Es war in der Zeit, als der große Revolutionskrieg in den Niederlanden eine für die deutschen Waffen günstigere Wendung zu nehmen schien, als eines Abends der würdige alte Rochus, ein Priester aus Aquiscinet, nach einem kleinen Walde ging, in welchem an diesem Tage die zu weit vorausgeschickte Vorwacht der Franzosen von einem Hinterhalte französischer Emigranten überfallen und nach starkem Widerstande teils getötet, teils gefangen worden war. Der Pater Rochus tat diesen Gang nach Anweisung eines Zettels, der ihm von einem französischen Offizier der siegenden Partei durch einen Bauern gebracht worden war und dessen Inhalt in folgenden Worten bestand:
»Euer Hochwürden werden von einem Soldaten, der Ihnen vor einigen Tagen unter vielen andern beichtete und mit Gottes Gnade Ihre Ermahnungen zur Menschlichkeit in seinem ernsten Beruf nie wieder vergessen wird, dringend aufgefordert, heute abend noch in dem Wäldchen, wo wir heute das Gefecht bestanden, einen jungen feindlichen Soldaten aufsuchen zu lassen. Ich habe ihn verwundet in dem Gehölz links der Heerstraße einige hundert Schritte von der überschwemmten Torfgrube sinken sehen. Seine Gegenwehr war so verzweifelt, daß er mir die höchste Achtung einflößte, ich bot ihm vergebens die ehrenvollste Gefangenschaft an, endlich streckte ihn ein Schuß aus meinem Haufen nieder, welcher schon im Abzug begriffen war. Ich konnte nichts für ihn tun als ihn bei den Meinigen für tot angeben und ihn jetzt Euer Hochwürden empfehlen, dessen Gebet sich ebenso empfiehlt ein armer französischer Offizier, welchen der Segen des Allmächtigen finden wird, so Ihr ihm denselben herabflehet.«
Der Pater Rochus befahl sogleich, ein reinliches Bett in seiner Kammer aufzuschlagen und etwas warmen Wein und eine Hühnersuppe auf seine Zurückkunft bereitzuhalten, und begab sich mit einem Bader und einigen Kirchendienern, die eine Tragbahre mit einer Matratze und Decke trugen, nach dem Wäldchen. Sie hatten Leuchten und einige Kirchenfackeln bei sich, um im Walde gehörig nachsuchen zu können. Aber sie hätten derselben gar nicht bedurft; denn sie fanden auf dem Tummelplatz schon mancherlei Leute, welche bei Fackelschein die Toten ausplünderten, eine Verrichtung, die nicht ohne empörende Greul verrichtet zu werden pflegt. Als Pater Rochus mit seinen Begleitern unter diesen Leuten einige arme Bürger von Aquiscinet erkannte, ermahnte er sie zur Ordnung und Menschlichkeit. »Liebe Nachbarn«, sagte er, »die Toten zu begraben ist ein Werk der Barmherzigkeit; ich hoffe, daß ihr die unglücklichen Opfer des Kriegs nicht berauben und sie dann hier als eine Beute der Vögel unter dem Himmel verwesen lassen wollet. Folget mir, meine Freunde, gebet den armen Erschlagenen ein ehrliches Grab, und alles, was ihr bei ihnen findet, das noch zum menschlichen Gebrauche dienlich ist, lasset uns der Obrigkeit einhändigen!« Die guten Leute von Aquiscinet nahmen die Ermahnung ihres verehrten Priesters gerne an, und da einige fremde Bauern nicht einstimmen und davongehen wollten, drohten ihnen die Aquiscineter, so sie nicht ehrlich hülfen, sie nie mehr weder an den Markt- noch Wallfahrtstagen in Aquiscinet zu dulden. Worauf sie alle Hand anlegten, die Leichname zusammentrugen, entkleideten und der Erde in den Schoß legten. Die Drohung der Aquiscineter wirkte besonders stark auf die Bauern, weil Aquiscinet ein sehr besuchten Wallfahrtsort ist, indem das dortige Jungfrauenkloster ein Gnadenbild der Muttergottes besitzt, das sich durch eine besonders verehrte Reliquie, durch den Vermählungsring der Jungfrau Maria, auszeichnet.
Während die Leute ihr mit wilder Habsucht begonnenes Werk nun christlich mit frommem Gesang vollendeten, suchte Pater Rochus nach dem ihm angezeigten Verwundeten. Er und seine Begleiter hatten sich nach verschiedenen Seiten getrennt, und er war bald so glücklich, den verwundeten Jüngling zu finden. Er war noch am Leben, wenn ihm gleich die Verblutung eine tiefe Ohnmacht zugezogen hatte. Ein Schuß durch die Lende war seine Wunde. Der Bader hielt es nicht für gefährlich, ihn erst in der Wohnung des Geistlichen zu verbinden, weil er dort mehrere Bequemlichkeit dazu habe, und schon hatten sie den Jüngling auf die Tragbahre gebettet, als die beiden Kirchendiener, welche nach der andern Seite gesucht hatten, ihnen zuriefen, daß sie so glücklich gewesen wären, den Verwundeten zu finden, und bald heranliefen, um die Trage nach dem Orte seines Lagers abzuholen. »Gott sei Dank«, sagte Pater Rochus, »daß wir uns trennten; so können wir vielleicht auch noch an einem zweiten Barmherzigkeit üben, der ohne dieses vielleicht elend verschmachtet wäre.« Sie trugen nun die Tragbahre mit dem einen Verwundeten zu dem anderen hin, in welchem sie einen blühend schönen französischen Offizier von der zartesten Jugend fanden. Sie betteten ihn neben seinen verwundeten Kameraden, und sie ruhten so still und selig nebeneinander, als lägen sie unter einem Herzen. Sie schienen einander sehr wohl zu kennen in ihren Blicken, aber sie sprachen doch nicht zueinander, wie es den Leuten schien, aus Schwäche wegen des starken Blutverlustes.
