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1. Hochzeitsreise nach Tegel



Ja nach Tegel ging unsere Hochzeitsreise und nicht weiter. Dort an dem Ort, wo wir uns damals gefunden hatten, wollten wir die ersten vierzehn Tage unserer Ehe verbringen, und zwar in einem Häuschen, das im Ort unter dem sonderbaren und wenig verlockenden Namen »die fröhliche Flunder« bekannt ist. Den Grund dieser Bezeichnung habe ich niemals entdecken können, und so schlagend sonst manchmal dergleichen Namensgebungen des Ortswitzes sind, so wenig zutreffend war mir diese immer erschienen. Die »fröhliche Flunder« ist ein niedliches Fachwerkhäuschen, das zwischen dem Wirtshaus »Seeschlößchen« und dem Eisenhammer liegt in einem kleinen noch erhaltenen Teil der Tegeler Gemeindeheide, die sich früher bis in diese Gegend erstreckte. Es steht sehr freundlich unter den sorglich geschonten Kiefern und zwischen diesen ist allerlei Gebüsch- und Blumenwerk angepflanzt. Von dem kleinen Haus steigt man auf einigen Terrassen zum Seeufer hinunter, wo das aus feuchtem Grund üppiger aufschießende Gebüsch über den leichten Zaun hinüberhängt, und überall an passenden Stellen sind lauschige Sitze oder trauliche Lauben angebracht, von denen aus man durch die Lücken im Buschwerk auf den schimmernden See, seine lieblichen Inseln und die in der Ferne bläulich dämmernden Waldufer hinblickt.

Der Weg von Steglitz nach Tegel beträgt in der Luftlinie gemessen schon zwei Meilen, und unsere Fahrt dauerte deshalb eine ziemliche Weile. Als wir dann endlich über Friedenau, Schöneberg und Berlin die langweilige Tegeler Chaussee erreicht hatten, da war es schon dunkel, der Mond goß sein Licht über die Welt und verzauberte die dürftige Kiefernheide in einen Märchenwald mit schwarzen, phantastischen Zacken, ließ die ärmlichen Häuser, die fast den ganzen Weg begleiten, mit freundlichem Schimmer aus der Finsternis leuchten und hob die staubige Chaussee wie einen silbernen Streifen hervor, so daß wir über die freundliche Verwandlung dieses sonst so häßlichen Weges fast in Verwunderung gerieten. Doch mochte auch wohl in unserem Innern etwas sein, das liebliche Verklärung über alle Dinge dieser Welt ausgoß.

Als wir nach zweistündiger Fahrt in Tegel anlangten und am Seeschlößchen vorüberkamen, da glaubte ich aus einer Laube des Wirtsgartens jemanden lauschen zu sehen, dessen Anwesenheit mich sehr verwunderte, da er bei unserer Abfahrt noch in Steglitz zugegen gewesen war. Ich hätte darauf schwören mögen, daß Doktor Havelmüller dort hervorschaute, als das Rasseln unseres Wagens vernehmlich ward. Möglich war es ja bei Benutzung der Stadtbahn und der Pferdebahn, unsere gemächlichen Mietsgäule zu überflügeln, aber welchen Zweck konnte dies haben? Doch ich zerbrach mir darüber nicht weiter den Kopf, zumal uns bald noch weitere Überraschungen begegneten. Wir fanden die Türe unseres kleinen Häuschens sehr schön mit Blumengewinden geschmückt, in denen farbige Lämpchen freundlich glühten. Auch das Hauptzimmer in der Mitte, das sich auf die Veranda nach der Seeseite zu öffnet, war hell erleuchtet, als hätten Heinzelmännchen ihr Werk getan, überall schimmerte es von Blumen, deren feine Glöckchen und Kelche sich gar zierlich im Glanz der Lichter abzeichneten, und Maiblumenduft durchhauchte alle Räume. Ja, noch eine größere Überraschung stand uns bevor, denn der Tisch vor dem Sofa zeigte sich mit einem schneeweißen Tuche gedeckt, das mit blauem Zierat schön gerändert war, und darauf stand in funkelnagelneuen, fein geblümten Porzellangeschirren ein Abendimbiß für zwei Personen. Der Teekessel summte, alles war bereit, doch keine Menschenseele ließ sich sehen, wahrhaftig, gerade wie in einem Märchen. Wir ließen uns diesen freundlichen Zauber gern gefallen und setzten uns in vergnüglicher Rührung an unser Tischlein-deck-dich. Aus dem Essen ist aber nicht viel geworden, wie man sich wohl denken kann. Wir traten bald hinaus auf die dunkle Veranda und sahen aneinandergelehnt, während wir uns umschlungen hielten, in die Nacht hinaus. Der Mond war hoch ins Blau gestiegen, durch die finsteren Kieferstämme schimmerte der See wie glattes Silber und traumhaft verschwommen lagen die Insel Hasselwerder und die gegenüberliegenden Waldufer in weißlichem Dunst. Ringsum war es still, nur vom Garten des Seeschlößchens her hörte man das Stimmengemurmel der wenigen Gäste und im Park des Eisenhammers sangen die Nachtigallen. Da wurden neue Töne vernehmlich, das taktmäßige Rucksen von Rudern und das Geplätscher des rückfließenden Wassers, und nach einer Weile glitt in den unbewegten Silberspiegel vor uns der schwarze Schattenriß eines Kahnes. Wir hörten, wie die Ruder eingezogen und an Bord genommen wurden, und bald lag das Fahrzeug, in dem dunkle Gestalten sich bewegten, regungslos da. Nach einer Weile ertönte von dort ein schöner vierstimmiger Gesang und nun wußte ich mit einemmal, daß ich vorhin recht gesehen hatte und wem wir alle diese kleinen Überraschungen zu danken hatten. Ja, etwas wie Rührung ergriff mich, denn was dort klang, war mein Lieblingslied, jenes Volkslied aus dem Bergischen mit der seltsam schönen Melodie, das Ludwig Erk in seiner bekannten Sammlung vorangestellt hat.


Verstohlen geht der Mond auf!
Blau, blau Blümelein!
Durch Silberwölkchen führt sein Lauf.
Rosen im Tal,
Mädel im Saal,
O schönste Rosa!

Er stieg die blaue Luft hindurch,
Blau, blau Blümelein!
Bis daß er schaut auf Löwenburg.
Rosen im Tal,
Mädel im Saal,
O schönste Rosa!

O schaue, Mond, durchs Fensterlein,
Blau, blau Blümelein!
Schön Trude lock mit deinem Schein!
Rosen im Tal,
Mädel im Saal,
O schönste Rosa!

Und siehst du mich, und siehst du sie,
Blau, blau Blümelein!
Zwei treure Herzen sahst du nie!
Rosen im Tal,
Mädel im Saal,
O schönste Rosa!



Nach Beendigung dieses Liedes setzte der Kahn sich wieder in Bewegung und fuhr langsam ein großes Stück weiter in den See hinaus. Aus dieser Ferne klang dann ein anderes Lied in lieblicher Weise über die silberne Flut zu uns her. Dann wieder nach längerer Stille schallte es noch einmal ganz fern aus der geheimnisvollen Monddämmerung wie der Gesang seliger Geister über den Wassern. Wir lauschten noch einige Zeit, doch nichts weiter mehr ward vernehmlich, nur der Gesang der Nachtigallen tönte lauter und sehnsuchtsvoller durch das Schweigen der mondhellen Nacht.

