~New York 23.03.2012
»Amelia, wach auf. Du kommst sonst noch zu spät zur Schule.« Sanft drang die Stimme von Mom in meine Ohren und riss mich aus dem Schlaf.
Müde rieb ich mir über die Augen und setzte mich aufrecht hin. Während ich versuchte wach zu werden, nagten an mir wieder diese kleinen düsteren Gedanken, die mich schon ab und an seit meiner Kindheit heimsuchten. Als ich mich diesen Morgen für den Tag fertig machte, war da wieder ein dunkles Gefühl in mir, welches mich vor einer wichtigen Sache warnen wollte. Bisher hatte ich diese Zeichen immer wieder ignoriert, denn selbst Mom meinte ich sollte da nicht so viel hineininterpretieren, doch diesmal war es anders als die letzten Male. Etwas Schreckliches würde bald passieren und mein Instinkt sagte mir, ich sollte besser nicht das Haus verlassen.
Allerdings interessierte sich mein Alltag herzlich wenig dafür, also machte ich mich auf den Weg in die Küche. Mama begrüßte mich wie immer mit einem Kuss auf die Wange, dabei stellte sie mir mein Frühstück vor die Nase. Es war French Toast mit einem Latte Macchiato.
»Du bist wirklich die Beste, Mom«, entgegnete ich grinsend und fing hinterher an zu frühstücken.
»Das musst du mir nicht jedes Mal sagen, wenn ich dir etwas zu Essen mache.« Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber von mir und lächelte mich an.
»Doch, das muss ich. Wer weiß, wie oft ich es noch zu dir sagen kann?«
»Noch viele weitere Jahre, Amy«, erwiderte sie liebevoll, wandte sich jedoch von mir ab und trank einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.
Als ob mir eine Faust in den Magen geschlagen wurde, so zog er sich plötzlich schmerzhaft zusammen. Da war wieder diese böse Vorahnung und ich fragte mich, ob ich nicht krank machen sollte. Allerdings würde Mom es merken, wenn ich sie anlog und sobald ich wieder anfing ihr die Situation zu erklären, würde sie es doch nur abwinken und nicht ernst nehmen. Nachdenklich kaute ich auf meinem Frühstück herum und beobachtete sie dabei.
Mom war eine wirklich hübsche Frau. Wir hatten beide lange Haare, die in einem kräftigen dunklen Rotton leuchteten, waren ungefähr gleich groß und wiesen fast das gleiche Gesicht auf. Nur meine Augen waren blau, wie die meines Vaters und die meiner Mutter waren moosgrün. Außerdem hatten wir beide dasselbe Geburtsmal: Eine verblasste Lilie am linken Handgelenk.
Als ich sie einmal nach der Bedeutung fragte, meinte sie bloß, dass sie mir auch nicht sagen konnte woher es kam. Allerdings veränderte sich jedes Mal ihr Gesichtsausdruck, so als ob sie mir nicht ganz die Wahrheit sagen wollte.
»Musst du nicht langsam los?«, fragte sie mich nach einer Weile.
Träge warf ich einen Blick auf die Uhr und sprang schließlich hastig auf.
»Bis später, Mom«, sagte ich zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Wange und verließ das Aparment. Anschließend stieg ich in meinen blauen Peugeot 206 und fuhr los.
Schule war nicht der richtige Begriff für das Höllenloch, in das ich jeden Morgen gehen musste. Ich hatte dort kaum Freunde, eigentlich nur einen einzigen und bis vor einem Jahr wurde ich noch von meinen Mitschülern gemobbt. Ihre Begründung war ganz simpel: Ich war anders als sie.
Wenn man an meiner Schule zu spät kam, konnte man direkt mit einer ganzen Woche Nachsitzen rechnen. Das lag daran, dass es eine sehr streng katholische High School war. Aus welchem Grund auch immer fand meine Mutter es gut, dass ich dort die Schule besuchte, obwohl ich an keinen Gott glaubte, da sie mich bisher auch nie zum Glauben erzogen hatte. Bis zum heutigen Tage zeigte er sich auch noch nicht sehr erkenntlich und mein Glaube an Lucifer, Gottes böser Bruder, war da sehr viel präsenter.
Jedenfalls war am Morgen, in der ersten Stunde, immer Beten angesagt und die Lehrer sahen es sehr negativ, wenn das ein Schüler verpassen oder noch schlimmer, in den Dreck ziehen sollte.
Das war echt furchtbar!
Während ich wie jeden Morgen an derselben Kreuzung im Stau stand, musste ich noch einmal an die Worte von Mom denken. Auch mein Magen rumorte immer noch wie verrückt und es fiel mir schwer mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Bisher war dieses Gefühl noch nie so ausgeprägt gewesen, sodass ich es immer ignorieren konnte. Doch es wurde mit der Zeit immer stärker und ich machte mir Sorgen wegen dem, was passieren könnte.
Ungeduldig trommelte ich mit meinen Fingern auf das Lenkrad und machte die Musik im Radio lauter. Es lief gerade „21 Guns“ von Green Day, eines meiner absoluten Lieblingslieder. Also versuchte ich mich mit der Musik und dem Verkehr von meinen Gedanken abzulenken. Irgendwie schaffte es die Realität mich tatsächlich von meinen Bauchschmerzen und Gefühlen abzulenken. Ein wenig besser gelaunt fuhr ich etwas nach vorne als sich die Autos im Schneckentempo weiter bewegten. Automatisch drehte ich die Musik noch ein wenig lauter und sang mit.
Nach fünf Minuten ging es endlich mal wieder voran und ich konnte nach links abbiegen. Wenige Minuten später erreichte ich die Schule und parkte auf dem großen Parkplatz.
Als ich das Gebäude betrat, konnte ich von weitem schon meinen besten Freund Terry sehen, der gelangweilt neben meinem Spind stand und unsere Mitschüler beobachtete. Als er mich entdeckte hellte sich seine Miene jedoch ein wenig auf. Anscheinend schien er noch nicht zu merken, dass in meinem Magen Samba getanzt wurde. Gut so, er sollte sich nicht auch noch Sorgen machen. Derweil erreichte ich ihn und er stieß sich von der Wand ab, um mich in seine Arme zu schließen.
Terry Kingston war einen Kopf größer als ich, noch dazu relativ schlank, hatte dunkelblonde Haare und hellblaue freundliche Augen. Bald kannten wir uns schon seit zwölf Jahren und es gab seitdem keinen Tag, an dem wir getrennt waren. Bis auf die Jahre in der Junior High, dort waren wir leider in getrennten Klassen gewesen, aber unsere Freundschaft litt darunter überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass es uns noch enger zusammengebracht hatte.
»Na, alles klar?«, wollte er wissen und musterte mein Gesicht.
»Ich bin so froh, wenn ich hier nicht mehr hingehen muss«, beantwortete ich seine Frage und öffnete meinen Spind. Hinterher nahm ich die Bücher für die ersten beiden Stunden heraus und wandte mich wieder an meinen Kumpel.
»Bald haben wir es ja geschafft.« Er grinste mich an und legte einen Arm um meine Schulter.
»Ja, noch verdammte anderthalb Jahre«, murrte ich und ging mit ihm zu unserem ersten Kurs.
~*~
Mitten in der zweiten Stunde klopfte es auf einmal an der Tür.
»Herein!«, rief Mrs Roberts und zwei Polizisten betraten den Raum.
Ihre Blicke schweiften durch den Klassenraum und blieben bei mir hängen. Oh Mist! Hoffentlich meinten sie nicht mich.
»Amelia Watson, könnten Sie bitte mal kurz mit vor die Tür kommen?«, fragte der Ältere der beiden Männer.
Alle Köpfe in der Klasse flogen in meine Richtung und meine Klassenkameraden fingen sofort an zu tuscheln. Verdammt, sofort meldete sich mein Bauch und diese böse Vorahnung wieder. Am liebsten wäre ich sitzen geblieben und hätte mich geweigert mitzugehen, allerdings wollte ich auch wissen was die Männer von mir wollten. Also nickte ich und ging langsam zu den Beamten.
Als ich mit ihnen auf den Flur trat, ging ich in meinem Kopf durch, was ich verbrochen haben könnte. Gut, ich hatte einmal die Unterschrift meiner Mutter für eine Entschuldigung gefälscht, weil ich einen Schultag schwänzen wollte um auf ein Open Air Konzert im Central Park zu gehen. Aber deswegen wurde man doch nicht verhaftet oder?
Ich konnte noch einen Blick zu Terry werfen, der mich beruhigend anlächelte, bevor die Tür des Klassenraumes geschlossen wurde. Ich schnitt ihm eine Grimasse und wandte mich dann an die Officer.
»Ms Watson.« Der pummelige Polizist sah mich mitfühlend an. Er war ein wenig am Schwitzen und fuhr sich immer wieder nervös mit einem Tuch über sein Gesicht.
»Hören Sie, wenn es um den einen Tag geht an dem ich die Schule geschwänzt habe, das kann ich erklären«, fing ich an, doch der größere und schmalere Polizist sah mich verwirrt an. Er war derjenige, der mich aus der Klasse gerufen hatte.
»Nein, darum geht es nicht, Ms Watson«, druckste er herum.
»Worum dann?«, horchte ich nach.
»Am besten setzen Sie sich hin.« Er zeigte auf eine Bank, die im Flur stand.
Seufzend nahm ich Platz und sah die Polizisten abwartend an.
»Jetzt sagen Sie mir endlich was ich verbrochen habe«, äußerte ich mit einer leichten Ungeduld in meiner Stimme.
»Es geht um Ihre Mutter«, fing der Ältere wieder an.
Sofort sah ich die beiden aufmerksam an. Meine Bauchschmerzen wurden wieder stärker, während mir der Schweiß aus den Poren trat. Scheiße, was sollte das werden?
»Was ist mit ihr?«, wollte ich wissen und versuchte dabei die Panik in meiner Stimme zu verbergen.
Die Beamten warfen sich kurz einen Blick zu, bevor sich der Erfahrenere wieder zu Wort meldete und mich mitfühlend ansah. »Sie hatte einen Autounfall und ihn nicht überlebt.«
Eine unheimliche Stille trat ein, nachdem er den Satz zu Ende gesprochen hatte. Das Blut rauschte mir in den Ohren, mir wurde heiß und kalt zur gleichen Zeit und meine Hände fingen an zu zittern.
»Soll das irgendwie ein schlechter Scherz sein? Heute Morgen habe ich doch noch mit ihr gesprochen«, reagierte ich fassungslos und wäre am liebsten in Gelächter ausgebrochen.
Was erlaubten sich diese Männer bloß? Einfach in meine Schule zu spazieren und mir so etwas Lächerliches zu erzählen?
Die beiden Polizisten wechselten erneut einen Blick, bevor sie sich wieder an mich wandten.
»Wir fahren jetzt mit Ihnen ins Krankenhaus, damit Sie die Leiche nochmal sehen und sich verabschieden können«, fuhr der schmalere Beamte fort und deutete mir ihnen zu folgen.
Zögernd stand ich auf und ging mit ihnen aus der Schule. Bestimmt würde Mom gleich vor dem Gebäude warten und mich mit einem Ausflug überraschen. Manchmal arrangierte sie solche verrückten Sachen, damit ich früher abhauen durfte.
Doch als wir nach draußen traten, stand meine Mutter nicht dort. Stattdessen wartete auf mich ein Polizeiwagen am Straßenrand. Mir blieb die Luft weg, während sich der Schock immer weiter ausbreitete.
Nein; dachte ich energisch. Das konnte nicht wahr sein!
»Kommen Sie, Miss?« Die beiden Kollegen sahen ungeduldig zu mir herauf, anscheinend wollten sie es schnell hinter sich bringen.
Langsam stieg ich die Treppen hinab und setzte mich hinten in den Wagen. Ich kam mir wie eine Verbrecherin vor, die etwas sehr Schlimmes angestellt hatte und nicht wie ein Mädchen, das gerade erfahren hatte, dass seine Mutter gestorben war.
Nein, einfach nein. Es fühlte sich so falsch an.
Etwa eine Viertelstunde später, erreichten wir das Krankenhaus und so schnell ich konnte stieg ich aus dem Wagen. Anschließend rannte ich in die Klinik und an die Rezeption.
»Ist meine Mutter hier? Was ist mit ihr passiert?«, fragte ich mit Panik in der Stimme und starrte die Krankenschwester mit weit aufgerissenen Augen an. Mein Atem ging nur noch stoßweise und mein Herz schlug mir bis zum Hals.
»Wie ist Ihr Name?«, erkundigte sie sich geduldig und tippte mit ihren künstlichen Fingernägeln auf der Computertastatur herum.
Wie konnte sie nur so entspannt bleiben? Das Verhalten der Krankenschwester brachte mich nur noch mehr in Rage. Ich wollte doch nur zu meiner Mama.
»Watson, Amelia Watson! Meine Mutter ist Vera Watson! Ich will wissen, was mit ihr los ist. Wenn das nur ein Scherz sein soll, dann ist er nicht lustig!«, antwortete ich und biss mir auf die Lippe.
Jetzt bloß nicht heulen.
Die Krankenschwester musterte mich für einen kurzen Moment, dann stand sie auf und lief um den Tresen herum.
»Komm mit, ich bringe dich zu deiner Mutter«, sagte sie abermals ruhig, allerdings mit einem wehmütigen Unterton in der Stimme und ging voran.
Mit schnellen Schritten folgte ich ihr und gemeinsam stiegen wir in den Aufzug. Schwester Marylin, so stand es jedenfalls auf ihrem Namensschild, betätigte kurz darauf den Knopf für den Keller.
Sofort erstarrte ich und mein Atem beschleunigte sich. Die Angst in mir wuchs und ich wollte einfach nur noch Mom sehen. Zitternd faltete ich meine Hände ineinander und versuchte nicht daran zu denken.
Sie war nicht tot.
Der Aufzug hielt endlich an und als sich die Türen öffneten, spürte ich sofort eine eisige Kälte. Wir waren in der Leichenhalle.
Nein, nein, nein.
Schwester Marylin ging voran und nach kurzem Zögern trat ich ebenfalls in den Raum. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und wollte immer noch nicht daran denken. Der lange Flur endete in einem großen Raum, in dem sehr viele Metalltische aufgereiht waren. Allerdings waren sie alle leer, bis auf einen ganz hinten in der Ecke. Dort stand schon Schwester Marylin und unterhielt sich gerade mit einem Arzt.
Zuerst konnte ich nicht sehen wer dort unter dem Tuch verdeckt war. Doch dann, es war nur eine kleine Bewegung von dem Arzt und ich konnte die roten Haare entdecken, die unter dem Tuch herausragten.
Meine Knie wurden weich und ich musste mich an einem der Tische abstützen, damit ich nicht auf den Boden fiel.
»Mom?«, keuchte ich und jetzt schienen mich die beiden anderen Menschen im Raum erst wahrzunehmen.
Angrenzend stand ich genau neben ihnen und schob mich zwischen der Schwester und dem Arzt hindurch, damit ich das Tuch beiseite ziehen konnte. Mit einem Ruck legte ich das Gesicht der Person frei und verlor endgültig die Beherrschung.
Dort lag sie, reglos und steif wie ein Stein.
Geschockt schlug ich mir die Hände vor den Mund und sank auf den Stuhl, der neben dem Tisch stand.
»M-Mom?« Zitternd griff ich nach ihrer Hand, zog meine aber sofort wieder zurück, denn ihre Haut war eiskalt. Jedoch war ich viel zu schockiert über die Tatsache, dass sie sich nicht bewegte, um zu bemerken wie ungewöhnlich ihr kühler Körper war.
»Mom, bitte wach auf«, wisperte ich mit zittriger Stimme und nahm tief Luft.
Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter, also wandte ich widerwillig den Blick von Mom ab und sah die Person an.
»Es tut mir wirklich leid für Sie, aber sie wird nicht mehr aufwachen«, flüsterte der Arzt mitfühlend.
Wortlos drehte ich mich wieder zu Mama und umfasste vorsichtig ihre Hand.
»Bitte, lass uns nach Hause gehen, Mom«, sagte ich wieder und als sie sich immer noch nicht rührte, dämmerte es mir so langsam. Sie war wirklich tot und sie würde nie wieder zurückkommen.
Ein Schrei entfuhr mir und dann kamen die Tränen. Mein Kopf sank auf die kalte Tischplatte und ich weinte mir die Augen aus.
Wieso hast du mich alleine gelassen? Du hattest mir versprochen noch viele weitere Jahre bei mir zu bleiben. Das war nicht fair!
Wie lange ich dort saß und um meine Mutter trauerte, wusste ich nicht. Immer wieder überfielen mich Schluchzer und ich konnte immer noch nicht glauben, dass sie weg war. Sie war nicht mehr hier und mein ganzes Leben bestand nur noch aus einem großen schwarzen Loch.
~*~
Die nächsten Tage liefen für mich sehr mechanisch ab. Zuerst nahm ich wieder Kontakt zu meinem Vater auf, da ich zu ihm nach Broken Village ziehen musste. Das hieß ich würde Terry für eine lange Zeit nicht mehr sehen. Dass er deswegen sehr traurig war, ließ er sich jedoch nicht anmerken und wich kaum von meiner Seite. Er half mir dabei die Beerdigung für meine Mutter zu organisieren, da ich dazu alleine nicht in der Lage war.