Die beiden Kirchendiener nahmen nun die Riemen der Bahre über ihre Schultern, ergriffen die Arme derselben und gingen langsam mit ihrer schweren Last nach Aquiscinet, das nicht eine Viertelstunde von dem Wäldchen entfernt war. Der Priester und Bader gingen zur Seite und leuchteten mit Fackeln, und Pater Rochus sah oft mit frommer Sorgfalt nach den beiden Verwundeten. Als sie schon die Lichter in dem Städtchen sahen, läutete eine Sterbeglocke in Aquiscinet. Da setzten die Träger die Bahre nieder und zogen ihre Hüte ab, und Pater Rochus betete drei Vaterunser und Avemaria mit seiner Begleitung, wie dieses mit Unterbrechung jeglicher andern Verrichtung bei solchen Glockenzeichen in diesem streng katholischen Lande üblich ist. Pater Rochus bemerkte, daß der französische Jüngling während dem Gebete die Hand winkend gegen ihn bewegte, und er näherte sein Ohr dem Munde des Verwundeten, der einige leise Worte zu ihm sagte, worauf der Pater zu den Trägern sagte, er wolle schneller vorausgehen, um auch für den zweiten Kranken eine Pflegestatt zu bereiten, sie möchten ihm nur nach seiner Wohnung folgen. Pater Rochus war der Seelsorger der Klosterjungfrauen von St. Clara zu Aquiscinet, und seine Wohnung war dicht an der Kirche angebaut. Als die Träger mit den Verwundeten an seiner Türe ankamen, ließ er sie vorerst in die Kirche eintreten, und der kranke Franzose ward daselbst in eine durch Gitter und Vorhang von dem Mittelraum der Kirche abgesonderte Kapelle gebracht, wo die Klosterfrauen zu seiner Pflege bereits ein Bett auf geschlagen hatten, neben welchem ein Tisch und ein Stuhl stand. In dieser Kapelle befand sich außerdem ein Grabmal und ein kleiner Altar, der Muttergottes geweiht, und die Klosterfrauen hatten, dem armen Verwundeten seinen Aufenthalt angenehmer zu machen, die Blumenkrüglein auf dem Altar nicht nur mit frischen Blumen versehen, sondern auch auf das Tischchen neben seinem Lager ein Kreuz zwischen zwei Blumenkrüglein aufgestellt. Als der Verwundete behutsam auf sein Lager gebettet worden war, sagte Pater Rochus zu dem Bader: »Lieber Gevatter, lasset uns nun den andern nach meiner Kammer bringen, diesen hier will die Frau Äbtissin von dem Klosterarzte heilen lassen.« »Das ist wohl getan«, erwiderte der Bader, »denn ich würde hier keine Binde mit sicherer Hand fest um die Wunde legen können.« Nach diesen Worten sahen sich die beiden Ehrenmänner in die Augen, und da sie beide Tränen drinnen sahen, umarmten sie sich ohne weiter zu reden und winkten sodann den Trägern, ihnen mit dem ersten Verwundeten nach des Paters Wohnung zu folgen.
Als der Verwundete behutsam die Treppe hinaufgebracht und auf das Bett gelegt war, wendete nun der Wundarzt alle Mittel an, ihm Hilfe zu leisten, und man bemerkte bald, daß seine Regungslosigkeit mehr eine Folge seines Willens als seiner gänzlichen Entkräftung war; denn wenngleich die Verblutung ihn sehr geschwächt hatte, so wendete er doch das erste höhere Erwachen seiner Lebensgeister durch stärkende und reizende Mittel sogleich dazu an, sich der Hilfe, die ihm geleistet wurde, zu widersetzen.
»Oh, kein Verband, kein Verband, laßt mich sterben!« waren die ersten Worte, die er in französischer Sprache ausrief. Pater Rochus hielt diese Worte etwa für einen Ausbruch kriegerischen Stolzes und sagte zu ihm: »Mein Freund, nehmen Sie Gottes Hilfe dankbar von unsern Händen an, Sie sind nicht in Feindes Händen, Sie sind bei dem Pfarrer von Aquiscinet, wir haben Sie auf der Walstatt aufgefunden, welche die Feinde verließen.« »Ach«, sagte der Verwundete wieder, »Mir ist alles gleich, aber sterben will ich, leben kann ich nicht mehr.« Dabei richtete er sich empor und wollte den Verband wegreißen, den der Wundarzt ihm eben umlegte. Da drängte ihn Pater Rochus mit frommem Unwill auf das Lager nieder und sprach: »Mensch, welches Recht hast du über dein Leben, hast du gelebt wie ein Christ, so harre auf den Tod aus den Händen deines Heilands!« Diese Worte aus dem Munde des ehrwürdigen Greises, mit Ernst und einem befehlenden Nachdruck gesprochen, schienen den Verwundeten heftig zu rühren; er drückte seine beiden Hände gegen sein Gesicht und fing heftig an zu weinen. Der Wundarzt und der Priester ermahnten ihn zur Ruhe; da streckte er seine Hand gegen den letzteren aus und sprach mit wehmütiger Stimme: »O mein Vater, habet Mitleid mit dem unglücklichsten Menschen auf der Erde!« »O diese Worte, diese Worte«, erwiderte der Priester, »sie genügten, mein Herz in seinem tiefsten Grunde zu erschüttern, wenn Ihr im persönlichen Gefechte gegen mich verwundet wäret. Beruhigen Sie sich, Sie sind bei einem Manne, dem Schmerzen nicht fremd sind, für alle Leiden der Erde hat die Religion unermeßlichen Trost, mir hat sie ihn gegeben, ich will ihn gern mit Ihnen teilen, so Sie es verlangen.« Der Verwundete hatte während diesen Worten seine Augen nicht von dem Angesichte des Priesters gewandt, und tief von seiner Würde und Milde durchdrungen, zog er seine Hand zu sich, drückte sie an sein Herz und an seine Lippen und küßte sie ehrerbietig mit den Worten: »O mein hochwürdiger Herr, befehlet mir, was ich tun soll, ich will Euch gehorsamen wie ein Kind.« »So beruhigen Sie sich vor allem und nehmen einige Erquickungen zu sich«, versetzte der Priester in dem Augenblick, als seine Wirtschafterin dem Verwundeten einen guten Teller voll Suppe und Fleisch brachte. Er aß und trank, und weil der Wundarzt ihm Ruhe gebot, so verließ ihn der Priester. Es schlug ein Uhr, als sie sich gute Nacht sagten, und die Klosterfrauen sangen die Metten so nahe, als wenn die Fenster der Kammer in die Kirche gingen. Der Verwundete stutzte, als er diesen Gesang plötzlich hörte, und der Priester sagte: »Die Fenster der Kammer sehen in die Kirche; so Sie gern dem Herrn dienen, haben Sie auf Ihrem Krankenlager die schönste Gelegenheit. Sie können ruhig mitbeten.« Nun kniete der Pater auf einer Fußbank am Fenster nieder, betete eine Zeitlang, nahm sodann Weihwasser aus einem kleinen zinnernen Becken an der Türe und wollte es zu guter Nacht seinem Gaste reichen, aber er fand ihn im tiefsten Schlaf, segnete ihn und begab sich in seine Stube nebenan zur Ruhe.