Für Tegel haben wir beide, meine Frau und ich, eine kleine Schwärmerei. Das kann man sich wohl denken, denn wir haben dort die lieblichsten Tage unseres Lebens verbracht. Und noch jetzt, da diese sonnigen Frühlingswochen längst entschwunden sind und wie eine freundliche Zauberinsel im Meer der Vergangenheit liegen, da gedenken wir oft an sie, und kein Frühling vergeht, daß wir nicht an einem schönen Tag uns nach Tegel aufmachten, um dort auf unseren eigenen Spuren zu wandeln und alle die idyllischen Orte wieder aufzusuchen. Denn eine Gegend, die an und für sich schon lieblich und voll Anmut ist, wird es doppelt, wenn freundliche Bilder der Erinnerung mit ihr verknüpft sind. Wir sehen uns dann wieder unter der herrlichen Eiche im Park, nicht der größten, aber der schönsten, die ich kenne, deren Äste so mächtig weit ausladen und bis in die höchste Spitze begrünt sind mit üppigem Efeu und deren Kuppel sich wölbt so gleichmäßig, wie die eines gewaltigen Domes. Wir gedenken dann jenes Maimorgens, als wir dort saßen, während die goldenen Schmetterlinge um uns spielten und die Vögel jubilierten, daß man es fast einen Lärm nennen konnte. Und wie die blanke frische Luft erfüllt war mit Sonnenschein, den würzigen Düften der jungen Blumen und Kräuter und lauter Sang und Klang, so war alles dies auch in unserem Innern. Wir sprachen nicht und saßen aneinandergelehnt still Hand in Hand und fühlten, daß wir ein Teil waren dieser unermeßlichen Frühlingswonne.

Ja überall grüßt uns liebliche Erinnerung, wenn wir diesen für uns geweihten Boden betreten. Schon am Eingang in den Park, wo die mächtigen Platanen, Ulmen und Silberpappeln aufragen und eine grüne kühle Dämmerung verbreiten. Wie oft haben wir gemeinsam aufgeschaut zu der gewaltigen Höhe ihrer Wipfel und sind dann wieder niedergetaucht in die Tiefe unserer Augen. Wie oft sind wir an dem kleinen sauberen Schlößchen vorbeigewandelt zu der Höhe, wo wir damals in der Mondnacht dem Gesang des Doktor Havelmüller lauschten, während die funkelnden Glühwürmchen unsere Häupter umspielten. Dort an der Stelle, wo wir uns damals gefunden hatten, ließen wir jetzt an den schönen Frühlingstagen die Blicke in der Ferne weiden, wo hinter grünen Wiesen und jungaufschießenden Rohrwäldern der blanke Spiegel des waldumdämmerten Sees blitzte und in der weiten Ferne aus bläulichem Duft die Türme von Spandau und die mächtige Kuppel von Westend emporstiegen. Doch immer kehrten die Blicke wieder zurück


In deiner Augen heimatliche Sterne.
aus aller Wunderferne



Wie oft wanderten wir durch den feierlichen Kreis der dunklen Fichten, die die Grabstätte der Familie Humboldt umrahmen, und weiter durch Feld, Wiese und Wald. Wie oft saßen wir am Fuß jener uralten mächtigen Kiefer am Ufer des Sees in ungestörter Einsamkeit. Nur ein Gartenlaubvogel sang zu unseren Häuptern, fern rief der Kuckuck und mit leisem Geplätscher schlugen die Wellen des leicht bewegten Sees an das Ufer.

Oft nahmen wir auch ein Boot und fuhren nach Hasselwerder, einem ganz mit Haselbüschen und anderen Sträuchern bewachsenen Eiland von länglicher Form und geringer Größe, gerade ausreichend, um sich dort ein Häuschen zu bauen und einen hübschen Garten anzulegen. Diese Insel betrachteten wir als die unserige, und obwohl wir keine Ahnung hatten, wie es geschehen sollte, und wir wußten, daß sie unverkäuflich war, so stand es uns doch ganz fest, daß wir uns dort einmal ansiedeln und uns sehr behaglich einrichten würden. Einstweilen beschäftigten wir uns im Geiste damit, sie zu bebauen und zu bepflanzen und sie mit allerlei Getier zu bevölkern. Damit konnten wir uns stundenlang beschäftigen und in großen Eifer dabei geraten. Ja, diesen aussichtslosen Projekten hatten wir sogar den ersten kleinen Streit unserer Ehe zu verdanken. Zwar, wo das Haus stehen und wie es beschaffen sein sollte, darüber waren wir uns einig, aber wegen des Gartens kamen wir aneinander. Ich wollte ihn zum größten Teil durch Anpflanzung von dichtem Buschwerk, wie Weißdorn, Schlehen, wilden Rosen, Liguster, Teufelszwirn, Holunder und dergleichen, in ein Vogelparadies verwandeln, in Sonderheit den von Rohrwald umgebenen Teil der Insel nahm ich in ganzer Ausdehnung für meine Pläne in Anspruch, während Frieda ihn durchaus zur Hälfte mit zum Gemüsegarten ziehen wollte, denn in dem kleinen väterlichen Anwesen hatte sie viel Neigung zu solchen Dingen gewonnen. Umsonst entwarf ich verlockende Schilderungen von dem entzückenden Gewirr der Vogelgesänge, das dort im Frühjahr herrschen würde, wenn Rohrsänger, Grasmücken, Laubvögel, ja vielleicht sogar Nachtigallen und Blaukehlchen dort miteinander wetteiferten, und welche Fülle idyllischer Freuden uns erblühen würde aus der Beobachtung des Familienlebens dieser zierlichen Geschöpfe, allein Frieda entwickelte plötzlich einen eminent praktischen Sinn und wollte den größten Teil dieser zukünftigen Poesie für die Prosa des Kopfsalates, der Mohrrüben und Stangenbohnen geopfert wissen.

»Bedenke doch«, so rief sie eifrig, »wir wohnen dann auf einer Insel und das Mädchen kann nicht wie in Berlin um jede Handvoll Suppengrün nebenan in den Gemüsekeller hüpfen, nein, wir müssen unseren notwendigsten Bedarf selber bauen und dazu brauche ich diesen Raum ganz unbedingt.«

»Aber liebe Frieda«, rief ich, »soll ich denn die Erfüllung eines Lieblingstraumes für ein paar Kohlrabiköpfe hingeben!«

»O«, sagte sie, lief hinzu und zog mit ihrem Sonnenschirm einen energischen Strich in den Ufersand, »sieh doch nur, dir bleibt ja dieses ganze große Stück. Da kannst du furchtbar viel Büsche pflanzen, du mußt sie nur recht dicht aneinandersetzen. Und den ganzen Uferrand bekommst du auch noch. Ringsherum um die ganze Insel. Bedenke doch, du willst das Land doch nur für eine Spielerei haben, ich aber gebrauche es für höchst nötige Dinge.«

»Spielerei?« wiederholte ich fast etwas unwillig, denn ich muß gestehen, daß auch ich nicht frei bin von der Schwäche der meisten Männer, die stets geneigt sind, ihre Liebhabereien für geheiligte Dinge zu halten.