Ich entschied mich für eine anonyme Bestattung, da ein Grab zu teuer gewesen wäre und ich es sowieso nicht hätte besuchen können. Auch wenn ich mir sicher sein konnte, dass Terry dort jeden Tag vorbeischauen würde, wollte ich ihm nicht noch mehr Arbeit machen.
Während der Beerdigung passierte schließlich etwas sehr Merkwürdiges. Obwohl es ein warmer Märztag war, spürte ich plötzlich einen kalten Luftzug um meine nackten Beine streichen und erschauerte für einen kurzen Moment. Verstohlen sah ich zu den anderen Anwesenden, aber weder Terrys Eltern, noch der Pfarrer oder Moms alte Kollegen hatten etwas davon gespürt. Blinzelnd schüttelte ich den Kopf und vergrub mein Gesicht in der Schulter meines besten Freundes, doch es kamen keine Tränen. Während alle anderen um mich herum Rotz und Wasser heulten, starrte ich ausdruckslos auf die große weite Wiese, in der schon viele andere tote Menschen begraben wurden und gab meiner Mutter ein leises Versprechen: Dass ich sie nie vergessen, für immer lieben und mein Leben weiterleben würde. Denn das wäre es, was sie gewollt hätte.
~*~
Einige Tage darauf war es auch schon so weit. Die meisten Sachen wurden schon verpackt und nach Broken Village geschickt, bis auf die wichtigsten Dinge, die ich noch zum Leben brauchte. Da Terry die letzten Tage bei mir übernachtete, war er es der mich am Tag meiner Abreise weckte und mich dazu brachte, ein wenig zu essen. Anschließend nahm er meinen Koffer und gemeinsam verließen wir das Apartment. Ich sah mich nicht mehr um, da mit diesem Ort zu viele Erinnerungen verbunden waren und ich sonst Angst hatte zusammenzubrechen.
Vor dem Gebäude wartete ein gelbes Taxi auf uns, das uns zum Flughafen fahren würde. Während der Fahrt hielt ich die ganze Zeit Terrys Hand fest gedrückt und wenn man uns so sah, könnte man denken wir wären ein Pärchen, das sich für immer trennen musste. Doch ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, meinen besten Freund für eine unbestimmte Zeit zu verlassen. Außerdem hatte ich Sorge davor was mich in Broken Village erwarten würde. Dort kannte ich bloß meinen Vater und wären die Schüler auf der High School dort so wie hier in New York, dann hätte ich niemanden der mir zur Seite stehen würde.
Am Flughafen angekommen blieb uns noch eine Stunde, bevor mein Flug losging. Schweigend schlenderten wir durch den riesigen Airport, sprachen über Gott und die Welt und versuchten nicht an den Abschied zu denken.
Doch dieser kam schneller als wir dachten. Mein Gepäck hatte ich schon abgeben und nun war es Zeit sich von Terry zu verabschieden. Ich schlang fest meine Arme um ihn und vergrub mein Gesicht an seiner Brust, um seinen vertrauten Geruch ein letztes Mal einzuatmen. Terrys muskulöse Arme hielten mich einige Sekunden fest, doch dann schob er mich von sich weg und sah mir ins Gesicht.
»Ich werde ja nicht aus der Welt sein. Wir können jeden Tag telefonieren«, sagte er und ich wusste, dass er mich damit beruhigen wollte.
Ich nickte nur und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. »Komm bloß nicht auf die Idee, ohne mich Blödsinn zu machen. Das würde ich dir nie verzeihen«, erwiderte ich schniefend und bevor ich es verhindern konnte, kullerten die ersten Tränen über meine Wangen.
Wütend wischte ich sie weg, denn ich hatte in den letzten zwei Wochen viel zu oft geweint.
»Das würde ich doch nie tun. Wir werden uns bald wiedersehen, das verspreche ich dir. Indianer Ehrenwort«, entgegnete Terry grinsend und hielt mir seinen kleinen Finger hin.
Ich grinste leicht zurück und hakte meinen kleinen Finger bei seinem ein.
Schließlich kam die Durchsage für den letzten Aufruf meines Fluges. Schlagartig wurde ich wieder traurig, drückte Terry noch ein letztes Mal an mich und begab mich durch den Schalter. Bevor die Türen sich schlossen, winkte ich Terry noch mal zu und er hob ebenfalls seine Hand zum Abschied, dabei sah er mich mit seinem typischen Lächeln auf dem Gesicht an. Das war das Letzte was ich sah, bevor sich die Türen endgültig schlossen und ich von einer Stewardess dazu aufgefordert wurde, mich auf meinen Platz zu setzen. Kurz darauf wurden schon die Motoren gestartet, das Flugzeug erhob sich in die Lüfte und brachte mich meinem neuen Leben ein kleines Stück näher.
~Broken Village 10.04.2012
Also hier stand ich nun. Am Flughafen von Broken Village und wartete seit einer halben Stunde auf meinen Vater. Seufzend sah ich mich um, aber von ihm war weit und breit keine Spur zu sehen. Doch dann fiel mir ein, dass mein Handy ja noch aus war. Vor Schreck schlug ich mir die Hand vor den Mund, als ich die elf verpassten Anrufe sah. Schnell wählte ich die Nummer meines Vaters und rief ihn zurück.
»Hallo Spätzchen«, meldete er sich nach ein paar Sekunden.
»Wo bleibst du, Dad?«, fragte ich ungeduldig und sah mich wieder um.
»Tut mir leid, aber ich musste etwas länger arbeiten und dann stand ich noch im Stau. Ich bin sofort da«, entschuldigte er sich.
»Das will ich auch hoffen«, murmelte ich müde und legte auf.
Ein paar Minuten später entdeckte ich Dad auch schon. Er betrat gerade den Gate und sah sich nach mir um. Seine Haare waren braun und auf seiner Nase trug er stets eine Lesebrille. Zwei unverwechselbare Merkmale, die mich ihn schon von weitem erkennen ließen. Dad war zudem ein sehr intelligenter Mann, mochte Bücher schon immer und war leitender Bibliothekar der Broken Village Bücherei. Dies war seit jeher sein größter Traum gewesen und als sein eigener Boss musste Dad natürlich auch viel arbeiten. Mom hingegen hatte zwar auch hart gearbeitet, allerdings verfolgte sie nie ein genaues Ziel. Ihr war es wichtiger, dass für mich gesorgt war und sie Geld nach Hause brachte. Schon interessant wie sich zwei Menschen, die so unterschiedlich waren, sich zueinander hingezogen fühlen konnten. Damit hatten sie bestimmt nicht gerechnet, als sie sich auf dem College kennenlernten. Vor allem Dad nicht, wenn ich so an die Bilder dachte, die ihn als jungen Mann zeigten. Er war der schüchterne Literaturstudent gewesen, der seinen ersten Kuss wahrscheinlich erst auf seinem Abschlussball bekam. Mom andererseits war eine selbstbewusste Architekturstudentin gewesen, die mit Sicherheit den Männern den Kopf verdreht hatte. Wie genau sie sich damals kennenlernten wusste ich allerdings bis heute nicht, doch Mama hatte Dad geliebt. Dessen war ich mir bewusst.
Als Dad schließlich auf mich zukam, rannte ich auf ihn zu und ließ mich von ihm in eine Umarmung ziehen. Sofort stieg mir der vertraue Geruch von Männerparfüm und alten Büchern in die Nase. Nach kurzer Zeit ließ mein Vater mich los und musterte mich.
»Es ist so schön dich wiederzusehen. Hattest du einen angenehmen Flug?«, begrüßte er mich.
»Ja, den hatte ich. Es fiel mir leichter als ich dachte«, erwiderte ich leise und sah ihn an.
Er lächelte mich bekümmert an, drückte meine Schulter leicht und nickte verständnisvoll. Schweigend nahm ich seine Hand in meine und griff mit der anderen einen meiner Koffer.
»Lass uns gehen, ich will hier nicht länger herumstehen«, meinte ich schließlich.
Mein Vater nickte und schnappte sich mein anderes Gepäck. Anschließend verließen wir den Flughafen und fuhren nach Hause.
~*~
Während der Autofahrt sah ich die ganze Zeit nur aus dem Fenster und lauschte der Musik im Radio. Mit Dad ein Gespräch zu führen war noch nie leicht gewesen, doch heute kam es mir ganz gelegen. Im Augenblick fühlte ich mich nicht dazu in der Lage mich mit ihm zu unterhalten. Ihm ging es da bestimmt nicht anders und so hingen wir beide unseren Gedanken nach.
Broken Village war wirklich eine schöne Stadt und man hatte einen tollen Ausblick aufs Meer. So etwas war ich gar nicht gewohnt. In New York sah man nur Wolkenkratzer, Autos und jede Menge Menschen. Hier war es ganz anders. Die Häuser lagen alle schön weit auseinander, die Straßen waren frei und man sah nur manchmal jemanden auf dem Bürgersteig Spazieren gehen.
Bevor meine Eltern sich trennten, lebte ich zwar noch in Broken Village, aber da ich noch sehr jung war konnte ich mich kaum noch an meine Zeit in der Stadt erinnern. Hin und wieder war ich mal zu Besuch gewesen, aber das letzte Mal lag auch schon wieder vier Jahre zurück.
Zehn Minuten später hielt Dad schon vor einem kleinen Haus, das einen gemütlichen Vorgarten und eine Veranda hatte. Anschließend stieg ich aus dem Auto und sah mich um.
»Es ist total schön hier«, stellte ich mal wieder fasziniert fest, dabei bemerkte ich nicht, dass Dad schon meine Koffer an die Tür getragen hatte. Lächelnd ging ich zu ihm und betrat das Haus.
»Du hast bestimmt Hunger. Tut mir leid, aber ich hatte noch keine Zeit zu kochen«, äußerte er sich und sah mich entschuldigend an.
Ich schmunzelte und erwiderte seinen Blick. »Ist schon okay, Dad. Ich bin sowieso noch müde von dem Flug und wollte erst mal schlafen.«
»Na, wenn das so ist, zeige ich dir mal dein Zimmer.« Er lächelte und ging die Treppen nach oben.
Ich folgte ihm und kam gerade oben an, als er das erste und einzige Zimmer auf der linken Seite betrat. Gegenüber befand sich noch eine andere Tür, die wohl zu seinem Schlafraum führte. Mein Schlafzimmer war gerade mal so groß, dass ein Doppelbett, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch hinein passten. Der Boden war mit hellem Laminat ausgelegt und die Wände waren in lavendelfarben gestrichen. So hatte ich es nicht mehr in Erinnerung. Ich konnte mich noch an eine Schlafcouch erinnern und an kahle Wände.
»Ich habe es vor ein paar Tagen renoviert. Hoffe es reicht für den Anfang«, erklärte er mir.
Grinsend umarmte ich Dad und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Es ist perfekt. Danke, Daddy.«
»Ich muss jetzt nochmal ins Archiv. Kann sein, dass ich erst nach Mitternacht wiederkomme. Du kommst zurecht?«, fragte er unsicher und zur Bestätigung nickte ich.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, erwiderte ich.
Er lächelte erneut und gab mir einen Kuss auf die Stirn, hinterher verließ er das Zimmer und fuhr zur Arbeit. Dad würde vor Mitternacht nicht zu Hause sein, also hatte ich genug Zeit für mich alleine.
Nachdem ich das Wichtigste aus meinen Koffern geräumt hatte, schnappte ich mir meinen Schlafanzug und machte mich fürs Bett fertig. Während ich mich in die Kissen kuschelte, fiel mein Blick auf das Bild von mir und Mama, welches ich zuvor noch ausgepackt hatte. Ich schluckte und griff mit zittrigen Händen nach dem Foto. Ganz leicht fuhr ich mit meinen Fingern über das Portrait und sah in das lächelnde Gesicht von Mom. Sie war jetzt schon ein paar Wochen tot, aber ich vermisste sie immer noch schrecklich. Plötzlich war mein Hals wie zugeschnürt und schon spürte ich, wie im nächsten Moment die ersten Tränen über meine Wangen liefen. Schnell wischte ich diese mit der Bettdecke weg und stellte das Bild wieder an seinen Platz. Anschließend drehte ich mich auf die andere Seite und zog die Bettdecke bis zu meinem Kinn. Es dauerte auch gar nicht lange bis ich einschlief.
~*~
Gegen fünf Uhr abends wurde ich das erste Mal wach. Meine Wangen fühlten sich heiß an und als ich mit der Hand darüber fuhr, konnte ich meine getrockneten Tränen spüren. Ich musste wohl im Schlaf geweint haben, jedoch fühlte ich mich durch das Nickerchen frisch und erholt.
Nachdem ich in meine kuscheligen Hausschuhe geschlüpft war ging ich nach unten in die kleine geräumige Küche, denn allmählich machte sich mein Magen bemerkbar. An das Haus hier musste ich mich noch gewöhnen, denn es war so ganz anders als das Apartment aus Manhattan. Allerdings passte es perfekt in diese Stadt, genauso wie Dad. Von mir konnte ich das noch nicht behaupten.
Im Kühlschrank suchte ich zuerst einmal nach etwas Essbarem, doch leider besaß Dad nur Fertigprodukte.
Da musste ich mit ihm auf jeden Fall noch einkaufen gehen; dachte ich entschlossen.
Weil ich nichts anderes fand, schob ich mir eine Tiefkühlpizza in den Backofen. Derweil wollte ich nach etwas zu trinken suchen, fand aber nur Bierflaschen, Whiskey, Wodka und anderen Alkohol. Es stand schlechter um meinen Vater als ich dachte, bemerkte ich besorgt und nahm mir fest vor mit ihm zu reden. Meine Eltern lebten zwar schon seit vielen Jahren getrennt, doch Moms Tod ließ auch ihn nicht kalt. Immerhin waren sie neun Jahre verheiratet gewesen und bekamen mich als Tochter.
Seufzend nahm ich mir ein Glas und füllte es mit Leitungswasser. Während ich aß, checkte ich meine Nachrichten auf dem Handy, doch auf meine SMS, dass ich gut angekommen war, hatte Terry noch nicht geantwortet. Da heute Sonntag war, war er bestimmt noch mit seinen Hausaufgaben beschäftigt, die er schon immer das ganze Wochenende über vor sich hergeschoben hatte. Schnell schob ich mein Handy in die hinterste Ecke des Tisches.
Oh, Terry; du fehlst mir jetzt schon so sehr; dachte ich betrübt und schluckte mit Mühe das Pizzastück hinunter. Es waren gerade mal ein paar Stunden, doch es kam mir schon vor wie Tage, seit denen wir uns nicht mehr gesehen hatten.
Nachdem ich fertig mit essen war wusste ich nicht so recht was ich machen sollte, also entschied ich mich dafür mich im Haus ein bisschen umzuschauen. Das Wohnzimmer war sehr groß und geräumig, mit hellen Möbeln und einigen Pflanzen. Der Boden war mit beigefarbenen Laminat ausgelegt und die Wandvertäfelung bestand unten aus dunklem Holz und oben aus einem etwas dunklerem Beige als der Fußboden. Eine Glastür führte in den kleinen Garten dahinter und durch die großen Fenster war dies der hellste Raum in unserem Haus. Die Küche befand sich demnach gegenüber des Wohnraumes und wies alles auf, was man zum Kochen brauchte. Am Fenster auf der rechten Seite war noch ein Tisch mit Stühlen. Schließlich gab es noch ein Gäste-WC und eine Tür, hinter der Treppen in die Dunkelheit führten.
Gerade wollte ich in den Keller gehen, als es an der Tür klingelte. Ich fragte mich wer wohl meinen Vater besuchen wollte, während ich den Flur durchquerte. Ob er eine Freundin hatte? Die letzten Jahre hatte er jedenfalls nichts in der Richtung erwähnt. Doch sollte es sich wirklich um seine Lebensgefährtin handeln, müsste sie doch wissen, dass er arbeiten war.
In dem Moment als ich die Haustür aufriss, starrte ich jäh in zwei eisblaue Augen, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen, doch keineswegs auf unangenehme Weise. Der Junge grinste mich derweil frech an, da ihm mein Gesichtsausdruck sofort aufgefallen war. Die Haare von ihm waren schwarz und standen in einer wuscheligen Konstellation von seinem Kopf, seine Wangenknochen waren sehr ausgeprägt, er hatte eine gerade Nase, ein kräftiges Kinn, war mindestens anderthalb Köpfe größer als ich und hatte das Gesicht eines Engels. Mich würde es nicht wundern, wenn all die Mädchen aus der Stadt auf ihn abfuhren.
»Also ich weiß ja, dass Frauen auf mich stehen, aber sprachlos waren sie noch nie«, meldete er sich zu Wort und musterte mich belustigt.
Verdammt, seine Stimme klang wie Musik in meinen Ohren. Blinzelnd sah ich ihn an und holte ein paar Mal tief Luft. Ich wusste es. Er war ein eingebildeter Macho.
»Kann ich dir helfen?«, fragte ich in neutralem Ton und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mich seine Gegenwart nervös machte.
