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Ich hatte zufällig erfahren, daß mein guter Freund und Studiengenosse Leberecht Hühnchen schon seit einiger Zeit in Berlin ansässig sei und in einer der großen Maschinenfabriken vor dem Oranienburger Tor eine Stellung einnehme. Wie das wohl zu geschehen pflegt, ein anfangs lebhafter Briefwechsel war allmählich eingeschlafen, und schließlich hatten wir uns ganz aus den Augen verloren; das letzte Lebenszeichen war die Anzeige seiner Verheiratung gewesen, die vor etwa sieben Jahren in einer kleinen westfälischen Stadt erfolgt war. Mit dem Namen dieses Freundes war die Erinnerung an eine heitere Studienzeit auf das engste verknüpft, und ich beschloß sofort, ihn aufzusuchen, um den vortrefflichen Menschen wiederzusehen und die Erinnerung an die gute alte Zeit aufzufrischen.

Leberecht Hühnchen gehörte zu den Bevorzugten, denen eine gütige Fee das beste Geschenk, die Kunst glücklich zu sein, auf die Wiege legte; er besaß die Gabe, aus allen Blumen, selbst aus den giftigen, Honig zu saugen. Ich erinnere mich nicht, daß ich ihn länger als fünf Minuten lang verstimmt gesehen hätte, dann brach der unverwüstliche Sonnenschein seines Innern siegreich wieder hervor, und er wußte auch die schlimmste Sache so zu drehen und zu wenden, daß ein Rosenschimmer von ihr ausging. Er hatte in Hannover, wo wir zusammen das Polytechnikum besuchten, eine ganz geringe Unterstützung von Hause und erwarb sich das Notdürftige durch schlecht bezahlte Privatstunden; dabei schloß er sich aber von keiner studentischen Zusammenkunft aus und, was für mich das Rätselhafteste war, er hatte fast immer Geld, so daß er anderen etwas zu borgen vermochte. Eines Winterabends befand ich mich in der, ich muß es gestehen, nicht allzu seltenen Lage, daß meine sämtlichen Hilfsquellen versiegt waren, während mein Wechsel erst in einigen Tagen eintreffen konnte. Nach sorgfältigem Umdrehen aller Taschen und Aufziehen sämtlicher Schubladen hatte ich noch dreißig Pfennig zusammengebracht und mit diesem Besitztum; das einsam in meiner Tasche klimperte, schlenderte ich durch die Straßen, in eifriges Nachdenken über die vorteilhafteste Anlage dieses Kapitals versunken. In dieser Gedankenarbeit unterbrach mich Hühnchen, der plötzlich mit dem fröhlichsten Gesicht von der Welt vor mir stand und mich fragte, ob ich ihm nicht drei Taler leihen könnte. Da ich mich nun mit der Absicht getragen hatte, ein ähnliches Ansinnen an ihn zu stellen, so konnte ich mich des Lachens nicht enthalten und machte ihm die Sache klar. »Famos«, sagte er, »also dreißig Pfennig hast du noch? Wenn wir beide zusammenlegen, haben wir auch nicht mehr. Ich habe soeben alles fortgegeben an unseren Landsmann Braun, der einen großen Stiftungskommers mitmachen muß und das Geld natürlich notwendig braucht. Also dreißig Pfennig hast du noch? Dafür wollen wir uns einen fidelen Abend machen!«

Ich sah ihn verwundert an.

»Gib mir nur das Geld«, sagte er, »ich will einkaufen – zu Hause habe ich auch noch allerlei – wir wollen lukullisch leben heute abend – lukullisch, sage ich.«

Wir gingen durch einige enge Gassen der Ägidienvorstadt zu seiner Wohnung. Unterwegs verschwand er in einem kleinen, kümmerlichen Laden, der sich durch ein paar gekreuzte Kalkpfeifen, einige verstaubte Zichorien- und Tabakspakete, Wichskruken und Senftöpfe kennzeichnete, und kam nach kurzer Zeit mit zwei Tüten wieder zum Vorschein.

Leberecht Hühnchen wohnte in dem Giebel eines lächerlich kleinen und niedrigen Häuschens, das in einem ebenso winzigen Garten gelegen war. In seinem Wohnzimmer war eben so viel Platz, daß zwei anspruchslose Menschen die Beine darin ausstrecken konnten, und nebenan befand sich eine Dachkammer, die fast vollständig von seinem Bette ausgefüllt wurde, so daß Hühnchen, wenn er auf dem Bette sitzend die Stiefel anziehen wollte, zuvor die Tür öffnen mußte. Dieser kleine Vogelkäfig hatte aber etwas eigentümlich Behagliches; etwas von dem sonnigen Wesen seines Bewohners war auf ihn übergegangen.