»Ja«, sagte Frieda und vertiefte den Strich im Sande durch energisches Nachziehen, »ich kann es nicht anders nennen. Und ganz gewiß, es geht nicht, es geht wirklich nicht. Hier mußt du nachgeben.« Und damit sah sie mich fest an und suchte sich einen Anstrich von entschlossener Energie zu geben, der zu ihren sanften Zügen gar nicht passen wollte.

Ich war schon im Begriff, etwas Törichtes zu erwidern, als mir plötzlich, gerade noch im rechten Augenblick, die große Komik dieser Situation zum Bewußtsein kam, und daß wir im Begriff waren, uns um das Fell des Bären zu zanken, den wir noch gar nicht hatten und höchstwahrscheinlich auch nie im Leben bekommen würden. Diese Überlegung mußte sich wohl sehr deutlich auf meinem Gesicht abspiegeln, denn alsbald fing auch Frieda an zu lachen, wir eilten uns in die Arme und küßten uns und konnten uns lange Zeit nicht von einem stets erneuten Gelächter erholen.

»O wie schrecklich«, sagte Frieda dann, »wir hätten uns ja beinahe gezankt.«

»Und um Luft«, erwiderte ich.

»Aber recht hab' ich doch!« rief sie schnell.

Als ich sie dann etwas befremdet anblickte, lief sie rasch fort, zog an einer anderen Stelle einen kräftigen Strich in den Sand und sagte: »Weil du aber so vernünftig und brav gewesen bist, so sollst du alles haben, was du verlangst, und dieses Stück schenke ich dir noch dazu, du lieber Brummbär.«

Da aber wurden auch in mir die nobelsten Gefühle wach, wir suchten uns nun gegenseitig zu überbieten und unter fröhlichem Lachen und in den Regungen wetteifernden Edelmutes schwang dies erste winzige Steinchen, das in den klaren Spiegel unseres Glückes gefallen war, seine Kreise aus.

An demselben Nachmittag fuhren wir auch nach der Liebesinsel, jenem winzigen Eiland, wo wir im vorigen Jahr am Johannistag die höchst merkwürdigen Ausgrabungen vorgenommen hatten. Da das schöne Wetter erst seit kurzem eingetreten war, so hatte das Inselchen in diesem Jahre wahrscheinlich noch gar keinen Besuch von Berlinern gehabt und lag scheinbar noch ganz so unberührt da, wie es aus dem Schnee des Winters hervorgeblüht und gegrünt war. Auf dem Sand des Landungsplatzes war noch keine Fußspur abgedrückt, kein Hälmchen war geknickt und keine Blume gebrochen, wir konnten uns einbilden, das winzige Eiland sei eben zuerst von uns aufgefunden worden. Das taten wir denn auch und stellten sofort eine Entdeckungsreise an in das Innere, das nach etwa zehn Schritten auch glücklich erreicht wurde, und begannen nach echter Forscherweise alle bemerkenswerten Punkte mit Namen zu versehen. Den von einer Gebüschgruppe umgebenen einzigen Baum der Insel, den Hühnchen damals in liebenswürdiger Übertreibung ein Wäldchen genannt hatte, tauften wir »Leberechts Hain«, die kleine mit Blumen und jungem Gras bewachsene Landspitze »Kap Frieda« und die größte Erhöhung, die mindestens einen Meter über das Wasser und somit zweiunddreißig Meter über den Spiegel der Ostsee hervorragte, »Havelmüllers Höhe«. Der Landungsplatz aber wurde, eben weil dort gar keine Bucht vorhanden war, dem Major zu Ehren die »Pointenbucht« getauft, und so hatten wir bald »die Rollen ausgeteilt und alles wohl bestellt«, so daß wir uns nach dieser Arbeit auf eine kleine natürliche Rasenbank setzen und uns dem Genuß dieser freundlichen Einsamkeit hingeben konnten. Sonderbar war es, wie in den tiefen Frieden des spiegelglatten Sees, den kein Lüftchen bewegte und der im Kranze seiner besonnten Uferwälder in träumerischer Stille dalag, der mahnende Donner des Krieges und das emsige Gehämmer rastloser Arbeit hineintönte. Denn auf dem Schießplatz in der Jungfernheide donnerten unablässig die Kanonen, und wir fühlten deutlich die leise Erschütterung der Luft, die jeden dumpfen Knall begleitete. Vom Eisenhammer her aber schallte ganz aus der Ferne das Brummen der Ventilatoren und emsiges Gehämmer, während die Schornsteine dieser Fabrik sowohl als die der Wasserwerke hohe schwärzliche Rauchsäulen in die fast unbewegte Luft emporsendeten. Doch alles dieses schien uns hier so fern und ging uns ja gar nichts an, es trug nur dazu bei, die holde Abgeschiedenheit dieses kleinen Inselchens so nahe bei dem Brausen einer Riesenstadt und deren geschäftiger und geräuschvoller Umgegend noch mehr hervorzuheben.

Doch der Abend nahte, das ferne Gehämmer verstummte und die Kanonen schwiegen, so daß die herrschende Stille uns nun doppelt schweigsam erschien. Nur das liebliche Geschwätz der Dorngrasmücke, die auch in diesem Jahr wieder das Inselchen bewohnte, tönte aus dem Buschwerk und in fernen Rohrwäldern lärmten die Drosselrohrsänger. Die Sonne versank hinter dem Wald, und in der großen goldenen Glut, die ihr folgte, sah man zuweilen den Flügelblitz eines Vogels, der über die Wipfel dahinzog. Wir bestiegen nun wieder unser Boot, und während ich es im Rudertakt durch die immer rosiger sich färbende stille Flut dahintrieb, summte Frieda die holde Weise eines kleinen Liedes vor sich hin, das ihr durch die Stimmung dieses Abends wohl in den Sinn gekommen war:


»Sinkt der Tag in Abendgluten,
Schwimmt das Tal in Nebelfluten.
Guten Abend, guten Abend!

Heimlich aus der Himmelsferne
Blinken schon die goldnen Sterne.
Guten Abend, guten Abend!

Flieg zu Nest und schwimm zum Hafen!
Gute Nacht, die Welt will schlafen!
Gute Nacht, gute Nacht!«





2. Neugarten



Das Glück war uns günstig in diesen Wochen, wir hatten Tage, von denen es heißt:


Blauer Himmel, sonn'ge Tage
Ziehn in goldner Pracht vorbei:
Ja, noch ist es keine Sage,
Was der Dichter singt vom Mai.



Ach, selten nur spendet sie dieser berühmte Monat, dann aber sind sie so schön, daß man sie niemals wieder vergißt und sie seinen zweifelhaft gewordenen Ruf auf lange wieder befestigten. Denn man weiß nun doch wieder, dieser Monat kann herrlich sein, wenn er will, doch leider will er nur allzu selten. Da wir nun aber ganz ungemein viel Sonnenschein in uns selber trugen, so hätten wir so vieles Äußeren gar nicht einmal bedurft, und als mal ein trüber Regentag dazwischen fiel, da fanden wir auch diesen wundervoll. Wie behaglich war es da auf der geschützten Veranda zu sitzen, während der Regen auf das junge Laub trommelte, Blumen und Kräuter aromatischen Duft aushauchten, und alles dankbar und erfolgreich die laue Feuchtigkeit trank, so daß Wiesen und Bäume zusehends grüner wurden. Wie erfreulich war es, unter sicherem Schutze hinzusehen auf das wimmelnde Gehüpfe der Tropfen, die mit sanfter Musik auf die Fläche des Sees niederrieselten und sie wie matt geschliffen erscheinen ließen, während die fernen Ufer und Inseln in feuchte Schleier gehüllt waren.

