1. Vorbereitungen
Über zehn Monate waren vergangen seit jenem denkwürdigen Johannistag in Tegel, da Hühnchens liebliches Töchterchen Frieda meine Braut wurde. Die Hochzeit stand nahe bevor und sollte am 14. Mai stattfinden. Ich hauste schon seit Ostern in der Frobenstraße in Berlin, wo wir eine Parterrewohnung von fünf Zimmern gemietet hatten. Hühnchen fand unser zukünftiges Heim »äußerst opulent«, obwohl das eine dieser Zimmer nur eine schmale Ritze darstellte, in dem ich mit den Fingerspitzen der ausgestreckten Arme die gegenüberliegenden Wände berühren konnte. Ein anderes, neben der Schlafstube gelegenes, war von dreieckiger Form und so winzig, daß eben gerade ein Bett, ein Schrank und ein Waschtisch darin stehen konnten. Dieser merkwürdige kleine Raum, der mit dem stolzen Namen Fremdenzimmer getauft war, gereichte Hühnchen zu besonderem Vergnügen, er freute sich darauf, später einmal darin zu schlafen und war überzeugt, er würde darin wegen der dreieckigen Grundform die ganze Nacht von den vier Kongruenzsätzen und allerlei trigonometrischen Problemen träumen. Das größte Entzücken aber empfand er über die Aussicht aus den Vorderfenstern auf die hohe, mit weißem Kalkputz beworfene Mauer, die sich als Hinterseite der Stallungen für die Omnibusgesellschaft auf der anderen Seite der Straße endlos hinzieht.
»Wie angenehm«, sagte er, »daß ihr kein Visavis habt und daß niemand vermag, euch unverschämt in die Fenster zu starren. Diese fensterlose Mauer betrachte ich als ein wahres Glück.«
Ich bin überzeugt, hätten dort Häuser gestanden, so würde er geschwärmt haben von den Reizen, die es gewährt, die Bewohner der gegenüberliegenden Seite in ihrem Leben und Treiben zu beobachten.
Zuerst war es ziemlich öde gewesen in den leeren Räumen, wo das Geräusch meiner Schritte klingend von den Wänden widerhallte. Nur vorne in den beiden Zimmern, die ich bewohnte, befanden sich die notwendigsten Möbel. Aber allmählich füllte sich die Wohnung. Mit Schaudern kam mir zum Bewußtsein, mit welch einer endlosen Menge von Gegenständen der Kulturmensch seine Häuslichkeit belastet. O das waren noch schöne Zeiten, als unsere biederen Vorfahren sich begnügten mit einem Speer, einem Steinbeil, einem Bogen, einer Handvoll von Pfeilen, etwas Schmuck von Tierzähnen und Bernstein und einem umgehängten Fell. Dazu ein paar Töpfe, roh mit der Hand geformt, und eine Erdhütte, klein aber behaglich und schon damals ebenso geräumig für die Liebe eines glücklichen Paars, wie später zu den Zeiten Schillers. Aber jetzt war das ein anderes Ding. Orient und Okzident wurden in Tätigkeit gesetzt, nur damit wir uns ein Nest bauen konnten. In China spannen die Seidenwürmer, in Schlesien schnurrten die Webstühle, in Solingen hämmerten die Schmiede und an verschiedenen Orten glühten die Porzellan- und Glasöfen für uns. Hölzer aus den fernsten Weltteilen schleppte man herbei, unsere Möbel zu schmücken, der Elefant lieferte seine Zähne, der Wal sein Fischbein, das Pferd sein Haar, das Schaf seine Wolle, Palmen ihren Bast, die Tiere aller Zonen ihre Häute, Hörner und Knochen, nur weil wir heiraten wollten. Die Bergwerke Nevadas gaben ihr Silber her, Australien sein Gold, Britannien sein Zinn, Schweden sein Kupfer und Westfalen sein Eisen. Alles für uns. Wahrlich, wenn man sich eine Vorstellung machen will von dem subtilen Räderwerk der modernen Kultur und von dem weitverzweigten Spinnennetze, das Handel und Verkehr über die ganze Welt gesponnen haben, da braucht man sich nur auszumalen, welch einen verwickelten Mechanismus ein einziges anspruchsloses Paar in Tätigkeit setzt, nur um sich ein bescheidenes Heim zu gründen.
Bei Hühnchens herrschte schon seit langem eine geradezu unheimliche Rührigkeit, und Männer fühlten sich dort nur mäßig behaglich. Denn den ganzen Tag rasselte die Nähmaschine, und was da an Gesäumtem, Gebauschtem, Gefälteltem und mit Spitzen Besetztem im Laufe der Zeit zutage gefördert wurde, war einfach erschreckend. Es war mir wirklich manchmal zumute, als hätte ich mich auf eine Sache eingelassen, deren Tragweite und deren notwendige Folgen ich mir doch nicht genügend klar gemacht hatte. Das kleine Wörtchen »Ja« ist ein Keim, aus dem die merkwürdigsten Bäume hervorwachsen. Sah ich aber dann mein rosiges Mädchen in glühendem Fleiße und mit strahlendem Eifer in all dieser emsigen Tätigkeit mit dem hoffnungsvollen Leuchten ihrer Augen, so erfreute ich mich des blühenden Rosengartens, der auch aus diesem kleinen Wörtchen aufgeblüht war, und wir beide gedachten mit Wonne der Zeit, da wir ganz in ihm wohnen sollten.
Zu einer vollständigen Ausstattung meiner zukünftigen kleinen Frau gehörten nun auch jene zarten Gedichte aus Blumen, Federn und Bandwerk, die in den Schaufenstern der Putzläden eine so unauslöschliche Anziehungskraft auf weibliche Augen auszuüben pflegen, obgleich man schon im nächsten Jahr mitleidig zu lächeln pflegt über das, was vor kurzem noch »entzückend« war. Man sah sich im Hühnchenschen Hause dafür nach einer Hilfe um und Frieda schrieb deswegen an eine Schulfreundin, die sich in Berlin viel in Gesellschaften bewegte und sogar schon einmal einen Subkriptionsball mitgemacht hatte. Diese wies ihr auch ein geeignetes Fräulein nach und nun schrieb Frieda noch einmal um die näheren Bedingungen, denn man wußte im Hühnchenschen Hause nicht, wie eine solche Künstlerin zu behandeln sei, da dergleichen Priesterinnen des Luxus noch niemals über diese Schwelle gekommen waren. Darauf erhielt sie folgenden Brief:
»Liebe Frieda!
Die erste Bedingung Fräulein Siebentritt gegenüber ist große Freundlichkeit, die zweite: Kaffee mit Brötchen und Butter beim Antritt, die dritte: Frühstück, bestehend aus belegtem Butterbrot, einem Ei, einem Glas Wein und einer Tasse Kakao, recht süß, die vierte: Mittagessen reichhaltig, jedoch ja keinen Sauerkohl. Pudding muß unbedingt dabei sein, ein Gläschen Wein darf nicht fehlen. Die fünfte Bedingung: Kaffee wie am Morgen, jedoch jetzt mit Kuchen, die sechste: gegen Abend ein Stück kalten Pudding, die siebente Abendbrot: Eier sehr beliebt, dazu auch Butterbrot mit Braunschweiger Wurst und Hamburger Rauchfleisch angenehm, Bier darf nicht fehlen, die achte: fünfzig Pfennige mehr geben, als sie verlangt.
So, nun weißt Du alles, bemerken will ich nur noch, daß das Abendbrot sehr reichlich bemessen sein muß. Sie selbst zwar pflegt nur davon zu nippen, denn sie hat den Tag über schon so viel gepambst, daß ihre Kraft erschöpft ist, allein sie erwartet die Aufforderung, das übrige einzupacken und mit nach Hause zu nehmen. Sie verlangt viel Unterhaltung und außerdem eine Apfelsine für ihre Mutter.
Mit herzlichen Grüßen
Deine Mathilde.
P.S. Sie tritt morgens gegen zehn Uhr an.
D.O.«
An einem Sonntag, kurze Zeit nach Ankunft dieses Briefes, traf ich in Steglitz ein und fand die Damen des Hauses in ziemlich gedrückter Stimmung bei dem Studium dieses Schriftstückes. Hühnchen kam darüber zu und las den Brief mit großer Sorgfalt und großem Ernst. »Beim Lukull«, sagte er, »das wird ein Tag des Wohllebens und der Schlemmerei werden, wenn dieses Fräulein unsere niedere Hütte mit ihrer Gegenwart beehrt. Und wir werden uns eine Miene erhabener Gleichgültigkeit einüben müssen, um so zu tun, als ginge es immer so bei uns zu. Und, Lore, ich fürchte, mit unserem Sauren wird es nichts sein. In der griechischen Weinhandlung bei Mentzer aus Neckargemünd gibt es eine ›Milch der Greise‹, ›Nestor‹ genannt. Süß und kräftig. Davon werde ich mir ein Fläschen eintun für diesen großen Tag.«
Dann fuhr er zu mir gewendet fort: »Je älter man wird, teurer Freund, je mehr Blätter flattern welk herab vom Baum unserer Illusionen. Ich habe mir bis jetzt immer eingebildet, eine Putzmacherin sei eine Art von ätherischem Wesen, das in der Weise eines Vögelchens von irdischer Speise nur nippt, fortwährend Liedchen trällert und dazu mit unerschöpflichem Fleiße und mit wunderbar geschickten Fingern zierliche Gebilde formt. Aber darf ich von dem Einzelfall, den dieser Brief darstellt, auf die Allgemeinheit schließen, so kann ich mich der Überzeugung nicht erwehren, daß sehr irdische Geschöpfe unter dieser Menschenklasse gefunden werden.«
Doch die niedergedrückten Geister der Familie Hühnchen richteten sich bald wieder auf. Es wurde nach reiflicher Überlegung beschlossen, auf die Hilfe dieser anspruchsvollen Dame zu verzichten, da man allgemein der Ansicht war, sie sei zu schwierig zu ernähren, auch möchte der Rahmen des Hühnchenschen Hauses keine geeignete Fassung für dieses Juwel sein. Frau Lore brachte dann später auch mit ihren geschickten Händen alles Nötige zur Befriedigung der Kenner zustande.