»Nun vor allen Dingen einheizen«, sagte Hühnchen, »setze dich nur auf das Sofa, aber suche dir ein Tal aus. Das Sofa ist etwas gebirgig; man muß sehen, daß man in ein Tal zu sitzen kommt.«

Das Feuer in dem kleinen eisernen Kanonenofen, der sich der Größe nach zu anderen gewöhnlichen Öfen etwa verhielt wie der Teckel zum Neufundländer, geriet bei dem angestrengten Blasen meines Freundes bald in Brand, und er betrachtete wohlgefällig die züngelnde Flamme. Dieser Ofen war für ihn ein steter Gegenstand des Entzückens.

»Ich begreife nicht«, sagte er, »was die Menschen gegen eiserne Öfen haben. In einer Viertelstunde haben wir es nun warm. Und daß man nach dem Feuer sehen und es schüren muß, das ist die angenehmste Unterhaltung, die ich kenne. Und wenn es so recht Stein und Bein friert, da ist er herrlich, wenn er so rot und trotzig in seiner Ecke steht und gegen die Kälte anglüht.«

Hiernach holte er einen kleinen rostigen Blechtopf, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf den Ofen. Dann bereitete er den Tisch für das Abendessen vor. In einem kleinen Holzschränkchen befanden sich seine Wirtschaftsgegenstände. Da waren zwei Tassen, eine schmale hohe, mit blauen Vergißmeinnicht und einem Untersatz, der nicht zu ihr paßte, und eine ganz breite flache, die den Henkel verloren hatte. Dann kam eine kleine schiefe Butterdose zum Vorschein, eine Blechbüchse mit Tee und eine runde Pappschachtel, die ehemals Hemdenkragen beherbergt hatte und jetzt zu dem Rang einer Zuckerdose aufgestiegen war. Das köstlichste Stück war aber eine kleine runde Teekanne von braunem Ton, die er stets mit besonderer Vorsicht und Schonung behandelte, denn sie war ein Familienerbstück und ein besonderes Heiligtum. Drei Teller und zwei Messer, die sich so unähnlich waren, wie das für zwei Tischmesser nur irgend erreichbar ist, eine Gabel mit nur noch zwei Zinken und einer fatalen Neigung, ihren Stiel zu verlassen, sowie zwei verbogene Neusilberteelöffel vollendeten den Vorrat.

Als er alle diese Dinge mit einem gewissen Geschick aufgebaut hatte, ließ er einen zärtlichen Blick der Befriedigung über das Ganze schweifen und sagte: »Alles mein Eigentum. Es ist doch schon ein kleiner Anfang zu einer Häuslichkeit.«

Unterdes war das Wasser ins Sieden geraten, und Hühnchen brachte aus der größeren Tüte fünf Eier zum Vorschein, die zu kochen er nun mit großem Geschick unter Beihilfe seiner Taschenuhr unternahm. Nachdem er sodann frisches Wasser für den Tee aufgesetzt und ein mächtiges Brot herbeigeholt hatte, setzte er sich mit dem Ausdruck der höchsten Befriedigung zu mir in ein benachbartes Tal des Sofas und die Abendmahlzeit begann.

Als mein Freund das erste Ei verzehrt hatte, nahm er ein zweites und betrachtete es nachdenklich. »Sieh mal, so ein Ei«, sagte er, »es enthält ein ganzes Huhn, es braucht nur ausgebrütet zu werden. Und wenn dies groß ist, da legt es wieder Eier, aus denen nochmals Hühner werden und so fort, Generationen über Generationen. Ich sehe sie vor mir, zahllose Scharen, die den Erdball bevölkern. Nun nehme ich dies Ei und mit einem Schluck sind sie vernichtet! Sieh mal, das nenne ich schlampampen!«

Und so schlampampten wir und tranken Tee dazu. Ein kleines, sonderbares, gelbes Ei blieb übrig, denn zwei in fünf geht nicht auf, und wir beschlossen, es zu teilen. »Es kommt vor«, sagte mein Freund, indem er das Ei geschickt mit der Messerschneide ringsum anklopfte, um es durchzuschneiden, »es kommt vor, daß zuweilen ganz seltene Exemplare unter die gewöhnlichen Eier geraten. Die Fasanen legen so kleine gelbe; ich glaube wahrhaftig, dies ist ein Fasanenei, ich hatte früher eins in meiner Sammlung, das sah gerade so aus.«