Am anderen Tag glänzte wieder heller Sonnenschein und die Welt erschien uns noch einmal so blank und strahlend wie vorher. Am Abend dieses letzten Tages unserer Anwesenheit geschah es, daß wir zum erstenmal unser Inkognito brachen und Herrn Doktor Havelmüller auf seinem neuen Grundstück besuchten. Denn hier wird es nun hohe Zeit einzufügen, daß wir uns eigentlich gar nicht in Tegel befanden, sondern am Rhein und in anderen schönen Gegenden. Mein Urlaub war mir erteilt worden zum Zweck meiner Verheiratung nebst anschließender Reise nach Kassel und an den Rhein, und nur die nächsten Freunde wußten, daß wir heimlich in Tegel steckten. Doktor Havelmüller, der in dieser Zeit täglich des Abends herüberkam, um in seinen beiden Gärten zu arbeiten, achtete unser Inkognito auf das strengste, und wir hatten uns bis jetzt kaum begrüßt. Jetzt aber, da mein Urlaub ablief und wir aus unserer behaglichen Zweisiedelei unter die Menschen zurückkehren mußten, beschlossen wir, uns zu erkennen zu geben und Doktor Havelmüller in »Neugarten«, wie er sein neues Grundstück nannte, zu besuchen. Er hatte nämlich schon im Anfang des vorigen Jahres gegenüber dem Park des Eisenhammers einen halben Morgen Kiefernheide gekauft und trug sich mit Plänen, dort ein Häuschen zu bauen. Da er sich jedoch durchaus nicht für irgendeinen Stil entscheiden konnte und fortwährend zwischen einem Tiroler oder Schwarzwälder oder sächsischen Bauernhaus, oder einer gotischen oder romanischen oder Renaissancevilla hin und her schwankte, dann auch den Kajütenstil der Schifferhäuser an der Ost- und Nordsee in Betracht zog, so hatte er sich einstweilen dort eine Erdhütte errichtet und den niedrig gelegenen Teil des Grundstückes in Gartenland verwandelt, während er den höheren, der mit einundvierzig wirklichen Kiefern geziert war, seiner »natürlichen Wildheit« überlassen hatte.

Als wir durch die kleine Pforte in den eingezäunten Raum traten, sahen wir den Doktor beschäftigt, wie er mit mächtigem Eifer Wasser pumpte, das durch blecherne Röhren in hölzerne Tonnen lief, die an verschiedenen Stellen in die Erde versenkt waren. Der Boden war sorglich umgegraben und in Beete geteilt, auf denen zum Teil ein freundliches Grün schimmerte. Im übrigen leuchteten sie in dem schönen weißlichen Gelb des unverfälschten märkischen Sandes. Als der Doktor uns bemerkte, hielt er die Hand über die Augen und sah eine Weile scheinbar befremdet auf uns hin. Dann ging etwas wie freudiges Wiedererkennen durch seine Züge. »Ha, willkommen!« rief er. »Schon zurück vom schönen Rhein? Willkommen in Neugarten!«

Wir lachten ein wenig über die schauspielerische Kunst, mit der er Überraschung heuchelte, da wir uns doch fast alle Tage von ferne gesehen hatten, und dann zeigte er uns die Wunder seiner neuen Besitzung. »Stoßt euch nicht, liebe Freunde, an dem weißlichen Aussehen dieses Bodens«, sagte er, »auf dem märkischen Sand wächst alles, was man verlangt, wenn er nur Dung und Wasser bekommt. Und außerdem ist es Urboden. Seit Menschengedenken war hier Kiefernheide, und es ist nicht anzunehmen, daß es früher anders gewesen ist. Ich bin der erste Mensch, der dieses Land den Zwecken höherer Kultur dienstbar macht. Infolgedessen sind hier im vorigen Jahr schon kannibalische Kartoffeln gewachsen.«

Dann führte er uns dem höhergelegenen Teil zu auf einem schmalen Steig, der an dem niedrigen Abhang empor ging.

Als ich nun hier den »Wald« musterte, fand ich, daß an allen Kiefern ein Stück der Rinde entfernt war und sie an dieser Stelle mit fortlaufenden Nummern gezeichnet waren. Auf meine Frage nach der Bedeutung dieses Verfahrens drehte Doktor Havelmüller wehmütig lächelnd seinen Kinnbart und sagte: »Ja, lieber Freund, es könnte doch einmal vorkommen, daß hier Holz gestohlen wird. Da wäre es mir doch sehr tröstlich, zu wissen, welche Nummer es gewesen ist.«

Wir hatten uns unterdes auf eine sehr ursprüngliche Bank gesetzt, die zwischen dem Park des Eisenhammers und dem der Wasserwerke hindurch eine Aussicht auf den im Sonnenlicht flimmernden See gewährte, und nun zog der Doktor ein in Halbleder gebundenes Buch hervor, schlug es auf und deutete mit einem gewissen Stolz auf seine erste Seite. Ich las: Grundstück ›Neugarten‹ bei Tegel. Seine Geschichte, Größe und Bedeutung, seine Bodenbeschaffenheit, seine Flora und Fauna nebst sonstigen Merkwürdigkeiten.«

»Liebe Freunde«, sagte Doktor Havelmüller, »als ich die Idee zu diesem Buche faßte, war ich so glücklich, als hätte ich den Stein der Weisen gefunden. Der Augenblick ist mir noch deutlich in der Erinnerung. Es war im vorigen Juni. Ich lag hier oben auf dem Rücken und schaute mit dem unvergleichlichen Gefühl, auf meinem eigenen Grund und Boden zu ruhen, durch die von der sinkenden Sonne rötlich angestrahlten Kiefernwipfel in das schöne Blau des unermeßlichen Weltraums. Es war ein idyllischer Abend, mein Buchfink, der in Kiefer Nummer 29 sein Nest hatte, sang unablässig, meine Goldammer – sie wohnte unter dem kleinen Dornbusch dort hinten in der Ecke – saß auf dem Zaun und zwirnte ihr einförmiges Lied, das zu vergleichen ist einem feinen Sonnenstrahl, der durch eine Blattlücke fällt, meine siebzehn Ameisenlöwen dort an dem Sandabhang brüllten...« »Brüllen die wirklich?« fragte Frieda plötzlich ganz unschuldig dazwischen. »Ungemein!« erwiderte Havelmüller mit eiserner Stirn, und fuhr dann fort: »Also meine Ameisenlöwen brüllten, meine Heuspringer wetzten, meine Fliegen summten, meine Schmetterlinge wiegten sich um meine Blumen und ich sonnte mich in dem wunderbar behaglichen Gefühl, das in dem Wort ›mein‹ liegt. ›Mein, so weit das Auge reicht‹, sagte ich stolz vor mich hin, und das durfte ich, denn man wird sich erinnern, daß ich auf dem Rücken lag. Um mich herum natürlich und auch unter mir hatte mein Grundstück seine Grenzen, in der Tiefe ging es nur bis zum Mittelpunkt der Erde, wo es in einen Punkt zusammenschwand. Das war jedoch der Punkt, wo auch alle Königreiche dieser Welt zu Null werden. Zog man aber von diesem Punkt aus Linien an die Grenzen meines halben Morgens und verlängerte sie bis in die Unendlichkeit, so war es klar, daß sich mein Grundstück kegelförmig in das Weltall hineinstreckte und immer größer und größer wurde, je weiter die Entfernung war. Der Rechenteufel fing an, mich zu plagen, ich nahm mein Taschenbuch hervor und ermittelte zunächst den Flächeninhalt meines Grundstückes, den es einnehmen würde in der Entfernung gleich der unserer Sonne.

