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Prolog

Prolog

 

Der Mond leuchtete hell am Nachthimmel. Aus der Ferne ertönte ein Wolfsheulen.

Es kam aus dem nahegelegenen Wald, wurde weit übers Land getragen und erreichte eine wärmende Flamme, die einzige Lichtquelle in der Finsternis.

Das Feuer tanzte in der Mitte einer Lichtung, umringt von lachenden, vertrauten Gesichtern. Musik rauschte durch die Menge hindurch wie ein sanfter Regenschauer und erfüllte die Szene mit einem seltsamen Frieden. Die Musik bestand aus Liedern, die von uralten Legenden und glorreichen Abenteuern erzählten, von denen nie ein Mensch zu träumen gewagt hatte.

Die Krieger, die um das Lagerfeuer saßen, begannen, von der guten Stimmung angesteckt, fröhlich mitzusingen. Ein Gefühl von Heimat, Freundschaft und Zusammenhalt vereinte sie.

Plötzlich fuhr ein Blitz durch die versammelte Gruppe, direkt in das Lagerfeuer.

Die Erde erbebte, eine Welle des Unheils rollte über die eben noch so friedliche Lichtung. Die Flammen formten eine seltsame Gestalt. Furchteinflößend und doch vertraut.

Die Kreatur kroch aus dem Feuer und ihr Gesicht, von einem hinterhältigen Grinsen verzerrt, wurde sichtbar. Ihre durchdringenden, roten Augen strahlten hell und durchbohrten die Dunkelheit.

Das Lager und die Menschen waren mit einem Mal verschwunden. Langsam erstarb das Feuer, das Licht in die Dunkelheit gebracht hatte. Die Kreatur ließ ihren Blick mit Genugtuung über den Platz streifen, an dem eben noch fröhlich gefeiert worden war, der jetzt aber von einer unheilvollen Finsternis gezeichnet war.

Der Kopf der Gestalt wandte sich um, als hätte sie jemanden entdeckt.

„Rodericus!“, rief sie. Ihre Stimme klang tief und rau. „Du bist der Nächste!“

1. Kapitel

1. Kapitel
 

England, 1189

 

Rodericus erwachte schweißgebadet in seinem hölzernen Bett mit der notdürftigen Decke.

Er versuchte, sich erst einmal zu beruhigen. Doch angesichts der Erinnerung an die hinterhältige Fratze aus seinem Traum war das kaum möglich. Das war schon das vierte Mal in dieser Woche, dass ihn diese merkwürdigen Träume wieder aus dem Schlaf rissen. Seit drei Monaten ereilten sie ihn bereits regelmäßig. Anfangs nur sehr verschwommen, doch nun immer klarer, beinahe wie Visionen.

Er seufzte, wie lange würde er das noch durchstehen müssen?

Langsam setzte er sich auf. Die Sonne schien hell in sein Zimmer und er konnte ein paar Vögel unbeschwert vor sich hin zwitschern hören. Eine leichte Brise zog um die Häuserecken und ließ die Blätter in den Bäumen sanft rascheln. Die Sonne wärmte Rodericus den Rücken. Er entspannte sich. Für einen Moment schloss er die Augen und versuchte den Schreck des Traumes zu vergessen.

Nachdem er sich beruhigt und den Schweiß aus seinem Gesicht gründlich abgewaschen hatte, ging er die hölzerne Treppe des Hauses hinunter, wo sich die Küche und ein Essensraum befand.

Sein Vater saß an diesem Morgen bereits am Tisch und seine Mutter richtete gerade das Frühstück an.

„Guten Morgen, Vater. Morgen, Mutter.“ Rodericus versuchte, fröhlich zu klingen.

„Roderic“ erwiderte sein Vater. „Setz dich zu mir.“

Er tat, wie ihm geheißen. Als sich seine Mutter ebenfalls zu ihnen gesellte, nahm er sich ein Ei und ein Stück Brot und wollte hungrig anfangen zu essen, als ihn der wütende Blick seines Vaters erinnerte, dass sie noch nicht gebetet hatten. Schnell legte er das Brot wieder auf seinen Teller und faltete die Hände.

Sein Vater hatte es mit dem Glauben schon immer streng genommen. Schon als kleines Kind hatte er ihn oft daran erinnert, wie wichtig es sei regelmäßig und ehrfürchtig zu beten und beichten zu gehen, da Gott und die Kirche der einzige Weg seien um aus dieser Welt erlöst und im Jenseits von der Hölle verschont zu werden. Deshalb dürfe man Gott niemals vergessen auch wenn das im Alltag und bei den vielen täglichen Arbeiten leicht passieren könne.

Rodericus war das einzige verbleibende Kind in der Familie. Daher war es umso schwieriger mit all der Arbeit in der Goldschmiede, die seine Eltern betrieben, und auf den Feldern außerhalb der Stadtmauern, die sie im Sommer nebenbei auch noch bewirtschafteten, fertig zu werden.

Seinen älteren Bruder Erikur hatte Rodericus verloren als dieser mit auf Kreuzzug gegangen und im Kampf gegen die Sarazenen gefallen war. Seine beide jüngeren Schwestern dagegen waren schon im Kindesalter an einer Seuche, die in ganz England getobt hatte, gestorben.

Kurz nachdem er zum Einzelkind geworden war, hatte Rodericus schließlich diese seltsamen Träume bekommen. Anfangs nur gelegentlich und nicht weiter schlimm - ein Schrei, ein unheimliches Gesicht, dass ihn erschreckte oder ein dunkles Loch, das sich auftat und in das er hinab fiel.

Doch nun, zwei Jahre nachdem Erik gestorben und er allein war, sah er die Bestie klar und deutlich, beinahe jede Nacht erschien sie ihm. Seitdem trieb sie ihn in den Wahnsinn, die Kreatur aus seinen nächtlichen Visionen verfolgte ihn rund um die Uhr. Auch wenn er morgens aufstand und an seine Arbeit ging schien sie ihn zu beschatten und wenn er Abends, erschöpft von seinem Tageswerk, zu Bett ging, schien sie bereits auf ihn zu warten. Begierig darauf, dass er einschlief und sie ihn wieder quälen konnte.

„Amen.“ Die Stimme seines Vaters riss ihn aus den Gedanken. Rodericus schüttelte kurz den Kopf, als könne er so seine Verwirrung abschütteln. Dann griff er nach dem Stück Brot, welches noch immer auf seinem Teller lag und begann zu essen. Eine Weile war es ruhig, nur gleichmäßiges Atmen und das Geräusch von zerspringenden Eierschalen, die aufgeschlagen wurden, war zu hören.

Bis Rodericus bemerkte, dass sein Vater ihn von der Seite musterte.

„Du siehst erschöpft aus, mein Sohn“, sagte er schließlich.

Es klang wie ein harmlose Bemerkung, doch er ahnte, dass es der Beginn einer leidigen Diskussion war.

„Ja das tust du tatsächlich“, stimmte seine Mutter zu, „was ist los?“

„Nichts, ich hab nur ein wenig schlecht geschlafen“, gab Rodericus knapp zurück. Er wagte es nicht, den Blick von dem Stück Brot in seiner Hand abzuwenden.

„Lüg nicht, du hast heute Nacht wieder den Teufel getroffen.“ Sein Vater hatte das Thema aufgegriffen, das Rodericus unbedingt hatte umgehen wollen.

Er seufzte.

Seit sein Vater Wind von seiner Paranoia bekommen und nicht eher Ruhe gegeben hatte, bis er ihm verraten hatte, dass dies mit seinen nächtlichen Alpträumen von dieser Kreatur zusammenhing, war er unerträglich geworden.

„Wieso glaubst du, dass dieses Wesen ausgerechnet der Teufel ist? Es könnte sonst etwas sein. Ein Geist oder einfach ein Hirngespinst“, erwiderte Rodericus.

Er bemühte sich Vater zu beruhigen und das Thema so schnell wie möglich zu beenden. Dieses abergläubische Gerede ging ihm auf die Nerven.

„Wer sollte es sonst sein? Ein Geist würde nicht in dieser Form zu seinen verbliebenen Verwandten sprechen. Wir alle wissen doch, dass der Teufel den Menschen verfolgt, um ihn zu verführen, zu verfluchen und in den Wahnsinn zu treiben. Und...um ihn vom Glauben wegzuführen.“

Rodericus wusste, dass sein Vater darauf anspielte, dass er es mit der Religion nie so ganz ernst genommen hatte. Wie oft hatte er seinen Sohn am Sonntagmorgen schon aus dem Bett treiben müssen, damit er mit zum Gottesdienst kam.

„Willst du damit sagen, dass ich ein Dämonenanbeter bin?“, erwiderte er zornig.