Es war ein sonniger Tag am Ende des April, Fenster und Türen waren geöffnet und eine köstliche Frühlingsluft wehte durch alle Zimmer. Gegen zwölf Uhr mittags fiel es mir besonders auf, wie ungemein sonnig die Wohnung war, ja als ich näher zusah, bemerkte ich die auffallende Tatsache, daß das himmlische Gestirn sowohl in die Nord- als die Südfenster hineinglänzte. Diese beiden Sonnenscheine begegneten sich in der Mitte und brachten in dem breiten Gang, der die beiden Zimmer verband, strahlenden Glanz hervor. Als ich Hühnchen auf diese merkwürdige astronomische Tatsache aufmerksam machte, da leuchteten seine Augen ganz besonders und mit fast prahlerischem Ton begann er: »Ja, mein lieber Freund, diesen neuen Vorzug dieser merkwürdigen Wohnung kanntest du noch gar nicht. Was wir zuerst als ein Unglück beklagten, hat eitel Vorteil mit sich gebracht, denn einem Glücksvogel wie mir müssen alle Dinge zum Besten dienen.«
Dann deutete er aus den Nordfenstern auf die blinkenden Spiegelscheiben einer großen Mietkaserne, die dort vor kurzem erst aus dem Boden gewachsen war, und fuhr fort: »Du weißt doch, welches Vergnügen wir früher immer an der Aussicht aus diesen Fenstern hatten, als dort noch das kleine ländliche Haus stand. In dem eingezäunten Hofraum trieb sich ein stattlicher Hahn mit seinen Hühnern herum, dort watschelten Enten und im Herbst auch Gänse, ja zuweilen ließen sich dort veritable Schweine sehen, die sich stilgemäß in Pfützen wälzten. Wir hatten dort eben immer eine echt ländliche und höchst anheimelnde Aussicht. Nun kriegen die Leute hier aber im vorigen Jahr das Bauen und stellen dort eine himmelhohe Kaserne hin mit Karyatiden und Balkons und Obst und Südfrüchten. Die Aussicht ist fort und unser Nordzimmer sollte, wie wir meinten, noch dunkler werden, als es schon war. Aber was geschieht? Ganz das Gegenteil, wie du siehst. Denn nun spiegelt sich die Sonne dort in den großen Scheiben und wir haben sie von beiden Seiten, daß wir uns in ihrem Schein baden können. Eine förmliche Sonnendusche haben wir jetzt. Mich dünkt, die Wohnung hat unermeßlich gewonnen dadurch. Und noch eins, Teuerster. Die Grundstücke hier in der Gegend sind durch die eingetretene Bausucht gewaltig im Preis gestiegen. Gestern war ein Bauunternehmer bei mir mit einem Burgundergesicht und drei Unterkinnen. Sein glattes Bäuchlein erschien mir wie ein Grabhügel von vielen Austern, Fasanen und Gänseleberpasteten und war geziert mit einer goldenen Uhrkette im Wert eines kleinen Bauerngutes. Er wollte mir mein Grundstück abkaufen und bot schließlich sechsmal mehr als es mich, den Neubau mit eingerechnet, im ganzen gekostet hat. Einstweilen habe ich der Versuchung widerstanden, obwohl er sagte: ›Gott, was wollen Sie? Für das, was ich Ihnen zahle, bau'n Sie sich in 'ner anderen Gegend wieder an und da können Sie eine Villa haben. Was haben Sie hier? Niedrige Räume, kleine Löcher. Ziehen Sie weiter hinaus auf das neue Villenterrain, da können Sie für das Geld, was ich Ihnen zahle, große Räume haben und alle Zimmer mit Schtuck so viel Sie wollen. Hier haben Sie keinen Schtuck und Schtuck wünscht man doch jetzt allgemein. Und Sie können haben auf dem Flur die Wände von Schtuckmarmor und können haben Butzenscheiben und alles altdeutsch in der schönsten Renaissance und mit Cuivre poli. Oder wollen Sie nicht Renaissance, so können Sie's haben in Gotisch oder Rokoko oder was Sie wollen, unsere Baumeister bauen Ihnen in jedem Geschmack.‹
Aber ich blieb fest und zuletzt sockte er zornig ab. Das aber muß ich dir sagen: diesen Boden betritt jetzt mit Achtung, denn du wandelst auf Gold.« Und Hühnchen ging mit Storchenschritten, wie zwischen Eiern, im Sonnenschein herum, der ihn von beiden Seiten beleuchtete, und lachte und glänzte selber wie die Sonne.
Wie es möglich werden sollte, Polterabend und Hochzeit in den beschränkten Räumen des Hühnchenschen Hauses stattfinden zu lassen, war mir unerfindlich, allein mein zukünftiger Schwiegervater hatte sich nun einmal darauf versessen und seinem Genie mußte es überlassen werden, diese Frage zu lösen. »Einer Hochzeit in einem Gasthaus fehlt jegliche Weihe«, sagte er. »Das ist ein Geschäft, aber kein Fest. Wir laden so viele ein, wie hineingehen in die Bude, und dann soll's fidel werden. Was, alter Freund und Schwiegersohn? Und unser Freund Bornemann soll uns eine Maibowle ansetzen. Das zu sehen ist allein schon ein Festgenuß, wenn er wie ein Hoherpriester seines Amtes waltet. Die Zutaten besorgt er selber aus den geheimnisvollsten und besten Quellen, die nur Gott und ihm bekannt sind.«
Auch die Gäste von auswärts sollten im Hause untergebracht werden. Das war nun allerdings so schlimm nicht, denn außer meiner Mutter erwarteten wir nur noch Herrn Nebendahl, einen Onkel von Hühnchen, der in Mecklenburg ein Pachtgut hatte. Da nun die Zimmer oben, die ich bewohnt hatte, leer standen, so machte dies weiter keine Schwierigkeiten.
Unterdes hatte unsere neue Wohnung in der Frobenstraße sich allmählich gefüllt, es duftete dort nach Lack, Politur und frischen Polstermöbeln, und alles sah unbeschreiblich neu und ungebraucht aus. Auch die Küche war schon vollständig eingerichtet, an den Wänden hingen Löffel, Kellen, Siebe, Trichter und andere Gerätschaften, deren Gebrauch mir ein düsteres Geheimnis war. Blanke Messingkessel blitzten über dem Herd mit einem Mörser aus gleichem Stoff um die Wette, und am Rand des Rauchfanges entlang hing eine Reihe von Bunzlauer Töpfen: Papa, Mama und sieben Kinder, eins immer kleiner als das andere. Auch auf den Brettern der Speisekammer war allerlei Geschirr aufgestapelt, und stattliche Porzellantonnen waren dort aufmarschiert mit schönen deutlichen Inschriften. Alles war da, nur das Beste fehlte noch. Doch der Tag, der es bringen sollte, nahte heran, ob auch die Zeit schneckengleich dahinkroch, und endlich war der Polterabend da. Unsere auswärtigen Gäste waren eingetroffen, meine Mutter, die von der Familie Hühnchen mit unvergleichlicher Liebe und Ehrfurcht aufgenommen ward, und Herr Nebendahl, ein stattlicher, wohlbeleibter Herr mit einem rotbraunen Gesicht, einer Stimme, gleich der Posaune des Gerichts, und einer großen Neigung zur Heiterkeit, die sich durch donnerndes Lachen kundtat und das Haus in seinen Grundfesten erschütterte.
»Na, du hast dir ja 'n gelungenes Vogelbauer eingerichtet, Leberecht«, sagte er, als er mit gewichtigen Schritten durch die kleinen Zimmer wandelte wie ein Löwe durch einen Menageriekäfig, »und 'n Garten is da ja auch. Den muß ich sehn.«
Hühnchen schmunzelte und steckte schnell einige Papiere zu sich, die auf seinem Schreibtisch lagen. So etwas wie dieser Garten war Herrn Nebendahl noch nicht vor Augen gekommen, und als er den Kartoffelacker von vier Quadratmetern und alle die unglaublich winzigen Zwiebel-, Mohrrüben-, Erbsen-, Bohnen-, Kohl-, Sellerie- und Erdbeerbeete sah, und als ihm nun gar die Bebauungspläne in ihren verschiedenen Jahrgängen vorgelegt wurden, da schallte der Donner seines Gelächters durch ganz Steglitz. »O du mein Schöpfer!« rief er, »zu Haus hab' ich 'nicht paar Erdbeerbeete, die sind zusammen 'mal so groß wie dieser ganze Garten. Un meine Frau hat 'n Karnaljenvogel in so 'n klein Drahthaus, der kriegt jeden Tag sein Grün's, und wenn ich den seh', Lebrecht, denn werd' ich von nu ab immer an dich und dein Haus und deinen Garten denken!«
Als er nun das Kartoffelfeld näher ins Auge faßte, wo eben das grüne Kraut aus der Erde hervorgedrungen war, erwachte seine Lustigkeit aufs neue: »Junge, Junge«, sagte er, »wenn in 'n Herbst das Kartoffelracken losgeht, denn mußt du dir doch woll 'ne Hilfe annehmen, oder könnt ihr's allein zwingen? Die Kartoffeln stehn aber gut. Was ist es denn für 'ne Sorte?«
»Magnum bonum, länglich runde, nierenförmige«, antwortete Hühnchen schlagfertig. »Hier in diesem Garten werden nur edelste Sorten kultiviert und die Samen sind von einer berühmten Firma in Erfurt bezogen. Wenn du glaubst, daß diese Zwiebeln hier ganz gewöhnliche Wald- und Wiesenzwiebeln sind, da bist du sehr im Irrtum, ich darf sie dir vorstellen als die ›große runde, gelbe, feinschmeckende Zittauer Riesenzwiebel‹. Auch bei diesen Bohnen siehst du nichts Gewöhnliches vor dir, es ist die ›frühe, große, lange, extra breite, weiße Schlachtschwertbohne‹. Und wenn du glaubst, hier siehst du nur so Erbsen schlechthin, da bist du wieder betrogen. Nein, sie nennt sich ›große, weiße, frühe, krummschotige Säbelerbse‹. Hier erblickst du den sehr großen, zarten, gelben Non-plus-ultra-Salat, und dort, wo du noch nichts siehst, wird sich bald in ungeahnter Üppigkeit die ›längste, grüne Goliath-Schlangengurke‹ entfalten. Doch wenn du erst ahntest, was auf diesem Komposthaufen der Zukunft entgegenkeimt, da würde Ehrfurcht dein Herz erfüllen, denn dort ist angesät der ›Riesen-Melonen-Zentner-Kürbis‹, der gegen hundert Kilogramm – denke nur, zwei Zentner – schwer wird. Ich muß gestehen, vor diesem Gemüse habe ich einige Angst. Ich fürchte, er wird zu geräumig ausfallen für unseren Garten und eine erdrückende Wirkung ausüben.«
Herr Nebendahl hatte bei dieser ganzen Erklärung mit beiden Händen seinen Bauch gehalten, der wie von einem gewaltigen Erdbeben erschüttert ward – nun brach er endlich in ein donnerndes Gelächter aus. Als er sich endlich wieder erholt hatte, rief er: »Ne, Lebrecht, nu hör auf. Wenn das so weitergeht, denn werd' ich krank, das kann ja kein Deubel aushalten. Du bist der putzigste Kerl, der mir mein Lebtag vorgekommen is.«
Der Rabe Hoppdiquax in seinem vergitterten Kasten an der Hauswand hatte sich dieser neuen und geräuschvollen Erscheinung gegenüber bis dahin mäuschenstill verhalten und sie nur mit dem forschenden Blick des gewiegten Menschenkenners aufmerksam von der Seite betrachtet. Jetzt, da eine kleine Pause in der Unterhaltung eingetreten war, hielt er offenbar seine Zeit für gekommen, denn im tiefsten Baß sagte er plötzlich: »Da ist der Graf!«
Herr Nebendahl schrak zusammen: »Na, was is das?« rief er. »Sitzt da wer in dem Kasten. Was is das?«
Hoppdiquax hüpfte drei Schritte seitwärts, wodurch er mehr ins Licht kam, und indem er teils pfiffig, teils boshaft auf Nebendahl hinblickte, sagte er wie zur Erklärung: »Ein rätselhafter Vogel!« Denn diese Redensart, die von Hühnchen schon so oft auf ihn angewendet worden war, hatte er sich im Laufe der Jahre zu eigen gemacht.
Herr Nebendahl lachte nicht, wie es wohl sonst seine Gewohnheit bei so auffallenden und sonderbaren Ereignissen war, sondern ward ein wenig blaß und sah Hühnchen mit weit geöffneten Augen und gerunzelter Stirn an. »Du, Lebrecht«, sagte er, »das ist ja ein graugeliges Tier, da kann einem ja ganz Angst vor werden«.
