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Ein Wandrer gieng durch Berg und Thal
Am Knotenstabe fort,
Er kroch durchs Dickicht, wie ein Dieb,
Und floh, wenn ihn nicht Hunger trieb,
Scheu jeden Wohnungsort.

Er grüßte liebend Flur und Hain,
Und Sonn' und Mondenlicht;
Er grüßte Wurm und Schmetterling;
Doch wenn ein Mensch vorüber gieng,
Den Menschen grüßt' er nicht.

Gleichwie der Ruf dem Echo schallt,
So schallt es auch zurück:
Ein jeder sah dem Wandersmann
Die trotz'ge Menschenfeindschaft an,
Gab ihm nicht Wort noch Blick.

Sein Weg geht nach der Alpen Höhn,
In das beglückte Land,
Wo mancher Freund der Einsamkeit,
Den Menschen mit der Welt entzweyt
Noch eine Zuflucht fand.

Als nun vom ersten Alpenhaupt
Der weiße Nebel wich,
Da sank er auf die Kniee, tief
Gerührt, mit feuchtem Aug', und rief.
Entzückt und feyerlich:

„Willkommen, Freystatt der Natur!
Hier will ich noch, allein,
Fern vom Gewimmel, das mich drückt,
Wo jeder trugvoll mich berückt,
Zufrieden, glücklich seyn !

Da, wo der höchste Felsen sich,
Nur Gemsen wirthlich, thürmt.
In einer Kluft ein grünend Thal
Mit einem kleinen Wasserfall
Unsichtbar, rund umschirmt:

Da will ich mir ein Hüttchen baun,
Hoch, wie der Adler heckt!
Gesellschaft, Nahrung geben mir
Zwo Ziegen, bald vergeß' ich hier
Wie mich die Welt geneckt.

Daß mich der trautste Jugendfreund,
Daß Stella mich betrog:
Vergeß' es, wie sie meinen Harm
Verspottend, treulos in den Arm
Des Freundverräthers flog.

Vergeß' es, daß das Vaterland
Mit Ketten mich bezahlt;
Und schöpfe, abgewandt vom Quell,
Damit mir seine Spiegelwell'
Kein Menschenbild mehr mahlt." —

Er sprachs, und schritt mit heitrer Stirn'
Mit schnellerm Fuße vor:
Die Bahn ward steiler, führt ihn bald
Durch rauhe Klippen, Fels und Wald
Bis zum Gewölk empor;

Bald wieder in ein blühend Thal
Voll Heerden, jäh hinab,
Wo an der Gletscher weißer Gränz'
Ein ew'ger Winter holdem Lenz
Die Hand vertraulich gab.

Er nahte einem Felsenstück,
Das eng den Pfad verschloß,
Da sah er in den blauen Höhn,
Sich gierig einen Geyer drehn,
Der auf ein Lämmlein schoß.

Das Lamm gewahrte seinen Feind;
Von der Gefahr bedroht
Entstürzt' es sich der Klippe schroff —
Und von der reinen Wolle troff
Das Blut gleich purpurroth.

Der Wandrer nahm es in den Arm,
Band seine Bind' ihm um,
Gedacht', es streichlend, mitleidsvoll:
„Wo find ich deinen Hirten wohl?"
Und trat am Fels herum.

Da saß in leichter Hirtentracht,
Bestrahlt vom Abendglanz,
Ein Mädchen, an die Felsenwand
Gelehnt; den Schoos voll Blumenband
Sie emsig einen Kranz.

Die Unschuld schwebt' auf ihrer Stirn,
Die Freud' um ihren Mund;
Am Schüppenstabe hieng ihr Hut
Zu ihren zarten Füssen ruht'
Ihr treuer Schäferhund.

Nie hat uns Angelicka's Hand
Ein süsser Bild gemahlt!
Der Pilger sah's und bebt zurück,
Gleich einem Seher, dessen Blick
Das Paradies umstrahlt.

Sie sah ihn nicht — doch Phylax, ach !
Gewahret ihn; er rafft
Sich auf, mit schrecklichem Gebell,
Und reißt den Heerdenrä'uber schnell
Zur Erd mit Tiegerkrafft.

Das Mädchen springt empor, und eilt,
Von Schrecken bleich, herbey;
Sie ruft dem Thiere, und, beschämt,
Dem Löwen gleich, den Rhea zähmt,
Läßt es den Fremdling frey.

Sie tritt herzu, sie hebt ihn auf,
Von Blut träuft seine Hand.
Ihr Auge füllt ein Thränchen hell,
Sie reißt vom Lilienbusen schnell
Das Tuch ab, zum Verband.

Dem Wandrer war so wunderbar,
Sein Sinn war so bewegt;
Und dräng die Wunde bis ins Herz,
Er fühlte nicht den herbsten Schmerz
Wenn diese Hand ihn pflegt.


II

Nun nimmt sie erst des Lammes wahr,
Und sieht es, nicht sein Dieb,
Sein Retter war der fremde Mann ;
Voll süsser Unschuld koßt sie dann
Ihn und das Thierdien lieb.

„O guter Fremdling, mußt mit mir
In unsre Hütte dort;
Und, wie dein Sinn auch vorwärts eilt,
Bis deine Wunde nicht geheilt,
Sprich ja kein Abschiedswort."

„Lieb Mägdlein, eine tiefte Wund'
Als diese, schlugst du mir!
Sie brennt im Busen!
Willst du sie Nicht auch mir heilen — o so flieh
Ich lieber gleich von hier.

Mich trog die Menschheit — doch dies sahst
Dein reiner Sinn wohl nicht;
Du hast mich ausgesöhnet, du !
In meinen Geist strömt wieder Ruh
Von deinem Angesicht.

Die Welt verbannte mich, sie riß
Der Menschheit heilges Band
Mit meinem Herzen wild entzwey;
Doch gerne knüpf' ich es aufs
Neu Leihst du dazu die Hand." —

Er blickt' ihr ins gesenkte Aug',
Sie bebte, stumm und bang;
Er las in ihrem Herzen, drückt'
Den ersten Liebeskufs entzückt
Auf ihre Purpurwang' ?

Sie klammen nun zur Sennerhütt'
Umarmt, im Abendhauch ;
Nur halbgeschlossen war die Wund',
So segnet' ihren Liebesbund
Der greise Vater auch.

Er baut' nun eine eigne Hütt'
Am Felsenhang sich hin;
Doch keine Eremiten Zeil'!
Die Lieb' bevölkerte sie schnell,
Und wohnte mit darinn.

Im Arm der Liebe und Natur
Genas bald ganz sein Herz;
Am warmen Weibes - Busen schmolz
Sein Menschenhaß, sein scheuer Stolz
Dahin, wie glühend Erz.

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Tag der Veröffentlichung: 22.11.2010

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