Am anderen Morgen öffnete sich leise die Türe, der Priester näherte sich behutsam dem Bette des Verwundeten, weil er ihn noch schlummern sah, und stellte ihm einen duftenden Rosenstrauß auf das Tischchen bei seinem Lager, damit ihn etwas erfreuen möge, wenn er erwache, ehe er zurückkomme. Dann ging er hinab in die Kirche, die Messe zu lesen. Kaum war der Priester hinab zur Kirche gegangen, als der Verwundete durch den Klang der Meßglocke erweckt wurde. Er schlug die Augen auf und gab sich dem Gefühl einer andern Umgebung ruhiger hin, als er es sonst wohl nach seiner heftigen und leidenschaftlichen Gemütsart getan haben mochte. Die heftige Spannung, in welche er in dem Gefechte durch einen Flintenschuß gefallen war und die in seinen Äußerungen am vorigen Abend noch krampfhaft nachwirkte, hatte sich durch den Blutverlust aufgelöst, und seine Seele nahm von dem Leben, wie ein umflorter Spiegel von dem Bilde, einen träumerischen Besitz. So folgten seine Augen willenlos dem Lichte, welches durch ein großes Fenster in die Kammer fiel, und er bemerkte, als er sich mehr besann, daß es aus einer Kirche hereinfiel, in deren Kreuzbogen er hineinsah. Er hörte das Flüstern der Betenden, dann und wann von den Worten des messelesenden Priesters und den Antworten des Messedieners unterbrochen. Er hatte lange nicht gebetet, Erinnerungen der frühsten Jugend legten sich wie unschuldige Kinder an sein Herz, der wilde Krieg aber, die Angst und Raserei, das gräßliche, ja teuflische Treiben einer eisernen Gewalt zog durch seine Seele, wie ein Keilschwarm von ächzenden Geiern durch einen blauen Himmel, über welchen der Sturmwind die Wolkenlämmer treibt. Seine Gedanken flogen aus, wie der Rabe aus der Arche, ahndeten, aber fanden nicht einen Grund, wo sich niederlassen, und kehrten zurück in sein Haupt ohne Trost, doch nicht ohne Hoffnung. So lag er mit geteilter Seele zwischen Traum, Erinnerung, Leid, Angst und Ermattung. Wer am Totenbette des Geliebtesten vom Schmerz in den Traum begraben worden, der wacht also auf und starrt das Licht an wie das blutige Schwert von gestern. Wenn die Tage öfters kehren und sinken, wird endlich ein rührendes Morgenrot daraus, im Alter aber tritt der Schmerz der Jugend zu seiner Zeit wie ein drohendes, mahnendes Meteor an den Himmel. In so willenlosem Schwimmen der Seele unterbrach ihn ein Rascheln unter seinem Bette, er ward aufmerksam, und seine Gedanken wurden ganz klar, als er einen Saitenklang über seinem Haupte hörte. Er wendete sich um und sah eine Harfe an der Wand hängen, an welcher eine zahme Taube, die unter seinem Bette ihr Futter stehen hatte, hinaufgeflogen war. Dieser Anblick ergriff mit tiefer Erinnerung sein Herz, er rief aus: »Ach, Therese, Therese, warum hast du mich betrogen?« und drückte sein Gesicht unter heftigen Tränen in die Kissen. In diesen Tränen fand ihn der Pater Rochus, der aus der Kirche zurückkam, er brachte ihm einen duftenden Rosenstrauß mit, den er im Klostergarten für ihn gebrochen hatte. Als sich der Verwundete zu ihm wendete, sprach der Priester: »Guten Morgen und Willkomm, lieber Leidensbruder! Hier schicket Ihnen die heilige Jungfrau einen Strauß aus ihrem Garten zu Aquiscinet. Fassen Sie einen guten Mut, welches Leid der Heiland auch über Ihre Seele verhängt hat, so ist es zum Besten Ihrer Seele.« Der Kranke dankte und drückte seine weinenden Augen in den süßduftenden Busen der liebevollsten Blumen nicht ohne eine innige Erquickung. Aber alle Lust wird im Verlust zu einem Gespenst des Verlorenen, und er ließ die Hand traurig mit den Rosen sinken. »Ehrwürdiger Herr«, sprach er, »verzeihet einem Unbekannten, dem alle Liebe und Milde einen Himmel vorstellt, der sich ihm vor den Augen in eine Hölle verwandelte.« »Sie mögen sehr betrübt sein, mein Freund«, erwiderte der Priester, »aber ich sage Ihnen, der Schmerz, der auf Ihrer Brust lastet wie eine ungeheure Last, wird einst wie ein Gewitter an Ihrem Himmel vorüberziehn und endlich wie ein fernes blaues Gebirg, hinter welchem das Land der Sehnsucht liegt, den Horizont Ihres Lebens begrenzen. Möge Ihnen Ihr gegenwärtiges Leid einen Weg zur einzigen Quelle des Trostes zeigen, zu dem Heiland, vor dem alle irdische Leiden zerbrechen müssen. So es Ihnen ein Trost ist, Ihr Herz durch die Ergießung seiner Leiden in die Brust eines Freundes zu erleichtern, der nichts mehr auf Erden hat als die Liebe des Herrn, so vertrauen Sie mir; ich habe so Bitteres ertragen, daß ich Sie verstehen werde und Ihnen mit Gottes Gnade den Trostquell eröffnen, welcher mich selbst von irdischer Verzweiflung geheilt hat.« »Ehrwürdiger Herr«, erwiderte der Verwundete, »so Sie als ein Greis mein Leid, welches ein Leid der Jugend ist, gelten lassen wollen, so folge ich Ihrem ernsten Anspruche auf Vertrauen gern. Ach, ich habe geliebet und liebe noch ein Wesen, das sich mir auf dem Gipfel der Seligkeit als eine schändliche, verworfene Betrügerin gezeigt, und ich kann diese Schlange, die ich so teuer erkauft, ja mit allem, was mir heilig auf Erden sein mußte, die ich mit meiner Ruhe, mit meinem Gewissen, mit einem Leben genährt, ich kann sie nicht vergessen, ewig trage ich sie in meinem Busen und muß sie liebevoll an das Herz drücken, das sie vergiftet.« »Erzählen Sie ruhig«, erwiderte der Priester, »ich habe nie ein Bekenntnis empfangen, dessen Schuld ich nicht im eignen Herzen fühle, alle Herzen sind mir nur eines, das menschliche, und wer sich anklaget, klaget auch mich an; so ich Sie aber zu trösten vermag, werde ich auch mich trösten.« Da begann der Kranke also:
»Ich bin ein Elsässer und heiße Heinrich Winningen. Mein Vater hieß vor der Revolution von Winningen, aber er war ein eifriger Republikaner und einer der ersten, der seinen Adelsbrief und seine Wappen unter dem Freiheitsbaum verbrannte. Meine Mutter, aus einem alten französischen Geschlecht, litt unendlich durch die politische Ansicht meines Vaters, ihre Eltern waren rechtschaffene Edelleute gewesen und seit Geschlechtern Freunde von meines Vaters Vorfahren. Sie hatte meinem Vater Zwillinge geboren, mich und meine Schwester Antonie. Wir waren am Tage, da mein Vater jenes öffentliche Opfer seiner fanatischen Meinung brachte, beide vier Jahre alt geworden. Die Mutter hatte uns ein kleines Geburtsfest bereitet, wobei sie, gereizt von der damaligen Lage Frankreichs, uns allerlei Gutes von ihren Vorfahren erzählte, welche aus dem Hause Lusignan herstammten, das sich eines mythischen Ursprungs in der Nymphe Melusine rühmt. Sie besaß eine alte Handschrift von dem Roman der Melusine mit wunderschönen Miniaturen aus der Verlassenschaft ihrer Eltern und außerdem einen großen Stammbaum auf Pergament, auf welchem auch unten diese Sirene abgebildet war, wie sie sich von ihrem Gemahl trennt, weil er seinen Schwur, sie an den Tagen, da sie eine Fischgestalt hatte, nicht zu belauschen, gebrochen hatte. Auf diesem Stammbaum waren die Gesichtsbilder aller ihrer Vorfahren aus jeder Zeit nach ihrer Tracht aus Blättern und Blumen hervorgehend bunt gemalt. Er war für die Geschichte der Kunst und der Kleidersitte von ungemeiner Wichtigkeit und von so ungemeinem lebendigem Reiz, daß ich ihn nie wieder vergessen konnte, wenn ich ihn gleich an meinem vierten Geburtstage zum ersten und letzten Male gesehen habe. Die gute Mutter rollte den schönen Bilderbaum, wie wir ihn nannten, nach und nach vor uns auf. Zuerst sahen wir nichts als die schöne Meerfei Melusina und hörten ihre Geschichte mit kindischem Entzücken. Dann rollte sie weiter auf und erzählte uns einige Züge von jedem Bildchen, das in einer Blume saß; denn in solchen waren immer die ausgezeichneten ihrer Vorfahren abgebildet worden. Als wir schon beinahe zum höchsten Gipfel gebildete hatten und der Großvater und Großmutter aus zwei Lilien schauend uns viele Freude gemacht hatten, sagte die Mutter: ›Wer kömmt nun?‹ ›Du, liebe Mutter!‹ erwiderte meine Schwester Melusine; ich aber sagte: ›Der Vater kömmt‹, und wendete mich gegen die Türe; denn ich hörte seinen raschen und festen Schritt die Treppe herauf. Die Mutter ward sehr ernsthaft und wollte den Stammbaum schnelle in ihren Schreibeschrank verschließen, aber wir Kinder waren von Schauen und Hören so bewegt, daß wir uns an das Kleid der Mutter mit freudiger Angst anhielten und baten, sie möge den schönen Bilderbaum uns erst auszeigen bis auf das alleroberste Blättchen, und der Vater müsse ihn auch sehen, den wir aufforderten, seine Bitten mit den unsrigen zu vereinen. Die Mutter stand, den Schlüssel in der Hand, verlegen bei dem Schranke, der Vater war freundlich und sagte: ›Ich werde euch auch einen Baum zum Geburtstage schenken; aber‹, wendete er sich zur Mutter, ›Citoyenne, warum verbirgst du bei meinem Eintritt, womit du den Kindern in meiner Abwesenheit Freude machtest?‹ Bei dem Worte ›Citoyenne‹ veränderte meine Mutter die Farbe, der Vater nannte eine geborne Marquise zum ersten Male so; doch, unsre Gegenwart achtend, sammelte sie sich und erwiderte mit einem begütigenden, aber doch schmerzhaften Lächeln: ›Weil eine Citoyenne nicht auf solchem Baume gewachsen ist; es war mein Stammbaum.‹ Der Vater schüttelte leis tadelnd den Kopf und sprach: ›Oh, wohl ist eine Bürgerin auf deinem Stammbaume gewachsen; das Vaterland hat einen freien Boden gewonnen, falle ab, liebe Frucht, und werde ein neuer Stamm!‹ Dabei reichte er ihr freundlich die Hand. Sie erwiderte dies, aber lässig nur mit einem Finger. Der Vater, dadurch gekränkt, hielt diesen Finger in seiner Hand fest, näherte sich ihr und sprach: ›Ist dieser Finger das einzige Zweiglein des Lusignanischen Stammes, dessen die Hand des Bürgers Winningen nicht unwürdig ist?‹ Die Mutter antwortete hierauf tief gekränkt: ›Mein Herr, ich gab die Hand einer Fräulein von Lusignan an den Baron von Winningen, für einen Bürger Winningen habe ich keinen Finger übrig.‹ Und bei diesem Schlusse riß sie mit der Hand und wollte meinem Vater ihren Finger schnell entziehen, er aber hielt sie fest dabei und sprach mit drängender Angst: ›O Melusine, Melusine, besinne dich, du redest ein hartes Wort.‹ Da ward die Mutter heftiger, weil er sie nicht losließ, und sprach, indem sie den Kopf scheinbar verwundert emporrichtete: ›Wie? Kann ein Edelmann, der das ganze Heiligtum seiner Geschichte, der die Ehre seiner Geschichte umsonst veräußert, ein so feines Gefühl haben, die Wahrheit hart zu finden? O feines Gefühl eines Bürgers!‹ Da stieg meinem Vater das Blut ins Gesicht, und mit dem heftigen Ausruf: ›Denke, denke, du Marquisenfinger, daß du in der Hand eines Bürgers warst!‹ kniff er der Mutter so heftig in den Finger, daß sie laut aufschrie: ›Weh, weh, ich Unglückselige!‹ Da riß sie sich von meinem Vater los, aber der Treuring, den ihr mein Vater abgezogen hatte, rollte an die Erde fallend in die Stube. Wir Kinder weinten, ich suchte den Ring, meine Schwester hielt die Knie der Mutter umarmt, die sie mit sich in ihr Kabinett riß, das sie hinter sich verschloß. Ich reichte dem zürnenden Vater den Ring, er sah ihn mit heftiger Bewegung an und nahte der Türe des Kabinetts und rief hinein: ›O Melusine, heute ist es vier Jahre, daß wir uns vermählten.