Er löste seine Hälfte sorgfältig aus der Schale und schlurfte sie bedächtig hinunter. Dann lehnte er sich zurück und mit halb geschlossenen Augen flüsterte er unter gastronomischem Schmunzeln: »Fasan! Lukullisch!«

Nach dem Essen stellte sich eine Fatalität heraus. Es war zwar Tabak vorhanden, denn die spitze blaue Tüte, die Hühnchen vorhin eingekauft hatte, enthielt für zehn Pfennig dieses köstlichen Krautes, aber mein guter Freund besaß nur eine einzige invalide Pfeife, deren Mundstück bereits bis auf den letzten Knopf weggebraucht war, und deren Kopf, weil er sich viel zu klein für die Schwammdose erwies, die unverbesserliche Unart besaß, plötzlich herumzuschießen und die Beinkleider mit einem Funkenregen zu bestreuen.

»Diese Schwierigkeit ist leicht zu lösen«, sagte Hühnchen, »hier habe ich den Don Quijote«, der, nebenbei gesagt, außer einer Bibel und einigen fachwissenschaftlichen Werken, seine ganze Bibliothek ausmachte und den er unermüdlich immer wieder las, »der eine raucht, der andere liest vor, ein Kapitel ums andere. Du als Gast bekommst die Pfeife zuerst, so ist alles in Ordnung.«

Dann, während ich die Pfeife stopfte und er nachdenklich den Rest seines Tees schlürfte, kam ihm ein neuer Gedanke.

»Es ist etwas Großes«, sagte er, »wenn man bedenkt, daß, damit ich hier in aller Ruhe meinen Tee schlürfen und du deine Pfeife rauchen kannst, der fleißige Chinese in jenem fernen Lande für uns pflanzt und der Neger für uns unter der Tropensonne arbeitet. Ja, das nicht allein, die großen Dampfer durchbrausen für uns in Sturm und Wogenschwall den mächtigen Ozean und die Karawanen ziehen durch die brennende Wüste. Der stolze millionenreiche Handelskönig, der in Hamburg in einem Palast wohnt und am Ufer der Elbe einen fürstlichen Landsitz sein nennt, muß uns einen Teil seiner Sorge zuwenden, und wenn ihm Handelskonjunkturen schlaflose Nächte machen, so liegen wir behaglich hingestreckt und träumen von schönen Dingen, und lassen ihn sich quälen, damit wir zu unserem Tee und unserem Tabak gelangen. Es schmeckt mir noch einmal so gut, wenn ich daran denke.«

Ach, er bedachte nicht, daß wohl der größere Teil dieses Tees an dem Ufer eines träge dahinfließenden Baches auf einem heimatlichen Weidenbaum gewachsen war, und daß dieser Tabak im besten Falle die Uckermark sein Vaterland nannte, wenn er nicht gar in Magdeburgs fruchtbaren Gefilden von derselben Rübe seinen Ursprung nahm, die die Mutter des Zuckers war, mit dem wir uns den Tee versüßt hatten.

Danach vertieften wir uns in den alten, ewigen Don Quijote und so ging dieser Abend heiter und friedlich zu Ende.


Auf dem Heimweg zu der jetzigen Wohnung meines Freundes hatte ich mir diese und ähnliche harmlose Erlebnisse aus jener fröhlichen Zeit wieder ins Gedächtnis gerufen, und eine Sehnsucht hatte mich befallen nach jenen Tagen, die nicht wiederkehren. Wohin war er entschwunden, der goldene Schimmer, der damals die Welt verklärte? Und wie würde ich meinen Freund wiederfinden? Vielleicht hatte die rauhe Welt auch von seinem Gemüt den sonnigen Duft abgestreift, und es war nichts übriggeblieben als eine spekulierende, rechnende Maschine, wie ich das schon an so manchen erlebt hatte.