»Ich wollte das hier zu Mr Watson bringen,« erklärte er mir und hielt ein Buch über amerikanische Geschichte in der Hand.
Bestimmt hatte er es aus der Bibliothek ausgeliehen, aber wieso brachte er es dann nicht einfach dorthin zurück? Statt einer sarkastischen Antwort nickte ich bloß und wollte ihm das Buch abnehmen, doch als sich unsere Hände berührten durchfuhr mich ein so heftiger Stromschlag, dass ich ruckartig meine Hand mitsamt dem Buch zurückzog. Taumelnd ging ich einen Schritt zurück und starrte ihn an. Was zur Hölle war das gerade gewesen?
Der Junge jedoch schien darüber überhaupt nicht überrascht zu sein, denn er war immer noch so gelassen wie vorher und grinste. »Ich heiße übrigens Nick.«
»A... Amelia«, stammelte ich immer noch total geschockt vor mich hin.
»Hat mich gefreut, Amelia«, gab er freundlich zurück, grinste mich nochmal an und verließ dann das Grundstück.
Schnell schloss ich die Tür und lehnte mich mit dem Rücken dagegen.
Das war merkwürdig; dachte ich mir und versuchte dabei meinen Atem und rasenden Puls unter Kontrolle zu bekommen.
Erst als der erste Schock vorbei war spürte ich, dass mein Mal am Handgelenk brannte. Als ich es mir genauer ansehen wollte, zog ich scharf die Luft ein und wäre am liebsten erneut in Tränen ausgebrochen. Mein Leberfleck sah auf einmal ganz anders aus! Die Blüten waren weiß und in der Mitte schimmerten sie grünlich. Jetzt sah es so aus, als ob ich mir eine Blume auf mein Handgelenk tätowiert hätte.
Das Buch legte ich erst einmal auf der Kommode ab, ehe ich nach oben ins Badezimmer rannte. Dort ließ ich Wasser über mein Handgelenk laufen, doch es brachte nicht viel und führte nur dazu, dass es noch mehr brannte. Der stechende Schmerz war mittlerweile so schlimm, dass ich kaum noch atmen konnte. Was passierte nur mit mir!? Das war doch nicht mehr normal! Scheiße! Wieder einmal schnürte mir die Panik die Luft ab. In diesem Augenblick fühlte ich mich vollkommen alleine gelassen, aber wer würde mir schon helfen können? Dem Notarzt konnte ich ja schlecht erzählen, dass mich ein Junge berührte und sich daraufhin mein Geburtsmal veränderte, welches nun so stark schmerzte, dass ich nicht mal mehr denken konnte. Nein, die würden mich eher in die Klapse fahren, anstatt in die Notaufnahme.
In meinem Schlafzimmer angekommen suchte ich nach einem Desinfektionsmittel.
Vielleicht würde das ja helfen; dachte ich hoffnungsvoll.
Aber nach wenigen Minuten gab ich die Suche auf und ließ mich einfach auf mein Bett fallen. Mit meiner anderen Hand umklammerte ich mein Handgelenk und versuchte an etwas Schönes zu denken. Vor meinen Augen blitzte Terrys strahlendes Lächeln auf. Er winkte mir zu und deutete mir dann ihm zu folgen. Nur zu gerne ließ ich mich von ihm durch die Straßen von Manhattan führen. Aber schon nach kurzer Zeit veränderte er sich. Seine Haare wurden kürzer und dunkler und als er sich erneut zu mir umdrehte, sah mich Nick aus diesen blauen Augen an. Einige Strähnen fielen ihm frech über die Stirn, was ihn noch verwegener wirken ließ. Nick lächelte mich an und streckte anschließend seine Hand nach mir aus. Vorsichtig ergriff ich sie und ehe ich mich versah, strich er fürsorglich über mein Mal. Die Berührung fühlte sich so echt an, dass ich heftig zusammenzuckte und meinen Arm wieder zurückzog. Das war auch der Moment als sich mein Tagtraum um mich herum in Luft auflöste und ich mich wieder in meinem Zimmer befand.
In der Zeit hatte sich mein Körper von selbst in einen Dämmerzustand versetzt, dies machte er öfter, wenn es mir nicht gut ging. Hinterher befand ich mich in der kleinen Welt zwischen schlafen und wach sein und empfand nicht mehr so viele Schmerzen. Ich war schon beinahe wieder weg gedämmert, als ich plötzlich das Gefühl bekam, beobachtet zu werden. Also öffnete ich meine Augen einen Spalt und glaubte in der Dunkelheit die Gestalt einer Frau zu erkennen. Doch nachdem ich blinzelte war dort nichts mehr und alles was ich hörte, war das Ticken meines Weckers auf meinem Nachtschrank.
Ich wusste nicht wie lange ich schon auf dem Bett lag, aber irgendwann hörte das Brennen gänzlich auf. Langsam setzte ich mich auf und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
Hoffentlich wiederholte sich dieses Ereignis nicht; dachte ich müde und unterdrückte einen Schauer.
Jedenfalls hatte ich nicht vor diesen Nick, falls ich ihn überhaupt jemals wiedersehen sollte, auf dieses Ereignis anzusprechen. Er würde denken, dass ich ja völlig bescheuert sei.
Kurzerhand entschied ich mich dazu, Terry eine SMS zu schicken und ihm von den Ereignissen zu erzählen. Er war mein bester Freund und würde mich verstehen. Nachdem ich meinen halben Roman zu Ende geschrieben hatte, legte ich mein Handy weg und riss das Fenster auf. Anschließend fiel ich total erschöpft auf mein Bett und mit dem Gedanken an meinen ersten Schultag schlief ich erneut ein.
~*~
Am nächsten Tag wurde ich durch meinen nervigen Wecker wach. Aus Gewohnheit machte ich ihn wieder aus und drehte mich auf die andere Seite. Doch kurz bevor ich wieder einschlafen konnte, hörte ich wie sich meine Zimmertür öffnete.
»Amelia, steh auf. Du willst doch nicht an deinem ersten Schultag zu spät kommen oder?«, meinte Dad und rüttelte mich leicht an den Schultern.
Murrend zog ich die Decke über meinen Kopf. »Doch, ich will zu spät kommen. Ich hab keine Lust auf Schule«, beschwerte ich mich, dabei konnte ich ihn seufzen hören.
»Steh auf, Amelia. Es wird dir gut tun wieder einen normalen Alltag zu führen«, erwiderte Dad streng und in einem Ton, der keine Widerworte duldete.
»Ich steh ja gleich auf«, grummelte ich schließlich ergeben.
Er schien wohl zufrieden mit der Antwort zu sein, denn er verließ ohne ein weiteres Wort mein Zimmer. Normaler Alltag? Ha, dass ich nicht lache! Wie sollte ich das alles nur ohne Terry schaffen? Er war mein Fels in der Brandung, derjenige der immer für mich da war und mich aus brenzligen Situationen rettete. Er hielt mich fest, wenn ich kurz davor war zu explodieren oder einen Fehler zu begehen. Und wenn ich mit dem Kopf durch die Wand wollte, war er es, der mir einen Vorschlaghammer in die Hand legte. Das alles mochte zwar total kitschig klingen, doch es war die Wahrheit. Ohne Terry fühlte ich mich verloren und allein gelassen.
Es hatte ja doch keinen Sinn, also stand ich auf und machte mich frisch, ehe ich nach unten ging. Mein Vater saß schon am gedeckten Frühstückstisch und las Zeitung. Er lächelte mich an, um mir zu zeigen, dass alles in Ordnung war, doch ich wusste es besser.
Ich glaubte ihm nicht, dass alles im Lot war und dies teilte ich ihm auch in diesem Moment mit: »Dad, du hast ein Problem damit, dass Mom gestorben ist.«
Überrascht sah er mich an und legte die Zeitung beiseite. »Nein! Wie kommst du denn darauf?«
»Weil literweise Alkohol in den Schränken steht und sonst nichts!«, fuhr ich ihn an.
Schuldbewusst zuckte er zusammen, sah mich jedoch aufmerksam an. »Vielleicht ein bisschen«, gab er kleinlaut zu.
Als Antwort grummelte ich etwas Unverständliches. »Ich mache mir Sorgen um dich«, gab ich schließlich ernst zurück und setzte mich gegenüber von ihm hin.
»Das brauchst du nicht. Ich bin ein erwachsener Mann und komme gut klar«, entgegnete er ruhig.
»Dad! Alkohol ist keine Lösung!«, warf ich ein. »Wenn ich heute nach Hause komme, gehen wir einkaufen«, fügte ich noch hinzu und ließ ihn mit diesen Worten sitzen.
Dad war zwar noch nie jemand gewesen, der gerne kochte und sich lieber mal etwas zu Essen bestellte oder nach der Arbeit in einem Diner hielt. Aber mit hochprozentigem Alkohol hatte er noch nie viel am Hut gehabt. Auf Feiern oder Sonstiges hatte er zwar gerne mal mit angestoßen und auch ein Feierabendbier war mal drin, doch das war ja alles noch harmlos. Selbst die Augenringe waren mir nicht entgangen. Es tat mir weh ihn so zu sehen und ich fragte mich wie lange das schon so ging. Erst als er von Moms Tod erfahren hatte oder schon länger?
Das würde ich wohl nicht so schnell herausfinden; dachte ich missmutig als ich in meinem Zimmer ankam.
Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für ein hellblaues Top, eine schwarze Jeans und meine türkisfarbenen Chucks. Dann zog ich noch mehrere Armbänder über mein linkes Handgelenk, um mein Mal zu verdecken. Schließlich griff ich nach meiner Tasche und verließ das Haus. Wenigstens wurde mein Auto schon ein paar Tage vorher zu meinem Vater geschickt, sodass ich selbst zur Schule fahren konnte. In meinen Navi gab ich noch die Adresse von der Schule ein und fuhr anschließend los.
Eine Viertelstunde später hielt ich schon auf dem Parkplatz von der Broken Village High School. Zuerst konnte ich nur die vordere Fassade sehen und die sah aus wie ein normales Schuldgebäude. Flaches Dach, helle Außenwand und große eckige Fenster. Zwischen dem Haus und dem Schulfhof befand sich etwas Wiese mit verschiedenen Blumenarten, die allerdings durch einen Zaun geschützt wurden. Ansonsten gab es noch ein paar Tische mit Sitzbänken, also nichts Besonderes.
In dem Augenblick, in dem ich aus dem Auto steigen wollte erblickte ich ihn. Nick stand keine fünf Meter entfernt an einer Mauer gelehnt und unterhielt sich mit einem Mädchen. Da sie mit dem Rücken zu mir stand, konnte ich nur ihre langen braunen Haare erkennen. Ihre Beine steckten in einer Röhrenjeans und sie trug ganz normale Sneakers. Ob sie wohl seine Freundin war? Sofort verwarf ich den Gedanken und stieg ich aus dem Wagen.
»Hey, Amelia! Warte mal!«, rief Nick plötzlich, als ich schon fast den Eingang erreichte.
Verdammt. Ich dachte, er würde mich nicht bemerken. Seufzend blieb ich stehen und sah ihn an.
»Ich muss zum Sekretariat«, gab ich knapp zurück.
»Ich kann es dir zeigen«, warf er breit lächelnd ein und dabei blitzten seine perfekten Zähne auf.
Mein Blick wanderte zu seinen schönen Augen, doch dies entpuppte sich als großer Fehler, denn sie zogen mich sofort ihn ihren Bann. Schwuppdiwupp kam mir auch mein Tagtraum von gestern wieder in den Sinn. Ob ich ihn nicht doch mal auf das Ereignis ansprechen sollte? Nein, wer weiß, ob ich mir das alles nicht bloß eingebildet hatte.
»Das wäre wirklich nett«, erwiderte ich freundlich, damit er nicht noch Verdacht schöpfen konnte.
Nick grinste als Bestätigung und ging los. Mit langsamen Schritten folgte ich ihm, dabei musterte ich ihn eingehend. Er trug ein haselnussbraun-weiß kariertes Hemd, welches er bis zu seinen Ellenbogen hochgekrempelt hatte, dazu eine dunkelblaue Jeans und braune Turnschuhe, die an der Spitze allerdings weiß waren. Seine Statur wies Ähnlichkeiten zu der von Terry auf, allerdings besaß Nick mehr Muskeln.
»Was wolltest du von mir?«, fragte ich ihn schließlich, während wir die Treppen zum Eingang hinaufstiegen.
»Ich wollte dir nur sagen wie toll ich es finde, dass du die gleiche Schule wie ich besuchst.« Er grinste aufs Neue und ich spürte wie meine Wangen aufgrund dessen rot wurden.
Verlegen sah ich auf den Boden und konnte so auch nicht das Mädchen sehen, gegen das ich lief. Ihre gesamten Bücher fielen sofort auf den Grund, nachdem wir zusammengestoßen waren.
»Kannst du nicht aufpassen!?«, maulte sie mich direkt genervt an.
Ihre Stimme ließ mich in ihre Richtung blicken, da mein Blick zuvor noch den Dielen zugewandt war. Sie hatte lange blonde Haare, grüne Augen und trug ein pinkes Kleid, welches so kurz war, dass man bestimmt ihren Hintern sehen konnte. Das war dann wohl die Schulschlampe, alias First Cheerleader.
»Sorry, hab dich nicht gesehen«, gab ich entschuldigend zurück.
Sie schnaubte nur und hob ihre Bücher auf. Wow, wahrscheinlich war sie es nicht gewohnt, dass man sie übersah. Und ich hatte recht, denn man konnte wirklich ihren Po sehen. Angewidert verzog ich das Gesicht.
»Du solltest aufpassen, dass dir keine Fliegen in den Arsch fliegen. So falsch wie du riechst dauert es bestimmt nicht mehr lange, bis sie dich interessanter finden als Pferdemist«, bemerkte ich mit rümpfender Nase.
Wütend blickte sie mich an, aber bevor sie sich in Rage reden konnte zog Nick mich weiter. Diesmal war da kein Stromschlag, der von seiner Berührung durch meinen Körper jagte. Du drehst noch durch, Amelia; sagte ich zu mir selbst. Wahrscheinlich war ich gestern einfach noch zu aufgewühlt wegen dem Flug und allem gewesen.
Verstohlen checkte ich erneut mein Handy, doch Terry hatte mir noch nicht geantwortet.
»Das war echt beeindruckend«, meinte Nick begeistert.
Ich zuckte mit den Schultern, ehe ich ihm antwortete: »Ich komme aus New York. Da muss man solche Sprüche drauf haben.«
»Finde ich gut.« Er grinste mal wieder, doch diesmal musste ich auch schmunzeln.
So schlimm war er ja doch nicht; dachte ich. Immerhin ließ er sich von der Tussi nicht beeindrucken, so wie die anderen Jungs an der Schule. Ich wollte ihn schon auf sie ansprechen, doch da blieb er vor einer Tür stehen auf der "Sekretariat" stand.
»So, da wären wir«, entgegnete Nick.
Ich lächelte ihn dankend an. »Danke, Nick.«
»Gerne doch. Ich hoffe, du kommst in meine Klasse.«
Er zwinkerte mir noch zu und ging dann den Gang entlang. Nachdem er weg war, klopfte ich an die Tür und trat ins Sekretariat.
»Guten Morgen«, begrüßte ich die ältere Frau hinter der Information und sah sie freundlich an.
Sie hatte ein rundliches Gesicht, das von Falten überzogen war, kurze graue lockige Haare und braune große Augen, die so gar nicht in das Gesicht zu passen schienen.
»Morgen. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie schlecht gelaunt.
Welche Laus war der denn über die Leber gelaufen? Einen Moment zögerte ich, trat dann jedoch nach vorne zu ihr an den Tresen und reichte ihr mein Anmeldeformular. Sie las es sich durch, anschließend ging sie an ein Fach hinten an der Wand und suchte etwas. Nach kurzer Zeit drückte die Sekretärin mir einen Stundenplan in die Hand und nannte mir den Raum, in dem ich meine erste Stunde hatte. Dankend wandte ich mich von ihr ab, verließ das Sekretariat und machte mich auf die Suche nach dem Klassenraum.
~*~
»Kann ich dir helfen?«, fragte mich eine weibliche Stimme.
Ich sah auf, da mein Blick noch dem Plan der Schule galt und sah das Mädchen an. Sie hatte braune lange Haare, braune Augen und war einige Zentimeter größer als ich. Außerdem trug sie ein Paramore T-Shirt, das war meine absolute Lieblings Band. Als ich sie genauer betrachtete fiel mir auf, dass sie es war, mit der sich Nick noch vor der Schule unterhalten hatte.
»Ja. Ich suche den Klassenraum, in dem Englisch unterrichtet wird«, antwortete ich ihr und lächelte leicht.
»Bei Mrs Louvers?«, fragte sie nach.
Ich sah auf meinen Plan und nickte. »Ja, genau.«
»Dann komm mal mit, ich habe jetzt auch bei ihr Unterricht«, erwiderte sie lächelnd und ging los. Ohne zu zögern folgte ich ihr.
»Ich heiße Amelia«, stellte ich mich vor.
»Freut mich, Amelia. Ich heiße Hannah. Deine Haare finde ich richtig toll«, bemerkte sie grinsend.