‹ Die Mutter noch in heftiger Bewegung rief weinend und schluchzend: ›Des Edelmanns Hand ist grausam wie die Hand eines Henkers geworden, es hätte nicht bedurft, mir den Finger zu zerbrechen, um mir den Ehering zu nehmen, das Herz ist mir längst gebrochen. Ich habe nichts mehr mit Ihnen gemein.‹ Da steckte der Vater den Ring an seinen Finger, sah ihn lange an, rang dann die Hände, und heftig auf- und abgehend sprach er mit sich, wo ich öfter die Worte hörte. ›O mein Vaterland, ich muß dir ein schweres Opfer bringen, es muß biegen oder brechen.‹ Ich hatte mich währenddem wieder an den Stammbaum geschlichen, der auf der niedergelassenen Schlußplatte des Schreibschrankes lag, und versuchte umsonst der großen Pergamentrolle, welche sich immer wieder zusammendrehte, mächtig zu werden. Da meine Begierde zu sehen durch das Einzelne, was mir immer wieder von dem zusammenrollenden Pergament verborgen wurde, noch mehr wuchs, rief ich den Vater zu Hilfe mit den Worten: ›Vater, zeige mir die Mutter auf dem Baum, und mich und Lusine!‹ So nannte man meine Schwester. Der Vater war schon wieder ruhiger und rollte das Bild bis oben auf. Da war meine Mutter in einer Lilie sitzend abgemalt, und ich und meine Schwester waren auch sehr lieblich auf zwei Knospen sitzend abgebildet, und die Mutter deckte uns mit einem Schilde vor einer dreifarbigen Schlange, welche, eine rote Mütze im Maule tragend, sich an dem äußersten Gipfel emporringelte. Sie hatte uns beide und die Schlange selbst drauf gemalt. Der Vater war von ihrer Kunst und der tiefen Mutterliebe in der Darstellung seiner Kinder ganz gerührt. ›Welches Weib, welche Mutter!‹ rief er aus und nahte sich der Kabinettstüre, durch welche er zu der Mutter sprach: ›Melusine, wie allerliebst hast du die Kinder gemalt; aber sage, was soll die Schlange, Melusine, wen meinst du mit der Schlange?‹ Die Mutter antwortete lange nicht, und als er immer dringender ward, sprach sie: ›Niemand anderen als Sie selbst, mein Herr.‹ Da ward mein Vater sehr verändert und antwortete kalt: ›Nein, Sie meinten die alte Schlange, die Hoffart, welche das Weib schon im Paradiese verführte.‹ Nun nahm er mich bei der Hand und sagte: ›Komm, Raimondin, ich will dich zu einem lebendigen Baume führen.‹ Den Stammbaum hatte er noch unter dem Arme, in seiner Stube nahm er mehrere andre Dokumente mit, und so ging er, schneller als es meinen kleinen Beinen bequem war, mit mir auf den Platz, wo der Freiheitsbaum mit der roten Mütze drauf und von tausend dreifarbigen Bändern durchwimpelt von einem weiten Kreise vieler Menschen jedes Alters, Geschlechtes und Standes, die sich einander bei den Händen gefaßt hatten, umtanzt wurde. Dazu sangen sie Ça ira, von den Musikanten begleitet, die neben dem Baum spielten, bei dem ein Feuer brannte. Alles das machte einen heftigen Eindruck auf mich; ich war in meinem Leben wenig auf die Straße gekommen und zu Fuße mitten ins Getümmel nie. Als einige der Tanzenden meinen Vater bemerkten, schwieg die Musik, und der Kreis nahm ihn in seine Mitte auf. Da hielt er unter beständigem Beifallgejauchze eine Rede, bei welcher er so in Eifer geriet, daß ihm die Tränen herabflossen, und als er geendigt hatte, gab er mir die Dokumente und Schriften, die er bei sich hatte, und befahl mir, sie in das Feuer zu werfen. Ein Kind und betäubt von dem Tumult um mich her, wußte ich nicht, was ich tat. Ich trug die Rollen ins Feuer, und alles klatschte umher in die Hände. Aber welcher Jammer ergriff mich, als sich die eine Rolle von der Glut zusammengezogen etwas aufwand und ich stolz nach meinem Werke sehend bemerkte, daß ich den herrlichen Bilderbaum der Mutter verbrannt habe; ach, es war mir, als sähe ich die gute Meerfrau Melusine sich in den Flammen winden, und wie rasend wollte ich in die Flammen springen, die Rollen herausreißen, aber mein Vater hielt mich zurück und achtete nicht auf mein Geschrei: ›O ma pauvre Mélusine, Raimondin t'a brûlé le coeur!‹ In dem Augenblick begann die Musik den Carmagnoletanz. Ein Weib, welches das Holz zu dem Feuer in einem Korbe herbeigetragen hatte, der ihr noch auf dem Rücken hing, setzte mich in diesen Korb, und da der Kreistanz, dem sie sich anschloß, wieder begann, mußte ich mittanzen, und mein Geschrei wurde von dem allgemeinen Getümmel übertobt. Bald entstand eine Unterbrechung. Mein Vater ward von Herrn de Lescure, einem Freunde meiner Mutter, aus dem Kreise gezogen. Sie sprachen heftig miteinander, den Inhalt dieses Gesprächs erzählte mir mein Vater nachmals. Lescure sprach: ›Herr Baron, ein Auftrag Ihrer Frau Gemahlin zwinget mich, Sie an einem so unanständigen Orte aufzusuchen. Sie begehrt dringend ihre Familiendokumente von Ihnen, welche sie vermißt.‹ Mein Vater erwiderte: ›Das Feuer hat sie verzehrt; wollen Sie die Asche vielleicht sammeln, so verbrennen Sie sich die Finger nicht! Meine Frau in hätte niemanden besser wählen können, um mich zu ärgern, als Sie. Sie hat wohl Lust, mir, da ich mein Wappen mit dem Adler verbrannt, ein neues zu geben, in welchem Sie als Kuckuck paradieren wollen. Wie können Sie es wagen, mich hier mit Baron anzureden? Bedenken Sie, daß man Ihnen den Hals brechen wird, so ich Ihre Art zu reden laut werden lasse. Gehen Sie, meiden Sie mein Haus, am besten aber das Land!‹ Da erwiderte Lescure mit tiefem Unwill: ›Mein Herr, ich eile, Ihnen das Maß meines Degens anzubieten; Ihre Ehre ist so im abnehmenden Lichte, daß ich fürchte, wenn wir den Gang verschieben, möchte mir es zur Schande gereichen, Ihnen gegenüberzustehn.‹ ›Ich bin es zufrieden, Sie möchten mir sonst davonlaufen mit der Erklärung, die ich Ihnen hier gebe, daß Sie ein Elender sind.