„Das habe ich nie behauptet. Ich sage nur, dass du vorsichtig sein solltest. Der Satan ist unser aller Feind und ohne einen festen Glauben an unseren Herrgott sind wir ihm ausgeliefert. Aber es ist nicht nur dein seelisches Heil um das ich mir Sorgen mache.“

Rodericus sah seinen Vater verwundert an.

„Ich habe gestern wieder mit den Cartlands gesprochen. Ihre Tochter Cecilia hat nach dir gefragt, vielleicht solltest du sie wieder einmal besuchen.“

„Und was hat das mit deinen Sorgen zu tun?“, fragte Rodericus.

„Nun, mein Sohn, du bist bereits 19 und hast noch immer keine Verlobte. Cecilias Eltern scheinen durchaus daran interessiert, euch zu vermählen und sie selbst scheint dir auch nicht abgeneigt zu sein. Wenn du dich ein wenig mehr um sie bemühen würdest, dann könntest du auch endlich eine Frau haben. Allerdings mache ich mir Sorgen, ob du überhaupt jemanden finden wirst, wenn das mit deiner Paranoia und deinen dämonischen Alpträumen herauskommt.“

Rodericus wurde nachdenklich. In dieser Sache könnte sein Vater sogar Recht haben. Wenn Gerüchte erst einmal in Umlauf kamen, hielten sie sich sehr sehr hartnäckig. Er würde den Ruf eines vom Teufel besessenen Verfluchten wohl nie wieder los werden.

„Andererseits“, fuhr sein Vater fort, „wenn niemand davon erfahren darf, wie sollst du dann Hilfe bekommen? Du kannst diese Last nicht ewig mit dir herumtragen. Ich sollte doch die Geistlichen darüber unterrichten, vielleicht können sie dir helfen.“

Nein! Alles, nur nicht auch noch die Kirche in diese verzwickte Lage mit hineinziehen!

„Vater, bitte!“ Rodericus sprang auf. „Nicht die Geistlichen! Wie sollten die mir denn da helfen?“

„Roderic, ganz ruhig, setz dich wieder und höre was dein Vater sagt“, entgegnete seine Mutter.

Doch er weigerte sich und blieb genau da stehen wo er war.

„Roderic“, begann sein Vater nochmals. „Wer sonst sollte dir helfen wenn nicht die Kirche? Sie ist unsere Beschützerin im Kampf gegen das Unheil dieser Welt. Sie gibt uns die Ordnung und den Halt den wir dazu brauchen, sie leitet uns auf dem Weg ins Licht und...sie führt verlorene Schafe wieder zurück ins Licht. Es ist unsere einzige Chance.“

„Nein Vater, ich glaube einfach nicht, dass diese kahlköpfigen, betenden Priester mir in dieser Sache in irgendeiner Weise helfen könnten. Was sollten sie denn tun? Gott anflehen mich zu erlösen? Mich mit nutzlosen Segnungen zu heilen versuchen?“

Sein Vater machte ein sorgenvolles Gesicht.

„Dein Unglauben wird dich noch einmal ins Verderben stürzen, mein Sohn“, sagte er nur. Anscheinend hatte er eingesehen, dass es nichts bringen würde, weiter mit Rodericus über Glaubensfragen zu diskutieren.

„Nun gut, lassen wir das. Trotz allem wartet das tägliche Geschäft auf uns. Roderic, würdest du dich nach dem Frühstück wieder um Stall und Pferde kümmern? Danach kannst du mir in der Gold-schmiede zur Hand gehen.“

„Wieder die Stallarbeiten?“, warf die Mutter plötzlich auf. „Weisst du, wenn wir uns endlich eine Magd oder einen Knecht mit dazuholen würden, könnten sie die Stall- und Hausarbeiten erledigen und wir könnten uns auf die Goldschmiederei konzentrieren.“

„Weib, ich habe es dir schon einmal gesagt, wir schaffen das allein.“

„Warum bist du in dieser Sache nur so geizig? Wir könnten viel bessere Gewinne machen, wenn wir mehr Zeit für unseren Hauptbetrieb hätten, der uns ja schließlich unser Haupteinkommen einbringt“, sagte sie nachdrücklich.

„Es ist doch wirklich nichts dabei ein paar Hausarbeiten zu erledigen und danach mit dem Schmieden weiterzumachen.“

„Das sagst du nur, weil du es nie tun musst.“ Sie klang verärgert.

„Es reicht! Schluss mit diesen ewigen Wortwechseln. Ich mag nun mal keine Fremden in unserem Haus. Außerdem...“, er richtete den Blick auf seinen Sohn. „Sind das Letzte was wir jetzt gebrauchen können noch mehr Schnäbel, die Gerüchte in die Welt hinausposaunen.“

 

 

 

„Ruhig, mein Kleiner.“ Rodericus strich sanft über die Nüstern seines Lieblingspferdes – Dawnstar.

Das Fell des dunkelbraunen, fast schwarzen Hengstes glänzte in der Sonne. In diesem Licht sah er aus wie ein großes, mächtiges Schlachtross, auch wenn er nur als Reittier und Ackergaul genutzt wurde. Er schien die Streicheleinheiten zu genießen und schnaubte zufrieden.

Rodericus lächelte unwillkürlich.

Er drückte seinen Kopf an den Hals seines Freundes und war froh, dass Dawnstar ihn nicht wie eine Bestie meiden und als verlorene Seele abstempeln würde, die mit dem Teufel im Bunde war, so wie sein Vater und viele andere, wenn sie um die Visionen wüssten.

Das weiche Fell und die gleichmäßigen Atemzüge des Pferdes erfüllten ihn mit einem wohligen Frieden und ließen ihn seine Sorgen einen Moment vergessen, bis ihn jemand von hinten anstupste. Es war Duke,Dawnstars Gefährte. Er wieherte, empört darüber, dass Rodericus seine ganze Aufmerksamkeit dem dunklen Hengst schenkte.

„Na, wer wird denn da gleich eifersüchtig werden?“, sagte er grinsend und ließ seine Hand durch die blonde Mähne und über das kastanienbraune Fell gleiten.

Sein Blick schweifte Richtung Osten. Durch den Offenstall hatte man eine schöne Aussicht auf die Stadt. Die Dächer funkelten im Licht der aufgehenden Sonne, umgeben von mächtigen Stadtmauern, und aus den Kaminen stieg Rauch empor, der vom Wind in Richtung Osten zerstreut wurde. Der morgendliche Nebel hatte sich schon beinahe verzogen und gab den Blick auf die Felder und Wälder frei, die York förmlich umschlossen.

Im südlichen Teil der Ortschaft, auf einem Hügel, thronte eine alte, aber dennoch beeindruckende Burg in der der Graf dieser Ländereien seinen Sitz hatte.

Das Haus von Rodericus' Familie befand sich etwas abseits, dort wo das Gelände im Westen zur Stadtmauer hin anstieg. Seit er denken konnte lebte er in dieser Stadt, die ihn mit jedem Jahr, das er hier verbrachte, mehr und mehr langweilte. Die weiteste Reise die er bisher unternommen hatte, war hin und wieder ein Ritt nach London gewesen. Zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder Erik hatte er dort schon öfter Verwandte besucht und mit Vater einige wichtige Handelsgeschäfte getätigt, damit er nicht nur lernte eine Goldschmiede zu betreiben, sondern auch die Waren gewinnbringend zu verkaufen.

Rodericus Blick traf die entfernten Berge und Wälder, die jenseits der Stadt lagen. Mit einem Mal sehnte er sich danach, auf Dawnstars Rücken zu klettern und in die Welt hinaus zu reiten, um frei und ungebunden Abenteuer zu erleben und etwas von der Welt zu sehen.

Doch auf der anderen Seite wünschte er sich nichts mehr, als endlich zu heiraten und eine eigene Familie zu haben, um seiner Einsamkeit ein Ende zu bereiten. Seit dem Tod seines Bruder fühlte er sich verlassen und dachte beinahe jeden Tag zurück an Zeit, als sie beide unzertrennlich waren und jede noch so große Herausforderung gemeinsam gemeistert hatten. Doch Erikur war tot und er musste ohne ihn weitermachen, um seiner Familie beizustehen. Nichts anderes hätte sein Bruder von ihm erwartet.

Mit diesem Gedanken kehrte er in die Gegenwart zurück. Er lenkte seine Schritte in Richtung Futterkammer, um die Pferde zu versorgen und die Arbeit wieder aufzunehmen. Sein Vater wartete in der Schmiede auf ihn und würde wütend werden, wenn er hier nicht bald fertig wurde.