›1300 Quadratmeter war es groß hier auf der Erde. Rechnete man nun die Entfernung der Sonne rund zu 24 000 Erdhalbmessern, so ergab sich nach dem Satz, daß der Flächeninhalt eines Kegelquerschnittes sich vergrößert mit dem Quadrat der Entfernung von der Spitze, also in Sonnenweite, folgender Inhalt:


24 000 x 24 000 x 1300
748 800 000 000 Quadratmeter
oder 748 800 Quadratkilometer‹



Das sind über 200 000 Quadratkilometer mehr als die Größe von Deutschland. Was mache ich mir aus 200 000 Quadratkilometern bei solchem Reichtum? Weg damit! Wir nehmen also an, daß der Inhalt meines Grundstückes in Sonnenweite gleich dem Flächenraum von Deutschland ist. Erhabenes Gefühl, nicht wahr? Aber es kommt noch viel schrecklicher. Einer der uns am nächsten liegenden Fixsterne ist der Sirius, seine Entfernung von der Erde beträgt rund eine Million Sonnenweiten. Ergibt für mein Grundstück in der Entfernung des Sirius eine Größe gleich einer Billion Deutschländer. Eine Billion ist eine furchtbare, entsetzliche, grauenhafte Zahl, die mit zwölf Nullen geschrieben wird und deren Größe kein Mensch sich klar vorstellen kann, selbst der ewige Jude nicht. Weiter habe ich nicht mehr gerechnet, denn ich fühlte bereits, wie der Größenwahn an meinem Gehirn pickte.«

Hier unterbrach sich Doktor Havelmüller plötzlich und rief: »Sehen Sie dort den schlanken Vogel, rasch! Er hat eben die Luft über meinem Grundstück durchschnitten. Kennen Sie ihn?«

Ich folgte rasch seiner zeigenden Hand und sah eben noch, wie blitzschnell ein Sperber um die Waldecke bog. Ich nannte ihm den Vogel. »Schön«, sagte Havelmüller befriedigt, schlug sein Buch auf, unterstrich darin etwas und sah nach der Uhr. Dann sagte er: »Astur nisus, festgestellt am 30. Mai, abends 6 Uhr 7 Minuten.«

Darauf fuhr er fort: »Das war nämlich der Gedanke, der mich an jenem Tag so fröhlich stimmte und der sich einfand, nachdem ich jene ungeheuerliche Berechnung angestellt hatte. Ich sagte mir: Was willst du in die Ferne schweifen in den unfruchtbaren Äther und in die unermeßlichen Sternenweiten? Aber dieses kleine Fleckchen Erde, das dir gehört, das willst du kennenlernen nach jeglicher Richtung, seine Geschichte, seine Bodenbeschaffenheit, seine geologischen Verhältnisse, seine Flora und seine Fauna. In der Beschränkung zeigt sich der Meister. Ich will mich auf einen halben Morgen beschränken, den aber will ich kennen. Meine verehrten Freunde, ihr glaubt gar nicht, was ich seitdem schon alles gelernt habe. Die Formation meines Grundstückes gehört dem Diluvium an und im Diluvium weiß ich jetzt Bescheid wie ein Geologieprofessor. Was nun die Flora und die Fauna betrifft, so habe ich in der Pflanzenkunde die meisten Fortschritte gemacht. Denn hier hat man mit einem seßhaften Geschlecht zu tun, das weder mit Beinen noch Flügeln in der Welt herumschwitisiert und nur in seiner Anfangsform als Same einige Beweglichkeit entwickelt. Kinder, ich sage euch, ein reiches Gebiet. Allein, was ich im vorigen Herbst mit meinem Freund Johannes hier für Moose und Flechten festgestellt habe, das sollte man kaum glauben. Auf dem Boden, an den Rinden der Bäume, an den verwitterten Zaunpfählen, lauter verschiedene Arten. Ja, vertieft man sich ins einzelne, da sieht man erst, wie unerschöpflich reich die Natur ist. Auch der Vorrat an einjährigen Pflanzen, den wir auf diesem Grundstück festgestellt haben, ist sehr bedeutend.«

In diesem Augenblick ertönte über uns ein leises Sit, sit! und als wir schnell aufblickten, bemerkten wir gerade noch ein sonderbares Vögelchen, das wie ein Armbrustbolzen mit etwas zu dickem Kopf anzusehen, mit schnurrendem Flug durch die Luft hüpfte und in den Laubwipfeln des gegenüberliegenden Parkes verschwand.

»Ha«, rief Doktor Havelmüller, »wieder was Neues!«

»Die Schwanzmeise«, sagte ich.

Havelmüller schmunzelte sehr befriedigt, schlug sein Buch auf, sah nach der Uhr und notierte, nachdem er den bereits vorläufig eingetragenen Namen unterstrichen hatte: »Parus caudatus, festgestellt den 30. Mai, abends 6 Uhr 11 Minuten.«

Wir gingen nun umher, um die übrigen Merkwürdigkeiten dieses Grundstückes anzusehen. »Ich muß Sie doch mit meinen Mietern bekannt machen«, sagte der Doktor mit seinem gewöhnlichen wehmütigen Ernst. »Allerdings eine merkwürdige Sorte, denn außerdem, daß sie keine Miete bezahlen, machen sie noch Ansprüche auf Ernährung aus den Erträgnissen meines Bodens. Hier also zunächst in diesem Jahr auf Kiefer Nummer 31 wohnt vier Treppen hoch Familie Buchfink, der Mann ist Sänger. Sein Schlag wird aber leider von Kennern unter die Klasse der ›Putzscheren‹ gerechnet, taugt also nicht viel. Die dritte und die zweite Etage sind zu meinem Leidwesen unbesetzt. Dagegen im ersten Stock wohnen dort in meinem größten Wacholderbusch seit diesem Frühjahr Hänflings. Ich würde Sie gern mit dieser liebenswürdigen Familie und mit ihrer niedlichen Häuslichkeit bekannt machen, allein die gnädige Frau sehen bereits zum zweitenmal in diesem Jahr einem frohen Familienereignis entgegen und sind angelegentlichst mit Brüten beschäftigt. Ich möchte nicht stören.« Dies sagte der Doktor mit einer Zartheit, die nicht zu übertreffen war.