Er sollte in der Gartenstraße wohnen, allein über die Hausnummer war ich nicht im klaren. Schon wollte ich in ein Haus gehen, das ich für das richtige hielt, und mich erkundigen, als ich auf zwei nette, reinliche Kinder von etwa fünf und sechs Jahren aufmerksam wurde, die sich vor der benachbarten Haustür auf eine für sie scheinbar köstliche Art vergnügten. Es war ein trüber Sommertag gewesen und nun gegen Abend fing es ganz sanft an zu regnen. Da hatte der Knabe als der ältere den herrlichen Spaß entdeckt, das Gesicht gegen den Himmel zu richten und es sich in den offenen Mund regnen zu lassen. Mit jener Begeisterung, die Kinder solchen neuen Erfindungen entgegenbringen, hatte das Mädchen dies sofort nachgeahmt, und nun standen sie beide dort, von Zeit zu Zeit mit ihren fröhlichen Kinderstimmen in hellen Jubel ausbrechend über dieses unbekannte und kostenlose Vergnügen. Mich durchzuckte es wie ein Blitz: »Das sind Hühnchens Kinder!« Dies war ganz in seinem Geiste gehandelt.

Ich fragte den Jungen: »Wie heißt dein Vater?«

»Unser Vater heißt Hühnchen«, war die Antwort.

»Wo wohnt er?«

»Er wohnt in diesem Haus drei Treppen hoch.« –

»Ich möchte ihn besuchen«, sagte ich, indem ich dem Knaben den reinlichen Blondkopf streichelte.

»Ja, er ist zu Hause«, war die Antwort, und nun liefen beide Kinder eilfertig mir voran und klasperten mit ihren kleinen Beinchen hastig die Treppen hinauf, um meine Ankunft zu vermelden. Ich folgte langsam, und als ich oben ankam, fand ich die Tür bereits geöffnet und Hühnchen meiner wartend. Es war dunkel auf dem Flur und er erkannte mich nicht. »Bitte, treten Sie ein«, sagte er, indem er eine zweite Tür aufstieß, »mit wem habe ich die Ehre?«

Ich antwortete nicht, sondern trat in das Zimmer und sah ihn an. Er war noch ganz derselbe, nur der Bart war größer geworden und die Haare etwas von der Stirn zurückgewichen. In den Augen lag noch der alte unverwüstliche Sonnenschein. Im helleren Licht erkannte er mich sofort. Seine Freude war unbeschreiblich. Wir umarmten uns und dann schob er mich zurück und betrachtete mich.

»Weißt du, was ich tun möchte?« sagte er dann, »was wir früher taten, wenn unsere Freude anderweitig nicht zu bändigen war; einen Indianertanz möchte ich tanzen, weißt du wohl noch wie damals, als deine Schwester sich mit deinem Lieblingslehrer verlobt hatte, und du vor lauter Wonne diesen Tanz erfandest und ich immer mithopste, aus Mitgefühl.« Und er schwenkte seine Beine und machte einige Sprünge, deren er sich in seinen jüngsten Jahren nicht hätte zu schämen brauchen. Dann umarmte er mich noch einmal und wurde plötzlich ernsthaft.

»Meine Frau wird sich freuen«, sagte er, »sie kennt dich und liebt dich durch meine Erzählungen, aber eins muß ich dir sagen; ich glaube, du weißt es nicht: Meine Frau ist nämlich« – hierbei klopfte er sich mit der rechten Hand auf die linke Schulter – »sie ist nämlich nicht ganz gerade. Ich sehe das nicht mehr und habe es eigentlich nie gesehen, denn ich habe mich in ihre Augen verliebt – und in ihr Herz – und in ihre Güte – und in ihre Sanftmut – kurz, ich liebe sie, weil sie ein Engel ist. Und warum ich dir das jetzt sage? Sieh mal, wenn du es nicht weißt, so möchtest du befremdet sein, wenn du meine Frau siehst, und sie möchte das in deinen Augen lesen. Nicht wahr, du wirst nichts sehen?«

Ich drückte ihm gerührt die Hand und er lief an eine andere Tür, öffnete sie und rief: »Lore, hier ist ein lieber Besuch, mein alter Freund aus Hannover, du kennst ihn schon!«

Sie trat ein und hinter ihr wieder die beiden freundlichen Kinder mit den rosigen Apfelgesichtern. Meines Freundes Warnung war nicht umsonst gewesen, und ich weiß nicht, ob ich in der Überraschung des ersten Augenblicks mein Befremden hätte verbergen können. Allein in den dunklen Augen dieser Frau schimmerte es wie ein unversieglicher Born von Liebe und Sanftmut, und schweres gewelltes Haar von seltener Fülle umgab das blasse Antlitz, das nicht schön, aber von dem Widerschein innerer Güte anmutig durchleuchtet war.