 

 

 

Es war dunkel, stockdunkel. Rodericus konnte nichts erkennen, kein bisschen, doch er spürte, dass seine Hände und Füße gefesselt waren. Er konnte sich kaum rühren und die Fessel schnitten ihm unangenehm ins Fleisch. Sein verzweifelter Versuch sie ab zu bekommen blieb erfolglos. Ihm war, als läge er gestreckt auf einer Folterbank. Fackeln blitzten auf und die Flammen brachten ein schwaches Licht in die Finsternis. Langsam erkannte er die Umrisse des Raumes um sich herum, der wie eine Höhle aussah, und des Tisches

auf dem er gefesselt war. Hässliche Fratzen hingen an den Wänden. Sie schienen auf ihn herabzublicken und bildeten zusammen mit dem Flackern der Fackeln zwischen ihnen ein unheimliches Bild. Waren es ausgestopfte Dämonenköpfe?

Plötzlich, wie aus dem Nichts, kroch düsterer, schwarzer Rauch aus dem Boden und durch die Höhle und sammelte sich wie auf einen unsichtbaren Befehl hin direkt vor ihm.

Allmählich erkannte er das Gesicht, dass sich aus den komprimierten Rauchschwaden formte. Es war die gleiche Fratze, die er schon so viele Male gesehen hatte – düstere Gesichtszüge, zwei Zacken, die auf dem Kopf thronten und wie Hörner wirkten, und ein widerliches Maul.

Eine lähmende Angst erfasste ihn, als sich das riesige Gesicht, das bestimmt vom Boden bis zur Decke der Höhle reichte, vor ihm aufbäumte und es ihn durch die bedrohlichen, roten Augen mit bitterbösem Blick anstarrte.

Er konnte sich nicht bewegen, sein Körper reagierte nicht mehr. Er spürte wie sich die Fesseln unbarmherzig noch tiefer in sein Fleisch schnitten und seine Haut aufzureißen begann. Weitere Risse zogen sich durch seine Arme und Beine und breiteten sich schließlich wie ein tödliches Gewächs, dessen Wurzeln sich quälend langsam durch ihn hindurch schlängelten und sich festsetzten, über seinen gesamten Leib aus.

Halb ohnmächtig vernahm er noch, wie die pechschwarzen Lippen vor ihm Worte formten: „Eines Tages wird der Fluch der Sterblichkeit auch dich ereilen und dann gehörst du mir! MIR!“

Die mächtige Stimme bebte durch den winzigen Raum und durch seinen Körper, wie der letzte Anstoß, der noch fehlte um sein gequältes Fleisch zerbersten zu lassen. Er schrie auf, als sein Leib zersprang und er zusammen mit den Dämonenköpfen, begleitet von dem teuflischen, schadenfrohen Lachen der Bestie, von einem Strudel endloser Dunkelheit verschlungen wurde.

 

 

 

Rodericus riss die Augen auf und zitterte von Kopf bis Fuß. Die Welt um ihn herum konnte er nur verschwommen wahrnehmen. Doch eines erkannte er deutlich – etwas rührte sich direkt über ihm.

Dieses Mal nicht!

Diesmal würde er sich gegen die Kreatur wehren! Jetzt reichte es ihm. Sein Körper war aus der Starre erwacht und er konnte sich wieder bewegen. Er ließ seine Hände nach oben schnellen, in die Richtung, in der er die Bewegung ausgemacht hatte und packte etwas, dass sich wie eine Kehle anfühlte. Voller Zorn umklammerte er sie und drückte fester zu. „Na wie ist es so gequält zu werden? Gefällt dir das, du verdammter Dämon?“, knurrte er.

Dann spürte er wie seine Arme von kräftigen Händen gepackt wurden. „Roderic, komm endlich zu Sinnen!“, krächzte eine vertraute Stimme.

Erschrocken lockerte Rodericus seinen Griff. Die klaren Worte weckten ihn aus seiner Trance. Allmählich schärfte sich das Bild vor seinen Augen und er erkannte den Mann mit braunem Bart, schulterlangem Haar und den geheimnisvollen grünen Augen, der sich über ihn gebeugt hatte und dessen Kehle er noch immer umklammerte.

„Vater! Du? Aber...“ Entsetzen breitete sich in Rodericus aus, als ihm bewusst wurde was er getan hatte.

„Ich... ich wusste nicht... ich wollte nicht...“, stammelte er und ließ seine Arme augenblicklich auf sein Bett zurückfallen. Ihm wurde heiß vor Verlegenheit und die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht, als sein Vater sich mit verzerrtem Gesicht den Hals rieb und einen grimmigen Laut von sich gab. Rodericus wagte es kaum, ihn anzusehen, doch als ihre Blicke sich trafen, konnte er in den Augen seines Vaters weder Vorwurf noch Zorn entdecken, nur Besorgnis und Mitleid.

Nach einer Weile wandte Vater den Kopf Richtung Tür und sagte: „Ihr könnt jetzt hereinkommen, er ist wach.“

Rodericus folgte verwirrt seinem Blick und erkannte zwei hagere Gestalten mit dunkelbraunen Roben, die langsam in sein Zimmer traten und sich dem Bett näherten.

Einer von ihnen platzierte sich links neben Rodericus' Schlafplatz, der andere rechts. Dann nahmen sie ihre Kapuzen ab und die Gesichter des ortsansässigen Priester Lucas mit der ungewöhnlich langen Nase und seines geschätzten Mesner Robert wurden sichtbar. Sie legten ihre Kopfbedeckungen zur Seite und zogen zwei Seile hervor, die sie unter ihren Kutten versteckt hatten. Rodericus wurde unruhig, als sie ihre Blicke auf ihn richteten und die Beiden nach seinen Armen griffen.

„Aber, was soll das werden?“, protestierte er. Er verstand nicht, was hier vor sich ging.

„Still, mein Sohn“, erwiderte sein Vater bestimmt. „Diese Männer werden dir helfen.“

Hilflos sah Rodericus mit an, wie die Geistlichen seine Hände an die oberen Bettpfosten fesselten.

„Es ist zu deinem eigenen Schutz, Bruder“, erklärte Priester Lucas. Seine überlange Nase zuckte unwillig, als hätte er einen besonders schweren Fall vor sich.

Wohl eher zu eurem Schutz, dachte Rodericus insgeheim.

Der Geistliche nahm auf einem Stuhl neben dem Bett Platz und kramte ein seltsames Buch heraus.

Dann begann er zu sprechen: „Herr, wir rufen dich an, damit du dich dieser armen Seele erbarmst und den Fluch des Satans von ihr nimmst, auf das wir sie in dein Licht zurückführen können.“

Schließlich schlug er das Buch in seinem Schoß auf und brach in unverständliches, lateinisches Gemurmel aus. Rodericus erschrak, als er unerwartet seine Stimme erhob und lauter wurde, nach einer Weile aber wieder leiser.

Auch Robert hatte die Hände gefaltet und schien zu beten, sagte aber nichts.

Dann wurden die eintönigen, lateinischen Verse von einer anderen Stimme unterbrochen.

„Glaubst du wirklich, dass dir das etwas bringen wird?“

Rodericus fuhr herum. Er hatte die Worte klar und deutlich vernommen, doch sie stammten von keiner der anwesenden Personen. Als seine Augen den Raum absuchten, erblickte er auf dem Schrank, rechts gegenüber des Bettes, eine feurig-rote Gestalt. Bedrohliche Hörner zierten ihre Stirn und der Atem, den sie hervorstieß, breitete sich wie eine heiße Dampfwolke um sie herum aus. Dadurch erschien das geisterhafte, beinahe durchsichtige Wesen noch mysteriöser. Seine langen Finger spielten mit einer beachtlichen Streitaxt herum, die gefährlich scharf aussah. Die strahlend roten Augen blickten abschätzig auf Rodericus herab.

„Satan?“, fragte dieser ungläubig.

Der Priester verstummte und auch Robert unterbrach, von der plötzlichen Stille irritiert, schließlich sein Gebet. Als er aufsah um den Grund dafür zu erfahren, erkannte er Rodericus' weit aufgerissene Augen, die unablässig auf eine bestimmte Stelle des Zimmers starrten.

„Roderic?“, fragte Lucas. „Was siehst du?“

„Es ist Satan! Er sitzt auf dem Schrank, dort oben!“, rief Rodericus aus.

Ein leises Knurren drang aus der Kehle des Dämonen, als sich alle Augen auf ihn richteten.

Der Mesner kniff die Augen zusammen, als könne er nichts Derartiges entdecken.

„Und... was tut er?“, hakte der Priester nach.

„Er beobachtet uns... er verfolgt jede unserer Bewegungen. Jetzt lächelt er und sieht auf uns herab, genau in diesem Moment, als wolle er uns regelrecht herausfordern.“

Erneut trat eine kurze Stille in den Raum, die Spannung schien die Luft regelrecht zu zerreissen.

„Er ist wahnsinnig!“, brach es da aus Robert heraus.