Überrascht sah ich sie an. Noch nie sagte jemand zu mir, dass er meine roten Haare mochte. Bis auf Terry natürlich, aber der war eine Ausnahme.
»Danke. Ich mag dein Shirt«, gab ich ebenfalls grinsend zurück.
Hannah fand ich sofort von Anfang an sympathisch. Anscheinend waren die meisten Teens hier doch nicht so eingebildet wie an meiner alten Schule.
»Du magst Paramore?«, fragte sie überrascht und ich konnte schwören, dass ich so etwas wie eine Flamme in ihren Augen aufblitzen sah.
»Natürlich. Ich liebe sie. Immer wenn ein Konzert am Madison Square Garden war, bin ich dort mit meiner Mutter hingegangen«, erzählte ich ihr und bei dem Gedanken an meine Mutter wurde mein Herz schwer, daher versuchte ich schnell an etwas anderes zu denken.
»Du kommst aus New York? Das muss bestimmt toll dort sein«, plapperte Hannah weiter.
»Na ja ich bin froh, dass hier nicht so viele Menschen leben. In New York war immer alles so voll«, entgegnete ich, woraufhin Hannah anfing zu lachen.
»Du müsstest doch daran gewöhnt sein, wenn du dort aufgewachsen bist«, warf sie ein.
»Ähm, ja.« Ich sagte ihr noch nicht, dass ich bis zu meinem siebten Lebensjahr hier gelebt hatte. »Ich mag es trotzdem nicht, wenn zu viele Menschen um mich herum sind. An den ganz schlimmen Tagen musste man sich wortwörtlich durch die Menge prügeln.«
»Uh, das klingt ja ätzend. Da brauchst du dir hier keine Sorgen zu machen«, erwiderte Hannah und zwinkerte mir zu.
Hinterher blieb sie plötzlich vor einer Tür stehen und öffnete diese. Es waren noch nicht viele Schüler in der Klasse, doch als ich sie betrat, warfen mir alle neugierige Blicke zu. Ich sah mich in der Klasse um und entdeckte sofort Nick. Er lächelte mich an, nachdem er mich auch bemerkte. Ich wollte schon zurücklächeln, aber dann würden bestimmt die meisten etwas Falsches denken, also nickte ich ihm nur kurz zu. Hannah setzte sich auf ihren Platz, deshalb setzte ich mich einfach auf den freien Stuhl daneben. Ich spürte immer noch alle Blicke auf mir, also hob ich mein Kinn und lächelte einige von ihnen an.
»Was ist? Habt ihr noch nie einen anderen Menschen gesehen? Also wirklich, ist euch dieses Anstarren nicht peinlich?«, fragte ich scherzend und lachte leicht.
Sofort sahen alle woanders hin und beschäftigten sich mit etwas anderem. Ich sah zu Hannah, die mich genauso beeindruckend ansah, wie es zuvor schon Nick getan hatte.
»Wow. Ich kam vor zwei Jahren von Phoenix hierher und da haben mich auch alle angestarrt, aber ich habe mich nicht getraut, ihnen die Meinung zu sagen.«
»Meine Mutter hat mir beigebracht, dass ich mir nichts gefallen lassen soll. Ich habe schon immer meine Meinung gesagt«, gab ich zurück und packte meine Schulsachen aus.
»Du redest oft von deiner Mutter. Magst du sie sehr?«
»Sie war immerhin meine Mom.« Ich biss mir auf die Lippe. Das wollte ich nicht sagen.
»War? Also...«
»Ich will nicht darüber reden«, unterbrach ich sie.
Hannah nickte verstehend und packte ebenfalls ihre Sachen aus, während ich nur auf die Tischplatte starrte und schwieg. Wieso war ich auch so dumm und musste immer wieder Mom erwähnen? Im Endeffekt tat ich mir damit nur selbst weh. Doch auf der anderen Seite fühlte es sich einfach noch nicht so an als ob sie wirklich … Tief atmete ich durch und wandte meinen Blick aus dem Fenster. Ich wollte nicht schon wieder anfangen zu weinen, vor allem nicht vor meinen neuen Mitschülern. Sie würden sonst nur denken ich wäre eine Heulsuse.
Kurze Zeit später klingelte es schon und die restlichen Schüler kamen in die Klasse geströmt. Erneut spürte ich ihre Blicke auf mir, aber ich ignorierte sie so gut es ging. Erst als Mrs Louvers die Klasse betrat, sah ich wieder nach vorne.
»Guten Morgen«, begrüßte sie alle und es kam ein einstimmiges "Guten Morgen" zurück.
Mrs Louvers war schon etwas älter, das verrieten ihre grauen Haare. Sie trug eine Brille mit runden Gläsern und sie war sehr klein und zierlich.
Aufmerksam sah sich die Lehrerin in der Klasse um und blieb mit ihren hellgrauen Augen schließlich bei mir hängen.
»Ein neues Gesicht sehen wir nicht oft hier. Komm doch bitte nach vorne und stelle dich kurz der Klasse vor«, sagte sie bestimmend.
Wieso wusste ich nur, dass das jetzt kam? Langsam stand ich auf und ging nach vorne.
»Mein Name ist Amelia Watson, ich bin 17 Jahre alt und von New York hierher gezogen«, fing ich an.
»Watson? Bist du mit Georg Watson verwandt?«, unterbrach Mrs Louvers mich und sah mich neugierig an.
»Er ist mein Dad«, erklärte ich ihr.
»Zum Glück hat er dieses Flittchen vor elf Jahren verlassen«, murmelte sie daraufhin, aber ich hatte sie trotzdem verstanden. Wut machte sich in mir breit und ich ballte die Hände zu Fäusten.
»Meine Mutter war kein Flittchen!«, erwiderte ich hitzig.
Wie konnte sie nur so von ihr reden? Sie kannte sie noch nicht mal. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und die ersten Tränen liefen über meine Wangen. Meinen Vorsatz, nicht vor der Klasse zu weinen, hielt ich ja wirklich super ein. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, rannte ich einfach aus dem Raum. Mrs Louvers rief mir noch nach, dass ich bleiben sollte aber ich dachte gar nicht daran.
Wir beide würden nicht gut miteinander klarkommen, dessen war ich mir jetzt schon bewusst.
Ich rannte auf den Schulhof und sah mich um. Dann ging ich einfach hinter das Gebäude und entdeckte einen kleinen Garten. Bei einer Bank blieb ich stehen und setzte mich hin, anschließend vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen und ließ den Tränen freien Lauf.
Was war das nur für eine Lehrerin? Sie war ja noch schlimmer als der strengste Lehrer auf meiner alten Schule. Er hatte immer hart durchgegriffen, doch er wäre nie auf die Idee gekommen einen Schüler vor der Klasse zu demütigen und vor allem nicht die Eltern zu beleidigen. Wie sollte ich das nur bis zum Abschluss aushalten? Aber vielleicht interpretierte ich auch gerade zu viel in die Sache hinein und sah es so extrem, weil ich im Moment sowieso noch empfindlich reagierte wenn es um Mom ging.
Keine Ahnung, wie lange ich hier schon saß, aber mein klingelndes Handy ließ mich plötzlich zusammenzucken. Schnell fischte ich es aus meiner Hosentasche und sah auf das Display. Die vertrauten Buchstaben von Terrys Namen blinkten mir entgegen, also nahm ich hastig ab und hielt das Handy an mein Ohr.
»Terry!«, sagte ich heiser und wischte mir mit dem Handrücken über mein Gesicht.
»Hey, Kleines. Was ist los?«, fragte er besorgt und ich konnte seine gerunzelte Stirn genau vor mir sehen.
So sah er immer aus, wenn sich Terry Sorgen machte. Also nahm ich tief Luft und erzählte ihm alles, was bisher passiert war. Meine Ankunft in der Stadt, die Sache mit Nick und wie sehr ich meine Englischlehrerin jetzt schon hasste. Nachdem ich geendet hatte musste ich schwer schlucken und atmete tief durch, da ich nicht schon wieder in Tränen ausbrechen wollte.
»Ich wünschte, ich wäre bei dir«, gab Terry zu und seufzte tief. »- aber du bist eine starke Person, Ames. Du wirst das alles schaffen. Der Anfang ist immer hart, aber mit der Zeit wird es besser. Vertrau mir, okay?«
Ich wollte schon etwas darauf erwidern, doch ich hörte auf einmal Schritte von weitem, also schluckte ich mein Ego hinunter und erwiderte: »Okay. Ich muss jetzt aufhören, da kommt jemand. Wahrscheinlich suchen sie schon nach mir.«
»Pass auf dich auf, ja?«, sagte Terry noch und bevor ich ihm antworten konnte, legte er schon auf.
Gerade als ich mein Handy wieder eingesteckt hatte, kam schon Nick um die Ecke gebogen und entdeckte mich auf der Bank.
»Mrs Louvers hat mich geschickt, um nach dir zu sehen. Ist alles in Ordnung?«, fragte er und musterte mich besorgt.
Ich schluckte erneut und versuchte mich zu beruhigen.
»Sehe ich etwa so aus, als wäre alles okay?«, erwiderte ich patzig und sah ihn an.
Im nächsten Moment bereute ich allerdings schon meine Aussage, doch er schien es mir nicht böse zu nehmen. Nick schüttelte den Kopf und reichte mir ein Taschentuch. Dankend nahm ich es an und putzte meine Nase.
»Willst du mir erzählen, wieso du hier sitzt und weinst?«, wollte er wissen und sah mich mitfühlend an.
»Vor einem Monat ist meine Mom gestorben«, antwortete ich leise und sah auf meine Hände.
Ich wollte es eigentlich noch keinem hier erzählen, aber es fühlte sich richtig an. Nick sagte nichts, sondern zog mich einfach in eine Umarmung. Überrascht schlang ich meine Arme um seine Taille und drückte mich fest an ihn. Es tat gut, von jemandem in den Arm genommen zu werden, der nicht nur sich selbst trösten wollte.
»Es wird alles gut«, flüsterte Nick und strich mir über den Arm.
Ich dachte, meine Tränen wären versiegt, aber nach ein paar Minuten musste ich schon wieder weinen. Es war einfach alles zu viel im Moment. Moms Tod, die Trennung von Terry, der Umzug, die neue Schule, diese blöde Lehrerin.
Wenige Zeit später hatte ich mich dann tatsächlich beruhigt und ließ Nick langsam los.
»Danke«, sagte ich leise und sah ihn an.
»Gern geschehen«, entgegnete er sanft und erwiderte meinen Blick.
Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit, also stand ich schnell auf und sagte: »Wir sollten zurück in die Klasse gehen. Ich will nicht, dass auch noch Gerüchte wegen uns aufkommen.«
Nick nickte verstehend und erhob sich ebenfalls. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in das Gebäude und schlugen den Gang zu unserem Unterrichtsraum ein. Als wir die Klasse betraten, sahen uns sofort alle verwirrt oder mitleidig an, während Mrs Louvers nur schadenfroh grinste. Ich ignorierte die ganzen Blicke und setzte mich schnell wieder auf meinen Platz.
~*~
Nach den ersten Stunden verließ ich zusammen mit Nick und Hannah den Klassenraum. Wie sich herausstellte, waren die beiden schon seit Hannah nach Broken Village gezogen war gute Freunde. Nur Freunde, mehr nicht. Ich mochte die beiden von Anfang an, denn sie waren nett und behandelten mich nicht wie einen Freak, so wie es einige andere Schüler schon taten.
»Und hier ist die Cafeteria«, meinte Nick, als wir besagte Räumlichkeit betraten. »Ich hoffe, dir hat unsere kleine Führung gefallen.«
»Sie war sehr lehrreich«, antwortete ich grinsend.
Wir drei sahen uns an und brachen dann in Gelächter aus. Es war schon so lange her, dass ich mal wieder ausgelassen Lachen konnte und es tat wirklich gut. Das letzte Mal war zusammen mit meiner Mutter. Terry hatte zwar immer wieder versucht, mich zum Lachen zu bringen doch ich war so in meiner Trauer versunken, dass ich immer nur ein müdes Lächeln zustande bringen konnte. Sofort verstummte ich, als ich an Mom denken musste und atmete tief durch.
»Was ist los, Amelia?«, wollte Hannah wissen und sah mich an.
»Es ist nichts. Wirklich nicht!«, fügte ich noch ernst hinzu, als Hannah mich vorwurfsvoll ansah.
»Ist ja gut«, erwiderte sie und hob abwehrend die Hände.
Ich seufzte und stellte mich in die lange Schlange vor der Essensausgabe. Nick gesellte sich zu mir und lächelte mich an. Ich lächelte zurück und als ich mich wieder nach vorne drehen wollte, wurde mir Saft auf mein schönes Top geschüttet.
»Das passiert, wenn man sich mit mir anlegt, du Bitch!«, rief die blonde Tussi von vorhin und grinste mich fies an.
Ich wollte schon etwas dagegen sagen, wurde aber von Nick und Hannah aus der Cafeteria gezogen.
»Hey! Ich wollte ihr gerade meine Meinung sagen.« Beleidigt sah ich die beiden an.
»Tut mir leid, Schätzchen. Ich konnte nicht riskieren, dass die gesamte Cafeteria dein Top-Dilemma miterlebt«, entgegnete Hannah nur und deutete auf mein Shirt.
»Wovon redest du?«, fragte ich sie verwirrt und sah an mir runter, um geschockt festzustellen, dass mein hellblaues Top komplett durchsichtig war. Außerdem klebte es an meinen Brüsten wie eine zweite Haut und mein weißer BH war auch fast durchscheinend, sodass man meine Nippel sehen konnte, die durch die Kälte steif geworden waren. Mit hochrotem Kopf hielt ich die Arme vor meine Brust.
»Keine Panik, ich habe nicht hingesehen«, sagte Nick und sah mir, ganz wie ein Gentleman, in die Augen. Doch lange hielt ich seinem Blick nicht stand und sah zu Hannah.
»Mach dir keine Sorgen. Ich habe ein Ersatzshirt in meinem Spind«, beruhigte sie mich, lächelte kurz und ging los.
Nick und ich folgten ihr schweigend. Nach kurzer Zeit blieb Hannah vor einem Spind stehen und machte ihn auf. Dann zog sie ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift "Rock on" heraus.
»Das müsste dir passen.«
»Danke.« Ich lächelte sie an und nahm es in die Hand. Angrenzend ging ich zu den Damen Toiletten um mir das Oberteil anzuziehen. Meinen nassen BH versuchte ich verzweifelt am Handtrockner etwas trocken zu kriegen, jedoch ohne Erfolg, also gab ich es nach ein paar Minuten auf und zog die Kluft über.
Das war ja ein toller erster Schultag; dachte ich mir und trat wieder aus dem WC.
»Super, passt doch wie angegossen«, sagte Hannah fröhlich als sie mich erblickte und grinste mich an.
»Danke nochmal«, gab ich lächelnd zurück.
»Kein Problem. Lasst uns ein wenig frische Luft schnappen«, warf sie ein und zu dritt liefen wir auf den Schulhof.
»Wo bekomme ich denn jetzt was zu essen her?«, fragte ich verzweifelt und im nächsten Moment knurrte schon mein Magen.
»Hier in der Nähe gibt es einen McDonalds«, erwiderte Hannah.
»Hannah, der ist 20 Minuten entfernt«, wehrte Nick sofort ab.
»Hast du etwa Angst, Nicki?«, stichelte Hannah und sah ihn herausfordernd an.
»Also ich bin dabei!«, rief ich schnell, bevor Hannah noch mehr auf seinem Ego herum trampeln konnte.
Wenn ich eines aus meiner einzigen Beziehung gelernt hatte, dann, dass man nie das Ego eines Mannes verletzen sollte. Am Ende sitzt du dann alleine in einem Café, ohne Geld und musst der Bedienung peinlich berührt erklären, wieso du nicht bezahlen kannst. Das Gleiche erklärst du dann auch deiner Mutter, die dann völlig aufgelöst in das Café gerannt kommt und dich vor den ganzen Gästen bloß stellt, die dich nur mitleidig ansehen.
»Echt jetzt?« Nick sah mich überrascht an.
»Klar. Wäre nicht das erste Mal, dass ich die Schule schwänze«, antwortete ich und zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Klasse, dann lasst uns gehen«, meinte Hannah zufrieden und ging los.
Ich wollte ihr folgen, wurde aber von Nick am Arm festgehalten, also wandte ich mich wieder an ihn und sah ihn fragend an. »Findest du es gut, direkt an deinem ersten Tag den Unterricht zu schwänzen?«
»Sag mal, Hannah, braucht man 20 Minuten zu Fuß oder mit dem Auto dahin?«, wollte ich von ihr wissen.
»Zu Fuß. Wieso fragst du?«, reagierte sie mit einer Gegenfrage.
Als Antwort grinste ich nur und wedelte mit meinem Autoschlüssel vor ihrer Nase herum.
»Du hast ein Auto? Wieso hast du das nicht schon vorher gesagt?« Begeistert sah sie mich an und wippte kurz mit ihren Füßen auf und ab.
»Daran hab ich nicht gedacht«, gab ich zu und zuckte erneut mit den Schultern, bevor ich dann zu meinem Auto ging.