Nach der ersten Begrüßung meinte Hühnchen: »Heute abend bleibst du hier, das ist selbstverständlich. Lore, du wirst für eine fürstliche Bewirtung sorgen müssen. Tische auf, was das Haus vermag. Das Haus vermag freilich gar nichts!« sagte er dann zu mir gewendet, »Berliner Wirtschaft kennt keine Vorräte. Aber es ist doch eine wunderbare Einrichtung. Die Frau nimmt sich ein Tuch um und ein Körbchen in die Hand und läuft quer über die Straße. Dort wohnt ein Mann hinter Spiegelscheiben, ein rosiger, behäbiger Mann, der in einer weißen Schürze hinter einem Marmortisch steht. Und neben ihm befindet sich eine rosige, behäbige Frau und ein rosiges, behäbiges Ladenmädchen, ebenfalls mit weißen Schürzen angetan. Meine kleine Frau tritt nun in den Laden und in der Hand trägt sie ein Zaubertäschchen – gewöhnliche Menschen nennen es Portemonnaie. Auf den Zauber dieses Täschchens setzen sich nun die fleißigen Messer in Bewegung und säbeln von den köstlichen Vorräten, die der Marmortisch beherbergt, herab, was das Herz begehrt und der Säckel bezahlen kann. Meine kleine Frau läuft wieder über die Straße, und nach zehn Minuten ist der Tisch fertig und bedeckt mit allem, was man nur verlangen kann – wie durch Zauber.«

Seine Frau war unterdes mit den Kindern lächelnd hinausgegangen, und da Hühnchen bemerkte, daß ich die ärmliche, aber freundliche Einrichtung des Zimmers gemustert hatte, so fuhr er fort: »Purpur und köstliche Leinwand findest du nicht bei mir, und die Schätze Indiens sind mir noch immer fern geblieben, aber das sage ich dir, wer gesund ist« – hierbei reckte er seine Arme in der Manier eines Zirkusathleten, »wer gesund ist und eine so herrliche Frau hat, wie ich, und zwei so prächtige Kinder – ich bin stolz darauf, dies sagen zu dürfen, obgleich ich der Vater bin – wer alles dieses besitzt und doch nicht glücklich ist, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er versenkt würde in das Meer, da es am tiefsten ist!« Er schwieg eine Weile, schaute mich mit glücklichen Augen an und fuhr dann fort: »In der Zeit, da der Knabe erwartet wurde, ward meine Frau oft von bösen Gedanken gequält, denn die Furcht verließ sie nicht, ihr – nun daß sie nicht ganz gerade ist – möchte sich auf das Kind vererben und des Nachts, wenn sie dachte, ich schliefe, hörte ich sie manchmal leise weinen. Als dann aber der große Augenblick gekommen war und die weise Frau ihr das Kind zum erstenmal in die Arme geben wollte, da glitten ihre Augen mit einer ängstlichen Hast darüber hin und ein plötzlicher Freudenblitz zuckte über ihr Gesicht und sie rief: ›Er ist gerade! Nicht wahr, er ist gerade! O Gott, ich danke dir – ich bin so glücklich!‹ Damit sank sie zurück in die Kissen und schloß die Augen, aber auf ihren Zügen lag es wie stiller Sonnenschein. Ja, und was habe ich gemacht? Ich bin leise hinausgegangen in das andere Zimmer und habe die Tür abgeriegelt und habe mir die Stiefel ausgezogen, daß es keinen Lärm machen sollte und habe einen Indianertanz losgelassen, wie noch nie. Ein besonderes Glück ist, daß es niemand gesehen hat, man hätte mich ohne Zweifel direkt ins Irrenhaus gesperrt.«

Frau Lore war unterdes von ihrem Ausgang zurückgekehrt und bereitete nun in hausmütterlicher Geschäftigkeit den Tisch, während die beiden Kinder mit großer Wichtigkeit ihr dabei zur Hand gingen. Plötzlich sah Hühnchen seine Frau leuchtend an, hob den Finger empor und sagte: »Lore, ich glaube, heute abend ist es Zeit!« Die kleine Frau lächelte veständnisinnig und brachte dann eine Weinflasche herein und Gläser, die sie auf dem Tische ordnete. Hühnchen nickte mir zu: »Es ist Tokaier«, sagte er, »kürzlich, als ich das Geld für eine Privatarbeit erhalten hatte und es so wohlhabend in meiner Tasche klimperte, da bekam ich opulente Gelüste und ging hin und kaufte mir eine Flasche Tokaier, aber vom besten. Abends jedoch, als ich sie öffnen wollte, da tat es mir leid und ich sagte: ›Lore, stelle sie weg, vielleicht kommt bald eine bessere Gelegenheit.‹ Ich glaube, es gibt Ahnungen, denn eine plötzliche Erinnerung an dich ging mir dabei durch den Sinn.«