„Schweig! Beunruhige den Jungen nicht noch mehr. Ich weiß was zu tun ist.“ Mit diesen Worten wandte sich Lucas an Rodericus' Vater. „Habt ihr zufällig ein einigermaßen sauberes Messer bei Euch?“

„Was? Nein! Hört auf, sofort!“, protestierte Rodericus, als sein Vater dem Priester ohne ein Wort des Widerspruchs sein Taschenmesser und eine kleine Schüssel reichte.

„Ruhig Junge, dein Wahn wird gleich ein Ende haben“, sprach der Geistliche und während er das Gebet wieder aufnahm, näherte er sich mit der Klinge seinen gefesselten Händen.

Aus dem Augenwinkel sah Rodericus wie der Dämon es sich auf seinem Aussichtsposten bequem machte, die Axt hinter sich auf den Schrank legte, sich gemütlicher hinsetzte und seinen Blick wieder auf die Szene unter ihm richtete, als wolle er sich dieses Schauspiel auf keinen Fall entgehen lassen.

Unmut quoll in Rodericus angesichts des ungebetenen Zuschauers hoch. Als ob die ganze Situation nicht ohnehin schon schlimm genug zu ertragen wäre!

Trotzdem fragte er sich mit einem Mal unwillkürlich, ob dieses Wesen physisch tatsächlich hier oder nur eine Erscheinung, ein Abbild war, weil es so geisterhaft und unwirklich aussah.

Der Schmerz, der ihn in diesem Moment erfasste, beendete seine Spekulationen jedoch abprubt. Er biss sich auf die Lippe, als Lucas ihm eine Wunde in Form eines Kreuzes in den Arm ritzte und jeden Tropfen Blut, der in die Schale tropfte, genau verfolgte, so als ob damit auch alle bösen Energien aus Rodericus heraus fließen würden.

Die Fesseln an seinen Händen begannen zu kratzen und zu drücken. Er fühlte sich in seinen Traum zurückversetzt, die schrecklichen Erinnerungen schossen ihm in den Kopf wie spitze Dolche, die seinen Geist peinigten und seine Haut drohte erneut aufzureißen, während der durchdringende Blick des Dämons unablässig auf ihm ruhte.

„Nein, hört endlich auf damit! Ihr macht alles nur noch schlimmer!“, schrie Rodericus verzweifelt. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als die nächtlichen Qualen jetzt auch noch in der Wirklichkeit durchmachen zu müssen. „Vater, so tu doch endlich was! Wie kannst du so untätig dasitzen und zuschauen?“

Doch der Mann mit dem schulterlangen, braunen Haar rührte sich nicht und als hätte Rodericus ihn dazu veranlasst, streckte der Mesner plötzlich seine Hand aus und stimmte in den Chor des Priesters mit ein.

„Weiche, Satan, weiche! Verlasse diese Seele!“, befahl er, als ob dieser auf ihn hören würde.

Doch der Teufel in der Ecke war kein bisschen beeindruckt, er wich kein Stück, im Gegenteil. Er grinste den hilflosen Jungen hämisch an und schien seine missliche Lage voll und ganz auszukosten.

Du feiger Bastard, schoss es Rodericus durch den Kopf. Jetzt erscheinst du hier, wenn ich mich nicht wehren kann. Warte nur, wenn wir uns eines Tages wiedertreffen, dann...

„Ruhig Blut, Bürschchen. Wir werden uns im Kampf begegnen, aber nicht hier“, kam die prompte Antwort.

Rodericus starrte den Dämon ungläubig an. Hast du meine Gedanken gelesen?

„Nein, stell dir vor, ich habe sie einfach so erraten, Wort für Wort.“ Beißende Ironie schwang in seiner Stimme mit und durchzuckte Rodericus regelrecht.

„Wir werden uns wiedersehen“, fuhr die Kreatur fort. „Aber erst wenn du weit in den Norden, fern deiner Heimat gereist bist, dort wo der große See an der Grenze zu Schottland mündet und die verfluchte Festung von zerklüfteten Bergen umschlossen wird.“

Mit diesen Worten verstummte die düsterhafte Gestalt und wurde nach und nach durchsichtiger, bis sie sich schließlich im Nichts auflöste.

 

2. Kapitel

2. Kapitel

 

Die Sonne strahlte hell durch die bunten Glasfenster der Yorker Kirche, sie zeigten Jesus, Maria, und die heiligen Apostel. Der Tabernakel glänzte im Licht des neuen Tages und ein großes Holzkreuz ragte über dem Altar auf. Doch trotz der Helligkeit und den bunten Farben lag eine gewisse Düsternis im Raum, die dem Gotteshaus etwas Ehrfürchtiges verlieh. In einer dunklen Ecke, in der Nähe des Tabernakels zeichneten sich die Umrisse einer schmächtigen Person ab, auf einer Holzbank kniend, die Hände gefaltet und den Blick nicht vom Boden abwendend. Sich immer wieder bekreuzigend, betete Rodericus hier bereits seit einer knappen Stunde und nahm sich Zeit, über alles nachzudenken, was passiert war.

Gleich nachdem die Geistlichen gegangen und ihn sein Vater endlich von den verdammten Fesseln erlöst hatte, war er schnurstracks, ohne ein Wort, zu seinen Freunden, den Pferden, in den Stall gerannt. Nachdem er sich beruhigt hatte, hatte er seine Schritte in Richtung der örtlichen Kirche gelenkt, um Ruhe zu finden und zu beten. Er konnte noch immer nicht begreifen, wie sein Vater ihm das antun konnte. Und er konnte nicht begreifen, dass er und diese Kirchendiener ernsthaft geglaubt hatten, mit ihrem albernen Ritual irgendetwas ausrichten zu können. Im Gegenteil, es hatte die ganze Sache nur noch schlimmer gemacht. Er fühlte sich verletzt und beschämt, weniger wegen der Narbe, die jetzt seinen linken Unterarm zierte, sondern vielmehr deswegen, weil er nicht rechtzeitig reagiert hatte.

Er hätte sich wehren sollen, anstatt sich fesseln und ausbluten zu lassen wie ein Tier. Doch dadurch, dass er seinen Vater zuvor vor Verwirrung beinahe erwürgt hätte, hatte er das nicht gewagt. Aber trotzdem, da war er sich sicher, hätte er ihn diesen Geistlichen nicht ausliefern dürfen, noch dazu ohne ihm ein Wort von seinem Vorhaben zu sagen.

Was Rodericus jedoch noch nachdenklicher machte, war die Kreatur, die ihm erschienen war und ihre seltsamen Worte. „Wir werden uns im Kampf begegnen, aber erst wenn du weit in den Norden, fern deiner Heimat gereist bist, dort wo der große See an der Grenze zu Schottland mündet und die verfluchte Festung von zerklüfteten Bergen umschlossen wird“, wiederholte er leise für sich. „Herr, bitte, sage mir, was bedeutet das nur?“

Es musste ein Dämon gewesen sein, da war er sich sicher. Kein anderes Wesen hätte sich so widerwärtig an seinem Leid erfreuen können. Aber diese Wegbeschreibung sagte ihm gar nichts. Er hatte nie von einem großen See der in Schottland mündet gehört, erst recht nicht davon, dass es an der Grenze irgendetwas Besonderes gab. Und selbst wenn er die Suche aufnehmen sollte, was würde ihn dort erwarten? Was wollte dieser Teufel nur von ihm?

Er war ein ganz normaler junger Mann, vielleicht nicht besonders gläubig im Sinne der Kirche, aber nur weil er nicht jedes Wort in der Bibel so hinnahm wie es geschrieben stand und oft auf die Gottesdienste, die er ohnehin nicht verstand, weil sie auf lateinisch gehalten wurden, verzichtete, wurde er vom Satan verfolgt?

„Dass du dich überhaupt noch in unser heiliges Gotteshaus wagst.“ Rodericus fuhr herum.

Robert stand urplötzlich neben ihm, er war wohl so in Gedanken versunken gewesen, dass er ihn nicht kommen gehört hatte.

„So, ihr gebt also selber zu, dass euer kleiner Auftritt nichts genutzt hat um mich „vom Teufel loszusprechen“? “, gab er kalt zurück, als er sich gefasst hatte.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Robert. „Das liegt allein in Gottes Hand. Aber durch deine ewigen Wiederworte und deinen Unglauben glaube ich kaum, dass er dich erlösen wird.“

„Nur weil ich nicht nach strengen religiösen Regeln lebe, heißt das nicht, dass ich Jesus und seinen und unseren Vater, den Herrn, nicht liebe und fürchte“, sagte Rodericus ehrlich.