‹ Lescure sagte kalt hierauf: ›Sie werden noch mehrere dazu machen, die es nicht verdienen, da Sie bei sich selbst anfingen. Meine Geschäfte sind geordnet, so es die Ihrigen auch sind, folgen Sie mir!‹ Mein Vater nahm die Aufforderung an. Er kam, eh er wegging, zu der Frau, die mich trug, und da er sah, daß ich in dem Korbe eingeschlafen war, küßte er mich und befahl ihr, mich nach ihrer Wohnung zu nehmen, bis er mich abholen werde. Dann ging er mit Lescure. Dieses Weib war die Witwe eines Gärtners, die sonst allerlei Dienste in unserm Hause getan hatte, und sie wohnte nicht fern von uns. Ich erwachte in ihrer kleinen Kellerstube, und da ich sehr nach Papa und Mama schrie und immer klagte, que javais brûlé le coeur à la bonne fée Mélusine, erzählte sie mir, um mich zu trösten, das Märchen von der Melusine ausführlich und ließ mich mit einigen Kaninchen spielen, welche sie in ihrer Kammer ernährte. So kam der Abend, ohne daß mein Vater sich einstellte, und ich mußte ihr unterdessen blaue, rote und weiße Garnstränge halten, die sie auf Knäule wickelte, um Kokarden draus zu stricken. Da ich schläfrig ward, legte sie mich auf ihr Bett, wo ich entschlief. Es mochte um Mitternacht sein, als ich erwachte und den Diener meiner Mutter, Royer, neben der Frau am Tische sitzen sah. Er zählte ihr Geld auf, gab ihr allerlei Kleider, und sie weinten beide heftig. Da ich Royer erblickte, rief ich ihn beim Namen, worüber er heftig erschrak, an das Bett trat und, indem er mich auf seine Arme nahm, zu mir sagte: ›Ach, mein lieber Raimondin, ich suchte dich den ganzen Tag, wie kömmst du hierher?‹ Dann geriet er mit Toinette - so hieß die Frau - in einen lebhaften Wortwechsel, den sie mir später selbst erklärte. Meine Mutter wollte in dieser Nacht mit uns Kindern über den Rhein entfliehen, wohin de Lescure, der meinen Vater stark verwundet hatte, früher schon entwichen war. Royer sollte sie begleiten, er war ihr sehr anhänglich und von ihrem Vater erzogen worden. Den ganzen Tag hatte er nach mir suchen müssen und kam jetzt, von Toinette, mit der er versprochen war, Abschied zu nehmen. Sie hatte mich ihm verborgen, weil sie von der Wohltätigkeit meines Vaters lebte. Als arme Dienstboten konnten sie nicht auf die äußersten Spitzen der öffentlichen Meinung treten, sie sangen dessen Lied, dessen Brot sie aßen, und wenn sie beieinander saßen, sangen sie ihr eignes, das sehr vermittelnd klang. Royer gab der Toinette bald nach, welche nicht zugeben wollte, daß er mich zu meiner Mutter bringe, die mich meinem Vater entführen wollte, weil sich dieser nachher an sie halten werde. Aber Toinette gestand auch dem Royer zu, daß es nicht vorteilhaft für sie sei, daß sie mich bei sich versteckt halte, man wisse nicht, wie die öffentlichen Händel ablaufen würden, und wenn mein Vater an seiner Wunde stürbe, so habe sie mich auf dem Hals und könne in allerlei Händel verwickelt werden. Überhaupt sei ich hier hinderlich, da er sich scheue, in meiner Gegenwart recht offenherzig vor ihr zu sein, weil ich ein aufmerksamer Junge sei und ihre Unterhaltung verraten würde. Über diesen ihren Erklärungen war ich wieder entschlafen, und sie wurden einig, daß mich Royer unter seinem Mantel nach Haus tragen und mich dort in mein Bett legen sollte. Da meine Mutter mit meiner Schwester und ihrer Kammerfrau schon an den Rhein gegangen sei, werde man glauben, sie habe mich freiwillig meinem Vater zurückgelassen, wenn man mich morgen fände. Er selbst wolle gleich wieder zu ihr kommen, da er mit einigem Gepäck erst morgen früh überfahre. So trug er mich nach Haus und brachte mich zu Bett, ohne daß ich erwachte, und verschloß dann das Haus.
Am andern Morgen erwachte ich mit Schrecken, ein großer Hund meines Vaters sprang freudig auf mein Bett; er hatte im ganzen Hause vergebens jemand gesucht und war sehr froh, die Türe der Stube, in der ich schlief, nur angelehnt zu finden. Ich schrie nicht wenig, um diesen beschwerlichen Gesellen loszuwerden, aber es ließ sich weder Louison, meine Wärterin, noch Royer erblicken, und endlich ward ich und der Hund vertraut, denn er schien mich zu verstehn und verband sein Geheul mit meinen Wehklagen. Ich war in einem sehr verwirrten Zustand, wie ich nach Haus in mein Bett gekommen war, konnt ich nicht begreifen, alles, was ich gestern erlebt hatte, stand mir dunkel in der Seele, vergebens rief ich meiner Schwester Lusine, die eigentlich in dem Bette mir gegenüber schlafen sollte, aber alles war still im Hause, und niemand hörte auf mein Rufen. Da stand ich auf und zog mich zum erstenmal in meinem Leben allein an. Ich lauschte an der Türe meiner Mutter, ich schlich hinein an ihr Bett, es war noch geordnet, sie hatte nicht drin geschlafen, aber Schränke und Schiebladen standen auf, es war überall, wo ich hintrat im Hause, die Art von Unordnung, die ein Abreisender zurückläßt, hinter welchem nicht aufgeräumt worden. Das Überraschende in meiner Lage zerstreute mich, und allerlei Bänder, gemachte Blumen, Perlen und Flitter, die in der Stube herumlagen, fingen an, meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich sammelte alles in einen Pappkasten, und da ich endlich an den offnen Schreibepult der Mutter kam, sah ich die samtene Scheide drin liegen, aus welcher sie gestern den Bilderbaum gezogen hatte. Da ward meine ganze Betrübnis erregt, der Gedanke, daß ich das schöne Melusinenbild ins Feuer geworfen hatte, ward wieder so lebendig in mir als gestern, da ich die Rolle sich im Feuer winden sah, und mit Tränen rief ich aus:
O pauvre Raimondin,
il faut que tu te meures,
à la belle Mélusine
tu as brûlé le coeur.