Wie heiter und fröhlich verlief dies kleine Abendessen. Es war, als sei der Sonnenschein, der einst in Ungarns Bergen diesen feurigen Wein gereift hatte, wieder lebendig geworden und fülle das ganze Zimmer mit seinem heiteren Schimmer. Die beiden Kinder bekamen von dem ungewohnten Getränk einen kleinen Spitz und konnten, als sie zu Bett gebracht waren, vor Lachen nicht einschlafen, bis sie plötzlich mit einem Ruck weg waren. Auf die blassen Wangen der kleinen Frau zauberte der ungarische Sonnenschein einen sanften Rosenschimmer. Sie setzte sich nachher an ein kleines dünnstimmiges, heiseres Klavier und sang mit anmutigem Ausdruck Volkslieder, wie zum Beispiel: »Verstohlen geht der Mond auf...« oder »Wär' ich ein wilder Falke...« Nachher saßen wir behaglich um den Tisch und plauderten bei einer Zigarre. Ich fragte Hühnchen nach seinen geschäftlichen Verhältnissen. Ich erfuhr, daß sein Gehalt bewunderungswürdig klein war, und daß er dafür ebenso bewunderungswürdig viel zu tun hatte. »Ja, früher, in der sogenannten Gründerzeit«, sagte er, »da war's besser, da gab's auch mancherlei Nebenverdienst. Wir gehen alle Jahre zweimal ins Opernhaus in eine recht schöne Oper, und damals haben wir uns gar bis in den zweiten Rang verstiegen, wo wir ganz stolz und preislich saßen und vornehme Gesichter machten und dachten, es käme wohl noch mal eine Zeit, da wir noch tiefer sinken würden, bis unten ins Parkett, von wo die glänzenden Vollmonde wohlsituierter, behäbiger Rentiers zu uns emporleuchteten. Es kamen aber die sogenannten schlechten Zeiten und endlich ereignete es sich, daß unser Chef einen Teil seiner Beamten entlassen und das Gehalt der anderen sehr bedeutend reduzieren mußte. Ja, da sind wir wieder ins Amphitheater emporgestiegen. Im Grunde ist es ja auch ganz gleich, ich finde sogar, die Illusion wird gefördert durch die weitere Entfernung von der Bühne. Und glaube nur nicht, daß dort oben keine gute Gesellschaft vorhanden ist. Dort habe ich schon Professoren und tüchtige Künstler gesehen. Dort sitzen oft Leute, die mehr von Musik verstehen, als die ganze übrige Zuhörerschaft zusammengenommen, dort sitzen Leute mit Partituren in der Hand, die dem Kapellmeister Note für Note auf die Finger gucken und ihm nichts schenken.«

Es war elf Uhr, als ich mich verabschiedete. Zuvor wurde ich in die Schlafkammer geführt, um die Kinder zu sehen, die in einem Bettchen lagen in gesundem, rosigem Kinderschlaf. Hühnchen strich leise mit der Hand über den Rand der Bettstelle: »Dies ist meine Schatzkiste«, sagte er mit leuchtenden Augen, »hier bewahre ich meine Kostbarkeiten – alle Reichtümer Indiens können das nicht erkaufen!«

Als ich einsam durch die warme Sommernacht nach Hause zurückkehrte, war mein Herz gerührt, und in meinem Gemüt bewegte ich mancherlei herzliche Wünsche für die Zukunft dieser guten und glücklichen Menschen. Aber was sollte ich ihnen wünschen? Würde Reichtum ihr Glück befördern? Würde Ruhm und Ehre ihnen gedeihlich sein, wonach sie gar nicht trachteten? »Gütige Vorsehung«, dachte ich zuletzt, »gib ihnen Brot und gib ihnen Gesundheit bis ans Ende – für das übrige werden sie schon selber sorgen. Denn wer das Glück in sich trägt in still zufriedener Brust, der wandelt sonnigen Herzens dahin durch die Welt, und der goldige Schimmer verlockt ihn nicht, dem die anderen gierig nachjagen, denn das Köstlichste nennt er bereits sein eigen.«


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Tag der Veröffentlichung: 26.06.2012

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