„Trotzdem, du wirst noch einmal Unglück über diese Stadt und die Kirche bringen. Vielleicht solltest du besser gehen.“

Rodericus atmete tief durch. Er hatte die Arroganz des Mesners noch nie ausstehen können und jetzt war sie umso schlimmer zu ertragen. Doch er bemühte sich, gelassen zu bleiben.

„Gehen? Wirklich? Und wohin sollte ich Eurer Meinung nach bitte gehen?“

„Auf jeden Fall weit fort. Nimm deinen Dämon und verzieh dich aus der Stadt, bevor du das

Verderben über uns alle bringst.“

„Jetzt reicht es mir aber mit diesem ewigen Aberglauben!“ Rodericus konnte sich nun doch nicht mehr halten. Er stand auf und blickte dem beinahe kahlköpfigen Robert fest in seine blauen Augen. „Meint Ihr wirklich, nur durch ein paar merkwürdige Träume würde ich die ganze Stadt in Gefahr bringen?“

„Siehst du nicht, wie besessen du bist?“, erwiderte der Mesner scharf. „Erst erwürgst du deinen eigenen Vater fast und dann fährst du einen friedlichen Diener Gottes an und entweihst durch dein Geschrei unsere Kirche! Was kommt als Nächstes?“

Er beugte sich vor und sah Rodericus tief in die Augen.

„Geh, Roderic, geh! Wir wollen dich hier nicht haben...niemand will dich hier haben“, fügte er eindringlich hinzu, bevor Rodericus widersprechen konnte.

Der hielt einen Moment inne, dann knurrte er zornig. „Ach, ich gehe ja schon, hoffentlich seit Ihr dann endlich zufrieden!“, gab er trotzig zurück. Er verließ die Kirchenbank und ging eilig zu einem der Seitenausgänge, als wolle er so schnell wie möglich hier herauskommen.

„Vielleicht solltest du zu den „Revelations“ gehen, bei diesen Okkultisten wärst du bestimmt gut aufgehoben!“, rief Robert ihm nach.

Rodericus blieb abprubt stehen und war einen Augenblick wie erstarrt. Auch er hatte die Legenden und Geschichten über die Revelations gehört, so wie jedes Kind in England. Den schwarzen Kreuzrittern, die in einer dunklen Feste im fernen Norden lebten, von der in manchen Nächten markerschütternde Geräusche durch das Zwielicht drangen und die von Ordensrittern bewohnt wurde, die im ganzen Land als verdammte Dämonenanbeter geächtet wurden. Einst seien diese tapferen Krieger zu der verfluchten Burg gereist, um das Mysterium, das sich seit jeher um diese Gegend rankt, aufzuklären, doch dann seien sie mit dem Teufel in Verbindung getreten und brächten seitdem Dunkelheit über das Land. So manchem nichtsahnenden Reisenden sollen sie schon begegnet sein, mit Rüstungen und Pferden, schwärzer als die Nacht, unterwegs, um die schrecklichen Aufträge ihres Herrn Satan auszuführen.

Ob das des Rätsels Lösung war?

Rodericus drehte sich nicht mehr um und verschwand aus der Kirche. Robert hatte ihn auf eine Idee gebracht, doch zunächst würde er nach Hause gehen und mit seinem Vater sprechen.

 

 

 

An diesem Abend saß Rodericus mit seinem Vater in der Goldschmiede. Es war bereits spät, doch im Mai war es selbst um diese Zeit noch einigermaßen hell. Wolken zogen sich am Himmel zusammen, während in der kleinen Werkstatt noch geschäftiges Treiben herrschte.

Rodericus hatte den Goldring, an dem er schon den ganzen Abend arbeitete, fast fertiggestellt und doch hatte er mit seinem Vater noch kaum ein Wort gesprochen. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte.

In Gedanken versunken, glitt ihm der Ring aus der Hand und er stieß einen leisen Fluch aus, als er sich hinab bückte, um ihn aus dem Dreck am Boden aufzuheben. Dann schnappte er sich ein Hämmerchen von der Werkbank und begann, das Geschmeide zu bearbeiten und letzte Unebenheiten auszugleichen.

Sein Vater war in einer anderen Ecke der Werkstatt damit beschäftigt, die Flügel einer Figur des Erzengel Michael zu vergolden. Er schien in seine Arbeit vertieft und doch wechselten er und Rodericus immer wieder unsichere Blicke.

Der angehende Goldschmied überlegte immer noch, wie er das Thema des heutigen Vormittags auf den Tisch bringen konnte. Er könnte seinen Vater natürlich mit Vorwürfen attackieren und so die Wut, die sich mehr und mehr in ihm aufstaute, herauslassen. Doch er kannte ihn gut genug um zu wissen, dass dies nur wieder zu leeren Reden und Vorträgen über den christlichen Glauben führen würde. Wie oft hatte er das Gefühl, sein Vater höre ihm nicht richtig zu und versuche nicht einmal ihn zu verstehen, weil er sich sofort an religiöse Gebote und Grundsätze klammerte, welche er über alles andere stellte.

Rodericus wusste, er musste sich etwas überlegen, um an die Sache heranzugehen.

Doch schließlich kam ihm sein Vater zuvor und unterbrach seine Grübeleien.

„Wo warst du heute Mittag, Roderic?“, fragte er.

Dieser beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. „Ich war in der Kirche und habe gebetet.“

„Oh, heißt das, dass es dir jetzt besser geht? Hat die Austreibung etwas bewirkt?“ Sein Ton war ernst. „Sag mir die Wahrheit, mein Sohn, ich möchte dir nur beistehen.“

Rodericus atmete tief durch, er legte den Ring zur Seite und schloss kurz die Augen.

„Vater“, begann er. „Du stehst mir nicht bei, indem du die Geistlichen holst, anstatt mit mir zu sprechen. Du stehst mir nicht bei, indem du die Religion über alles stellst, anstatt mir zuzuhören. Du stehst mir nicht bei, wenn du mich wie eine besessene Kreatur behandelst, die nicht mehr für sich selbst sprechen kann.“

„Ich wollte nur dein Bestes, niemand kann leugnen, dass du von einer bösen Macht heimgesucht wirst.“

„Aber hast du schon einmal daran gedacht, dass mir lateinische Verse und zerschnittene Arme dabei nicht weiterhelfen? Dass diese seltsamen Visionen vielleicht aus einem guten Grund erscheinen, dass sie mir etwas sagen sollen? Und es ist an mir, herauszufinden was dahinter steckt. Ich muss den Zeichen folgen und das Geheimnis lüften.“

„Rodericus, das kannst du nicht. Wir sind dem Überirdischen ausgeliefert und können lediglich auf Gottes Schutz hoffen.“

Sein Sohn raunte etwas, dann verstummte er. Es war hoffnungslos. Seine Hand schnappte sich den Ring und er versuchte verkrampft, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Schweigen breitete

sich im Raum aus. Man konnte den Wind um die Ecken pfeifen hören und die ersten Tropfen, die auf das Dach prasselten.

„Mein Sohn, ich weiß was du tun musst.“ Die Stimme seines Vaters war jetzt von einer Aura umgeben, die Rodericus nicht geheuer war.

„Das Einzige was du tun kannst, ist, im Namen des Glaubens zu handeln und dadurch Gottes Gnade zu erlangen.“

Er machte eine Pause.

„Wie du sicher weißt, plant unser König Richard einen Kreuzzug. Seine Armee ist bestens organisiert und sie wird auch einwandfrei ausgerüstet sein, wenn das nötige Geld erst beisammen ist. Trotzdem werden sie Verstärkung wohl kaum ablehnen, sie brauchen so viele Männer wie nur möglich.“

Rodericus spürte einen Kloß in seinem Hals, der immer dicker wurde. Verkrampft umklammerte er den Ring in seiner Hand und starrte seinen Vater ungläubig an, als würde er ahnen, was jetzt kam. Der Mann in der Ecke seufzte.

„Roderic, ich möchte ungern noch meinen zweiten Sohn im Krieg verlieren, aber es ist deine einzige Chance von diesem Fluch erlöst zu werden. Du wirst das Goldschmiedehandwerk niederlegen und hart trainieren um dich Richards Armee anzuschließen und Jerusalem in Gottes Namen von den fehlgeleiteten Sarazenen zu befreien. Bete in der Grabeskirche, wenn du dort bist, an diesem gesegneten Ort, und ich bin mir sicher, der Herr wird sich deiner erbarmen.“

Das grelle Licht eines Blitzes des zunehmenden Unwetters durchfuhr die Szene und ein mächtiges Donnern ließ die Erde zittern.

Das war zu viel!