Dann fuhr er fort: »Derselbe Grund verhindert mich, Sie mit der Familie Goldammer bekannt zu machen, die, sichtlich mit ihrem Quartier zufrieden, wiederum ihre Parterrewohnung unter dem kleinen Dornbusch dort in der Ecke auch in diesem Jahr bezogen hat. Außerordentlich zufrieden aber bin ich mit der Vermietung meiner Kellerräume. Diese sind am meisten begehrt, zuweilen aber finden sich unter den Bewohnern auch manche zweifelhafte Existenzen. So wohnt in diesem ansprechenden und geräumigen Erdloch unter Kiefer Nummer 13 ein verdächtiges Individuum, das ein liederliches Leben zu führen scheint, denn es pflegt nur nachts auszugehen, und es gilt von ihm, was von Peter Gottfried Rempel gesagt wird:

›Ach, er sank noch immer tiefer,
Sumpfte nachts – am Tage schlief er.‹

Nach einer vorgefundenen Visitenkarte ist dies Geschöpf von einem tierkundigen Freund für einen Iltis erklärt worden. Wahrscheinlich wegen solcher unliebsamen Nachbarschaft ist dieser benachbarte Kaninchenbau von seinen ursprünglichen Bewohnern verlassen worden, man munkelt sogar von Mord. Dafür hat sich eine alte freundliche Kröte dort eingemietet, die abends in ihrer Haustür zu sitzen und mit goldenen Augen ins Wetter zu schauen pflegt. Wir wollen doch gleich mal sehen.«

Damit wies er uns an, leise näherzutreten und bald sahen wir auch das stattliche Reptil in der Öffnung des Kaninchenloches ganz behaglich sitzen. »Das gute Wesen ist fast zahm und frißt beinahe aus der Hand«, sagte Havelmüller. Er zog eine kleine Dose aus der Tasche, in der einige Mehlwürmer krabbelten, und warf einen dieser Leckerbissen dem Tier vor die Nase. Die Kröte ward aufmerksam, richtete sich etwas auf und starrte mit den goldenen Augen eine Weile auf den schönen gelben Wurm hin. Dann ein plötzlicher Vorstoß mit dem Kopf, man sah, wie die dicke klebrige Zunge kräftig vorschnellte, um die Beute anzuleimen, und dann war der Mehlwurm verschwunden.

»Ja, meine liebe Rosaura«, rief jetzt Doktor Havelmüller, »das glaub' ich wohl, das schmeckt! Sie heißt nämlich Rosaura«, sagte er dann, während er seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern dämpfte, »und sie ist eine Seele, aber man weiß ja, wie so alte Damen sind. Von Zeit zu Zeit muß ich ihr eine kleine Aufmerksamkeit erweisen, sonst kündigt sie.«

»Von den Mietern meiner Kellerwohnungen will ich nur noch die vornehmsten erwähnen«, sagte Havelmüller, »denn ihre Zahl ist Legion, und so nenne ich nur noch eine Familie Waldmaus und zwei desgleichen Brandmaus, die trotz reichlichen Familiensegens in behaglichen Verhältnissen leben. Ferner einen unheimlichen Gesellen in schwarzem Pelzrock, der wühlerischen Tendenzen huldigt und fortwährend auf Umsturz bedacht ist. Ich habe ihm deshalb bereits im vorigen Jahr die Wohnung gekündigt, allein was soll ich machen, der Kerl geht nicht.« Doktor Havelmüller zuckte die Achseln und sah sehr melancholisch aus.

In diesem Augenblick kam ein sonderbares Individuum an dem Garten vorüber, ein Mann mit etwas zu kurzen Hosen, die unten ausgefranst waren, und mit einem Rock, der in den Tagen, »da Berta spann«, wohl einmal braun gewesen sein mochte, jetzt aber überall in ein unbeschreibliches Grün hinüberschielte, sowie mit einem Hut aus der Konfliktzeit, der ihm zu klein war. Der Mann lehnte sich über den Zaun und sah mit seinen etwas verschwommenen Äuglein eine Weile teilnahmslos auf den Garten hin: »Bei die Witterung wachst et«, sagte er dann.

»Jawohl«, antwortete der Doktor.

»Een zu scheener Maimonat«, sagte dann wieder der Mann, »wie er ins Gedicht steht.«

»Gewiß«, erwiderte Havelmüller.

»So 'n Dichter kriegt zuletzt doch immer recht!« äußerte der sonderbare Fremdling wieder.

»Natürlich«, erwiderte der Doktor, »denn wie singt schon Friederike Kempner:

›Die Poesie, die Poesie,
Die Poesie hat immer recht!‹«

»Scheen gesagt!« sagte voller Anerkennung der Fremde. Dann druckste er eine Weile zögernd vor sich hin und schoß endlich mit der Frage hervor:

»Kennen Sie den Dichter Liebig?«

»Meinen Sie den, der den Fleischextrakt erfunden hat?« fragte unser Freund.

»Nee«, antwortete jener, »nich mal mit ihn verwandt.«

Dann nahm er langsam seine runzlige Hand hervor und nachdem er damit eine Weile nachdenklich die achttägigen Bartstoppeln an seinem Kinn gerieben hatte, begann er wieder: »An den hat sick die Menschheit ooch versündigt.«

»Wieso?« fragte der Doktor.

»Na«, antwortete er, »Schillern und Kotzebuen und Quida'n kennt jeder, wer aber kennt Liebigen? Sie ooch nich. Und ick weeß doch, dat Sie 'n Doktor sind und haben Bildung gelernt. Aber det macht der Brotneid heitzudage. Sie lassen eenen nich uffkommen. Et is 'ne heuchlerische Krokodillenbrut, sagt Kotzebue. Kennen Sie Kleisten sein Grab bei Wannsee? – Den haben se verkannt und er hat sick dotgeschossen. Haben Sie neilich in die Zeitung gelesen von Lindnern? Den haben se ooch verkannt und er is verrückt geworden. Ebenso verkennen se Liebigen, und wie't mit den noch mal kommen wird, det weeß ick nich. Mahlzeit die Herrschaften.«

Damit wandte er sich energisch ab und schob, allerlei Unverständliches vor sich hinmurmelnd, gesenkten Hauptes weiter.

»Kinder, Kinder«, sagte Doktor Havelmüller dann, als der Mann außer Hörweite gekommen war, »mir ist vorhin, als dieses Individuum seine letzte Rede hielt, eine Erleuchtung gekommen. Das war nämlich der Dichter Liebig selber. Ich habe bereits von ihm gehört. Er betreibt neben dem beschaulichen und nachdenklichen Gewerbe des Topfbindens auch die Kunst, einige kümmerliche Scherben alter gebrauchter Reime durch den dünnen Draht fadenscheiniger Gedanken zu sogenannten Gedichten zu verbinden. Seht, liebe Freunde, nun habt ihr zum Schluß auch noch ein verkanntes Genie hiesiger Gegend kennengelernt, nun könnt ihr in Frieden nach Hause fahren.«

Wir verabschiedeten uns nun und wanderten noch einmal, während die Sonne immer näher den Wipfeln des Tegeler Forstes zusank, durch das freundliche Dorf zu all den geliebten Plätzen, die die glücklichsten Stunden unseres Lebens gesehen hatten. Wir nahmen Abschied von ihnen und von einer Zeit, in der es uns vergönnt war, das Glück des Lebens zu kosten, rein und ohne jede Trübung, in einer Weise, wie sie wohl nie wiederkehren wird. Wir nahmen Abschied von Tagen, die voller Sonne gewesen waren in uns und außer uns und deren wärmender Glanz durch unser ganzes Leben leuchten sollte. Ich ging wieder meiner alten Arbeit entgegen und wir beide einem neuen unbekannten Leben, durch das wir wandeln wollten, treu verbunden Hand in Hand. Erst als die Dunkelheit gekommen war und nur über den Wipfeln des Waldes ein leises Rot noch träumte als letzte Spur der versunkenen Sonne, kehrten wir in unser kleines Häuschen zurück.