Der zufällige Reim erhöhte noch meine Spannung. Die Erzählungen meiner Mutter und der Toinette von der Melusine, wie sie den Raimond verlassen und wie er klagend um sein Verbrechen das Schloß durchwandelt und bei jedem Gegenstande in den öden Gemächern an sein verlorenes Glück gedacht, schienen an mir wahr geworden; meine Mutter, meine Schwester waren fort, und ich war allein im Hause. Ich fühlte mich ganz als den schuldigen verlassenen Raimond und wünschte ihm auch von außen zu gleichen. Darum behängte und besteckte ich mich mit alle dem Flitterkram, den ich in der Stube aufgesammelt hatte, und der große Hund schien meinen Kammerdiener vorstellen zu wollen; denn er brachte einen alten Tafthut à la Montgolfier, auf dem Sonne, Mond und Sterne von Folie funkelten, aus einem Winkel der Garderobe angeschleppt. Ich setzte ihn auf, nahm ein stählernes Spazierstöckchen meiner Mutter als Lanze in die Hand und rief vor dem Spiegel mein ›Pauvre Raimondin‹ mit höherer Bewegung als vorher aus. In diesem Aufzug mit dieser Wehklage durchzog ich das ganze Haus, und der Hund heulte neben mir; endlich trat ich in unsern kleinen Garten, der, von hohen Seitengebäuden umgeben, sonnenlos, voll trauriger Taxuspyramiden wenig Erfreuliches bot. Hier wandelte ich auf und ab und überließ mich ganz meiner Phantasie. Im Winkel der Gartenmauer war ein Ziehbrunnen eingemauert, welchen wir mit einem Nachbarn, einem Advokaten Lodie, gemein hatten. Es reizte mich besonders, in ihn hinab meine Klagen ertönen zu lassen; denn es hallte so dumpf nach, und der Spiegel des Wassers tief unten schien so kühl, dunkel und geheimnisvoll herauf, daß ich glaubte, da unten müsse Melusine nun wohnen. Es war schon gegen Mittag, der Hunger vermehrte mein Leid, ich stand am Brunnen und klagte, da hörte der Hund die Teller in des Prokurators Küche rasseln, und wahrscheinlich mit der Köchin in gutem Einverständnis, setzte er über den Brunnen weg und folgte dem Bratengeruch. Dies brachte mich auch auf den Gedanken, hinüberzusteigen, aber ich konnte nicht so gut springen wie der Hund und faßte deswegen die Brunnenkette, indem ich in den oben schwebenden leeren Eimer hineintrat. Meine Angst ward ungeheuer, als der Eimer mit mir leise sich in den Brunnen hinabließ, indem der zweite volle gegenwiegende Eimer emporstieg. Ich konnte vor Schrecken nicht mehr schreien und besann mich erst, als der volle steigende Eimer mich erreichte und ich ihn aufwiegend neben ihm mitten im Brunnen hängen blieb. Da schrie ich erst recht laut: ›O pauvre Raimondin usw.‹ Endlich kam die Magd des Prokurators um Salat zu waschen an den Brunnen, und als sie meine Stimme aus der Tiefe tönen hörte, lief sie mit dem Geschrei ins Haus zurück, es sei ein Gespenst im Brunnen, ein Wasserfräulein, sie habe es klagen hören: il faut que tu te meures. Man lachte sie aus, aber ihr Entsetzen und Beteuern führte endlich den Prokurator und sein Weib und alles Gesinde an den Brunnen. Sie hörten dieselben Klagen nicht ohne große Bewegung, die Frau drang schon drauf, man solle den Brunnen zudecken oder verschütten lassen, um das Gespenst zu versperren, der Prokurator aber lachte und zog mich lachend herauf. Wenig aber fehlte, daß er mich mitsamt dem Eimer hinabwarf, als er mich mit meinem Hut à la Montgolfier, mit Perlenschnüren, Bändern, Flören und allerlei bunten Nadelkissen behängt wie eine Brunnennymphe aus dem Kindermärchen erblickte. Eine kleine Tochter des Advokaten, die meiner Mutter Patchen war und Melusine hieß, erkannte mich zuerst und rief aus: ›Ach, was ist der Chevalier Raimondin schön geputzt!‹ Da nahmen mich die guten Leute aus dem Eimer und brachten mich nach ihrer Stube, wo ich erquickt und gepflegt wurde und alle meine Leiden seit dem vorigen Abend erzählen mußte, was ich jetzt, Hochwürdiger, gegen Euch wiederholte, um Euch die Lage und Stimmung zu beschreiben, in welcher ich das Wesen zum ersten Male gesehen, das mich zum unglücklichsten Menschen gemacht hat. Die kleine Melusine bei dem Advokaten ist es, um derentwillen ich jetzt sagen kann: O pauvre Raimondin, il faut que tu te meures, la perfide Mélusine t'a rompu le coeur.«
Hier drückte er sein Gesicht in die Kissen und schwieg einige Minuten, während welchen der Priester zu ihm sprach: »Lieber Freund, ich wünsche nicht, daß die Erinnerung an Ihre Leidenschaften Ihnen die ernste Ruhe nehmen möge, welche immer die Betrachtungen eines Christen begleiten soll, dem der gütige Gott das Leben erhalten hat, auf daß er nicht lodernd von irdischer Flamme zu anderm Dasein übergehe.« Da ergriff Raimondin noch mit abgewendetem Haupte die Hand des Priesters, die er heftig drückte, und Pater Rochus sprach: »Mut, Vertrauen, nur recht nach dem Herrn verlangt, er wird uns allen den Frieden geben.« Nun sammelte sich Raimondin und erzählte weiter:
»Ich werde von dieser meiner frühen Jugend nur noch einiges erwähnen, um dann mein trügerisches Glück auf seinem höchsten Gipfel dicht neben dem tiefen Abgrunde zu berühren, in welchem es mich zerschmetterte. Die Familie des Advokaten hatte weder eine besondere Vorliebe zu meinem Vater noch zu meiner Mutter, deren Entzweiung sie mit besonderer Neutralität betrachtete, um sich dem Intresse der Partei, welche den Herrn Lodie zuerst als Rechtsbeistand auffordern dürfte, desto eifriger ergeben zu können. Übrigens waren sie unsre gute Nachbarn, hörten meine Leidengeschichte mit vieler Liebe an und mußten herzlich lachen, als ich die Worte aussprach: ›O pauvre Raimondin, il faut que tu te meures, à la belle Mélusine tu as brûlé le coeur‹, und nun die kleine Melusine mich dabei umarmte und küßte und herzlich mit mir weinte. ›Ei, ei, Melusine‹, sagte Frau Lodie, ›ist es wahr, hat er dir dein kleines Herz verbrannt?