»Quatschkopp!« rief Hoppdiquax mit ungeheurem Nachdruck, sträubte die Nackenfedern und hüpfte in die hinterste Ecke seines Kastens, wo er scheinbar in gewaltigem Zorn auf einen längst abgenagten Knochen loshackte.
»Ne, so was!« sagte Herr Nebendahl und ging ganz bedrückt mit Hühnchen wieder in das Haus zurück.
2. Polterabend
Am Abend dieses Tages füllten sich die Zimmer mit Gästen. Da kam der Major Puschel mit seiner Frau. Sie war köstlich in violette Seide gekleidet und klirrte und bimmelte von allerlei Schmuck, wenn sie sich bewegte. Er aber war in Uniform und strahlte festlich in militärischem Glanze unter all den gewöhnlichen Sterblichen. Da war Doktor Havelmüller mit dem Ausdruck freundlicher Wehmut, der ihn immer zierte, wenn er auch noch so sehr den Schalk im Nacken hatte, da war unser Freund Bornemann mit seinem bartlosen lächelnden Vollmondgesicht, den breiten Schultern und der üppigen Fülle sämtlicher Gliedmaßen. Er hatte sich mächtig in Wichs geworfen, seine Stiefel schossen glänzende Blitze und oben war er mindestens zu sieben Achteln Vorhemd. Wenn er so dastand, den Chapeau claque elegant gegen das Bein gestemmt, so sah er aus wie der aufgegangene Tag eines Gesandtschaftsattachés. Da war Onkel Nebendahl in seinem Hochzeitsfrack, der leider dem leiblichen Wachstum seines Besitzers nicht gefolgt war und dessen Arme einzwängte, daß sie zwei stattlichen Mettwürsten glichen, während er vorn weit auseinanderklaffte und einer mit einer ungeheuren weißen Weste bedeckten imposanten Hügellandschaft Raum gab. Da waren außer anderen Freunden und Freundinnen des Hauses, deren Aufzählung zu weit führen würde, einige von Hans Hühnchens jüngeren Genossen, die sich entweder schüchtern in den Ecken herumdrückten oder sich, wie der junge angehende Kunstgelehrte Erwin Klövekorn, den Anschein gaben, als seien alle Genüsse dieser Welt bereits Schall und Rauch für sie, mit blasierter Miene an einem Türpfosten lehnten und in der Schnurrbartgegend an etwas Unsichtbarem drehten.
Von den jungen Mädchen, den Freundinnen Friedas, war noch nicht viel zu sehen, nur aus dem Zimmer, das ihnen als Garderobe diente, schallte Lachen und Gezwitscher, und zuweilen sah man dort ein phantastisch aufgeputztes Köpfchen hervorlugen, das aber, wenn es bemerkt ward, sofort kichernd wieder verschwand.
In dem größten Zimmer des Hauses, wo wir damals das Weihnachtsfest gefeiert hatten, war ein erhöhter Sitz für das Brautpaar gebaut und rings an den Wänden standen Stühle, so daß in der Mitte ein Raum für die Aufführungen frei blieb. Als dort die ganze Gesellschaft sich niedergelassen hatte, ergriff Hühnchen mit ungemeiner Wichtigkeit eine Tischglocke und läutete heftig. Auf dieses Regisseurzeichen öffnete sich die Tür und herein traten fast zugleich zwei hübsche Mädchen, die erste, eine blonde, war weiß gekleidet, die andere war schwarz von Haar und dunkelrot angetan. In den Händen trug jede eine flache runde Schachtel. Zum Verständnis des Folgenden muß ich einfügen, was ich bis jetzt schamhaft verschwiegen habe, daß nämlich schon vor einigen Jahren ein Bändchen Gedichte von mir unter dem Titel »Kornblumen« erschienen war, dessen Exemplare »zu scheußlichen Klumpen geballt« in dem Magazin des Verlegers ein unbegehrtes Dasein führten. Beide Mädchen betrachteten sich anscheinend mit Verwunderung und Eifersucht und die Schwarze begann:
S.
»Woher des Wegs? Was bringst du dort getragen?
B.
Ei, was du fragst! Dasselbe darf ich fragen!
S.
Zeig' her! Was, eine Schachtel rund wie meine?
Was birgst du drin?
B.
Ei nun, was birgt die deine?
S.
Was Rundes!
B.
Nun, was Rundes hab' auch ich!
S.
Zu gleichem Zwecke kommst du sicherlich.
Das merk' ich wohl und brauche nicht zu fragen,
Denn einen Kranz bringst du wie ich getragen.
B.
Ich kam zuerst, und du mußt vor mir weichen!
S.
Auch meinen Kranz denk' ich zu überreichen!
B.
Der meine ist der schönste in der Welt!
S.
Und meinen kaufst du nicht um vieles Geld!
B.
(nimmt ihren Kranz hervor).
Der schönste Kranz von allen, die sich zeigen,
Er ist gefügt aus zarten Myrtenzweigen.
Das schönste ist ein hold errötend Haupt.
Am Hochzeitstage myrtenzweigumlaubt!
S.
Den ersten Kranz von allen, die wir kennen,
Muß ich des Lorbeers stolze Rundung nennen,
Den man dem Sieger auf die Stirne drückt,
Und dem Poeten, der die Welt entzückt.
B.
Verzehrend sind der Ruhmsucht wilde Flammen
Und nur die Liebe hält die Welt zusammen!
S.
Zusammen hält die Liebe wohl das Leben,
Doch einzig vorwärts bringet nur das Streben!
B.
Laß uns nicht streiten. Jeder schätzt das Seine.
Mein's gilt der Braut, dem Bräutigam das deine!
S.
(öffnet die Schachtel; verwundert).
Welch seltsam Ding – fürwahr, was muß ich sehn?
Verwunderliches ist allhier geschehn!
(Zieht einen Kornblumenkranz hervor.)
Was ich als grünen Lorbeer eingehandelt,
In blaue Sterne hat es sich verwandelt.
Die zarte Blume, die das Kornfeld schmückt,
Sei statt des Lorbeers auf dein Haupt gedrückt.
B.
(zur Braut).
Dir reiche ich des Myrtenkranzes Rund,
In dem du schließest den ersehnten Bund,
Das Holdeste, das diese Erde hegt,
Das Lieblichste, das eine Jungfrau trägt.
Mag andern auch ein andrer Kranz gefallen,
Er ist und bleibt der herrlichste von allen!«
So waren wir denn beide bekränzt zur großen Ergötzung der Zuschauer über diese neue Form der Überreichung des Brautkranzes, die, wie ich nachher erfuhr, von unserem Freund Havelmüller erdacht war.
Aber zum zweitenmal ertönte Hühnchens Glocke und herein schwebten singend und im Reigen sich drehend die vier Elemente in eigener Person. Auch diese sprachen nacheinander sinnige und freundliche Worte, indem sie zwischendurch immer wieder zu ihrem eigenen Gesang zierliche Reigentänze aufführten. Da war die Erde, ein Mädchen in grünem geblümten Gewand und einen Rosenkranz im schwarzen Haar tragend. Sie wolle uns nähren und kleiden und ihre besten Schätze für uns hergeben, sagte sie, und zum Zeichen dessen überreichte sie Brot und Salz in einem schönen Korb.
Dann kam das Wasser in blauem Gewand mit Wasserrosen geziert und versicherte uns, schon die alten Griechen hätten gesagt, es sei von allem das Beste. »Mit in guten Schuß Rum mang«, murmelte Onkel Nebendahl dazwischen. Aber da kam er schön an, denn nachdem das Wasser seine Vorzüge dargelegt hatte, förderte es allerlei spitzfindige Bemerkungen zutage über gewisse andere Getränke, durch die nicht allein verwerfliche Junggesellen, sondern auch leider junge und alte Ehemänner bewogen würden, ihre Nächte außer dem Haus zu verschwärmen, während die armen Frauen in Trübsal und Trauer zu Hause säßen. Als Aufmunterung zur Tugend überreichte es dann eine Wasserflasche mit zwei Gläsern.
Darauf meldete sich die Luft, weiß wie eine Sommerwolke und überall mit Schmetterlingen besetzt, die auch über dem hellblonden Haar sich schwankend wiegten. Sie hielt einen zierlichen, kleinen hygienischen Vortrag über den Nutzen der Ventilation und stieß dabei ein wenig mit der Szunge an, gleichsam als wolle sie das Ssäuseln des Szephyrs dadurch andeuten. Ihr Geschenk war ein Blasebalg.
Das Feuer ward dargestellt durch ein zierliches Persönchen in rotem Gewand und trug eine wirkliche brennende Flamme auf dem Haupte. Die niedliche junge Dame hatte, wohl durch den Charakter ihrer Rolle verführt, eine etwas heftige Art zu deklamieren an sich, rollte beträchtlich mit den hübschen braunen Augen, und in gemessenen Zwischenräumen flammte ihr rechter Arm wie von einem unsichtbaren Draht gezogen zum Himmel empor, wobei gewöhnlich auch die etwas zu sehr angestrengte Stimme in die zweite Etage hinaufschnappte. Sie sprach mit vielem Ausdruck von der heiligen Flamme des häuslichen Herdes und von dem Feuer der Liebe, das nie erlöschen solle und uns wärmen bis in die spätesten Tage. Dazu überreichte sie ein Feuerzeug in Gestalt eines bronzenen Amors mit einer Butte auf dem Rücken. Als sie geendet hatte, hörte ich einen Seufzer hinter mir, wo Hans Hühnchen an die Wand gelehnt stand, und als mein Blick ihn streifte, bemerkte ich, wie er das zierliche Mädchen mit den Augen verfolgte. Er machte mir den Eindruck, als sei er von diesem Feuer etwas angesengt.
Als die vier Elemente sich nun wieder im Reigen gedreht hatten und singend zur Tür hinausgezogen waren, sagte Onkel Nebendahl befriedigt: »Das war mal nüdlich. Das haben die kleinen Dirns nett gemacht.«
»Ja, sehr niedlich«, sagte der Major, »und erinnert mich merkwürdig an einen anderen Polterabendscherz auf der Hochzeit meines Kameraden Hauptmann von Beselow. Damals waren es aber die vier Temperamente. Da passierte eine sonderbare Geschichte, denn die junge Dame, die das Phlegma darstellte, blieb ganz elend stecken, ich sage Ihnen so furchtbar stecken, daß sie nicht aus noch ein konnte. Sie mußte wahrhaftig ihren Zettel aus der Tasche kriegen und alles ablesen. Sie war eine Gutsbesitzerstochter aus der Gegend von Thorn – heiratete später meinen Kameraden Leutnant Dempwolf. Der Schwiegervater kaufte ihnen ein Gut und dann bekamen sie dreizehn Kinder. Sind alle noch am Leben. Ja!«
Onkel Nebendahl, der an die pointelosen Geschichten des Majors noch nicht gewöhnt war, sah ihn erwartungsvoll an und fragte endlich, als weiter nichts kam: »Und?«
Der Major blickte mit den hellen Augen etwas verwundert auf ihn hin und drehte an seinem Schnurrbart: »Der älteste Sohn dient bereits als Einjähriger, ja«, sagte er dann, »beim zweiten Garderegiment. Ja!«
Nebendahl kratzte sich hinter den Ohren und versank in Nachdenken. Doch konnte er sich dem nicht lange hingeben, denn Hühnchens Glocke ertönte wieder, und während vom Klavier her die Melodie des Liedes ertönte: »Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin«, wandelte, in einen langen silberglänzenden Talar gekleidet, unser Freund Bornemann als Mond herein. Sein großes, rotes, gutmütiges Gesicht schaute aus einer mächtigen goldenen Scheibe hervor, wahrhaftig, das war ein Mond, so ähnlich wie er es nur ein konnte.