3. In der neuen Wohnung



Als am Nachmittag des folgenden Tages zu der bestimmten Zeit unser Wagen in die Frobenstraße einbog, sahen wir Hühnchen und Frau Lore am offenen Seitenfenster des Erkervorbaues unserer Wohnung stehen, und alsbald erhob sich dort ein heftiges Winken mit weißen Taschentüchern. »Heil! Heil! Heil!« rief Hühnchen mit so gewaltiger Kraft, daß die Leute auf der Straße stehenblieben, und ein vorübergehender Schutzmann aus dem Auge des Gesetzes einen finsteren Blick auf ihn warf. Aus der bekränzten Tür kamen sie uns entgegen, und eine Begrüßung fand statt, als kämen wir nicht nach vierzehntägiger Abwesenheit von einem nahe gelegenen Nachbarort, sondern nach langjähriger Reise aus dem Innern von Afrika, wo es uns gelungen war, unter fürchterlichen Gefahren den letzten weißen Fleck auf der Karte zu beseitigen. Frau Lore schluchzte, als sie ihren Liebling, von dem sie sich bisher in ihrem Leben noch keinen Tag getrennt hatte, wieder in den Armen hielt, und Hühnchen suchte wie gewöhnlich seine Rührung durch allerlei ausschweifende Redensarten zu verdecken.

»Kinder«, rief er, »eure Wohnung ist ein Paradies. Alles glänzt von Sauberkeit und Ordnung, Neuigkeit und Frische. Es ist ordentlich schade, darin zu wohnen. Und die letzten Blumen und das letzte entbehrliche Grün hat sie heute meinem Garten gekostet. Er sieht jetzt aus wie die Pfauen des Advokaten Wulf, als ihnen der berühmte Affe die sämtlichen Schwanzfedern ausgerupft hatte. Aber es schadet nichts. Und wie meine Frau und Lotte hier in den letzten Tagen gearbeitet, gescheuert, geklopft, gewischt und gewütet haben, das entzieht sich jeder Vorstellung. ›Das Unbeschreibliche hier ist's getan‹ und ›das ewig Weibliche‹ hat sich hier ausgetobt nach jeder Richtung. Apropos Lotte. Ihr habt ja Lotte noch gar nicht begrüßt.«

Jetzt erst wurden wir auf etwas frisch gewaschenes Weibliches aufmerksam, das im Hintergrund stand und über das ganze rosige stumpfnasige Gesicht hin aus Leibeskräften lächelte. Es war Lotte, unser Dienstmädchen, das uns meine Mutter aus Mecklenburg besorgt hatte. Sie war eine rundliche und saubere Person und hatte in ihrem gutmütigen Gesicht nur einen Fehler, der mich störte, solange sie unsere Wohnung durch ihre Gegenwart verschönte. Sie trug nämlich einen ganz kleinen zierlichen Leberfleck auf der Nasenspitze, doch dieser saß nicht in der Mitte, sondern etwas seitwärts. Das hatte etwas durchaus Peinigendes für mich, denn da ich in meinem Fach als Ingenieur gewöhnt war, überall auf Symmetrie und Gesetzmäßigkeit zu sehen, so konnte ich nie von diesem Leberfleck abkommen, wenn ich mit ihr sprach, und mußte ihn stets mit den Augen in die Mitte rücken, welches aussichtslose Unternehmen auf die Dauer etwas Nervenangreifendes hatte. Sonst gefiel sie uns wohl, zumal der Drache noch in ihr schlief und die Genien des Wohlwollens und dienstwilliger Freundlichkeit ihre stattlichen Lippen umschwebten.

Dann besahen wir die Wohnung. Wir waren ihre ersten Mieter in diesem neuerbauten Hause und dies kam dazu, den Eindruck des Funkelnagelneuen noch zu erhöhen. Die Fußböden glänzten, die Decken schimmerten in unberührtem Weiß, die Gardinen glichen dem frischgefallenen Schnee, die Öfen leuchteten und die Möbel blitzten. Im Berliner Zimmer war mit nie gebrauchtem weißem Leinenzeug der Tisch gedeckt, und darauf befand sich Geschirr, das noch niemand je benutzt hatte, Messer, mit denen noch niemals geschnitten worden war, und Gabeln, die keiner je zum Munde geführt hatte. Die Schlafzimmer machten den gleichen Eindruck und in der Küche nun gar hatte Lotte ihr Übrigstes getan. Die Messingkessel glänzten wie die Sonne, der Mörser blitzte wie der Helm des Mambrinus und die Bunzlauer Töpfe, Papa und Mama und sieben Kinder, trugen alle an derselben Stelle auf ihrem satten Braun ein sanftes Glanzlicht zur Schau. Es herrschte dort geradezu ein unnatürlicher Schimmer und Glanz. In der Speisekammer kam Überraschendes zum Vorschein, denn Frau Lore hatte sie ein wenig für uns eingerichtet. Hühnchen versenkte sich bewundernd in ihren Anblick und nannte sie ein Füllhorn der Üppigkeit. Dort war die Eierbrettpyramide angefüllt mit schimmernden Eiern, denen man es ansah, daß Lotte sie alle einzeln mit der Bürste schneeweiß gescheuert hatte, dort waren alle Porzellantonnen gefüllt und trugen ihre stattlichen Aufschriften nicht mehr umsonst, dort stand Eingemachtes in Büchsen und Gläsern und wer weiß was sonst noch für gute und nützliche Dinge. Zudem hatte Onkel Nebendahl seine Frau veranlaßt, in die Schätze ihrer Rauch- und ihrer Vorratskammer zu greifen und am Tage vorher war ein mächtiger Korb aus Mecklenburg für uns angelangt, mit einem Inhalt, als gelte es, eine Schwadron ausgehungerter Pommerscher Kürassiere zu versorgen. Aus ihm war ein Megaterium von Buttertopf hervorgekommen und ein Leberkäse, dessen riesenhafter Anblick uns fast mit Entsetzen erfüllte. Dazu hingen dort in einem Florbeutel ein ganzer Schinken sowie zwei Mettwürste, so groß wie die Schlachtkeulen der Eingeborenen von Nukahiwa, nebst einer halben Speckseite, die wir mit ehrfurchtsvollem Schauer betrachteten, denn es dünkte uns, sie stamme von einem Schweine-Goliath. Wir dachten fast mit Zittern daran, daß wir uns durch dieses Schlaraffenland durchessen sollten. Doch das sind Schrecknisse, die sich ertragen lassen.

Wir streckten sodann zum erstenmal in unserem Leben die Beine unter den eigenen Tisch und bewirteten unsere ersten Gäste, wobei große Fröhlichkeit herrschte. Doch diese wurde ein wenig gedämpft durch eine Mitteilung von Hühnchen, die eigentlich hätte geeignet sein sollen, das Gegenteil zu bewirken. Aber wir hingen alle so sehr an dem kleinen Häuschen in Steglitz, mit dem so viele frohe und freundliche Erinnerungen verknüpft waren, daß der Gedanke, wir sollten uns von ihm trennen, uns wehmütig stimmte.