‹ ›Ich weiß nicht‹, sagte das Kind und schmiegte sich an mich. Nun spielten wir den ganzen Tag, und ich teilte allen meinen phantastischen Putz mit ihr. Am Abend wollte man mich über den Bronnen hinüber wieder in mein Bett bringen, aber ich wollte mich auf keine Weise von meiner kleinen Gespielin trennen lassen, und auch sie verhinderte es mit heftigem Geschrei. Sie warteten darum, bis wir beide nebeneinander eingeschlafen waren, dann nahm mich der Advokat auf den Arm, die Magd ging mit einer Laterne voraus, ein starkes Brett war über den Brunnen gelegt und über dieses brachten sie mich, ohne daß ich erwachte, nach meinem Bette und begaben sich zurück. Sie behielten mich aber aus keiner andern Ursache nicht in ihrer Wohnung über Nacht, als weil sie fürchteten, durch diese Sorgfalt eine besondere Hinneigung zu meinem Vater oder meiner Mutter zu zeigen, da sie nicht wußten, wer sich meiner von beiden vor dem andern annehme. Um Mitternacht erweckte mich ein Kneifen in die Nase, und als ich die Augen aufschlug, war es hell in der Stube, und ich sah eine Reihe fingerlanger Husaren über die Bettdecke gegen meine Nase attackieren und mich kneipen, worauf sie sich auf mein Geschrei schnell zurückzogen. Zu dem ganzen Manöver blies eine Pfennigstrompete. Ich war so durch das Plötzliche und den Schmerz verblüfft, daß ich hoch im Bett mit Zetergeschrei in die Höhe fuhr. Da sah ich einen großen Mann in rotem Taftmantel vor mir, er hatte einen Federhut auf und eine weiße Maske vor sich, worüber ich noch mehr erschrak. Der Unbekannte, besorgend, sein ungeschickter Scherz möge mir gar den Verstand zerrütten, riß nun die Maske ab, und ich erkannte Herrn Verdier, den Sekretär meines Vaters, in ihm. Er riß mich aus dem Bett auf seinen Arm und sprach: ›Weine nicht, Raimondin, ich bin es, sieh, da schenke ich dir die kleinen Husaren, welche dich in die Nase zwickten‹, und somit gab er mir die kleinen hölzernen Reiter, welche, auf sich in die Länge und Breite verschiebenden Kreuzstäben steckend, von ihm, um mich scherzhaft zu wecken, gegen meine Nase waren gerichtet worden. Mit Mühe ward ich erst getröstet, als er mir ein ganzes Körbchen voll Spielzeug zeigte, das er unter seinem Mantel anhängen hatte. Nun mußte ich mit ihm das Haus verlassen, er sagte mir, daß er mich zu meinem Vater bringen wolle, der krank sei, und ohne sich weiter auf meine Fragen nach Melusine und die Ursache seiner wunderlichen Kleidung einzulassen, nahm er mich, wie ich war, in meinem kindischen Putz bei der Hand, denn Herr Lodie hatte mich, damit ich nicht aufwachen möge, in meinem ganzen Flitterornat ins Bett gelegt. In der Vorstube wartete schon ein Diener mit einem Korb voll Wäsche und anderen Bedürfnissen meines Vaters auf ihn. Der Sekretär pfiff dem großen Hund, der vergnügt herbeisprang, und gab ihm zwei Laternen, an die beiden Enden eines Stockes befestigt, im Maule zu tragen. So verließ er, den leuchtenden Hund voraus, mich unter seinem Mantel an der Hand, in der Begleitung des lasttragenden Dieners das Haus, welches er sorgsam verschloß. Er ging stark, ich mußte immer neben ihm traben, durch seinen roten Taftmantel schimmerten die Laternen des Hundes, unten sah ich nichts als erleuchtete Pfützen, über die er mich immer am Arme reißend hinüberschwang, und seine Füße. Ich kann diesen Weg in meinem Leben nicht vergessen. Nach einem guten Stück Weg kamen wir an eine Kutsche, aus welcher ein paar andere Masken herausriefen: ›Endlich sind Sie da! Wir haben lange gewartet.‹ Wir stiegen ein, der Diener setzte sich hinten auf, der Hund mußte die Laternen in den Wagen abliefern und nebenherlaufen. Die Verlarvten in dem Wagen wollten mich necken, aber Verdier deckte den Mantel über mich und so schlief ich im Winkel der Kutsche ein, um von neuem auf eine sehr abenteuerliche Weise erweckt zu werden. Mein Vater hatte sich mit Herrn de Lescure in einem Gebüsche geschlagen, welches eine kleine Stunde von der Stadt den Park eines öffentlichen Gasthauses bildet, in welches er, schwer verwundet, von Herrn Verdier, der ihm als Sekundant gefolgt war, gebracht wurde; denn man hielt es für gefährlich, ihn nach der Stadt zu fahren. In diesem Hause war in dieser Nacht ein maskierter Ball angestellt worden, und da mein Vater Herrn Verdier in die Stadt schickte, ihm allerlei Bedürfnisse zu holen, Nachricht von seiner Familie zu geben und mich zu ihm herauszubringen, hatte dieser mich bei der Gärtnerin Toinette gesucht, welche ihm die Abreise meiner Mutter gemeldet, und daß mich Royer nach Hause gebracht, wo ich wohl sein müsse. Verdier, der früher zu diesem Maskenball sich schon verbindlich gemacht hatte, wollte die Gelegenheit benutzen, steckte sich in einen Domino und hängte einen Korb mit Spielwaren um, den er witzig austeilen wollte. So trat er, nachdem er alle Geschäfte im Hause beendet und einen Brief meiner Mutter an meinen Vater, den sie auf seinem Schreibtisch zurückgelassen, zu sich gesteckt hatte, an mein Bett und weckte mich, wie ich vorher erzählte. Wir kamen in dem Wirtshause an, Verdier trug mich schlafend aus dem Wagen, und da wir durch den Ballsaal mußten, um zu der Stube meines Vaters zu kommen, hatte er den Mutwill, im Vorübergehen eines meiner Ohren an das Fagott der Tanzmusik zu halten, worüber ich plötzlich erwachte und rings um mich die bunten Larven im grellen Lichte sich herumtreiben sah. Der Schrecken und die Verwunderung machten mich wie unsinnig, und ich begann ein so heftiges Geschrei, daß die Tänzer ihr Vergnügen unterbrachen und sich alles um mich her drängte. Verdier brachte mich schnell zu meinem Vater; denn die Frauen waren über seine Unbesonnenheit so erbittert, daß er sehr unangenehme Auftritte zu erwarten gehabt hätte, wenn er nicht gleich gewichen wäre. Da wir durch den Erfrischungssaal mußten, stopfte er mir den Mund voll Zuckerwerk und brachte mich so mechanisch beruhigt an den andern Flügel des Hauses zu meinem Vater...«
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2011
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