»Da kommt dein Freund!« sagte ich zu Frieda. Sie lächelte und sah mich glücklich an. Sie ward nämlich immer ein wenig geneckt mit ihrer Vorliebe für den Mond, und sagte gerne, wenn er so durch die Zweige der Gartenbäume auf sie hinblickte, sei es ihr, als schaue ein guter Freund auf sie. Dieses kleine Verhältnis war zwar ohne die übliche Sentimentalität, doch seit ihrer Kinderzeit schon hatte sie, wenn sie abends allein und unbelauscht am Fenster saß und das freundliche Gestirn zu ihr hereinsah, ihm all ihre kleinen Leiden und Freuden anvertraut. Das mußte nun Bornemann wohl bekannt sein, denn er stellte sich vor als Freund der Braut, der eigens herabgestiegen sei, um an diesem schönen Tage ihr seine Glückwünsche zu bringen. Er wisse wohl, daß er schon seit lange ihr erster und eigentlich auch ihr einziger Geliebter sei. Da sie nun aber eingesehen habe, daß seine himmlischen Berufsgeschäfte und seine Verpflichtungen gegen die Liebenden der ganzen Welt eine nähere Verbindung nicht zuließen, habe sie sich endlich unter den Menschen nach einem Ersatz umgesehen, und da sei alsbald ihre Wahl auf mich gefallen, einzig und allein um meines schönen Mondscheins willen, der sie zart und sinnig immer an ihren ersten liebsten Freund erinnere. (So ein Schuft! Wenn ich das nicht gleich geahnt hätte!) Er könne diese Wahl nur billigen, denn gestehen müsse er ja, ihm sei ein steter Wechsel eigen, bald sei er schwarz, bald eine schmale Sichel, bald zu-, bald abnehmend und nur selten zeige sich sein voller Glanz. Der von ihr erwählte Mondschein aber würde an Größe, Pracht und Schimmer im Laufe der Jahre immer nur zunehmen und eine dauernde Quelle ungetrübter Freuden für sie sein. Damit nun auch ich an der Beobachtung dieses vorzüglichen Wachstums und dieser steten Veredlung teilzunehmen vermöge, so überreiche er hiermit diesen feingeschliffenen und in Bronze gerahmten Spiegel. Dann schloß er:
»Mein Schein ist Wechsel, deiner nicht,
Er strahlt in stets vermehrtem Licht
Und bleibt dir bis ans Ende treu!
Nun lebet wohl! – Ich werde neu!«
Er machte plötzlich linksum kehrt und nun zeigte sich, daß seine ganze Hinterseite schwarz wie Pech war, nur auf dem breiten Rücken war ein sichelförmiger Mond mit Profilgesicht dargestellt, der mit zwei gewaltigen Händen eine ungeheuer »lange Nase« machte.
Der Donner des Gelächters auf meine Kosten war unbeschreiblich. »Na, warte nur«, dachte ich, »du wandelndes Bierfaß, wenn einmal deine Stunde schlägt und du auf demselben Verwunderungsstuhl sitzest, dann soll meine Rache furchtbar sein!«
Es würde zu weitläufig werden, wollte ich alles anführen, was an diesem denkwürdigen Abend von ernst- und scherzhaften Vorträgen noch dargebracht wurde und wieviel liebenswürdige Freundlichkeit sowohl als scherzhafte Bosheit wir noch auszustehen hatten.
Als dann nach Beendigung aller dieser Aufführungen die Gesellschaft in den beiden anderen kleinen Zimmern herumwimmelte, weil nun der Tisch zum Abendessen im »Saal« gedeckt wurde, kam Hühnchen sehr vergnügt zu mir und sagte: »Du, willst du mal sehen, wie jetzt Bornemann als Oberpriester am Altar des Bacchus waltet? Es ist ein erhabener Anblick.«
Er führte mich in die Küche und dort stand Bornemann in seinem silberglänzenden Talar und hatte seine goldene Mondesscheibe nun wie einen Heiligenschein aufgesetzt. Vor ihm befand sich ein riesiges mit Blumen bekränztes Gefäß in einer mächtigen mit Eis gefüllten Schüssel. Hans Hühnchen entkorkte fortwährend Flaschen und reichte sie dem Meister zu, während ein anderer Jüngling ein großes mit Waldmeisterkraut gefülltes Sieb über die Bowle hielt. Nur war es bemerkenswert zu sehen, mit welcher Kennermiene Bornemann zuvor an jedem Kork roch, ehe er die Flasche verwendete. Wie er sie dann geschickt zwischen den Händen wirbelte, wodurch der Inhalt eine kreisende Bewegung erhielt und die Luft in der Mitte eindringen konnte, so daß der Wein in hohlem Strahl ohne zu blubbern schnell aus der Flasche herausschoß und durch das mit Waldmeister gefüllte Sieb in die Bowle plätscherte. So ging es fort Flasche für Flasche, ohne Ende, wie es uns dünkte. Hühnchen wurde ganz ängstlich und sagte: »Bornemann, du denkst wohl an eine Herrengesellschaft, bedenke, es sind über die Hälfte Damen dabei.« Bornemann erwiderte mit dem Ton eines Mannes, der sich nicht in seine Angelegenheiten reden läßt: »Leberecht, das verstehst du nicht. Wenn ich eine Bowle ansetze, dann saufen die Menschen schrecklich, und es bekommt ihnen.«
»So«, sagte er dann, als Hans ihm die letzte Flasche aus dem Eiskühler hingereicht hatte und nur noch zwei übrig waren, die abgesondert standen, »so«, sagte Bornemann, »Champagner ist nicht nötig, er ist nur für die Illusion und verfliegt bald, aber hier habe ich zwei Flaschen ganz alten Rauenthaler. Zu trinken ist er nicht mehr, weil er viel zu firn ist, aber er ist durch und durch Blume. Der wird diesem Getränk wohl tun.« Es war ein weihevoller Moment, als er den Inhalt dieser Flaschen dazu goß, und der Duft des edlen Weines sich mit dem gewürzigen Hauch des Waldmeisters mischte.
»So«, sagte Bornemann, »Zucker ist schon dran, nun kommt die letzte Weihe.« Er nahm aus einem Briefumschlag mit großer Feierlichkeit ein einziges Blatt der schwarzen Johannisbeere und hielt es am Stiel etwa dreißig Sekunden in die Flüssigkeit. »Es ist vielleicht ein Aberglaube«, sagte er, »aber so habe ich es von meinem Meister gelernt. Er schrieb diesem einen Blatt eine wahre Zauberkraft zu. Zwei würden alles verderben, sagte er. Ich kann diesen Glauben nicht ganz teilen, aber aus Pietät versäume ich es nie, denn ich habe gefunden, daß es nichts schadet.«
Nun war das große Werk beendet, Bornemann füllte ein Glas, hielt es mit nachdenklicher Miene gegen das Licht und probierte dann sorgfältig. Er stand eine Weile mit gerunzelter Stirn und sah, wie in tiefste geistige Arbeit versunken, starr vor sich hin, während er die Lippen langsam kostend bewegte. Sodann nickte er befriedigt und schlurfte langsam den Rest des Getränkes. Seine Züge erhellten sich auf sein glattes rotes Gesicht leuchtete in verklärtem Schimmer. »Es stimmt!« sagte er, indem er Hühnchen das aufs neue gefüllte Glas darreichte. Als dann die beiden jungen Leute unter der Anleitung ihres Chefs das mächtige Gefäß keuchend in den Festsaal schleppten, kehrten wir beiden zu der Gesellschaft zurück. Unterwegs sagte Hühnchen geheimnisvoll zu mir: »Du, ich fürchte, diese Bowle wird ein schauderhaftes Loch in den Gemeindesäckel reißen. Aber es schadet nichts, wir wandeln ja auf Gold.« Und damit machte er wieder ein paar von seinen komisch vorsichtigen Storchschritten und strahlte vor Vergnügen.
Allgemeines Behagen herrschte dann bald an der mit allerlei Salaten und kalten Schüsseln besetzten Tafel und großes Lob ward auch hier Bornemann und seinem mit Blumen bekränzten Werk gespendet. »Ne feine Bool«, sagte Nebendahl, »den Rezept möcht' ich woll haben.« Bornemann verbeugte sich darauf, etwa wie Goethe, wenn man seinen Faust lobte.
Allmählich ward die Stimmung der Gesellschaft lebhafter, die Wogen der verschiedenartigsten durcheinandergehenden Gespräche erzeugten eine Art Brandung, über der wie Schaum das helle Gelächter der jungen Mädchen schwebte. Hans Hühnchen hatte glücklich einen Platz neben dem »Feuer« erwischt und war von einer hinsterbenden Zuvorkommenheit gegen das junge Mädchen. Herr Erwin Klövekorn entäußerte sich seiner jungen Kunstweisheit gegen das »Wasser« mit großer Zungengeläufigkeit. Er hatte das »Cinquecento« vor, war eben bei den »Eklektikern« angelangt und belehrte seine junge Nachbarin über die verschiedenen Carraccis und wodurch sich Lodovico Carracci von Agostino Carracci und dieser wieder von Annibale Carracci unterscheide und daß mit Antonio Marziale Carracci und Francesco Carracci nicht viel los sei, und daß diese Künstlerfamilie in moderner Zeit nur mit den Meyerheims verglichen werden könne, die in ähnlich unheimlicher Weise sich vermehrt hätten und mit demselben Erfolg, ewig miteinander verwechselt zu werden. Der jungen Dame waren die Carraccis zwar so gleichgültig wie die Spektralanalyse oder wie die Philosophie des Unbewußten, allein sie hörte aufmerksam zu, denn nichts geht über die Bildung.
Die Frau Majorin belehrte meine Mutter über Hofgeschichten mit jener innigen Kammerzofenfreude kleinlich angelegter Naturen an den Schwächen hochgestellter Leute, der Major erzählte dem geduldig lächelnden Bornemann endlose Geschichten ohne Pointe, und Hühnchen ward vom Onkel Nebendahl über den großen Nutzen der Stallfütterung und die unglaubliche Wirkung des Guanos unterrichtet, während Doktor Havelmüller Frau Lore etwas vorschwärmte von seinem neuerworbenen Waldgrundstück in Tegel mit den einundvierzig numerierten Bäumen, und andere wieder andere Gespräche führten. Es war sonderbar, wie die Bruchstücke aus allen diesen Unterhaltungen durcheinanderwirbelten:
»O ich kann sehr boshaft sein«, sagte das »Feuer« mit einer übermütigen Miene.
»Unmöglich!« flötete Hans Hühnchen.