Ich hörte Nick laut seufzen, aber er stieg ohne zu murren neben mir ein. Hannah grinste mich über den Rückspiegel an, aber ich verdrehte nur die Augen und fuhr los.
»Du musst nach rechts«, sagte Nick schnell, da ich schon den Blinker für die linke Seite angemacht hatte, also fuhr ich nach rechts und ließ mich von ihm zu dem McDonalds lotsen.
»Mit wem hattest du eigentlich telefoniert?«, fragte Nick beiläufig, während ich die Straße entlangfuhr.
»Das hast du mitbekommen?«, entgegnete ich und seufzte kurz.
»Tut mir leid«, warf er ein und sah mich entschuldigend an. »- ich wollte nicht lauschen, aber ich wollte dich auch nicht stören und da wusste ich einfach nicht …«
»Ist schon okay«, unterbrach ich ihn und sah kurz zu Hannah, die uns netterweise ignorierte und aus dem Fenster sah. Doch ich wusste, dass sie jedes Wort mit anhörte. »Es war mein Freund Terry aus Manhattan«, fuhr ich fort und sah Nick kurz an.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich für einen Augenblick, doch dann war er wieder der Alte.
»Du hast also einen Freund?«, fragte er in neutralem Ton.
Ich schmunzelte leicht und musste dann anfangen zu lachen. Die Vorstellung, dass Terry und ich ein Paar wären, war total absurd. Um den völlig verwirrten Nick aufzuklären, erwiderte ich: »Er ist mein bester Freund. Terry ist so was wie mein großer Bruder.«
»Es muss bestimmt hart gewesen sein, ihn zurückzulassen, oder?«, wollte Hannah wissen und sah mich durch den Rückspiegel mitfühlend an.
»Ja, es fiel mir nicht gerade leicht, ohne ihn hierher zu kommen. Aber wir haben ja immer noch Kontakt und er hat mir versprochen, dass wir uns bald wiedersehen«, erklärte ich den beiden und war sehr zuversichtlich, was unser baldiges Wiedersehen anging. Daraufhin schwiegen wir drei und hingen unseren Gedanken nach.
Nach sieben Minuten hielt ich schon auf dem Parkplatz und wir stiegen aus.
»Was wollt ihr essen?«, fragte Nick, als wir das Fast Food Restaurant betraten und zog seinen Geldbeutel hervor.
»Ich nehme den Salat«, erwiderte Hannah und stellte sich an.
»Du musst nicht für mich bezahlen«, sagte ich an ihn gewandt und begab mich neben Hannah.
»Mir macht das nichts aus«, warf Nick ein.
»Weißt du, Nicks Dad ist der Bürgermeister der Stadt.« Hannah kicherte und sagte dann der Frau hinter dem Tresen was sie essen möchte.
Ich starrte ihn an und brachte kein Wort heraus.
»Sorry, ich wollte es dir noch sagen, aber du solltest nichts Falsches von mir denken.«
»Der Sohn des Bürgermeisters?!«, platzte es aus mir heraus und die Gäste an den Tischen und in der Warteschlange vor uns wandten uns ihre Aufmerksamkeit zu.
»Sscht. Sag das doch nicht so laut«, zischte Nick und hielt mir die Hand vor den Mund.
»Ach, es weiß doch sowieso jeder, wer du bist. Wollt ihr jetzt noch bestellen oder nicht?«, entgegnete Hannah und sah uns fragend an.
Nick ließ mich wieder los und nickte.
»Ich nehme einen Big Tasty Bacon im Menü mit einer Cola«, sagte ich der Bedienung. »Oh und bitte viel Ketchup für die Pommes«, fügte ich noch schnell hinzu.
Hannah starrte mich an, als wäre ich eine Außerirdische. »Wie kannst du nur so etwas essen?«, fragte sie sichtlich schockiert.
»Ganz einfach«, fing ich an und grinste sie an. »- indem ich meinen Mund aufmache und einmal kräftig in den Burger beiße.«
Daraufhin fing Nick an zu lachen und wandte sich an mich. »Ich finde es gut, dass du dir was richtiges zu Essen bestellst. Nicht so wie die anderen Mädchen, die sich nur einen Salat und eine Cola Light bestellen.«
»Ey. Ich bin aber nicht wie die«, warf Hannah beleidigt ein und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Dich meine ich ja auch nicht. Ich weiß doch, dass du Vegetarierin bist«, entgegnete Nick sanft.
»Das will ich auch hoffen«, sagte Hannah in gespielt hochnäsigem Ton, bevor sie ihr Tablett nahm und einen freien Tisch suchte. Ich folgte ihrem Beispiel und setzte mich zu ihr. Kurz darauf kam auch schon Nick und wir fingen an zu essen.
Eine Zeit lang aßen wir schweigend und genossen einfach nur das leckere Essen, bis Hannahs Blick plötzlich auf meinem Arm landete. »Das ist ein echt starkes Tattoo, was du da an der Hand hast.«
»Das ist kein Tattoo«, sagte ich schnell und versteckte mein Mal unter meinen Armreifen.
»Doch, natürlich«, rief Hannah und packte meinen Arm.
Dann geschah etwas wirklich Seltsames. Alles um mich herum verschwamm und ein Schleier legte sich über meine Augen. Ich versuchte zu blinzeln um wieder klarer sehen zu können, aber es half nichts. Schließlich klärte sich mein Blick wieder, aber ich war nicht mehr im McDonalds und Hannah und Nick waren auch nicht mehr da. Vor meinen Augen erschienen kurz darauf Bilder. Sie rasten so schnell vorbei, dass ich nur farbige Schemen wahrnehmen konnte. Ein Puff Geräusch ertönte und plötzlich sah ich jemanden. Es war nur ein Schatten, aber es sah aus wie eine Frau. Hatte sie da etwa Flügel?
So schnell, wie alles anfing, war es dann auch schon wieder vorbei und ich saß wieder im McDonalds. Neben mir saß Hannah und gegenüber von mir war Nick.
»Hey Sonnenschein, weilst du wieder unter uns?«, fragte Nick grinsend.
Ich blinzelte heftig und rieb mir über die Augen. »Ja, ich … Ich muss mal auf die Toilette«, erwiderte ich perplex und rannte so schnell ich konnte zum WC. Dort angekommen stützte ich mich erst mal am Waschbecken ab und nahm tief Luft. Zum Glück war im Moment niemand anderes hier.
Was war das nur gewesen? Es hatte sich so angefühlt, als wäre ich in einer anderen Welt gewesen. Und dann war da diese Frau mit … Ich wusste nicht genau was es war, aber es hatte wie die Flügel einer Fee ausgesehen. Ich war noch nicht lange in Broken Village, doch mir waren schon mehr verrückte Dinge passiert als Percy Jackson am Anfang von Diebe im Olymp. Wenn ich so über die Situation nachdachte, war es doch sehr merkwürdig, was hier vor sich ging und das lag bestimmt nicht an der warmen Luft. Ich hatte eindeutig zu viele Fantasy-Bücher gelesen; dachte ich frustriert und berührte mein Geburtsmal.
Plötzlich hörte ich Schritte, die sich dem Raum näherten, also schlüpfte ich in eine der Kabinen. Kurz darauf wurde die Tür von dem WC geöffnet und schon klopfte jemand an die Kabinentür.
»Amelia, ist wirklich alles okay?« Hannah klang besorgt und es tat mir leid, sie jetzt anzulügen, aber ich konnte ihr einfach nicht in die Augen sehen.
»Nein, mir ist schlecht. Am besten fahre ich nach Hause«, antwortete ich und hielt mir die Hand vor den Bauch, bevor ich langsam die Tür öffnete.
Hinterher rannte ich ans Waschbecken und machte mir den Mund sauber. Im Spiegel konnte ich Hannah sehen, die mich besorgt musterte. Ja, es tat mir echt leid, sie anzulügen. Schuldgefühle machten sich in mir breit, aber ich musste erst mal zu Hause über das nachdenken, was gerade passiert war.
»Ich sage dann in der Schule Bescheid, dass du nach Hause bist«, erwiderte sie und kam einen Schritt auf mich zu.
»Danke, Hannah«, entgegnete ich ehrlich und lächelte sie kurz an.
Anschließend verließen wir gemeinsam den Raum. Davor stand Nick und sah auf als wir herauskamen.
»Geht es dir gut?«, fragte er sofort. Da ich nicht unhöflich sein wollte, weil mich diese Fragen mittlerweile wirklich nervten, schüttelte ich mit dem Kopf. »Ich fahre nach Hause. Hannah weiß schon Bescheid.«
»Oh, okay. Gute Besserung«, sagte er aufrichtig und umarmte mich kurz.
Ich unterdrückte den Drang mich an seine Brust zu schmiegen, denn Nick konnte wirklich wunderbar jemanden umarmen und ließ ihn schnell wieder los.
»Danke«, wisperte ich »Ich fahr euch aber noch zurück zur Schule«.
»Das ist nicht nötig. Wir laufen und werden uns schon eine passende Ausrede einfallen lassen«, erwiderte Hannah und zwinkerte mir zu.
Unsicher wrang ich mit meinen Händen. Ich wollte nicht, dass sie wegen mir noch ärger bekamen. »Seid ihr euch sicher?«, hakte ich nach.
Nick nickte und schob mich dann zum Ausgang. »Geh schon. Wir kommen zurecht. Ruh dich aus, morgen sieht die Welt schon wieder besser aus«, ermutigte er mich.
»Na gut, wie ihr meint. Wir sehen uns dann morgen«, verabschiedete ich mich, konnte es mir aber nicht nehmen einen Seufzer auszustoßen.
Anschließend wandte ich mich ab und verließ das Lokal.
In meinem Auto musste ich mich erst einmal beruhigen. Was für ein beschissener erster Schultag; dachte ich frustriert und schlug mit meiner Faust auf das Lenkrad. Das kam bestimmt gut an, dass ich schon am ersten Schultag auf krank machte, aber ich war einfach viel zu feige, um Hannah heute noch einmal in die Augen zu sehen. Genauso wenig wollte ich Mrs Louvers oder dieser Tussi, deren Namen ich noch nicht mal kannte, begegnen. Ich dachte ich würde es schaffen, doch da hatte ich mich stark getäuscht.
Langsam startete ich den Motor und fuhr los. Im Rückspiegel sah ich noch, wie Nick und Hannah gerade aus dem Fast Food Restaurant kamen und sich angeregt unterhielten. Immerhin hatte ich heute zwei neue Freunde gewonnen. Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen und ich schaltete hinterher das Radio an.
Als ich in die Straße zu meinem neuen zu Hause einbog, sah ich den alten VW Käfer von Dad vor der Einfahrt stehen. Meinen Wagen parkte ich dahinter und stieg aus dem Auto. In dem Moment kam Papa mit einem riesigen Stapel Bücher aus dem Haus. Also ging ich zu ihm und nahm ihm ein paar der Bücher ab. Erschrocken sah er mich an und hätte beinahe die restlichen Exemplare fallen gelassen, wenn ich sie nicht festgehalten hätte.
»Meine Güte hast du mich erschrocken, Amelia. Was machst du so früh schon hier? Du hättest doch noch zwei Stunden in der Schule sein müssen.«
»Mir ist schlecht geworden, also bin ich nach Hause gefahren«, log ich und damit ich ihm nicht in die Augen sehen musste, brachte ich schnell die Bücher zu seinem Auto.
Dabei sprang mir Eines besonders ins Auge. "Mythen und Sagen von übernatürlichen Wesen." lautete der Titel. Ich nahm den dicken Wälzer in die Hand und blies die Staubschicht weg. Die Schrift war Golden und auf dem Einband zierten sich verschiedene Figuren aus der Fantasiewelt. Elfen, Satyren, oben in der linken Ecke sah man einen Cherub, unten tummelten sich Meerjungfrauen, und Feen waren auch dabei.
»Bist du nicht schon zu alt, um Märchengeschichten zu lesen?«, fragte mein Vater scherzend, als er seinen Bücherstapel im Kofferraum verstaute und das Buch in meiner Hand sah.
»Ich brauche es für die Schule. Wir sollen in Geschichte etwas über magische Wesen herausfinden. Verrückt, ich weiß, aber unser Lehrer wollte das so«, murmelte ich geistesabwesend, während ich mit meinen Fingern über die eingravierten Buchstaben fuhr.
»Na, wenn das so ist, darfst du es behalten.« Er lächelte mich an und wollte schon in seinen Käfer steigen, aber ich hielt ihn am Arm fest.
»Warte! Du musst mit mir einkaufen fahren«, sagte ich und sah ihn ernst an.
Er seufzte nur und drückte mir dann einen 100 Dollar Schein in die Hand.
»Ich muss leider wieder zurück in die Bibliothek, aber ich bin mir sicher, dass du es auch alleine schaffst. Kauf, was du willst und das restliche Geld kannst du ruhig behalten.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und lächelte mich warm an, bevor er schließlich ins Auto stieg und davon fuhr.
Tief durchatmend umklammerte ich das Buch und drückte es an meine Brust, während ich ihm hinterher sah. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit. Mir war ja bewusst, dass er arbeiten musste. Trotzdem fühlte ich mich allein gelassen. Den Kloß in meinem Hals schluckte ich hinunter und rannte schließlich in das Haus. Meine Tasche landete mit einem lauten Knall in der Ecke und das Buch legte ich auf dem Wohnzimmertisch ab. Die 100 Dollar hielt ich fest in meiner Hand und stolzierte zurück zu meinem Auto. Auf keinen Fall würde ich mir heute noch einmal die Laune verderben lassen. Er hatte gesagt, ich dürfte davon kaufen was ich wollte und das würde ich auch tun!
~*~
Im Zentrum von Broken Village angekommen suchte ich zuerst nach einem gescheiten Parkplatz. Als ich einen fand, stieg ich aus und lief die Straße entlang. Von meinen wenigen Besuchen hier wusste ich, dass in der Innenstadt die einzige Möglichkeit war, um shoppen zu gehen. Aber das würde mir reichen, um das Geld von Dad zu verballern.
Nach kurzer Zeit betrat ich ein Schuhgeschäft und sah mich um, dabei fiel mir sofort die Rückwand mit den Converse-Schuhen ins Auge. Lächelnd ging ich darauf zu und nahm ein Paar grüne Chucks von meiner Größe in die Hand und probierte sie an. Die Schuhe passten perfekt, also holte ich mir noch mal die gleichen in hellem Lila. Dazu schnappte ich mir eine Tasche und ging anschließend an die Kasse. Die Verkäuferin musterte mich kurz und scannte die Artikel.
»Du bist doch Amelia, die Tochter von Georg«, stellte sie fest und sah mich neugierig an.
Verwirrt blinzelte ich und musterte sie. Woher wusste sie wer ich war? Die Verkäuferin achtete gar nicht auf meinen verdutzten Ausdruck, sondern plapperte einfach weiter.
»Du siehst deiner Mutter so ähnlich. Es ist so schade, dass sie bei dem Unfall ums Leben gekommen ist.«
Dazu sagte ich nichts und legte nur den 100 Dollar Schein auf die Theke. Man, war die taktlos. Die Mitarbeiterin gab mir wortlos das Wechselgeld und die Tüte mit den Schuhen und der Tasche. Ohne ein weiteres Wort zu sagen griff ich nach den Sachen und verließ den Laden, nachdem ich mich verabschiedet hatte. So ganz unhöflich wollte ich dann auch nicht sein.
Kopfschüttelnd überquerte ich die Straße und betrat ein Textilgeschäft. Zuerst sprang mir nichts Besonderes ins Auge und ich wühlte mich nicht gerade motiviert durch die Ständer voller Kleidung. Während ich gerade wie wild die T-Shirts durchsuchte, fiel mir aus Versehen ein Kleidungsstück auf den Boden, also bückte ich mich um es aufzuheben und sah, dass es dasselbe T-Shirt war, welches Hannah heute trug. Grinsend drückte ich es an mich und ging zu den Jeans. Direkt fielen mir eine gelbe und eine rote Röhrenjeans ins Auge, die ich mir sofort schnappte und dann zur Anprobe lief. Die Kleidungsstücke passten alle perfekt, also bezahlte ich alles und verließ das Geschäft. Mit den Tüten bepackt ging ich zu meinem Peugeot und verstaute alles im Kofferraum. Jetzt blieben mir noch, zusammen mit meinem Geld, 50 Dollar um Einkaufen zu gehen, doch das würde reichen.
Gerade wollte ich ins Auto steigen, als mich jemand am Arm packte. Ein Schrei entfuhr mir und kurz darauf riss mich jemand in seine Richtung.
»Na, wen haben wir denn hier? Eine Schulschwänzerin.« Der Mann grinste mich an und sofort flog mir sein ekelhafter Mundgeruch, der nach Donuts, Zigaretten und Kaffee stank, entgegen. Erst als ich den Blick abwandte und die Marke auf seiner Uniform sah, erkannte ich, dass er ein Polizist war. Nein, Quatsch, er war vom Ordnungsamt. Der Beamte hatte braune kurze Haare, die an der Seite schon ergrauten, blaue Augen und war gerade mal einen Kopf größer als ich.