„Du willst mich in diesen verdammten Krieg schicken?“, entgegnete Rodericus wütend, kurz davor, auszurasten. „So wie du es auch mit Erikur gemacht hast? Du weißt wie das ausgegangen ist!“

„Schrei mich gefälligst nicht so an! Ich bin euer Vater, ich weiß was das Beste für euch ist.“

„Nein, tust du nicht! Du hast Erikur damals überredet, auf diesen Kreuzzug zu gehen. Hast ihm wilde Phantasien von Erlösung und dem Paradies in den Kopf gesetzt. Mein armer Bruder ist tot - wegen dir und deiner Kirche!“

Voller Zorn warf er den Goldring gegen das Holzkreuz an der Wand, sodass es krachend zu Boden fiel und rannte in den mittlerweile strömenden Regen hinaus. Mit einem Mal wusste er, dass er nur noch eine Möglichkeit hatte – er musste seinen alten Freund Tommes aufsuchen, der seit seinem Ruhestand in einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Harringtonlebte. Mit dem Pferd würde Rodericus vielleicht zwei Tage dorthin brauchen, also lief er zum Stall.

Tommes war früher selbst ein Ritter gewesen und hatte auch im heiligen Land gekämpft, bis ihm die Gräueltaten dieses „Heiligen Krieges“ zu viel wurden und er unverzüglich die Heimreise angetreten hatte. Zudem hatte er zuvor lange Zeit in England in den verschiedensten Fürstentümern als Kämpfer gedient, weshalb er dieses Land wie seine Westentasche kannte. Wenn jemand wusste, wie man die Revelations finden konnte, dann er.

Die Stalltür flog auf und Rodericus sattelte Dawnstar mit geübtem Griff, in kürzester Zeit. Er schnappte sich noch einige Nahrungsvorräte aus der Futterkammer, die er für Ausritte oder Notfälle wie diesen bereitgelegt hatte, dann glitt er geschmeidig in den Sattel, während das Pferd angesichts der nächtlichen Störung unruhig wieherte, und preschte im Galopp RichtungHarrington. Mit einem Mal fühlte er sich in seine Tagträume zurückversetzt, in denen er auf dem Rücken seines Lieblingspferdes in die Welt hinaus ritt, selbst wenn er dabei jetzt gegen den nächtlichen Sturm ankämpfen musste.

 

3. Kapitel

3. Kapitel

 

Am nächsten Tag hatte sich der Sturm gelegt. Rodericus lag verschlafen auf dem Hals seines Pferdes, das unermüdlich im Schritt weitermarschierte. Er konnte die Vögel zwitschern hören und die Wärme der Sonne auf seiner Haut spüren. Das sanfte Schaukeln im Sattel hätte ihn fast wieder

eingeschläfert, doch stattdessen riss er entsetzt die Augen auf und setzte sich auf. Dawnstar schnaubte, erschrocken über die plötzlich Bewegung, und Rodericus blickte wild um sich.

Wo war er?

Er ritt einen schlammigen Pfad entlang, umgeben von unzähligen Feldern und vereinzelten Bauernhöfen. Dem Stand der Sonne nach musste es bereits mindestens Mittag sein.

Offenbar war er nach dem anstrengenden Ritt gegen den peitschenden Wind und den prasselnden Regen so erschöpft gewesen, dass er noch im Sattel eingeschlafen war und den Weg verloren hatte.

Rodericus entdeckte einen schönen Baum am Wegesrand und beschloss, anzuhalten, um seine Gedanken zu sortieren. Als er abstieg, bemerkte er, dass Dawnstar und er selbst noch klitschnass waren von dem heftigen nächtlichen Niederschlag. Das Tier atmete tief durch, sichtlich erleichtert, endlich eine Pause machen zu können, während Rodericus seinen völlig erschöpften Freund voller Mitleid ansah. Er versuchte sein schlechtes Gewissen, dass er Dawnstar in seiner Not bis zur Erschöpfung getrieben hatte, durch ein paar zärtliche Streicheleinheiten zu beruhigen und mit dem Gedanken, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, als schleunigst von zu Hause zu verschwinden.

Schließlich kramte er die Vorräte aus den Satteltaschen, lenkte seine Schritte in Richtung des Baumes und ließ das Pferd grasen, während er sich selbst ins Gras setzte, um sich eine Pause zu gönnen und von der Sonne trocknen zu lassen.

Von seinen Haaren tropfte noch immer Wasser. Er fuhr mit seinen Fingern durch das zerzauste Haar, um es glatt zu streifen und dankte Gott, dass es ein warmer Tag war, sodass er, nass wie er war, nicht frieren musste und womöglich noch krank wurde.

Dann nahm er den Beutel von seinem Schoß und prüfte das Proviant. Drei Äpfel, ein paar Stücke Brot, dazu etwas getrocknetes Fleisch und getrocknete Früchte. Unmut stieg in Rodericus hoch, als ihm bewusst wurde, dass dies noch nicht einmal für zwei Tage reichen würde. Er würde sehr sparsam damit umgehen müssen.

Mit einem Mal wünschte er, er hätte wenigstens den Goldring behalten, um ihn gegen etwas Essen und eine Unterkunft einzutauschen, anstatt das wertvolle Stück in seiner Wut auf die Kirche gegen das Kreuz zu feuern. Doch er hatte jetzt keine Zeit sich darüber aufzuregen, er musste möglichst schnell nach Harrington kommen, auch wenn er immer noch keine Ahnung hatte, wo er war und in welche Richtung er reiten musste.

In der Ferne konnte er leise Schritte hören. Einer der Bauern kam den Pfad entlang, direkt auf ihn zu. Rodericus Blick fiel auf den kleinen Jungen, der ihn begleitete und seinem Vater fröhlich hinterher sprang. Trauer erfüllte sein Herz, als er an seinen eigenen Vater und seine Kindheit dachte. Als kleiner Junge hatte er Vater so sehr geliebt, war stolz auf ihn gewesen und wollte immer sein wie er, wenn er groß war. Doch über die Jahre hinweg, besonders in der Zeit von Erikurs Tod, war ihr Verhältnis immer schlechter geworden und durch die Aktionen seines Vaters in den letzten Tagen hatte er schließlich den letzten Funken Vertrauen zu ihm verloren. Und dass er ihn jetzt auch noch in den Krieg zwingen wollte, ohne sich um seine Meinung zu scheren, hatte ihm den Rest gegeben.

Plötzlich bemerkte Rodericus, dass der Bauer und sein Sohn, die er noch immer gebannt beobachtete, ihn schon fast erreicht hatten. Er schob er seine bedrückenden Gedanken beiseite und stand auf.

„Entschuldigt, werter Herr“, begann Rodericus. „Ist dies die Straße nach Harrington?“

Der Bauer mit dem braunen Leinenhemd und der einfachen Hose verlangsamte seinen Schritt und musterte den Jungen vor ihm mit einer Mischung aus Verwirrung und Neugierde.

Rodericus fragte sich, was die zwei wohl angesichts eines tropfnassen Jungen und seines verschwitzten Pferdes allein auf weiter Flur denken mochten.

„Nein, die Abzweigung nach Harrington liegt fünf Stunden Fußmarsch zurück, Ihr seid viel zu weit“, antwortete der werte Herr schließlich.

„Verdammt!“ Rodericus ärgerte sich ob seiner knappen Vorräte, mit denen er sich keine Verzögerung leisten konnte.

„Oh, entschuldigt, habt Dank für die Auskunft“, sagte er schnell, als der Bauer, noch immer verwundert, die Stirn runzelte.

„Nichts zu danken... braucht Ihr sonst noch Hilfe?“

„Nein danke, ich komme schon zurecht, ich muss weiter“, wies Rodericus ihn ab, schwang sich auf Dawnstar und ritt den Weg schnurstracks wieder zurück. Kurzzeitig überlegte er, ob er quer über die Felder reiten sollte, aber das hätte wohl nur Ärger mit den Bauern gegeben, deren sanfte Triebe auf den Äckern allmählich sprießten. Außerdem brachte die vermeintliche Abkürzung die Gefahr mit sich, dass er sich noch mehr verirrte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den ganzen Weg zurückzureiten. Entweder, er hatte die Abzweigung in der Nacht übersehen oder er hatte tatsächlich solange geschlafen, dass er sie verpasst hatte.

Aber das war jetzt auch egal. Er ließ Dawnstar, wohlwissend, dass das Pferd noch nicht ausgeruht war, er aber trotzdem weiter musste, in einen sanften Trab fallen und versuchte den Ritt in der wärmenden Sonne trotz allen Widrigkeiten wenigstens ein bisschen zu genießen.