»Die Eklektiker«, dozierte Klövekorn, »wollten die Vorzüge der großen Maler, ihrer Vorgänger, miteinander verbinden, es gelang ihnen aber nicht«. – »Aber was das für 'n feinen Dung gibt, Lebrecht«, donnerte Nebendahl, »das glaubst du gar nich, nichts geht verloren.« – »Denken Sie sich«, tönte nun die scharfe Stimme der Majorin, »sie legt Schminke auf – so dick!« – »Guano wirkt aber noch dausendmal besser, Lebrecht.« rief Nebendahl wieder. – »Da sagte der Kerl Puschel zu mir«, krähte der Major, »einfach Puschel und kannte meinen Titel doch ganz gut. Einfach unverschämt! Was?« –
So rauschte die Brandung des Gespräches weiter, bis endlich Bornemann die ewigen pointelosen Geschichten des Majors sattkriegte und verkündete, er wolle nun auch einmal etwas erzählen, und zwar die schöne Geschichte von der Peitsche.
Da zufällig eine Pause in all den vielen Gesprächen eingetreten war, so begann Bornemann unter allgemeiner Aufmerksamkeit: »Der Bauer Stövesand fuhr in die Stadt, um ein paar Säcke Kartoffeln abzuliefern, und führte dabei zum erstenmal seine wunderschöne neue Peitsche. Es war eine herrliche Peitsche, den Stiel hatte er selber aus Knirk geflochten und die beste Schnur dazu gekauft, die zu haben war. Sie lag so schön und leicht in der Hand, und knallen konnte man damit wie mit einer Pistole. Eine bessere Peitsche, meinte der Bauer, könne auch des Großherzogs Kutscher nicht haben. Als er nun in der Stadt seine Kartoffeln abgeliefert hatte, regte sich der Hunger, und er fuhr zum Bäcker und kaufte sich eine schöne große Semmel. Er holte die weiche Krume mit dem Finger hervor und verzehrte sie, und als er dann bei dem Kaufmann angelangt war, wo er gewöhnlich einkehrte, ließ er sich die Semmel mit Sirup füllen, kaufte sich einen gesalzenen Hering dazu und hielt eine leckerhafte Mahlzeit. Dazu trank er ein Gläschen ›Mulderjahn‹, eine Sorte von Malaga, die der Kaufmann selber aus Schnaps, Wasser, Sirup und Rosinenstengeln kunstreich herstellte und für ein Billiges an seine Kunden abließ. Nachdem er sich so köstlich erquickt hatte, begann er an die Besorgung seiner Geschäfte zu denken. Er fuhr zum Posamentier Spieseke und kaufte für seine Frau zwei Dutzend Haken und Ösen und drei Ellen Schnur, dann zum Schnittwarenhändler Abraham, woselbst er fünf Ellen roten Flanell einhandelte, darauf zum Zigarrenfabrikanten Michelsen und erstand sich dort drei Pfund Schiffertabak von dem besten, das Pfund zu dreißig Pfennigen, denn in dieser Hinsicht war er ein Leckermaul. Hierauf hielt sein Gefährt vor dem Hause des Böttchers Maaß, weil ein neuer Milcheimer nötig war, und zuletzt fuhr er zur Apotheke, woselbst er für einen Groschen Mückenfett verlangte, das gut ist gegen das Reißen, und ganz ungemein wenig Schweineschmalz in einem winzigen Döschen erhielt. Da er nun aber nach dem ungewässerten Hering einigen Durst verspürte, so kehrte er noch einmal bei dem Gastwirt Kaping am Ziegenmarkt ein, trank einen Krug ›Lüttjedünn‹ nebst einem Gläschen ›blauen Zwirn‹ dazu und machte sich dann vergnügt auf den Rückweg. Er war schon längst aus dem Tor und bei der nächsten Ortschaft angelangt, als ein infamer Dorfkläffer den Pferden zwischen die Beine fuhr und die Tiere fast scheu machte. Der Bauer Stövesand wollte nach seiner Peitsche greifen, aber siehe da, seine schöne neue Peitsche war fort. Er mußte sie in der Stadt irgendwo haben stehen lassen. Auf der Stelle wendete er um und fuhr zurück, denn seine schöne Peitsche wollte er nicht im Stich lassen. An dem Ort, wo er die Kartoffeln abgeliefert hatte, fand er sie nicht vor, auch der Bäcker wußte nichts von ihr. Beim Kaufmann suchte man sie vergebens und auch bei dem Posamentier war sie nicht zu finden. Der Schnittwarenhändler Abraham bedauerte sehr, und der Zigarrenhändler Michelsen desgleichen. Die Hoffnung des Bauern ward immer geringer, denn auch der Böttcher Maaß wußte nichts von der Peitsche. Endlich kam er zur Apotheke, und kaum war er in den Laden getreten, da – wie merkwürdig – da stand die Peitsche. In der Ecke am Fenster bei dem Rezeptiertisch. Er sah sie gleich auf den ersten Blick. Ja!«
Als nun Bornemann schwieg und sich mit einer Miene, die deutlich sagte, daß seine Geschichte zu Ende sei und er den Tribut des Beifalls erwarte, in den Stuhl zurücklehnte, da erhob sich ein halb unterdrücktes Murmeln und Gekicher, denn alle, die den Major und seine Geschichten ohne Pointe kannten, verstanden die kleine Satire. Dieser aber selbst sah den Erzähler groß an und fragte verwundert: »Aus?«
»Jawohl«, sagte Bornemann, »ganz aus.«
»So, so?« sagte der Major, »aber da muß ich offen gestehen, die Pointe dieser Geschichte ist mir entgangen... Vollständig entgangen. Ja!«
Dem vulkanischen Heiterkeitsausbruch, der nun folgte, saß der Major ratlos gegenüber und ebenso Nebendahl. »Ich weiß gar nich«, sagte dieser, »was die so furchtbar lachen über die alte dumme Geschicht'. Sie hat ja gar kein' Sinn nich. Un wenn man denkt, nu kommt's, denn is sie aus.«
Hühnchen, in der Furcht, es könne hierdurch eine Mißstimmung in die Gesellschaft kommen, legte sich ins Mittel und sagte: »Hör mal, Bornemann, ich habe auch schon bessere Geschichten von dir gehört.« Dieser schien durch solch hartes Urteil gar nicht geknickt, sondern schmunzelte im Gegenteil sehr geschmeichelt. »Aber«, fuhr Hühnchen fort, indem er sich an Doktor Havelmüller wendete, »da wir nun mal beim Erzählen sind, lieber Emil, da mußt du mir heute abend einen großen Gefallen tun. Ich bitte dich um die Geschichte von der Wanze.«
Doktor Havelmüller sträubte sich, es sei eigentlich keine Geschichte für Damen, was diese natürlich erst recht neugierig machte, auch habe er sie lange nicht erzählt und fürchte, die kleine Geschichte, die auf das Wort gestellt sei, zu verderben. Allein alles half ihm nichts und obwohl die Frau Majorin bedenklich ihre lange Nase kräuste und ungemein steif aussah, begann er endlich:
»Am Ende meiner Studienzeit war ich einmal genötigt, mir eine neue Wohnung zu suchen. Ich hatte schon viele Zimmer vergeblich besichtigt, da kam ich endlich zu einer freundlichen sauberen Witwe, wo es mir ausnehmend gefiel. Ich ward bald mit ihr einig und tat zum Schluß eigentlich nur der Form wegen noch die Frage: ›Es sind doch keine Wanzen in der Wohnung?‹ – ›O, wie werden hier Wanzen sein!‹ sagte die alte Dame fast beleidigt. Das hat nun allerdings nicht viel zu sagen, denn wenn eine Wohnung auch so viel Wanzen hätte, als es Chinesen in China gibt, so würde eine Zimmervermieterin dies doch niemals zugeben, selbst wenn man sie auf die Folter spannte. Ich sagte also: ›Nun, das ist gut, denn in dem Augenblick, wo ich diese verhaßten Tiere spüre, ziehe ich sofort aus.‹ Dann gab ich meinen Mietstaler und die Sache war abgemacht.
Am ersten Abend, als ich eingezogen war, konnte ich nicht einschlafen. Ein fieberhafter Zustand überkam mich, und noch andere Symptome, die ich hier nicht näher schildern will, machten einen furchtbaren Verdacht in mir rege. Ich steckte Licht an, konnte aber nichts finden, und nachdem ich einen gewaltigen Schwur getan hatte, am nächsten Tag sofort wieder auszuziehen, schlief ich endlich spät nach Mitternacht ein. Am anderen Morgen, als ich finster brütend auf dem Sofa saß, brachte meine Wirtin den Kaffee und es schien mir, als ob sie mich mit sorgenvollen Blicken betrachte. ›Frau Mohnicke‹, rief ich, ›noch heute zieh' ich aus, hier sind Wanzen‹.
›O du mein Schöpfer‹, sagte die Frau, ›sein Sie doch nur nicht so hitzig, es ist ja nur eine!‹
Ich lachte höhnisch. ›Ja, Sie lachen‹, rief sie, ›aber es ist doch wahr. Lassen Sie sich nur erzählen. Ihr Vorgänger hatte in seiner letzten Wohnung so viel von diesen ekligen Tieren zu leiden, daß er eine kannibalische Wut auf sie kriegte. Er fing, so viel er konnte, lebendig und sperrte sie in eine Schachtel mit Insektenpulver, um sich an ihren Qualen zu weiden, wie er sagte. Aber was hatten diese Tiere zu tun? Sie fühlten sich ganz wohl in dem Insektenpulver und lebten vergnügt weiter. Als nun Ihr Vorgänger dort auszog, setzte er alle Wanzen wieder sauber in das Zimmer zurück, denn er hatte 'n rachsüchtiges Gemüt, und nur eine nahm er mit als Merkwürdigkeit und weil er sehen wollte, wie lange sie es in dem Insektenpulver wohl aushielten. Gleich den zweiten Tag zeigte er sie mir, und da sagte ich: ›Das hat nichts zu sagen‹, sagte er, ›es ist ein Bock‹. Dabei beruhigte ich mich denn, er aber trug seine Schachtel immer bei sich und zeigte das greuliche Tier allen Leuten, er hatte es ordentlich lieb gewonnen. Am letzten Tag, als er ausziehen wollte, war ein Freund bei ihm, der ihm packen half, und dem zeigte er auch gerade seinen Liebling, da zieht plötzlich draußen das zweite Garderegiment mit voller Musik vorbei. Die beiden jungen Leute liefen natürlich sofort ans Fenster, und als sie wieder zurückkamen, war die Wanze aus der offenen Schachtel ausgerutscht. Ich bin nun seitdem hinter ihr her gewesen mit Scheuern und Petroleum alle Tage, aber das muß eine von den ganz Geriebenen sein, denn wie Sie ja bemerkt haben, noch hat es nichts geholfen.‹
Diese verrückte Geschichte erheiterte und beruhigte mich soweit, daß ich beschloß, die Sache noch eine Weile mitanzusehen. Da die Blutgier dieses Geschöpfes nun einstweilen gestillt worden war, so ließ es mich eine Zeitlang in Ruhe, nur nach acht Tagen etwa machte es mir wieder eine böse Nacht, so daß ich am Morgen sehr verdrießlich aufwachte und mich mit finsteren Plänen trug. Da ich aber eine wichtige Arbeit vorhatte, die mich sehr ernstlich beschäftigte, so vergaß ich schnell diese kleine Unannehmlichkeit und stand bald in meine Berechnungen vertieft vor meinem Pult. Als ich dann in tiefes Nachdenken versunken durch das Zimmer schritt, blieb ich zufällig vor meiner großen Wandkarte von Europa stehen, auf der auch ein Stück von Afrika und Asien mit dargestellt war. Während ich nun in grübelndem Brüten auf die Karte hinstarrte, fiel es mir allmählich auf, daß in der Gegend von Palästina was krabbelte. Zuerst beachtete ich es nicht sehr, aber endlich kam doch der Gedanke bei mir zum Durchbruch: ›Was krabbelt denn da in der Gegend von Palästina?‹ Ich trat näher und sah mit Jauchzen, es war die Wanze. Sie saß ganz nahe beim Toten Meer. Ich nahm meine Feder hinter dem Ohr hervor und zielte mit der Spitze sorgfältig auf das stattliche Tier. Da aber erkannte es die Gefahr, stürzte sich eilends in das Jordantal und floh mit großer Geschwindigkeit gen Norden. Ich mit der Feder immer hinterher. Beim See Genezareth schien es, sie wolle auf Damaskus zu und in Syrien und Mesopotamien ihr Heil versuchen, allein sie änderte ihren Plan, rannte um den See herum und zwischen Libanon und Antilibanon hindurch bis zur Küste des Mittelländischen Meeres und an dieser entlang, bis sich ihr das Taurusgebirge in den Weg stellte. Aber das findige Tier nahm den Kurs wieder nach Norden zwischen Taurus und Antitaurus hindurch, gewann dann in westlicher Richtung die große Salzwüste und holte nun so mächtig aus, daß ich ihr mit meiner Feder kaum zu folgen vermochte. So rannte sie in einer Tour immer westwärts, bis sie in der Gegend von Hissalyk wieder die See erreichte. Hier irrte sie verzweiflungsvoll am Rand des Hellespontes hin und her. Allein sie wagte den Sprung über diese Meerenge nicht, wandte sich nun östlich, bürstete mit außerordentlicher Geschwindigkeit um das Marmarameer herum und erreichte auch glücklich etwas nördlich von Skutari den Bosporus. Die Verzweiflung gab ihr Riesenkräfte, sie setzte an und in gewaltigem Sprung erreichte sie glücklich das europäische Ufer. Von diesem Erfolg scheinbar frisch gestärkt, rannte sie in genau westlicher Richtung quer durch ganz Rumelien, und ihre Züge schienen mir von neuer Hoffnung frisch belebt. Doch meine Geduld war nun zu Ende, ich setzte ihr schärfer nach und endlich in Mazedonien, sieben geographische Meilen nördlich von Saloniki, kriegte ich sie gefaßt. Ich sage Ihnen, meine Herrschaften, ihr Blut – es war eigentlich mein Blut – spritzte über den Balkan hinweg bis nach Bukarest!«
Der größere Teil der Gesellschaft saß in einiger Erstarrung da über diese verdrehte Geschichte und wußte nicht, ob er lachen oder »au« sagen sollte, während nur Hühnchen und Bornemann an diesem barocken Humor eine unbändige Freude hatten.