Zum Glück war ich nicht dumm und grinste innerlich, bevor ich ihm eine Antwort gab: »Aber Officer, ich habe nicht die Schule geschwänzt. Wissen Sie, meine Mutter ist vor kurzem gestorben und jetzt habe ich nur noch meinen Dad, um den ich mich kümmern muss, weil er total unzurechnungsfähig ist. Ich wollte uns doch nur was zu essen kaufen gehen.« Dabei ließ ich meine Lippen zittern und sah ihn aus traurigen Augen an. Damit es noch glaubwürdiger rüber kam, presste ich mir die Hand auf den Mund und täuschte ein Schluchzen vor. Der Mann lockerte schnell seinen Griff und ließ mich schließlich ganz los.
»Das wusste ich nicht. Tut mir leid. Du darfst dich natürlich um deinen Vater kümmern«, sagte er aufrichtig und sah mich mitfühlend an.
Ich schniefte gespielt und lächelte ihn schüchtern an.
»Danke Officer. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen«, entgegnete ich mit gespielt heiserer Stimme.
»Den wünsche ich dir auch«, erwiderte er freundlich und hob seinen Hut kurz an.
Nachträglich ging er wieder zurück zu seinem Posten und ich stieg endlich ein und fuhr los. Als ich aus seiner Sichtweite war, fing ich breit an zu grinsen. Die Mitleids Tour funktionierte schon immer gut bei mir. Ich war sehr gut darin, meine Mitmenschen in dem Glauben zu lassen, dass ich schwach und sensibel war. Jedoch täuschten sie sich damit gewaltig, denn ich war tougher als die meisten Mädchen in meinem Alter.
~*~
Nach zehn Minuten erreichte ich endlich einen Supermarkt und betrat ihn, nachdem ich mir einen Einkaufswagen besorgt hatte. In diesem landete so ziemlich alles, was man essen konnte. Brot, Butter, Aufschnitt, Nudeln, Kartoffeln, Fleisch und etwas zu trinken, wie Wasser und Cola.
Als ich später an der Kasse anstand, bekam ich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Unauffällig sah ich mich um, doch niemand von den anderen Kunden sah mich an. Ungeduldig wippte ich von einem Fuß auf den anderen und verfluchte den Laden, weil nur eine Kasse besetzt war. Immer noch spürte ich einen Blick auf mir und ein unangenehmes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit.
Ich wollte nur noch hier raus.
Nach etlichen weiteren Minuten konnte ich endlich meine Sachen auf das Kassenband legen, bezahlen und das Geschäft verlassen. Bei meinem Auto angekommen öffnete ich den Kofferraum und fing an, die Sachen einzuräumen.
Und dann sah ich es.
Zwei Augenpaare, versteckt in einem Gebüsch, die mich neugierig anstarrten. Sie sahen nicht menschlich, aber irgendwie vertraut aus. Die Augen leuchteten hellgelb und die Pupillen erinnerten mich an die von einer Katze. Schnell wandte ich den Blick ab und als ich noch einmal zu der Stelle sah, waren die Augen verschwunden. Kopfschüttelnd brachte ich den Einkaufswagen weg.
Das bilde ich mir nur ein, diese Augen waren bloß Einbildung; versuchte ich mir einzureden, doch leider ohne Erfolg.
Zu Hause angekommen parkte ich erst mal vor dem Haus und stieg aus. Eine Einkaufstüte befand sich schon auf meinem Arm und ich wollte gerade die zweite aus dem Kofferraum holen, als mir die andere aus der Hand fiel. Bevor die Lebensmittel jedoch auf den Boden fallen konnten, wurde die Tüte von zwei starken Händen aufgefangen. Reflexartig sah ich nach oben und blickte in zwei hellgrüne Augen.
»Du solltest etwas vorsichtiger mit deinen Einkäufen sein«, sagte ein junger Mann freundlich und grinste mich an.
Während ich ihn so musterte, musste ich sofort an Nick denken.
»Ich bin halt ein Tollpatsch«, gab ich zu, woraufhin er lachte und mir die Tüte wieder in die Hand drückte.
»Ich bin übrigens Cameron. Nicks älterer Bruder«, stellte er sich vor.
Wusste ich es doch; dachte ich triumphierend. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war einfach nicht zu übersehen.
»Hat er dich vorbei geschickt?«, wollte ich wissen.
»Nein, ich wollte zu deinem Vater«, erwiderte Cameron ruhig.
»Der ist noch arbeiten, aber du kannst gerne mit reinkommen und auf ihn warten«, entgegnete ich lächelnd und ging dann den Kiesweg entlang.
Cameron folgte mir ohne zu zögern und brachte noch die anderen Tüten mit. »Du heißt Amelia, oder?«, fragte er mich beiläufig.
Ich nickte und erwiderte: »Ja, woher weißt du das?«
»Ich bin hier aufgewachsen, Amelia und du hast noch bis zu deinem siebten Lebensjahr hier gewohnt«, erklärte er mir sachlich und kassierte einen überraschten Blick von mir.
»Das weißt du noch?«, gab ich verblüfft zurück.
»Na klar.« Er grinste mich wieder an und stellte die Einkäufe auf dem Tisch ab.
Dabei entging mir nicht das auffällige Mal an seinem rechten Handgelenk. Ich konnte Blitze erkennen, die aus einer Wolke brachen. Es sah wirklich schön aus und wirkte total echt.
»Cooles Tattoo hast du da«, bemerkte ich wie von selbst und wollte den Aufschnitt in den Kühlschrank räumen.
»Danke. Das ist aber kein Tattoo«, entgegnete er mit tiefer Stimme und als er auf mich zukam, ging ich automatisch einen Schritt zurück.
»Was ist es dann?«, fragte ich leise und hatte schon eine böse Vorahnung, was seine Antwort betreffen würde.
»Das weißt du ganz genau«, wisperte er und seine Augen nahmen nun einen merkwürdigen Ausdruck an. Ich erschauderte und kurz darauf spürte ich einen Luftzug um meine nackten Arme.
»Es ist ein Mal und du hast es schon seit deiner Geburt«, flüsterte ich ehrfürchtig und atmete tief durch.
»So wie deines«, murmelte er, nahm meine Hand und sah es sich an.
Plötzlich hörte ich wie die Tür aufgeschlossen wurde und riss mich von ihm los. Verdammt, was sollte das denn?
»Amy, bist du da?«, hörte ich die vertraute Stimme meines Vaters.
»Ich bin in der Küche, Dad!«, rief ich und fing an, die Lebensmittel in den Kühlschrank zu räumen. Kurz darauf stand mein Vater auch schon in der Küche.
»Cameron, was führt dich denn zu mir?«, fragte er überrascht und musterte Cam.
»Ich wollte mit Ihnen über mein Sommerpraktikum reden«, entgegnete er ruhig, so als wäre gerade nichts geschehen. Dad nickte und setzte sich an den Küchentisch. Cameron nahm daraufhin gegenüber von ihm Platz.
Während ich die Einkäufe verstaute, blieb mir genügend Zeit, Cameron genauer anzusehen. Er war das komplette Gegenteil von Nick. Camerons Haare waren dunkelblond und sehr lang, die er mit einem Gummiband als Pferdeschwanz trug, aber es sah trotzdem gut aus und seine Haut hatte einen dunklen Teint. Nicks Haut dagegen war blass und dadurch wurden seine hellblauen Augen noch mehr hervorgehoben, außerdem waren seine Haare schwarz und er trug sie kürzer. Cameron wirkte auch viel erwachsener und reifer, er hatte zwar genau das gleiche Grinsen wie Nick, aber bei ihm hatte es eine andere Wirkung. Mir fiel ebenfalls auf, dass Cameron die gleiche Nase, die gleichen geschwungenen Lippen und die gleichen kantigen Gesichtszüge wie Nick besaß. Nur dadurch erkannte man, dass sie Brüder waren.
Nachdem ich mit einräumen fertig war, begab ich mich mit der Ausrede nach oben, dass ich noch Hausarbeiten zu erledigen hätte. Doch mir fehlte die Motivation dazu, außerdem war es nur Englisch, das ich machen müsste, also würde ich einfach Hannah am nächsten Tag danach fragen und es von ihr abschreiben.
In meinem Zimmer angekommen, fiel mein Blick auf das Märchenbuch, welches auf meinem Bett lag. Ich konnte mich gar nicht daran entsinnen, es dort abgelegt zu haben. Vermutlich war mein Vater doch noch mal kurz nach Hause gekommen und hatte es in mein Zimmer gebracht. Nachdenklich sank ich auf der Matratze nieder und nahm das Buch in die Hand. Vielleicht war ich wirklich schon zu alt für Märchen, aber ich musste herausfinden, ob ich mir die ganzen Erscheinungen und Bilder nicht doch nur einbildete. Ziellos blätterte ich durch das Buch, fand aber leider nichts Brauchbares. Es waren wirklich nur Märchen für Kinder; stellte ich fest.
Frustriert legte ich es wieder weg und ging in das kleine Badezimmer. Dort zog ich meine Kleidung aus und stellte mich unter die Dusche. Leider musste ich immer noch an die Sache mit Hannah denken und daran, was vor dem Supermarkt geschehen war. Bei dem Gedanken schauderte es mich und ich stieg schnell wieder aus der Dusche. Dann zog ich mir meine Hotpants und mein altes, großes Rolling Stones T-Shirt an. Zurück in meinem Zimmer, lauschte ich, ob Cameron noch da war. Als ich keine weiteren Stimmen vernahm ging ich langsam nach unten und entdeckte Dad vor dem Fernseher.
»Hast du Hunger, Dad?« Fragend sah ich ihn an und lehnte mich an den Türrahmen.
»Ja, wenn du Pizza bestellen willst, für mich die mit Peperoni«, sagte er ohne den Blick vom Fernseher zu heben.
Doch ich verdrehte nur leicht die Augen und ging schließlich in die Küche. Auf keinen Fall würde ich Pizza bestellen, denn davon hatte ich erst mal die Schnauze voll. In den Schränken suchte ich nach Töpfen und als ich welche fand, setzte ich Wasser darin auf und fing an zu kochen.
Das Essen war schon fast fertig, als Dad plötzlich in der Küche stand.
»Du kochst?«, fragte er und sah mich überrascht an. Ich schmunzelte und hielt ihm einen Löffel mit Soße hin.
»Probier mal«, bot ich ihm an.
Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen und nahm mir den Löffel ab, um die Soße zu probieren. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut kochen kannst.«
»Das Meiste hat mir Mom beigebracht«, sagte ich leise und schüttete dabei die Nudeln ab.
»Sie hat dich gut erzogen. Ich hätte es nicht besser machen können«, gab er zurück.
»Gibst du mir mal den Topf?«, fragte ich ihn und wechselte somit das Thema. Im Moment wollte ich nicht über Mom reden. Es würde nur zu viele Erinnerungen in mir wecken und mich traurig stimmen.
Während dem Essen Sprachen wir über Gott und die Welt und tauschten uns über unseren Tag aus. Ich erzählte Dad, was Mrs Louvers über Mom sagte und daraufhin verzog er das Gesicht. Schließlich teilte er mir mit, dass Mrs Louvers schon immer so eine alte Schreckschraube war. Dann erzählte er mir ein paar lustige Sachen, wie er sie damals in der Schule geärgert hatte. Jetzt wusste ich auch, woher meine große Klappe kam.
Als wir mit dem Essen fertig waren, machten wir noch zusammen den Abwasch und alberten dabei herum. Dabei wurde mir mal wieder so richtig bewusst, wie sehr ich meinen Vater vermisst hatte. Ich glaubte, Moms Tod würde uns noch näher zusammen bringen und ich blickte positiv in unsere Zukunft.
»Ich geh dann mal in mein Zimmer. Es ist schon spät«, sagte ich, nachdem wir fertig waren und gab Dad einen Kuss auf die Wange, bevor ich nach oben ging. Dort legte ich mich ins Bett und schlief nach einer Weile ein.
Ich träumte alles mögliche: Davon, dass ich eine Fee war und von einem Drachen gefressen wurde, bis hin zu Cameron, der mich mit Blitzen jagte und Terry, der plötzlich die Augen einer Katze hatte.
Es waren wirklich keine schönen Träume und ich wälzte mich immer wieder unruhig in meinem Bett hin und her.
Am nächsten Morgen wurde ich durch eine Berührung an meinem Gesicht geweckt. Müde öffnete ich die Augen und hätte beinahe einen Hilfeschrei ausgestoßen.
Die Kreatur hielt mir den Mund zu und sah mich wütend an. »Sei still oder willst du, dass dein alter Herr mich sieht?«
Mit weit aufgerissenen Augen musterte ich das kleine Wesen vor mir. Es sah aus wie eine kleine Fee und war gerade mal so groß wie meine Hand. Ihre Haare waren lang und rot, sie hatte große blaue Augen und so einen Fummel, wie das magische Wesen in Filmen immer trugen. Also eine Ledergarnitur. Ihre Flügel waren doppelt so groß wie ihr kleiner Körper und sahen aus wie die Flügel eines Schmetterlings. Sie erstrahlten in den Farben des Regenbogens und waren einfach nur wunderschön. Als ich der kleinen Fee wieder ins Gesicht sah, stellte ich erschrocken fest, dass sie eine Miniversion meiner selbst war.
»Was bist du?«, fragte ich sie leise und musterte sie neugierig. Die Fee verdrehte die Augen und ließ sich auf meiner Bettdecke nieder.
»Mensch Mädchen, du musst noch eine ganze Menge lernen«, sagte sie mit ihrer piepsigen Stimme und sah mich mürrisch an.
Fasziniert streckte ich meine Hand nach ihr aus, aber sie schlug sie nur weg und warf mir einen bösen Blick zu. »Finger weg. Hat dir denn keiner die Regeln erklärt?«
»Was für Regeln?«, fragte ich müde, während ich mir die Augen rieb und mich in den Arm zwickte, um sicher zu gehen, dass es nicht wieder einer meiner kranken Träume war. Die Fee stand auf und schwebte zu meinem Gesicht.
»Du bist viel zu früh, Helen!« Eine weitere kleine Fee kam in mein Zimmer und schwebte zu meinem Minime.
»Lass das meine Sorge sein«, zischte Helen.
Ich verstand nur Bahnhof und sah die beiden Wesen an. Die andere von den zweien sah mich nur an und schnippte dann mit dem Finger. Auf einmal wurde ich ganz schläfrig und sank zurück in die Kissen.
»Sie wird vergessen, dass sie uns gesehen hat.« Ich hörte eine Stimme, die ganz weit entfernt zu sein schien und ein Summen, welches sich immer weiter entfernte, bis es schließlich gänzlich verstummte.
Ruckartig saß ich kerzengerade in meinem Bett und sah mich verschlafen um. Mal wieder ein bescheuerter Traum von mir; dachte ich zerknirscht. Seufzend stieg ich aus dem Bett und suchte in meinem Schrank nach etwas zum Anziehen. Heute entschied ich mich für mein Lieblingskleid, es war Türkis und ging mir bis zu den Knien, das ganze rundete ich mit einem schwarzen Gürtel um meine Taille ab und zog dazu meine schwarzen Ballerinen an. Grinsend ging ich nach unten in die Küche und musste feststellen, dass mein Vater schon weg war. Das war mal wieder typisch für ihn, er steckte immer Hals über Kopf in seiner Arbeit fest.
~*~
In der Schule angekommen konnte ich Nick schon von weitem ausmachen. Er stand am Eingang des Schulgebäudes und schien auf mich zu warten. Ich behielt recht, denn kaum war ich ausgestiegen, stand er schon neben mir.
»Hey. Geht es dir besser?«, fragte er sofort und sah mich besorgt an.
Während ich meine Schultasche vom Rücksitz angelte, nickte ich nebenbei und antwortete ihm: »Ja, das war wohl gestern nur die Aufregung. Heute geht es mir schon sehr viel besser.«
»Das freut mich. Der zweite Schultag wird bestimmt besser, glaub mir«, erwiderte Nick und zwinkerte mir kurz zu.
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg ins Gebäude und schlugen den Gang zum Klassenraum ein. Jedoch kam uns jemand in die Quere. Was für eine Überraschung, es war die blonde Barbiepuppe von gestern.
»Du traust dich ja wirklich, nochmal hier aufzutauchen. Gestern ging schon das Gerücht herum, dass du zu viel Angst hättest«, sagte sie in einem überheblichen Tonfall und kicherte kurz.
Nick, der neben mir stand, verkrampfte sich deutlich. Vermutlich machte er sich auf das Donnerwetter, das nun folgte, gefasst.
»Es reicht langsam, Victoria! Lass sie doch erst mal hier ankommen. Nur weil sie nicht so eine aufgedonnerte Vorstadt Tussi ist wie du, musst du sie nicht direkt so fertigmachen!«
Überrascht sah ich zu Hannah die hinter Victoria aufgetaucht war und sie nun wütend anfunkelte. Alle anderen Schüler im Gang waren stehen geblieben oder verstummten um uns herum, damit sie unser Gespräch belauschen konnten.
»Also wirklich, wie erbärmlich ist das denn? Jetzt kann sie sich noch nicht mal selbst verteidigen«, fauchte Victoria und grinste mich höhnisch an.