 

 

 

Die Stadtmauer von Harrington zeichnete sich in der Ferne ab. Die Sonne ging bereits feuerrot hinter der Stadt unter und tauchte die Landschaft in ein geheimnisvolles, orangefarbenes Licht. Nach zwei Tagesritten hatte Rodericus sein Ziel nun endlich vor Augen. Von einem Hügel aus beobachtete er das Farbenschauspiel und überlegte, welche der um Harrington verstreuten Ortschaften diejenige war, in welcher Tommes lebte. Er hatte seinen Freund lange nicht mehr gesehen, denn es war schwierig, seit Tommes und Rodericus' Vater zerstritten waren. Früher sind die beiden gute Freunde gewesen, doch seit Tommes vom Kreuzzug zurückgekehrt war und die Gräueltaten der Kreuzritter im heiligen Land, die schließlich Namen Gottes kämpfen sollten, angeprangert hatte, war ein großer Streit um religiöse und moralische Ansichten zwischen ihnen ausgebrochen, der die Freundschaft schließlich zunichte gemacht hatte. Rodericus dagegen hatte die Bedenken des erfahrenen Ritters irgendwie verstehen können und so hatten sie sich angefreundet. Seitdem musste er Tommes jedoch heimlich besuchen, da es seinem Vater missfiel, wenn sein Sohn sich mit einem „ketzerischen Kreuzritter“, wie er ihn nannte, traf.

Die Sonne sank immer weiter, bald würde es dunkel werden. Rodericus entschied, dass sich das Dorf, an dessen Namen er sich nicht erinnern

konnte, ein paar Meilen nördlich von Harrington befinden musste und trieb das Pferd an, um Tommes' Haus noch vor Einbruch der Nacht zu finden.

 

 

 

Zwei Stunden später erreichte Rodericus eine Häuseransammlung und betete verzweifelt, dass er hier richtig war. Seine spärlichen Vorräte waren längst aufgebraucht und die Kälte, die die Nacht mit sich brachte, kroch förmlich in ihn hinein. Er wünschte sich nichts mehr als eine anständige Mahlzeit und ein warmes Bett. Es blieb ihm nichts übrig, als auf Tommes' Gastfreundschaft zu hoffen.

Er ritt langsam quer durch das Dorf. Das Haus, das er suchte, befand sich am äußerten Ende des Ortes. Als er es endlich entdeckte, rutschte er erschöpft vom Pferderücken und band Dawnstar wie immer, wenn er hierher kam, in dem Offenstall direkt neben dem Rappen seines Freundes an. Dann klopfte er an und hoffte, Tommes würde ihm die nächtliche Störung nicht zu übel nehmen.

Nach einer kurzen Weile öffnete sich die Tür ein Stück und ein vertrautes Gesicht erschien.

„Rodericus!“, kam es aus dem Türspalt. „Du bist es, mein Freund, komm nur herein.“

Dieser Aufforderung kam der durchgefrorene Junge nur zu gerne nach. Er trat in die einfach ausgestattete Holzhütte ein und stellte zufrieden fest, dass in einem der hinteren Räume bereits eingeschürt war.

„Tommes, ich freue mich auch dich zu sehen, es ist lange her.“

Nach einer kurzen Umarmung zur Begrüßung, brach Tommes schließlich in einen Redeschwall aus, so wie er es nur zu gerne tat.

„Roderic, mein Junge, wie lange haben wir uns nicht gesehen. Ich habe mich schon gefragt, was aus dir geworden ist. Dachte schon, du denkst gar nicht mehr an den alten Tommes. Aber gut,

dachte ich, wahrscheinlich hast du alle Hände voll zu tun um eure Schmiede am Laufen zu halten,

dich um deine geliebten Pferde zu kümmern und... um die schöne Cecilia zu werben. Was ist denn nun mit euch Beiden? Sag bloß, ihr habt immer noch nicht geheiratet. Los, deinem alten Freund kannst du es doch sagen.“

Rodericus hielt inne. Er fühlte sich, als würde ein schwerer Stein ihn erdrücken, bei dem Gedanken an sein zuhause und daran, dass er sein bisheriges Leben nun vielleicht aufgeben musste, um seinen eigenen Weg gehen zu können.

Als er keine Antwort bekam, redete Tommes unbeirrt weiter.

„Roderic, was hast du denn? War die Reise hierher diesmal besonders anstrengend? Du siehst furchtbar aus. Du musst erst einmal was Kräftiges essen. Warte, ich habe noch etwas von dem Hasenbraten heut Mittag übrig, danach sieht die Welt gleich wieder viel besser aus, das sag ich dir. Wollen wir dann Karten spielen, wie sonst auch, oder zur Abwechslung doch mal lieber Schach? Was meinst du?“

„Also ehrlich gesagt... bin ich dieses Mal nicht zum Vergnügen hier.“

Der niedergeschlagene Ton in Rodericus' Stimme, stoppte Tommes' fröhlichen Redeschwall und veranlasste ihn, eine ungewohnt ernste Miene aufzusetzen.

„Was? Nun, dann setz dich erst einmal und erzähl mir, was du auf dem Herzen hast.“

Er bat den Jungen zu Tisch und Rodericus setzte sich, erleichtert, seine müden Glieder entspannen zu können.

„Ich wärme nur kurz das Essen, einen Moment“, sagte Tommes und verschwand in der Küche.

Rodericus ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Er war immer wieder gern hier, auch wenn es diesmal aus einem ernsten Anlass war. Er liebte es, mit dem Rittersmann zu plaudern, selbst wenn er manchmal zu viel redete, und er mochte seinen raffinierten, aber dennoch nicht prunkvollen Wohnstil. Uralte Schränke und Kommoden standen herum und über dem Holztisch, an der Wand, hing ein Bärenkopf. Während der Essensraum so rustikal eingerichtet war, zierte den Boden der Stube mit dem Kamin ein einfacher, aber dennoch schön gewebter Teppich, den Tommes aus dem Orient mitgebracht hatte, genau wie die Wasserpfeife, die in der Ecke stand und von der sie gerne zusammen ein paar Züge nahmen.

„So, hier mein Junge, das wird dir guttun. Du siehst halb verhungert aus.“ Tommes trug zwei Teller Hasenbraten mit etwas Brot herein und stellte das Ganze auf den Tisch.

Rodericus griff dankbar zu und aß, bis er nicht mehr konnte.

„Und, fühlst du dich jetzt besser?“, hakte Tommes nach während er den Tisch abräumte.

„Ja.“ Rodericus lächelte glücklich. „Aber ich muss trotzdem mit dir reden. Es ist einiges passiert in letzter Zeit, aber vielleicht kannst du mir helfen.“

„Na dann machen wir es uns doch in der Stube gemütlich und sprechen uns aus.“

Der Junge stand auf und folgte Tommes ins Nebenzimmer, das mit zwei großen Bücherregalen ausgefüllt war, zu einer warmen Ecke direkt neben dem Kamin, vor dem einige Bärenfelle lagen, die als Sitzkissen dienten.

Rodericus setzte sich und genoss die Wärme des Feuers. Tommes holte die Wasserpfeife aus der Ecke, stopfte ein paar Kräuter hinein und entzündete sie. Dann ließ er sich ebenfalls am Kamin nieder, nahm einen tiefen Zug und stellte die Pfeife in ihre Mitte.

„Nun, Rodericus, ich höre“, sagte er und blies den Rauch aus. „Was ist der tatsächliche Grund deines rätselhaften Besuchs?“

„Vater will mich auf Kreuzzug schicken“, begann er und brachte das Thema damit sofort auf den Punkt.

„Was?“, entgegnete Tommes verblüfft. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wieso?“

„Er glaubt, ich könnte dadurch von dem Dämon loskommen, der mich pausenlos verfolgt.“

Der ehemalige Ritter sagte nichts, er blickte Rodericus mit seinen treuen Augen an und schien darauf zu warten, dass er weitererzählte. Dankbar fuhr dieser fort, die ganze Geschichte zu erzählen, von seinen ersten, noch harmlosen Träumen an, bis zu den Visionen, in denen er den Dämonen deutlich vor Augen hatte. Er erzählte von den Geistlichen, die verzweifelt versucht hatten, ihn davon zu befreien, dass sie in einer Art exorzistischem Ritual bewirken wollten, dass Satan von ihm ablässt und dass davon auch seine Narbe stamme. Nur den Teil, in dem ihm der Dämon erschienen war und ihn verhöhnt hatte, erwähnte er nicht. Er fuhr fort, wie er schließlich fliehen musste, weil sowohl die Kirche als auch sein Vater sich gegen ihn verschworen hatten. Auch die Worte von Robert in der Yorker Kirche verschwieg er nicht, wie er ihm ins Gesicht gesagt hatte, dass er hier nicht mehr erwünscht sei, dass er verschwinden solle in seiner Besessenheit, bevor er sie alle ins Unglück stürzte und wie sein Vater schließlich zu dem Entschluss kam, der einzige und letzte Weg wie er erlöst werden konnte, sei, sich dem Kreuzzug nach Jerusalem anzuschließen.