Die Mahlzeit war unterdessen beendet und nun erschienen die vier Elemente wieder, die von Hühnchen mit einer neuen Aufgabe betraut worden waren. Die »Erde« bot die Zigarren herum, während die »Luft« ein Messer zum Abschneiden der Spitzen darreichte. Wenn die Herren sich nun bedient hatten, so ließ sich das »Feuer« zierlich auf ein Knie nieder und bot das auf seinem Kopf neu wieder entzündete Flämmchen zum Gebrauch dar. Da nun für das »Wasser« bei diesem Geschäft kein Posten übrig blieb, so ging es einfach mit und lächelte freundlich zu allem, was geschah. Dies machte Onkel Nebendahl ungeheuren Spaß. »Das is hier ja grad wie bei so 'n türk'schen Pascha!« sagte er. »Du hast auch zu putzige Einfälle, Lebrecht!«
Als nun aber die vier Elemente zu Hans Hühnchen kamen, sah ich, wie er in Verwirrung geriet, und in dem Augenblick, wo das »Feuer« vor ihm niederknien wollte, sprang er schnell empor und rief fast beschämt: »O das kann ich ja gar nicht verlangen!« und zündete sich, sehr rot im Gesicht, unter hastigem Paffen an dem stehenden »Feuer« die Zigarre an, während dieses die braunen Augen niederschlug und auch ein wenig anglomm, indes die übrigen drei Elemente schalkhaft dazu lächelten.
Die ganze Gesellschaft begab sich nun wieder in die anderen Zimmer, da die Tische fortgeräumt werden mußten, weil man im »Saal« tanzen wollte. Doch um mit der Beschreibung dieses lustigen Abends zu Ende zu kommen, will ich nur noch sagen, daß die nun folgende Polonäse alle Räume des Hauses sowie des Gartens ausnutzte, was allerdings nicht viel sagen wollte, daß meine Mutter mit Herrn Nebendahl unter allgemeinem Beifall einen langsamen Walzer prästierte und daß schließlich das Kunststück geübt wurde, in diesem engen Raum zwei Quadrillen auf einmal zur Ausführung zu bringen, die Onkel Nebendahl, der als junger Inspektor ein Hauptvortänzer gewesen war, in einem fabelhaft plattdeutsch angestrichenen Französisch kommandierte mit einer Stimme, daß die Wände zitterten. Diese Quadrillen boten einen Anblick, als hätte man beabsichtigt, die Verwirrung plastisch darzustellen. Ich sehe noch immer Hühnchen, der von der edlen Tanzkunst nur eine sehr geringe Ahnung hatte, wie er strahlend und hüpfend seine Kometenbahnen verfolgte und mit dem freundlichsten Lächeln von der Welt in die Nachbarquadrille geriet und überall zu sehen war, nur nicht dort, wo er sein sollte. Jedoch seine ungemein taktfeste Partnerin, die Frau Majorin, holte ihn mit säuerlichem Lächeln stets an einem Fittich wieder zurück und drehte ihn an seinen Ort, worüber er denn immer sehr dankbar und ungemein vergnügt war.
So ging denn dieser Abend unter allgemeiner Heiterkeit zu Ende.
3. Hochzeit
Die kirchliche Feier war vorüber und wir befanden uns wieder in den festlich geschmückten Räumen der Hühnchenschen Wohnung. Dreimal hatten wir Spießruten laufen müssen auf dem Weg zur Kirche. Einmal vor dem Hause, wo ein Haufen von Kindern, Dienstmädchen, alten Weibern und solchen Müßiggängern sich angesammelt hatte, die überall stehenbleiben, wo es was zu sehen gibt, sei es ein umgefallenes Droschkenpferd, die Durchfahrt eines Kahnes unter einer Brücke oder sonst irgend etwas. Das anderemal blühte uns dieses Glück vor der Kirche und dort schlugen einige Bemerkungen an mein Ohr, die ich nicht unterdrücken will, obwohl manches nicht schmeichelhaft für mich war.
»Ach so eenfach«, sagte ein aufgedonnertes Dienstmädchen. »Bloß Kaschmir!«
Dann wieder eine andere Stimme: »Vor zwee Jahr' is sie erst injesegnet. Mit meine Hulda zusammen.«
»Ach, so jung!« flötete bedauernd eine ältliche Jungfrau.
»Und nimmt so 'n Ollen!« krächzte eine scheußliche Megäre. Als wenn man nicht mit neununddreißig Jahren heutzutage noch geradezu ein Jüngling wäre.
In der Kirche selbst saßen nun außer den wenigen Leuten, die ein Interesse an der Familie Hühnchen nahmen, erst die wahren Kennerinnen, gewisse Stammgäste, die solchen Schauspielen eine nie erlöschende Teilnahme beweisen und keines versäumen. Aber die Heiligkeit des Ortes dämpfte ihre Stimme zu leisem Flüstern, so daß ihre gewiß tief einschneidenden Kritiken uns nicht vernehmlich wurden.
Die Trauung verlief ohne jeden Zwischenfall. An keinem Pfeiler des Hintergrundes stand ein bleicher junger Mann mit der tiefen Falte des Grams zwischen den Augenbrauen, keine verschleierte Dame brach auf dem Chor beim Ringewechsel ohnmächtig zusammen, kein gebräunter junger Mann, soeben aus fernen Weltteilen mit Schätzen reich beladen zurückgekehrt, trat zufällig in die Kirche und sah erbleichend und mit zusammengebissenen Zähnen, wie der Traum seiner Jugend einem anderen die Hand reichte, kein geheimer Kriminalschutzmann legte mir nach vollendeter Trauung die Hand auf die Schulter und sprach: »Mein Herr, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes«, nein, alles ging ungemein wenig romanhaft und so nüchtern zu, wie man es sich nur wünschen kann.
Die Hühnchensche Wohnung war festlich geschmückt mit Blumen, Girlanden und Grün, und Hühnchens größter Stolz war, daß alles aus seinem kleinen Garten stammte. »Zwar«, sagte er, »kann man nicht leugnen, daß dieser Garten zur Zeit ein etwas abgerupftes Aussehen hat, allein die unverwüstliche Schöpferkraft der Natur wird das alles schon wieder ersetzen.«
An der ebenfalls mit Blumen schön ausgezierten Tafel versammelte sich nun die Hochzeitsgesellschaft in ihrem höchsten Staat. Da war mir zur Seite Frieda in schimmerndem Weiß, mit dem langen, wallenden Schleier und dem zarten Myrtenkranz im Haar, demütig und schön, da war meine Mutter in perlgrauer Seide sehr stattlich anzuschauen, da war Herr Nebendahl, dessen weißes Westenvorgebirge heute noch erhabener schimmerte als gestern und dessen Frack von den ungewohnten Strapazen in allen Nähten krachte, da war der Major in äußerstem militärischem Glanze und seine Frau in Purpur und köstlicher Leinwand, wenn man ihr dunkelrotes, mit Spitzen besetztes Kleid also bezeichnen darf, da zeigten sich die Trauführer neben ihren in schimmerndes Weiß gekleideten Damen, Freund Bornemann, heut fast noch mehr Vorhemd als gestern, Herr Erwin Klövekorn, der zur Feier des Tages so blasiert aussah, als hätte er alle Freuden dieser Welt bereits in der Windel ausgekostet, und Hans Hühnchen, der von Liebesgöttern umspielt neben seiner Brautjungfer, dem »Feuer«, sitzend, seinen Platz mit keinem König getauscht hätte. Den Beschluß machten Doktor Havelmüller und Fräulein Dorette Langenberg, die mir einst von Hühnchen zugedachte Zukünftige. Ein Zug weltschmerzlicher Entsagung, der ihr sehr gut stand, hinderte sie nicht, gegen ihren Nachbarn alle Wasser der Unterhaltung spielen zu lassen.
Wir hatten noch nicht lange bei Tisch gesessen, als Hühnchen sich erhob und eine kleine Rede hielt: »Meine lieben Freunde«, sagte er, »man pflegt im Leben von Glückspilzen und Pechvögeln zu reden, das ist mir immer falsch erschienen, ich für meinen Teil bin immer geneigt gewesen: Pechpilz und Glücksvogel zu sagen. Einen solchen Glücksvogel seht ihr in mir. Denn mir ist alles geglückt, was ich mir vorgenommen habe, ja über meine Wünsche hinaus ist mir liebliche Erfüllung zuteil geworden. Meine Eltern waren zwar sehr arm, aber liebevoll und gut gegen mich, kann man wohl in der Kindheit ein besseres Glück finden? Sie ließen mich eine gute Bildung erwerben, ich konnte das Gymnasium besuchen, doch weiter reichten ihre Mittel nicht. Als ich mich später dann dem Maschinenbau zuwendete, da war es mein höchster Wunsch, auf einer technischen Hochschule mich weiter für meinen Beruf auszubilden, und auch dies ward mir nach Jahren fleißiger Arbeit endlich zuteil. Dort auf dem Polytechnikum zu Hannover fand ich einen Schatz, der seltener ist als mancher weiß und denkt. Dort erwarb ich mir einen Freund, einen Freund fürs Leben, einen solchen, bei dem
Verständnis zu Verständnis sich gesellt,
Und was in einem tönt, im andern klingt
Und wiederhallt.