Was bildete die blöde Kuh sich eigentlich ein? Mir platzte plötzlich total der Kragen und bevor mich jemand daran hindern konnte, pfefferte ich ihr meine Meinung um die Ohren: »Jetzt hör mir mal zu du 0815 Diva! Du kennst mich nicht und hast nicht das Recht, so über mich zu urteilen! Ja, ich sehe anders aus mit meinen roten Haaren und meinem ausgefallenen Style, aber ich verstecke mich nicht hinter blondierten Haaren und 30 Tonnen Schminke im Gesicht! Ich weiß wenigstens noch wer ich bin, im Gegensatz zu dir!«
Geschockt starrte Victoria mich an und nun war auch das letzte Gespräch auf dem Flur verstummt und Stille breitete sich in unserem Gang aus. Zitternd vor Wut ballte ich die Hände zu Fäusten und versuchte mich zu beruhigen, doch das war nicht so einfach während mein Herz gegen meine Brust hämmerte. Schließlich drehte Victoria sich um und rannte weinend den Flur entlang.
»Das ist ja so typisch für sie«, fing Hannah an und verdrehte die Augen als sie auf uns zu kam. »Sie kann zwar andere Schüler mobben, aber sobald ihr jemand Konter gibt rennt sie weg und heult sich die Augen aus.«
»Ja, so war es auf meiner alten Schule auch«, sagte ich seufzend und ging mit den beiden weiter.
»Geht es dir besser?«, fragte Hannah nun an mich gewandt und sah mich abwartend an.
»Ja. Sorry wegen gestern, aber ich hatte wohl etwas gegessen, das mir nicht so bekommen war und dann die ganze Aufregung, wegen einer neuen Schule und so«, entgegnete ich und lächelte sie an. »Dein Bruder war gestern übrigens bei mir«, erwähnte ich beiläufig an Nick gewandt, um damit das Thema zu wechseln.
»Cameron?« Überrascht sah er mich an. Doch seine Reaktion kam viel zu spät. Wieso log er mich an?
»Ja, er war bei meinem Dad wegen einem Sommerpraktikum und ein wenig zu früh da. Also bot ich ihm an, im Haus auf meinen Vater zu warten«, beantwortete ich seine Frage und ließ mich nicht anmerken, wie sehr es mich kränkte, dass er mir etwas verschwieg. Allerdings war er auch nicht verpflichtet dazu mir etwas über Cameron zu sagen, da ich weder ihn noch Nick gut kannte. Außerdem erzählte ich ihnen ja auch nicht was zwischen Nicks Bruder und mir vorgefallen war.
»Ich wusste gar nicht, dass Cam sich für Bücher interessiert«, warf Hannah ein und sah Nick an.
»Tut er auch nicht«, meinte er nachdenklich und setzte sich auf seinen Platz, nachdem wir im Klassenraum angekommen waren.
Fragend sah ich Hannah an, aber sie zuckte nur mit den Schultern und setzte sich ebenfalls. Dabei wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie etwas wussten, von dem ich noch nichts ahnte.
Seufzend nahm ich neben ihr Platz und packte schon mal meine Sachen aus. Wir hatten nun Geschichte, weil die Stunden vertauscht wurden. Es war schon immer eines meiner Lieblingsfächer gewesen. Allein die gestrige Stunde hatte mir schon sehr gefallen. Es dauerte auch nicht lange bis die Tür aufging und unser Lehrer, Mr Daniels, in die Klasse trat.. Für einen Lehrer sah er noch ziemlich jung aus. Ich schätzte ihn gerade mal auf 25 Jahre was bedeutete, dass er erst sein Studium abgeschlossen haben musste. Wieso war mir das gestern noch nicht aufgefallen?
»Guten Morgen«, begrüßte er die Klasse freundlich während er seine Tasche auf dem Pult abstellte. Seine Stimme klang sehr weich und dunkel und sorgte dafür, dass mir direkt warm ums Herz wurde.
Mr Daniels hatte kurze braune Haare, grüne Augen, war mindestens 1.80 Meter groß und von muskulöser Statur. Natürlich war er das perfekte Beispiel von einem Lehrer, auf den jedes Mädchen in der Klasse stand und das wirklich alles für eine bessere Note machen würde.
»Wie ich sehe haben wir eine neue Schülerin. Tut mir leid, ich muss dich gestern wohl nicht registriert haben. Wie heißt du denn?« Ehe ich realisieren konnte, dass er mit mir sprach, fixierten mich seine grünen Augen schon und plötzlich fühlte ich mich sehr unwohl in meiner Haut.
»A-Amelia Watson«, stammelte ich kleinlaut und wandte schnell meinen Blick ab.
»Willkommen an unserer Schule, Amelia«, sagte er freundlich und lächelte mich an.
Die Mädchen aus der Klasse warfen mir sofort böse Blicke zu, aber ich ignorierte sie nur. Sie waren ohne Grund eifersüchtig, weil ich gar nichts von Mr Daniels wollte.
»Mach dir nichts daraus, die gucken immer so«, flüsterte Hannah und lächelte mich aufmunternd an.
Kurz darauf fing Mr Daniels schon mit dem Unterricht an und dafür, dass er seinen Job als Lehrer noch nicht so lange ausführte, machte er es gar nicht mal so schlecht. Im Moment nahmen wir den Bürgerkrieg durch. Ein Glück, denn dieses Thema fand ich schon immer interessant. Als kleines Kind hatte mir meine Grandma immer Geschichten von ihrem Grandpa erzählt und mich damit total fasziniert.
Nach der Stunde wollte ich mit Nick und Hannah aus der Klasse gehen, als ich von Mr Daniels noch einmal zurück gerufen wurde: »Amelia, ich möchte kurz mit dir reden.«
Gott sei Dank waren schon die meisten Schülerinnen aus der Klasse und konnten mir so keine eifersüchtigen Blicke mehr zuwerfen. Ich nickte leicht und trat zu Mr Daniels ans Lehrerpult.
»Wir warten auf dich!«, rief Nick noch, bevor sie aus dem Klassenraum gingen und die Tür hinter sich schlossen.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte ich unsicher und sah ihn an.
Mr Daniels lachte leicht und schüttelte den Kopf. »Du hast gar nichts falsch gemacht. Ich wollte nur wissen, welches Thema du zuletzt an deiner alten Schule, in Geschichte hattest«, entgegnete er und sah mich abwartend an.
In meinem Kopf ging ich noch mal alles durch, da ich seit einem Monat nicht mehr in der Schule gewesen war. Durch den Tod meiner Mutter wurde ich natürlich vom Unterricht befreit und das einzige, was Terry mir ab und zu mitbrachte waren Rechenaufgaben oder Grammatikübungen, doch von dem Stoff unseres Geschichtsunterrichts hatte ich seit meiner letzten Stunde nichts mehr gesehen.
»Das war die französische Revolution«, erwiderte ich nachdenklich.
Mr Daniels nickte und lächelte mich freundlich an. »Dann liegst du mit dem Stoff ja schon etwas weiter zurück. Ich würde dir anbieten, eine Nachhilfe zu arrangieren.«
»Mein Dad führt die Bibliothek hier, ich denke, das ist nicht nötig«, antwortete ich höflich und lächelte leicht. »Trotzdem danke für Ihr Angebot.«
»Falls du dennoch Fragen hast, kannst du dich gerne an mich wenden«, bot er mir an und packte währenddessen seine Tasche zusammen.
Ich nickte als Antwort, verabschiedete mich von ihm und begab mich schließlich zur Tür.
»Was wollte er von dir?«, fragte Hannah sofort als ich zu ihnen ging.
»Er wollte mir Nachhilfe anbieten, weil ich durch meine alte Schule etwas weiter hinten mit dem Stoff liege.«
»Und willst du Nachhilfe?«, wollte Nick wissen.
»Nein, wenn ich etwas wissen will, dann kann ich einfach meinen Vater fragen«, erklärte ich Nick und grinste leicht.
~*~
Als die Schule vorbei war, machte ich mich auf den Weg zu meinem Auto, denn ich wollte so schnell wie möglich nach Hause fahren. Bei meinem Wagen angekommen, entdeckte ich Nick, der an der Motorhaube lehnte. Als er mich sah, lächelte er mich an und kam auf mich zu.
»Hey«, begrüßte er mich.
»Hey, Nick. Was gibts?« Fragend sah ich ihn an und entriegelte dabei schon mal die Zentralverriegelung. Nick kratzte sich währenddessen am Hinterkopf und erwiderte meinen Blick.
»Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, als du mir sagtest, dass du in Geschichte etwas zurück liegst und dachte mir, dass wir ja zusammen in die Bibliothek fahren könnten und dann kann ich dir ein bisschen Nachhilfe geben. Aber nur, wenn du willst«, fügte er noch schnell hinzu und wirkte etwas nervös. Beruhigend lächelte ich ihn an.
»Das ist echt nett von dir, Nick. Lass uns doch sofort hinfahren«, gab ich begeistert zurück, öffnete die Fahrertür und warf noch meine Schultasche auf den Rücksitz, bevor ich einstieg. Nick tat es mir gleich und stieg neben mir auf dem Beifahrersitz ein.
Da ich leider nicht wusste, wo genau sich die Bücherei befand, beschrieb Nick mir den Weg und nach ein paar Minuten kamen wir schon an. Total überrascht darüber, wie warm es in dem Gebäude wirkte, sah ich mich mit großen Augen um. Die Wände waren in einem dunklen Rot gestrichen und der Boden bestand aus dunklem Holz, über dem ein, ebenfalls dunkelroter Teppich ausgelegt wurde. Sofort stieg mir der vertraute Geruch von alten Büchern in die Nase und ich sah mich automatisch nach Dad um. Dabei entdeckte ich eine ältere Frau, die hinter einem Tisch saß, der so aussah wie ein Empfangstresen. Als sie uns bemerkte, sah sie auf und lächelte Nick an. Er winkte ihr zu und ging auf den Tisch zu.
»Hallo, Mrs Grace«, begrüßte er sie höflich.
»Nicholas, was führt dich denn in die Bibliothek?« Überrascht sah sie ihn durch ihre große runde Brille an.
»Ich gebe Amelia Nachhilfe«, erwiderte er freundlich und zeigte auf mich.
Nun wanderte ihr Blick zu mir und als sie mich erkannte, bereitete sich ein warmes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Du bist Amelia Watson, richtig?«
»Ja, die bin ich. Woher wissen Sie das?«
Mrs Grace' Lächeln vertiefte sich. »Viele hier kennen dich, Amelia. Außerdem arbeite ich schon sehr lange mit deinem Vater zusammen«, entgegnete sie in einem sachlichen Ton.
Innerlich schlug ich mir die Hand gegen die Stirn. Hirn lässt grüßen, Amelia. Das hättest du dir doch denken können, du Nuss.
»Komm. Die ganzen Geschichtsbücher stehen weiter hinten«, sagte Nick plötzlich und zog mich sanft mit sich in den hinteren Teil der Bibliothek. Dort setzte ich mich an einen der großen Tische und wartete bis Nick wiederkam. Es dauerte auch gar nicht lange, bis er mit einem Stapel voller Bücher auf dem Arm zu mir kam und sie auf dem Tisch ablegte.
»So viele Bücher? Willst du mit mir die ganze Weltgeschichte durchgehen?«, fragte ich ihn scherzhaft und kicherte nervös.
»Das ist alles über den Bürgerkrieg«, entgegnete Nick grinsend und ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. Ohne, dass ich es verhindern konnte, klappte mir die Kinnlade runter, woraufhin er zu lachen anfing.
»Amelia, er gibt sich doch so viel Mühe dir zu helfen. Du solltest ihm dankbar sein«, warf Dad, der plötzlich neben mir stand, ein und lächelte mich an.
»Das bin ich doch, aber ich dachte nicht, dass es so viel sein wird«, antwortete ich ihm und packte meine Schulsachen aus.
»Wenn ihr Hilfe braucht, findet ihr mich Archiv«, sagte er bloß, lächelte uns beide nochmal an und verschwand dann wieder.
»Ich finde deinen Dad echt cool«, sagte Nick wahrheitsgemäß und griff nach einem Buch.
»Ja, das ist er.« Ich lächelte leicht und nahm mir ebenfalls einen der dicken Wälzer. »Also, dann legen wir mal los.«
~*~
Nach zwei Stunden pauken reichte es uns beiden und nun war ich gerade dabei Nick nach Hause zu fahren. Wenn sein Bruder in der Stadt war, musste Nick immer mit dem Bus fahren oder zu Fuß gehen, da Cameron dann immer den Wagen besaß.
»Ich kann dich doch zur Schule mitnehmen«, schlug ich ihm vor, als ich vor seinem Haus hielt.
Nick lächelte mich an und schüttelte den Kopf, während er mir antwortete: »Danke, aber ich fahre mit dem Bus. Das ist ja nur ein Umweg für dich.«
»Das macht mir wirklich nichts aus«, versicherte ich ihm und lächelte ihn ebenfalls an.
Er seufzte ergeben und grinste leicht. »Du wirst es ja sowieso tun, also gut. Hast du morgen schon was vor?«, fragte er mich noch und als Antwort schüttelte ich diesmal mit dem Kopf.
»Wieso fragst du?«, wollte ich wissen.
»Hannah, ein paar andere und ich wollten morgen in den Wald. Dort gibt es einen See. Willst du mitkommen?«, bot er mir an.
»Klar, wieso nicht?« Ich lächelte leicht und freute mich jetzt schon auf den morgigen Tag. Nick und Hannah waren immer so nett zu mir und ich war froh, solche Freunde wie sie gefunden zu haben.
»Cool, dann sehen wir uns morgen.« Nick grinste mich noch einmal an und stieg dann aus.
»Ja, bis morgen«, verabschiedete ich mich.
»Wir kommen dich abholen!«, rief er mir noch hinterher, als ich schon losgefahren war.
Zu Hause angekommen war mein Vater noch nicht da. Es wunderte mich kein bisschen, denn als ich mich von ihm verabschiedete, hing er mit dem Kopf schon wieder in seinen Recherchen. Da ich im Moment keine Lust auf Hausaufgaben hatte, entschied ich mich dazu erst mal etwas zu kochen.
Nachdem ich fertig war, aß ich genüsslich und dachte dabei an morgen. Wieso gingen sie zu einem See, wenn es hier auch einen Strand gab? Am Besten frage ich sie morgen einfach mal; sagte ich in Gedanken zu mir selbst.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst sieben Uhr abends war. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich nach oben in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Sofort entdeckte ich das Buch, welches ich mir von Dad ausgeliehen hatte. Wirklich lächerlich, dass ich mich unnötigerweise für ein Märchenbuch interessierte, doch irgendetwas ließ mich nicht in Ruhe. Schon seit ich es das erste Mal sah, zog es meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Erneut stand ich auf und wollte ins Bad gehen, als das Buch plötzlich auf den Boden fiel und eine Seite über Feen aufgeschlagen wurde. Wenn das ganze jetzt nicht so merkwürdig gewesen wäre, hätte ich bestimmt darüber gelacht. Aber mir war ganz und gar nicht zu Lachen zumute. Langsam ging ich auf das Buch zu und es sah für einen kurzen Moment so aus, als ob die Bilder sich bewegen würden. Doch als ich erneut hinsah, war es doch nur ein normales Bild.
»Na los, greif schon zu«, flüsterte mir eine helle Stimme zu.
Erschrocken drehte ich mich um, doch da war niemand im Raum.
»Okay, ganz ruhig, Amelia. Das bildest du dir nur ein«, versuchte ich mich zu beruhigen, atmete tief durch und trat noch einen Schritt auf das Buch zu. Immerhin war es nur ein harmloses Buch. Was konnte mir schon großartig passieren? Kaum ging mir der Gedanke durch den Kopf, riss das Märchenbuch in der Mitte auf und ein goldener Lichtstrahl schoss daraus hervor. Ich schrie auf, stolperte nach hinten und fiel auf meinen Po. Schnell hielt ich mir die Hand vor meine Augen, da es viel zu hell war.
»Komm zu mir, Amelia«, erneut drang eine sanfte Stimme an meine Ohren und rief aus dem Licht nach mir.
Ich wollte schon einen Schritt auf das Buch zumachen, nachdem ich ich wieder aufgerappelt hatte, wurde jedoch am Arm gepackt und zurück gezogen. Das Licht verschwand zischend und mein Zimmer wurde in völlige Dunkelheit getaucht. Panisch sah ich mich um, konnte aber nichts erkennen.
»Hier, trink das«, wisperte eine vertrauenswürdige Stimme und drückte mir etwas in die Hand. Ich zögerte, als ich die Tasse an meinen Mund führen wollte.
»Wer bist du?«, fragte ich misstrauisch und versuchte meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.
»Vertrau mir und trink das bitte«, sagte die Person beharrlich und griff nach meinen Händen. Dann führte sie die Tasse an meinen Mund und kurz darauf spürte ich eine süßlich schmeckende, warme Flüssigkeit in meinen Rachen fließen. Durch den betörenden Duft und den leckeren Geschmack, trank ich die Tasse gierig aus. Kaum hatte ich den letzten Tropfen getrunken, wurde mir die Tasse aus der Hand genommen und sofort kippte ich benommen nach vorne um. Das einzige, was ich noch spürte, waren zwei schlanke Arme, die mich auffingen und auf mein Bett legten.