»Der Mann mit den drei Unterkinnen und dem Austernbegräbnisplatz«, sagte Hühnchen, »hat die Axt an meine Wurzeln gelegt und so mächtige Hiebe darauf geführt, daß ich meinen Wipfel wanken fühle. Er hat sein Gebot für Haus und Garten noch erhöht und ich bin nun einmal nicht reich genug, um auf Gold wandeln zu dürfen. Bis morgen habe ich Bedenkzeit und ich bin gesonnen, das Gebot anzunehmen, obwohl es mir außerordentlich schwer wird. Ich sage, der Mammon stiftet doch nichts als Unheil in der Welt. Wenn man bedenkt, unser kleines freundliches Häuschen mit seinem niedlichen Garten soll diesem Götzen zuliebe vom Erdboden verschwinden, um von so einem modernen Mammutsungetüm von Mietskaserne übergeschluckt zu werden wie ein unschuldiges Kaninchen von einer Boakonstriktor, da möchte man weinen. Sieh mal, Freund und Schwiegersohn, um das Haus tut es mir so leid, als ob es ein Mensch wäre. Und wenn man bedenkt, daß unser braver Gravensteiner Apfelbaum im vorigen Jahr nahezu einen ganzen Scheffel und der Napoleonsbutterbirnbaum über einen Scheffel getragen hat, in freudiger Vergeltung liebevoller Pflege, erscheint es nicht da wie himmelschreiender Undank, wenn man sie in die Hand der Mörder verkauft und sie der todbringenden Axt ausliefert. Denke nur, im Spätsommer soll der Bau schon beginnen und wenn dann im nächsten Frühjahr unser Fliegenschnäpperpärchen zurückkehrt, um dort nach gewohnter Weise sein Nest in das Weinspalier zu bauen, dann wird es dort weiter nichts finden, als Greuel der Verwüstung, Sand und Mauersteine, und durch die kleinen Vogelseelen wird ein Schwert gehen.«

»Aber, Papa, warum tust du es denn«, sagte Frieda fast ein wenig weinerlich, »warum verkaufst du denn unser liebes Haus?«

Hühnchen versuchte etwas wie einen erhabenen Ernst in seine Züge zu legen, was ihm nur mäßig gelang, und antwortete: »Erstens, weil ich, wie gesagt, nicht reich genug bin, um auf Gold wandeln zu dürfen; zweitens, weil ich ein schwacher Mensch bin und auf die Dauer den Verlockungen des Mammons nicht zu widerstehen vermag; drittens, weil ich Kinder habe, um derentwillen ich dies vorteilhafte Gebot nicht ausschlagen darf; und viertens, weil sie mich sonst einbauen werden. Seht, liebe Kinder, dies gibt den Ausschlag. Nehme ich das Gebot nicht an, dann wird um mich herumgebaut. Ein Jahr lang werde ich leben in einer Atmosphäre von Kalkstaub und Maurerflüchen, und dann werden um mich herum nach Süden, Osten und Westen himmelhohe Wände entstanden sein und nur nach Norden, nach der Straße zu, wird es offen sein. Ich werde dann wohnen auf dem Grund eines feuchten Loches, das weder Licht noch Luft, noch Sonne hat, und wenn meine Bäume und Pflanzen es noch nicht während des Bauens getan haben, so werden sie es jetzt tun, sie werden Feierabend machen und ausgehen. Und ich werde dasitzen wie der berühmte Lohgerber, als ihm die Felle weggeschwommen waren, und werde keinen Mammon haben, aber auch keine Gravensteiner und keine Napoleonsbutterbirnen, und das Hohngelächter des Mannes mit den drei Unterkinnen und dem Erbbegräbnis für Austern und Fasanen wird schallen vom Aufgang bis zum Niedergang. – Ja, Kinder«, fügte er dann ganz bedrückt hinzu, »es ist mir manchmal, als sei ich gar nicht der Alte mehr. Die Sorgen des beginnenden Wohlstandes lasten auf mir und meine stille Sympathie für Johann den munteren Seifensieder wächst täglich.«

Am Abend verließen uns meine guten Schwiegereltern, um vergnügt wieder nach Steglitz zu fahren, und am nächsten Tag ward ich wie ein Rad, das man zur Reparatur gegeben hat, wieder in die Maschine der täglichen Arbeit eingefügt und der gewohnte tägliche Kreislauf begann aufs neue. Aber als ich jetzt zum erstenmal heimging, kam ich in mein eigenes Nest, und das war wunderbar behaglich. Frieda wehte zart mit einem kleinen weißen Tüchlein, als sie mich um die Ecke kommen sah, und gestand mir nachher, sie hätte schon seit einer Stunde am Erkerfenster gestanden und auf mich gewartet. Zu Mittag gab es Koteletts. Ich habe mir sagen lassen, daß es in jedem jungen Ehestand der zivilisierten Welt zum ersten Mittagessen Koteletts gibt. Sie waren ein wenig angebrannt und an der Suppe war das Salz vergessen, trotzdem fand ich alles herrlich. Nach Tisch, als Lotte das Geschirr abnahm, bemerkte ich ein starkes Mitteilungsbedürfnis an ihr und die Neigung, einem Landsmann gegenüber sich auszusprechen. Ich entfesselte deshalb den Strom ihrer Rede, der nun eine Weile unaufhaltsam floß, während meine Augen mit seltsamem Bann immer wieder zu dem kleinen Leberflecken auf ihrer Nase gezogen wurden: »Ich kann das hier noch gar nich an werden«, sagte sie, »das is hier all so anders. Un denn, daß sie hier alle hochdeutsch sprechen, die Straßenjungs un die Arbeitsleut' un die Leut' in'n Keller, das is mich szu schnurrig. Ich fang' noch immer auf platt mit sie an un denn verstehn sie mir nich un lachen sich. Un die Leut' mit ihr Hoch versteh' ich auch nich ümmer. Denn hier haben sie ümmer für allens ganz andre dwatsche Nams. Szu grüne Erbsen sagen sie Schoten un szu gelbe Wurzeln Mohrrüben, un Senf heißt hier Mostrich, un Zwiebeln da sagen sie Bollen szu. Un denn mit das Geld. Das is ja nu sonst grad wie bei uns, aber fünf Fennig das is hier'n Sechser un fünfunzwanzig Fennig da sagen sie zwee Jute szu un szu fufzig Fennig vier Jute. Da soll nu einer aus klug werden. Un so kommt ümmerszu was Neus, ich glaub', ich werd' das hier gar nich an.« Und sie schüttelte melancholisch den Kopf.

Es erschien mir angemessen, diesen niedergedrückten Geist wieder ein wenig aufzurichten, und so sagte ich denn: »Aber, Lotte, das kommt Ihnen nur zuerst so vor. So 'n kluges Mädchen wie Sie, die lernt das in acht Tagen.«

Lotte war so geschmeichelt, daß sie fast die Teller hätte fallen lassen, aber einstweilen rutschten nur die Messer und Gabeln zu Boden, und als sie sich danach gebückt hatte und sich wieder erhob, da war sie hochrot im Gesicht, strahlte wie ein blankgeputzter Kupferkessel und lächelte sehr.

»Na, ich will mal sehn«, sagte sie. »Wenn ich mir Müh' geb'.«

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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2012

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