Und was noch mehr ist, nicht lange darauf gewann ich noch einen größeren Schatz, ein liebes, getreues Weib, das ich nicht anstehe, eine Perle ihres Geschlechtes zu nennen.« Frau Lore ward rot wie eine Purpurrose, und Hühnchen fuhr fort: »Diese meine liebe Frau schenkte mir zwei blühende gesunde Kinder, die ich weiter nicht loben will, denn das würde mir als Vater nicht wohl anstehen. Aber ich darf wohl sagen, daß sie mein Glück, mein Stolz und meine Hoffnung sind. Auch in den geringeren Dingen hat mich das Glück begünstigt, meine lieben Freunde. Nur eines will ich anführen. Schon ein Traum meiner Jugend war es, einmal ein eigenes Häuschen zu besitzen und in der eigenen Gartenlaube mein Abendpfeifchen zu rauchen. Ihr Freunde, die ihr versammelt seid in diesen festlich geschmückten Räumen, ihr wißt es, wie bald auch dieser Wunsch meines Herzens in Erfüllung ging und wie lange schon ich mit Dankbarkeit dies kleine Stück unserer großen Mutter Erde mein eigen nenne und mit welcher Freude ich in meinem Gärtchen die Gaben entgegennehme, die mir die Natur aus ihrem unerschöpflichen Schoße Jahr für Jahr aufs neue spendet.
Aber die Ursache, weshalb ihr heute hier versammelt seid, liebe Freunde, stimmt mein Herz zu besonderer Dankbarkeit und gerührter Freude. Denn die Berechtigung, mich einen Glücksvogel zu nennen, darf ich auch wohl daraus ableiten, daß mir ein Glück gegeben ward, das nicht alltäglich ist in diesem Leben. Ich durfte die Hand meiner einzigen geliebten Tochter legen in die Hand jenes vorhin genannten Freundes, den ich kenne seit früher Jugend, den ich liebe, schätze und verehre, ich durfte es tun mit Zuversicht und freudigem Vertrauen. Das ist bis jetzt der Gipfel meines Glückes, und keinen besseren Wunsch glaube ich deshalb heute aussprechen zu können für meine lieben Kinder, als den: ›Seid glücklich, wie wir es bis jetzt gewesen sind. Seid glücklich, glücklich, glücklich!‹« Hühnchen schwieg eine Weile, da ihm die Stimme versagte, dann fügte er rasch und leise hinzu: »Und darauf wollen wir unsere Gläser leeren!«
Es war eine merkwürdige gedämpfte Stimmung, in die hinein nun die Gläser klangen, und in manchen Augen schimmerten Tränen, deren sich diesmal keiner zu schämen schien.
Doch diese Stimmung machte bald wieder allgemeiner Heiterkeit Platz, zumal als nach einiger Zeit der Major an sein Glas schlug und eine Rede begann, die voll von den merkwürdigsten Pointen war. »Meine sehr verehrten Herrschaften«, begann er, »als ich an dem vergangenen Fastnachtsdienstag von meinem Büro nach Hause kam, da fiel mir der Laden des bekannten Bäckermeisters Bredow in die Augen und da ich nicht wußte, ob meine Frau für diesen Abend bereits die obligaten Pfannkuchen besorgt hätte, so trat ich hinein und erstand mir eine Tüte voll von diesem in Berlin so außerordentlich beliebten Gebäck, ohne das man sich einen Silvester- oder Fastnachtsabend nicht wohl vorzustellen vermag. Als ich aber nach Hause kam, da hatte meine Frau bereits von dem berühmten Konditor Westphal ebenfalls eine Anzahl dieser festlichen Backwerke mitgebracht. Da wir nun dadurch in der Lage waren, Vergleiche anzustellen, so mußten wir konstatieren, daß die Pfannkuchen des Bäckermeisters Bredow nicht allein größer, sondern auch bedeutend besser und wohlschmeckender waren als die des berühmten Konditors Westphal. Ja! – Hieran anknüpfend möchte ich mir die Bemerkung erlauben, daß ich vermöge meiner gesellschaftlichen Stellung« – hier richtete sich die Frau Majorin noch gerader empor als sonst und ein Abglanz ihrer ebenfalls vornehmen Vergangenheit verklärte ihr Antlitz, wie der Abendsonnenschein eine Burgruine – »daß ich vermöge meiner gesellschaftlichen Stellung die Gelegenheit hatte, in adligen und hochangesehenen Kreisen zu verkehren. Ja! Aber ich muß konstatieren, daß es mir dort gegangen ist wie mit den Pfannkuchen, daß ich mich in allen diesen Kreisen nicht so wohl gefühlt habe als in dem, den der einfache bürgerliche Ingenieur, Herr Leberecht Hühnchen, um sich versammelt hat. Ja! – Apropos Ingenieur! Nicht von allen Vertretern dieser Berufsklasse kann man sagen, daß sie sich einer gleichen Geistes- und Herzensbildung erfreuen. Ich habe dabei einen jungen Menschen im Auge, der auf dem Büro, wo ich die Plankammer verwalte, wegen Mangel an Platz auf kurze Zeit zu mir hineingesetzt wurde in mein Zimmer, um dort zu arbeiten. Der junge Mensch hatte in Zürich studiert und war voll von umstürzlerischen Ideen, so daß, als wir binnen kurzem in ein politisches Gespräch gerieten, wir natürlich bald konstatierten, daß sich unsere Ansichten diametral gegenüberständen. Ich sage di-a-me-tral! Nun, das hätte nichts zu bedeuten gehabt, denn wenn ich die Meinung eines ehrlichen Gegners auch nicht teile, so kann ich sie doch achten, allein der junge Mensch ließ sich zu einer Bemerkung hinreißen, die mich förmlich in Erstarrung versetzte, so daß ich vorzog zu schweigen, weil die mir zuteil gewordene Erziehung es nicht zuließ, die Antwort zu geben, die allein am Platz war. Dieser ›Ingenieur‹ behauptete nämlich, daß es unter den Offizieren, besonders unter der älteren Generation, doch manche gebe, denen es an allgemeiner Bildung mangele. Ich war, wie gesagt, starr! Aber als ich desselbigen Abends auf dem Sofa lag und las wie gewöhnlich, da fiel mir zufällig ein Roman in die Hände, der mir die richtige Antwort in den Mund legte, und am anderen Tag redete ich den jungen Menschen folgendermaßen an: ›Hören Sie mal, Herr Hannemann‹, sagte ich mit einem gewissen Nachdruck, ›es beliebte Ihnen gestern, einige inkrojable Bemerkungen fallen zu lassen über Offiziere und allgemeine Bildung. Darauf kann ich Ihnen nur erwidern, daß ich gestern abend zufällig einen Roman gelesen habe, in dem ein Ingenieur vorkam, der sich über alle Begriffe ungebildet und roh benahm. Ich sage Ihnen, er benahm sich sozusagen fast gemein. Sie sehen also, daß auch in Ihrem Stand die allgemeine Bildung nicht so durchweg verbreitet ist, wie Sie anzunehmen scheinen. Ja!‹ – Da war der junge Mensch, wie man so zu sagen pflegt, ›baff‹ und erwiderte kein Wort. – Aber meine verehrten Herrschaften, Sie werden fragen, warum ich diese Geschichte erzähle in einer Gesellschaft, in der, wie ich wohl weiß, sich drei Ingenieure befinden und einer, der es werden will. Ich erzähle sie, weil dieser junge, vorhin erwähnte Mensch eine der Ausnahmen bildet, die die Regel bestätigen, denn alle anderen Ingenieure, die ich sonst kennenlernte, erwiesen sich als liebenswürdige und fein gebildete Leute. Insbesondere unser hochverehrter Brautvater und Gastgeber, Herr Leberecht Hühnchen, der in so mancherlei Gebieten des Wissens zu Hause ist, gehört gewiß zu den seltenen Menschen, die keine Feinde haben und von allen geliebt werden, die sie kennen. Und was mich betrifft, so habe ich in den freundlichen Giebelzimmern dieses Hauses fröhliche und friedliche Jahre verlebt und mich am Verkehr mit dieser liebenswürdigen Familie erfreut, denn was Herr Leberecht Hühnchen in seiner vorigen Rede über seine Frau Gemahlin und seine Kinder zu äußern beliebte, das kann ich nur voll und ganz unterschreiben. Und was ferner mich betrifft, so bin ich diesem Hause ganz besonderen Dank schuldig, denn hier lernte ich meine jetzige hochverehrte Gattin kennen« – wieder fiel ein Strahl der Abendsonne auf die Burgruine – »ja, ohne das Haus Hühnchen wären meine sinkenden Tage wohl niemals von der Sonne ehelichen Glückes vergoldet worden.« Hier machte der Major eine Pause der Rührung, weil ihm diese letzte Redewendung wohl ganz besonders gelungen erschien, und fuhr dann fort: »Und so, getrieben von den Gefühlen der Dankbarkeit und der Verehrung, fordere ich Sie auf, hochgeschätzte Anwesende, mit mir auf das Wohl des Hauses Hühnchen ein Glas zu leeren. Es lebe hoch, dreimal hoch! Ja!«
Dieser Aufforderung kamen natürlich alle mit ganz besonderer Freude nach. Sodann nahm in dieser redelustigen Gesellschaft die endlose Reihe der Trinksprüche ihren Lauf, denn an diesem Nachmittag wurde alles leben gelassen, was nur leben zu lassen war, sogar der Rabe Hoppdiquax zu Nebendahls großer Entrüstung. Auch dieser brave Onkel hielt seine Rede und zwar eine solche, daß ihr wegen ihrer merkwürdigen Kürze und Schlagkraft allgemein der Preis zuerkannt wurde. Er klopfte mächtig an sein Glas und erhob sich dann feierlich. Sein weißes Vorgebirge strahlte über den Tisch hin, sein rotes Antlitz glänzte. Er hob langsam sein Glas in Augenhöhe, daß der bejahrte Hochzeitsfrack in allen Fugen krachte, und beschrieb damit unter verbindlichem Lächeln einen Bogen über den ganzen Tisch hin, wobei er mit jeder Dame gleichsam mit den Augen anstieß. Dann, indem er sein Glas schnell senkte und hob, wie man mit einer Flagge salutiert, donnerte er die einzigen zwei Wörter hervor: »Die Damen!!«
Gewaltiger Beifall und endloses Gläserklingen folgten dieser Rede. Hühnchen nannte sie »lapidar« und Bornemann »monumental«. Ja selbst auf Herrn Erwin Klövekorns Antlitz zeigte sich ein schwaches Lächeln, etwa wie wenn der Geist eines Nachtschmetterlings um eine welke Blume schwebt.