~*~
Keuchend riss ich die Augen auf und saß Kerzengerade in meinem Bett. Diese Nacht hatte ich mal wieder keine schönen Träume, doch mein Unterbewusstsein weckte mich rechtzeitig auf, bevor mir jemand ein Schwert durch die Brust rammen konnte. In meinem Traum war ich an einer sehr großen Schlacht beteiligt und was noch viel verrückter war, ich besaß Flügel und konnte gar nicht mal so schlecht mit einer Waffe umgehen.
Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass wir sechs Uhr morgens hatten. In einer halben Stunde hätte ich sowieso aufstehen müssen, also schlug ich die Bettdecke zurück und schwang meine Beine aus dem Bett. Doch bevor ich aufstand, blieb ich erst mal sitzen und stockte. Wie um alles in der Welt war ich in mein Bett gekommen? Und was war gestern noch alles passiert? Als ich darüber nachdenken wollte, fing mein Kopf bloß an zu pochen und es fühlte sich so an, als ob jemand eine Mauer durch meine Gedanken gezogen hätte, die meine Erinnerungen an den gestrigen Abend blockierten.
Langsam stand ich auf und wollte ins Bad gehen, doch als ich an meinem Regal vorbei ging sah ich, dass das Märchenbuch nicht mehr da war. Bestimmt hatte es Dad sich zurück geholt; dachte ich nichts ahnend.
Auf dem Weg zur Schule fuhr ich bei Nick vorbei, um ihn abzuholen. Als ich vor seinem Haus hielt, wartete er schon auf mich und stieg ein.
»Du musst das wirklich nicht machen«, sagte er ernst nachdem wir uns begrüßten.
»Ich weiß, aber ich mache das gerne«, erwiderte ich, lächelte ihn an und fuhr los.
Während der Autofahrt unterhielten wir uns über Gott und die Welt und Nick wirkte ziemlich entspannt und zufrieden. Mir gingen allerdings andere Gedanken durch den Kopf. Die ganze Zeit grübelte ich darüber nach was gestern Abend nach dem Abendessen passiert war, doch es war alles weg. Als hätte jemand mit dem Finger geschnippt und die Zeit zwischen sieben Uhr abends und sechs Uhr morgens ausradiert.
Um mich abzulenken fragte ich ihn wegen seinem Bruder, daraufhin teilte Nick mir mit, dass Cam sein Studium abgebrochen hatte. Es schien ihm nicht mehr gefallen zu haben, mehr wusste er auch nicht. Das war wirklich sehr merkwürdig. Ich hatte Cameron zwar erst einmal gesehen,doch er hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als wäre er jemand der einfach so aufgibt, wenn ihm etwas nicht gefällt. Jedoch wollte ich mich erst mal zurückhalten und abwarten, ob Nick mir von selbst bald die Wahrheit sagen würde.
In der Schule angekommen, parkte ich auf meinem üblichen Parkplatz und stieg aus. Gemeinsam mit Nick liefen wir zu Hannah, die am Eingang der Schule stand. Zuerst sah ich sie nicht, aber als wir näher kamen erkannte ich, dass noch ein anderes Mädchen bei ihr stand.
»Hey Hannah, hey Kayla«, begrüßte Nick die beiden, als wir bei ihnen ankamen.
Neugierig musterte ich diese Kayla. Sie war ein wirklich hübsches Mädchen, mit langen blonden Haaren, haselnussbraunen Augen, einer schlanken Figur und einer Größe von mindestens 1.70 Meter. Sofort warf sie sich Nick an den Hals und umarmte ihn, für meinen Geschmack, viel zu lange.
»Nicky, ich hab dich so vermisst«, säuselte sie und wuschelte mit ihrer Hand durch seine Haare.
»K, lass das.« Genervt schob Nick sie von sich weg und richtete wieder seine Haare. Mein Grinsen verbarg ich hinter meiner Hand und sah Hannah an, der es nicht anders ging wie mir.
»Sie war bei ihrer Großmutter in Denver, weil diese schwer krank ist«, erklärte mir Hannah leise, nachdem ich ihr einen fragenden Blick zugeworfen hatte.
»Oh, das tut mir leid«, sagte ich wahrheitsgemäß und erst jetzt sah Kayla zu mir und musterte mich von oben bis unten. Heute morgen trug ich ein schwarzes Top, eine zerrissene Jeans und dazu schwarze Sandaletten, also nichts Ungewöhnliches. Kayla lächelte mich an und schloss mich in ihre Arme.
»Du musst Amelia sein. Hannah hat mir schon von dir erzählt. Willkommen in unserer kleinen, chaotischen Gruppe«, begrüßte sie mich grinsend und aus einem Impuls heraus, erwiderte ich ihr Lächeln.
»Danke. Was hat Hannah dir denn so erzählt?«, fragte ich neugierig und sah sie an.
Sofort fing Kayla an drauf los zu plappern und erzählte mir, dass Hannah die Geschichten mit Victoria ausgeplaudert hatte. »Ich finde es ja so cool, dass du ihr die Stirn geboten hast. Weißt du, das trauen sich nicht viele und dadurch hast du echt meinen größten Respekt verdient.«
Verlegen sah ich auf meine Hände und wusste nicht, was ich sagen sollte. Für mich war das nie eine große Sache.
»Starkes Tattoo hast du da übrigens. Ich habe auch eines«, und bevor ich widersprechen konnte, zog Kayla schon ihr Shirt nach oben und präsentierte uns ihr Tattoo, das auf ihrer rechten Hüfte prunkte. Es waren einfach nur drei kleine Regentropfen.
»Das ist echt schön«, erwiderte ich und sah sie lächelnd an, dabei kam in mir das beklemmende Gefühl hoch, dass ich sie von irgendwoher kannte.
~*~
Während dem Unterricht konnte ich mich kaum konzentrieren, weil ich immer wieder an die Sache von gestern Abend denken musste. Das nutzte Mrs Louvers natürlich aus und nahm mich jedes Mal dran, wenn ich gedankenverloren aus dem Fenster sah oder die Wand anstarrte. Zum Glück wusste ich die Antworten auf ihre Fragen und kostete meinen Sieg heimlich aus, wenn ihr Gesichtsausdruck darauf hindeutete, dass sie gar nicht davon begeistert war.
Nach Englisch hatten wir Geschichte und als ich mit Hannah den Klassenraum betrat, bekam ich ein ungutes Gefühl. Wieso fühlte ich mich in seiner Nähe nur so unwohl? Mr Daniels lächelte uns freundlich an, welches Hannah sofort erwiderte, während ich mir ein Lächeln abquälen musste und mir ziemlich sicher war, dass es eher wie eine Grimasse aussah.
»Was ist denn, Amelia?«, fragte Hannah verwirrt.
»Bauchkrämpfe«, murmelte ich und setzte mich auf meinen Platz.
Nachdem alle Schüler in den Raum gefunden hatten, stellte sich Mr Daniels an die Tafel und fing an, etwas zu schreiben.
13. Oktober 1855 stand an der Tafel.
»Wer kann mir sagen, warum dieses Datum so wichtig ist?«, fragte Mr Daniels nun an seine Schüler gewandt. Niemand in der Klasse meldete sich und mir war ebenfalls Schleierhaft, warum dieser Tag so bedeutend war.
»An dem Tag wurde Broken Village gegründet«, verkündete Hannah nach einer Weile Stolz.
»Gut gemacht, Ms Capwell«, lobte Mr Daniels sie. »Wie ihr wisst, wird an diesem Tag jedes Jahr ein Fest gefeiert, bei dem sich jeder Bürger engagieren kann, um Geld für die Stadt zu sammeln. Ich habe mir überlegt, dass sich jeder dazu ein Thema überlegen kann. Das Ergebnis fließt dann in eure Abschlussnote mit ein. Ihr könnt euch auch mit jemandem zusammen schließen«, verkündete er, woraufhin sofort darauf los geplaudert wurde und die anderen aus meiner Klasse sich in zweier Gruppen zusammenfanden.
Ich hatte schon meinen Stift gezückt und wollte etwas in mein Notizbuch schreiben, als sich jemand neben mich setzte.
»Willst du das ernsthaft alleine machen?«, fragte Kayla ungläubig.
»Doch, eigentlich schon«, entgegnete ich leicht verwirrt und sah sie an.
»Schätzchen«, Kayla sah mich mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete. »Das ist doch viel zu viel Arbeit für eine Person. Ich werde dir helfen. Was hast du dir denn vorgestellt?«, fragte sie neugierig und sofort fing ich ihr an zu erzählen, was meine Idee war.
Am Ende der Stunde hatten wir schließlich gemeinsam ein Konzept entwickelt. Wir wollten eine kleine Modenschau auf die Beine stellen und damit die Kleidung aus dem mittleren, 19. Jahrhundert präsentieren.
~*~
In einer Stunde würden mich meine Freunde von zu Hause abholen, um dann zusammen in den Wald zu gehen. Sie sagten, dort gäbe es eine Lichtung mit einem wunderschönen See, bei dem man prima schwimmen gehen konnte. Ich war schon sehr gespannt auf diesen Ort und was mich dort erwarten würde.
Als ich zu Hause ankam, war Dad wie immer abwesend. Seufzend schloss ich die Tür hinter mir und ging nach oben in mein Zimmer. In meinem Schrank kramte ich nach meinem Bikini und zog ihn sofort an, als ich ihn nach kurzer Zeit fand. Er war in einem hellen Rot, das Oberteil war ein Neckholder und bei dem Höschen baumelten an der Seite zwei Schleifen herab. Für darüber entschied ich mich für ein leichtes, trägerloses, weißes Sommerkleid. Im Badezimmer kämmte ich noch meine Haare durch und band sie zu einem lockeren Zopf zusammen. In meine große Handtasche stopfte ich Badetücher, Sonnencreme, eine Wasserflasche und ein paar Snacks. Fertig war ich für den Ausflug.
Um Punkt 16 Uhr klingelte es auch schon an der Tür. Freudig hüpfte ich die Treppen runter und öffnete meinen Freunden die Tür. Hannah begrüßte mich mit einer Umarmung und zog mich dann mit zum Auto. Als ich Cameron am Steuer erblickte, erstarrte ich kurz. Wieso bekam ich in seiner Nähe immer so ein komisches Gefühl? Als würde er etwas über mich wissen, das ich noch nicht selbst wusste. Außerdem hatte ich ihn seit unserer ersten und letzten Begegnung nicht mehr gesehen und wusste nicht wie er nun drauf war.
Hannah schien dies jedoch nicht zu bemerken, denn sie schob mich in die Mitte von dem Rücksitz, auf den Platz neben Kayla. Auch sie begrüßte mich mit einer Umarmung, während von Nick bloß ein selbstbewusstes »Hi.« kam und er mich angrinste. Ich nickte ihm kurz zu und bevor ich es verhindern konnte, traf mich Camerons Blick im Rückspiegel. Schnell sah ich woanders hin und umklammerte meine Tasche. Kayla fing an, mir von dem super süßen Typen im Supermarkt zu erzählen, den sie vor einer halben Stunde gesehen hatte und ich war froh über die Ablenkung.
»Hast du seine Augen gesehen, Hannah? Die waren so wundervoll«, schwärmte sie und ein dramatischer Seufzer entfuhr Kayla.
»Wie waren seine Augen denn?«, fragte ich gespielt neugierig.
»So eine Farbe habe ich noch nie gesehen, ich schwör's! Sie waren richtig Gelb, wie die Augen von einer Katze«, erklärte sie begeistert.
Als ich das hörte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Hellgelbe, neugierige, jedoch vertraute Katzenaugen, die mich aus einem Gebüsch heraus anstarrten.
»Sie fantasiert wieder herum«, meinte Nick von vorne und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Dafür kassierte er einen finsteren Blick von Kayla, verstummte jedoch nicht.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, entgegnete Kayla beharrlich.
»Ich glaube dir«, wisperte ich und rief mir diese Augen wieder in Erinnerung.
Wieso nur wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich hinter diesen Augen eine vertrauenswürdige Person befand? Ich habe ihn auch gesehen; wollte ich ihr sagen, aber brachte es nicht übers Herz, ihnen die Wahrheit zu sagen. Sie würden mich für verrückt halten.
»Deswegen mag ich dich so.« Kayla schloss mich noch einmal in ihre Arme und ich drückte sie kurz an mich.
~*~
»Wir sind da«, war das Erste, das Cameron seit der ganzen Autofahrt von sich gab und parkte am Waldrand. Er war schon ein mysteriöser Kerl, aber vielleicht lag es auch daran, weil er so viel älter als wir anderen war.
Gemeinsam mit meinen Freunden stieg ich aus dem Auto und atmete die frische Waldluft ein. Es roch hier ganz anders, als die Bäume im Central Park. Diese waren durch die ganzen Abgase der Stadt schon halb verrottet und jedes Mal, wenn ich sie sah, taten sie mir leid.
Cameron setzte sich als erster in Bewegung, Nick folgte ihm und wir Mädchen liefen ihnen hinterher. Da ich keine Ahnung hatte wo diese Lichtung mit dem See war, folgte ich ihnen einfach und sah mich fasziniert im Wald um. Ungewohnte Geräusche und verschiedene Gerüche benebelten sofort meine Sinne. Der Wald war richtig schön, mit einem festen Pfad für Wanderer, großen und grünen Tannen und mit dichten Büschen, an denen saftige Beeren hingen. Wenn man genauer in den Wald hineinsah, konnte man sogar mal ein Reh oder andere Waldbewohner entdecken. Von den Geräuschen, die weiter entfernt waren, konnte ich ausmachen, dass es hier noch Wildschweine, Wölfe und Luchse gab. So nahe an der Natur fühlte ich mich richtig wohl und lebendiger als je zuvor.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die wir durch den Wald gewandert waren und ich schon das Gefühl hatte, das meine Lunge bald explodieren würde, kamen wir endlich bei der Lichtung an. Meine Freunde hatten echt nicht zu viel versprochen. Der See war nicht sehr groß, aber durch die Sonnenstrahlen, die darauf schienen, glitzerte er und das verlieh dem Ganzen etwas Magisches. Um den See herum wuchs Schilf, während auf dem Wasser Seerosen schwammen, auf denen Frösche fröhlich quakten und Libellen glückselig summten. Das Gras wuchs hier dichter zusammen, als am Waldrand und lud ein, es sich dort sofort gemütlich zu machen.
»Na, gefällt dir das, New York?«, fragte Hannah kichernd und grinste mich an.
Ich blinzelte und sah sie verwirrt an. »Was? Ja, es ist wirklich wunderschön hier«, antwortete ich lächelnd.
Die anderen hatten in der Zeit schon zwei große Decken ausgebreitet, auf die wir uns setzen konnten. Cameron und Nick waren die ersten, die sich ihrer Kleidung entledigten und in den See sprangen, während Kayla, Hannah und ich uns damit Zeit ließen. Zuerst schlüpfte ich aus meinem Kleid und zog dann die Schuhe aus. Meine beiden Freundinnen taten es mir gleich. Bei Kayla fiel mir ihr Tattoo mit den Regentropfen sofort auf und als ich zu Hannah sah, entdeckte ich eines an ihrem Fußknöchel. Es war eine feuerrote Flamme.
»Sieht cool aus oder?«, fragte sie mich grinsend und als Antwort konnte ich nur nicken.
Es war wirklich toll. Ob die Leute wohl auch so auf mein Mal reagierten? Ich hob meinen Arm und betrachtete es kritisch. Sofort ließ ich ihn wieder fallen und nahm mir die Sonnencreme aus der Tasche. Gerade als ich mich eincremen wollte, kam Nick wieder aus dem Wasser. Er wandte mir den Rücken zu, wahrscheinlich wollte er erneut ins Wasser springen und als ich ihn genauer betrachtete, fiel mir sofort sein Mal auf. Ein riesiger Eiszapfen zog sich über seine Schulter und wirkte eher wie eine Narbe als ein Tattoo. Wenn die Sonne darauf schien, konnte ich schwören, dass das helle Blau wie Sterne funkelte. Doch länger konnte ich es nicht betrachten, denn da war Nick schon wieder im Wasser verschwunden.
~*~
Einige Stunden später fiel ich erschöpft in mein Bett. Der Tag mit meinen neuen Freunden war richtig toll gewesen. Es war schön zu wissen, dass ich nicht die Einzige war, die mit einem außergewöhnlichen Mal geboren wurde. Kayla und Hannah verrieten mir nämlich ihr Geheimnis über ihre Tattoos also erklärte ich ihnen, dass es bei mir genauso war. In ihrer Nähe fühlte ich mich weniger wie ein Freak, denn sie behandelten mich schon so, als ob ich seit Jahren zu ihrer Gruppe gehören würde. Mit dem Gedanken an meine Freunde schlief ich nach einer Weile ein und träumte in dieser Nacht zum ersten Mal, nach ihrem Tod, von meiner Mutter.
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Jessica Becker
Lektorat: Jessica Becker
Satz: Jessica Becker
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2016
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