung ist gnädig gegen uns gewesen. Es ist jemand angekommen, und was wir alle so innig wünschten, hat sich erfüllt: Es ist ein kleines Mädchen. Gesund, schön und kräftig!« Dann ließ er mich los, ergriff meine Hand und etwas wie Wehmut ging über seine Züge. »Wir tanzen nicht mehr«, sagte er dann, »wir tanzen alle beide nicht mehr. Das ist vorbei. Aber wir freuen uns still und herzinniglich.«

»Und nun komm und begrüße dein Kind!«

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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2012

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