Onkel Nebendahl hatte diesen jungen Mann, der ihm gegenüber saß und seine Tischnachbarin mit lauter unverständlichen Dingen unterhielt, schon öfter prüfend ins Auge gefaßt. Nun redete er ihn endlich an: »Sagen Sie mal, Herr Klövekorn, was haben Sie eigentlich für ein Geschäft?«
Der junge Mann sah die Nase entlang und zog die Mundwinkel ein wenig nach unten, denn der Ausdruck »Geschäft« sagte ihm nicht zu. Dann antwortete er: »Ich habe mich dem Studium der Kunstwissenschaft ergeben.«
»Du meine Zeit«, sagte Nebendahl, »was heutzutag' auch alles studiert wird. Früher, da studierten die Leute Pastor oder Advokat, oder Schulmeister, oder Doktor, un damit war's aus. Nu aber wird alles mögliche studiert, schließlich wohl noch gar Nachtwächter. Der eine studiert Maschinenbauer, so als wie Hans Hühnchen zum Beispiel, der andere Zahnbrecher, der dritte sogar Landmann. Na, was bei so 'n ökonomisches Studium 'rauskommt, das seh' ich bei meinem Nachbar Schmeckpeper. Das führt immer erhabene Redensarten in 'n Munde von Agrikulturchemie un Superphosphat un Stickstoff un so was, wenn das aber seine Leute anstellen soll, denn laufen sie ihm durcheinander wie die Ameisen, wenn einer mit 'n Stock in ihren Haufen purrt. Un wenn das nach seinen Weizen einfährt, so is es ein Jammer. Also Kunstwisenschaft studieren Sie, Herr Klövekorn? Da kann ich mir gar nichts bei denken.«
»O Herr Nebendahl«, sagte der junge Mann, »das ist in neuerer Zeit eine Wissenschaft von so großer Ausdehnung geworden, daß einer sie nicht mehr beherrschen kann und eine Menge von Spezialisten entstanden ist. Da gibt es welche, die sich nur mit Raffael abgeben und mit dem, was diesen angeht. Ein anderer ist wieder der große Dürerkenner, ein dritter beschäftigt sich nur mit Rembrandt, ein vierter hat sich wieder auf einen bisher ganz unbeachteten Maler geworfen und macht ihn noch dreihundert Jahre nach seinem Tode berühmt, was er bei Lebzeiten gar nicht einmal gewesen ist. Ja denken Sie sich, vor einigen Jahren ist einer auf die Idee gekommen, hauptsächlich die Ohren und die Hände zu beachten auf den Bildern der alten Meister. Darüber hat er ein dickes Buch geschrieben voll von den wichtigsten Entdeckungen.«
»Also die alten Museumsbilder studieren Sie un was sie für Ohren un Snuten un Poten haben?« sagte Herr Nebendahl unter donnerndem Lachen, »das muß ja hundemäßig langweilig sein. Ich geh' ja ganz gern mal ins Museum, jedesmal, wenn ich nach Berlin komm', aber länger wie 'ne Stund' halt' ich's bei den alten Bildern nich aus. Schon von wegen dem süßlichen Geruch nich. 'n paar Bilder sind da, die mag ich woll leiden. Da is so 'n alter Herr mit 'ner Pelzmütz', der hat 'ne Nelke in der Hand, den seh' ich mir immer so lang an, bis ich graulich vor ihm werd', denn er wird immer lebendiger, je länger man ihn ansieht, un zuletzt denkt man, nu fängt er an zu reden. Dann is da so 'ne alte Hex' mit 'ne Eul' auf der Schulter, über die muß ich jedesmal bannig lachen, un denn sind da auch so 'n paar hübsche Dirns abgemalt, zwarst 'n bißchen kurz im Zeug, aber nüdlich zu sehen. Aber das muß ich sagen, es bleibt doch immer dasselbe, un auf die Dauer muß es doch höllisch langweilig werden. Un da erinner' ich mich besonders an einen nackten Menschen, auf den sie mit Pfeilen schießen, daß er schon ganz gespickt ist – ich weiß nich, wie sie ihn nennen...«
Hier fiel Bornemann plötzlich ein: »Wer stets gespickt und nie gebraten wird, heißt Sebastian, wer dagegen stets gebraten und nie gespickt wird, nennt sich Laurentius.«
»Schön also«, fuhr Nebendahl fort, »dieser Sebastian steht nun Jahr für Jahr in derselbigten Positur, immer wenn ich ihn wiedersah', un tut so, als wenn es ein liebliches Vergnügen wär', mit Pfeilen nach sich schießen zu lassen, un hat immer noch denselbigten Klacks Ölfarbe auf der Nas', über den ich mich schon vor zwanzig Jahren geärgert hab', denn da hat der Maler sich nach meiner Ansicht einfach vermalt. Es bleibt, wie gesagt, immer dasselbe. Da kommen Sie doch mal zu mir 'raus aufs Land. Ich bin nun doch schon Landmann seit fünfunddreißig Jahr', aber das kann ich Ihnen sagen: Ich hab' noch keinen Schlag Weizen gesehen, der ebenso ausgesehen hätt' wie der andere. Un wenn Sie denken, 'n Schaf is 'n Schaf, da sind Sie sehr im Irrtum. Da fragen Sie doch mal meinen Schäfer, der kennt alle seine achthundert Schafe persönlich an ihrer Physiognomie.«
Herr Erwin Klövekorn hatte, während Nebendahl seine schnurrigen Anschauungen über Kunst vorbrachte, nur etwas in seinen zukünftigen Bart gemurmelt, das beinahe klang wie »Idiotischer Banause«, nun aber zog er es vor, sich in erhabenes Schweigen zu hüllen und mit kränklichem Lächeln seinen Kneifer zu putzen. Herr Nebendahl aber war ins Feuer gekommen und fuhr fort: »Na, und überhaupt. Wie man das Leben in solcher großen Stadt wie Berlin auf die Dauer aushalten kann, das begreif' ich nich. Hier draußen geht's ja noch, un Lebrecht hat hier ja sogar seinen sogenannten Garten, worüber ich mich gestern halbtot gelacht hab'. Aber is es nich 'n Jammer, daß solch 'n Finzel Land 'n Garten vorstellen soll. Ich hab' heut schon zu Lebrechten gesagt, an seiner Stell' würd' ich mir nu auch noch 'ne kleine Landwirtschaft anlegen. 'n Stamm Hühner un 'ne Flucht Tauben könnt' er sich ganz gut halten, un an der Stell', wo das alte graugeliche unfruchtbare Rabenvieh in seinem Kasten sitzt, da würd' ich mir 'n kleinen nüdlichen Sweinskoben hinbauen. Da könnt' er sich alle Jahr sein Swein in fett machen und daran sein liebliches un nahrhaftes Vergnügen haben. Aber er will ja nich. Ich glaub', es is ihm nich poesievoll genug. – Na also, wie gesagt, hier draußen geht es ja am Ende noch, aber nu in Berlin selbst. Wenn ich da mitten in der Stadt wohnen sollt' in so 'n großen Häuserkasten, da bleibt mir die Luft weg, wenn ich da bloß an denk'. Un denn, was haben die Menschen auf der Straß' immer zu rennen un zu kribbeln wie die Ameisen. Immer als wenn 'n Theater, oder 'ne Kirch' oder 'ne Volksversammlung aus is, oder als ob's einerwo brennt. Un denn das ewige Gefahr'! Wissen Sie, wie mir das vorkommt, wenn ich da 'ne Zeitlang mitten in bin. Als wenn das all' eigentlich ganz überflüssig wär' un die Leute bloß all 'n Rapps hätten. Na, amüsieren kann man sich ja am End': ins Theater gehn, ins Konzert oder in 'n Tingeltangel oder in 'ne gute Restauratschon. Aber schließlich is es doch auch wieder immer alles dasselbe. Acht oder höchstens vierzehn Tag' halt' ich's woll aus, aber demm krieg' ich ein barbarisches Heimweh. Un denn kommt es mir vor, als wenn mein Konzert bei mir zu Haus dausendmal schöner is als alles, was sie da in Berlin zusammenfiedeln, tuten und streichen. Nämlich wenn ich mit meinem Nachbar Diederichs an so 'n schönen Juniabend vor der Haustür sitz' unter meinem großen alten Lindenbaum bei 'ner Zigarr' un 'ner guten Buddel Rotspon. In meinen Garten singen denn die Nachtigallen un ins Feld schlagen die Wachteln, welche ganz nah un welche ganz weit ab. Un aus der Wies' ruft mannigmal der Snartendart und ganz weit vom Neumühler See her quarren die Frösch'. Sehen Sie, das is mein Konzert.«
Herr Klövekorn hatte unterdes seinen Kneifer fertig geputzt, setzte ihn wieder auf und sagte mit einem Ton nachlässiger Überlegenheit: »Ich denke mir doch die Beschäftigung mit der Landwirtschaft sehr monoton und geistig außerordentlich wenig anregend.«
Herr Nebendahl zog die Stirn kraus und ward noch röter als gewöhnlich: »Was sagen Sie da, junger Mann«, rief er, »na, hören Sie mal, da muß ich Ihnen zuerst eine kleine Geschicht' erzählen. Ich kam mal mit dem Weinhändler Friebe in ein Gespräch über sein Geschäft, und da nahm er sein Glas un witterte so mit der Nas' darüber hin un sagte: ›Wissen Sie‹, sagte er, ›beim Weinhändler ist die Nase die Hauptsache. Mir können Sie die Augen verbinden und halten Sie mir dann eine Rose vor, so sage ich, es ist eine Rose, und halten Sie mir ein Veilchen vor, so sage ich, es ist ein Veilchen, und halten Sie mir eine Nelke vor, so sage ich, es ist eine Nelke, und halten Sie mir alten Käse vor, so sage ich, es ist alter Käse. Glauben Sie ja nicht, daß das jeder kann mit verbundenen Augen. Nun, wenn ich einen neuen Lehrling bekomme, so prüfe ich ihn zuerst. Finde ich dann, daß der junge Mensch keine Nase hat, so schreibe ich an seine Eltern: Lassen Sie den jungen Mann studieren, zum Weinhändler ist er zu dumm!‹ Sehen Sie, ganz so is es mit der Landwirtschaft, nur daß da noch 'n bißchen mehr zugehört. Studieren hilft da nich, un Nase auch nich, aber ein Schenie muß man sein. Un warum es leider Gotts weniger gute Landmänner gibt, als wir brauchen könnten in dieser Welt, das will ich Ihnen sagen. Das kommt davon, weil die Schenies überhaupt selten sind!«
Hühnchen, der fürchtete, diese Unterhaltung möchte in einen unerquicklichen Streit auslaufen, wollte schon wieder vermittelnd eingreifen, allein er wurde dessen enthoben, denn meine kleine Frau, die sich vor kurzem von meiner Seite geschlichen hatte, kehrte nun in einem zarten grauen Reisekleid zurück. Die Abenddämmerung war hereingebrochen, und vor der Haustür knallte der Kutscher des bestellten Wagens mit seiner Peitsche. Über den Abschied will ich schnell hinweggehen. Er war gerührt und feierlich, obwohl das Ziel unserer Reise nicht in der weiten Welt, sondern in der engen Nachbarschaft lag. Als wir dann endlich im Wagen saßen, waren Hühnchens letzte Worte, während er uns beide an den Händen hielt: »Seid glücklich, glücklich, glücklich!« Frau Lore stand daneben, hatte das andere Paar unserer Hände erfaßt und die Tränen liefen ihr unablässig die Wangen herab.
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2012
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