Als er geendet hatte, wurde Rodericus unruhig, er fürchtete sich etwas vor Tommes' Reaktion. Der kaute nachdenklich auf seiner Pfeife herum und versuchte wohl, sich ein Bild dessen zu machen, was ihm gerade erzählt worden war. Ab und an verzog er das Gesicht und sein Bart, auf dem sich schon die ersten weißen Haare abzeichneten, zuckte.

„Sie haben dich wirklich wie einen verfluchten Bastard aus der Stadt gejagt? Diese miesen, kleinen...“, schimpfte er schließlich.

„Nun ja, direkt getan haben sie es nicht, aber sie wollten es wohl,“ stellte Rodericus verbittert fest. „Aber das Schlimmste ist, dass mein eigener Vater mich verraten und diesen Geistlichen ausgeliefert hat, als wäre ich ein... ein Aussätziger, dem man nicht mehr anders helfen kann.“ Er konnte die Tränen in seinen Augen nicht mehr unterdrücken. „Und jetzt will er mich auch noch wegschicken...“, er brach ab und starrte zu Boden.

Ein tröstender Arm legte sich um ihn. „Schon gut, bei mir brauchst du keine Angst zu haben, ich verurteile dich nicht“, flüsterte Tommes.

Rodericus schluchzte auf. „Ich hab es nicht mehr ausgehalten, ich musste es endlich jemandem sagen.“

„Das versteh ich“, sagte Tommes ehrlich, als Rodericus sein Gesicht an seine Schulter drückte. Endlich jemand, der ihm zuhörte, der ihn in den Arm nahm in seinem Leid, und dem er vertrauen konnte, in einer Welt, in der sich scheinbar alle gegen ihn verschworen hatten. Dabei hatte er doch gar nichts getan.

Mit einem Mal wünschte sich Rodericus, Tommes wäre sein Vater, doch er verdrängte den Gedanken und löste sich aus der Umarmung. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und griff nach der Wasserpfeife. Nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte, reichte er sie weiter und so schwiegen die beiden eine Weile, während das Feuer im Kamin allmählich niederbrannte.

Tommes stand auf um nach zu schüren und warf ein paar neue Scheite Holz auf das ersterbende Feuer.

„So, jetzt haben wir es wieder warm“, bemerkte er zufrieden.

„Tommes, sind die Sarazenen wirklich so schlimm wie mein Vater immer behauptet?“, warf Rodericus unerwartet auf. „Er sagt, sie sind verlorene Seelen, vom Teufel besessene Barbaren, die kein Mitleid zeigen und dass es keine Sünde sei, sie zu töten, weil sie ohnehin irregeleitet sind und eines Tages in der Hölle schmoren werden.“

„Dein Vater hat keine Ahnung, er glaubt wohl einfach nur das, was von der Kirche propagiert wird. Nein, ich sage dir, ich habe selbst einige von den Sarazenen, wie wir sie nennen, getroffen und ich habe auch viele Geschichten von Christen gehört, die bereits lange Zeit im heiligen Land gelebt hatten, als ich dort war. Die Sarazenen sind geschickte Kämpfer, sie verlassen sich nicht allein auf Stärke und gute Rüstungen, so wie die meisten Europäer, sie lieben es zu taktieren, den Feind zu überraschen und überlegen genau was sie tun, sie brechen die Formationen der Kreuzritter durch Strategie auf, nicht durch bloßes Angreifen mit voller Kraft. Sie kennen die Schwächen ihrer Gegner und nutzen sie. Außerdem haben sie den Vorteil, dass sie die Wüste und ihre Tücken kennen, während wir dies nicht tun. Wahrscheinlich werden sie bei uns deshalb als Wüstendämonen abgetan und im Kampf so gefürchtet, erst recht seit Sultan Saladin an die Macht kam und die vorher so zerstrittenen muslimischen Völker geeint hat, vom Nil über das rote Meer bis hin zum Euphrat. Kennst du die geographischen Gegebenheiten? Weißt du, was für ein riesiges Gebiet das ist?“

„Nein“, gestand Rodericus.

„Aber ich kann es dir zeigen“, entgegnete Tommes und ging zu einem der Bücherregale. Nach kurzer Zeit entdeckte er, was er suchte und zog eine alte Karte zwischen einigen Büchern hervor, die von orientalischer Geschichte handelten. „Hier, sieh her mein Junge, das ist das Reich von Sultan Saladin.“ Die Karte zeigte Nordafrika und den nahen Osten. Tommes zeigte ihm die Stadt Jerusalem und wie winzig Palästina im Gegensatz zu den umliegenden, von Muslimen besetzten Fürstentümern von Ägypten, Syrien und Arabien war.

„Das Reich von Sultan Saladin“, wiederholte Rodericus ehrfürchtig. „Und gegen dieses Riesenreich will König Richard antreten?“

„Ja, ich glaube ehrlich gesagt auch nicht, dass ihm das gelingen wird, wahrscheinlich selbst mit Kaiser Barbarossas Unterstützung nicht.“

„Warum wollen die Sarazenen Jerusalem eigentlich?“, fragte Rodericus neugierig weiter. „Für uns Christen ist die Stadt heilig, weil Jesus dort gekreuzigt wurde, aber für die Muslime ist es das wohl kaum.“

„Das stimmt nicht. Auch für die Muslime ist dieser Ort heilig, weil der Prophet Mohammed von dort aus direkt in den in den Himmel geritten sein soll. Deswegen wollte Saladin Jerusalem als Dank an Gott erobern, nachdem er an einer schweren Krankheit beinahe gestorben wäre und letztendlich aber doch wieder gesund geworden ist. Und nach der Niederlage der Kreuzritter bei Hattin, hat er die heilige Stadt ja auch erobert.“

„Und er hat alle Christen in der Stadt unbeschadet gehen lassen, anstatt alle Ungläubigen in Jerusalem ab zu schlachten, so wie die Kreuzfahrer des ersten Kreuzzuges es getan haben, oder?“

„Ja, das hat er, allerdings musste jeder Franke, wie die Sarazenen uns Europäer nennen, ein Entgelt für die sichere Abreise entrichten, wer das nicht zahlen konnte, geriet in Sklaverei. Anscheinend hat auch Saladins Großzügigkeit seine Grenzen.“

Langsam rollte Tommes die Karte wieder auf und brachte sie dorthin zurück, wo er sie hergeholt hatte. „Wenn ich ehrlich bin, ich glaube nicht, dass je wieder ein Kreuzzug Erfolg haben wird, egal wie viele es noch versuchen werden.“ Er sprach in das Bücherregal hinein.

„Nicht wenn dieses riesige Sarazenenreich bestehen bleibt, es sind einfach viel zu viele für die winzige Minderheit der Christen im Nahen Osten. Und sie sind uns an so vielem voraus, vielleicht sollten wir lieber von ihnen lernen anstatt gegen sie in den Kampf zu ziehen.“

„An was sind sie uns denn voraus?“, hakte Rodericus nach und ging zum Schneidersitz über, während Tommes es sich ebenfalls wieder auf seinem Bärenfell bequem machte.

„Ich habe gesehen welchen wissenschaftlichen Vorsprung die Araber gegenüber der Christenheit haben. Sie haben die Studien und Aufzeichnungen der alten Griechen weiterentwickelt. Sie haben Entdeckungen in Mathematik, Astronomie und Medizin gemacht von denen wir im Westen noch nicht einmal zu träumen wagen. Sie haben ihr eigenes Zahlensystem, längst nicht so umständlich wie unsere römischen Zahlen, genaue und aufwendig hergestellte, mit Wasser oder Sand betriebene Uhren sind Standard, geschliffenes Glas hilft ihnen beim Lesen, indem es die Sehkraft der Augen verbessert und in ihren sogenannten Fernrohren bricht es das Licht so, dass man etwas in der Ferne ganz nah und deutlich sehen kann. Und einmal habe ich ein raffiniertes Schloss an einer Truhe gesehen, es waren kleine Hebelchen daran, die man genau in die richtige Position, eine bestimmte Kombination aus Buchstaben, drehen musste, um das Schloss zu öffnen. Stell dir das mal vor. Niemand könnte diese Truhe öffnen, indem er den Schlüssel dazu stiehlt, weil es keinen gibt.“ Tommes machte eine kurze Pause und nahm einen Zug von der Wasserpfeife bevor er weitererzählte. „Selbst in ihrer Kultur und im Krieg spiegelt sich dieser Vorsprung wieder. Sie haben spezielle Wasserversorgungssysteme für ihre Felder und es ist üblich regelmäßig in ein Badehaus zu gehen, damit man sauber und rein bleibt. Von solchen hygienischen Standards kann man bei uns nicht sprechen, sie dir nur den Dreck auf den Straßen und vor allem in den Städten an, kein Wunder, dass sich hierzulande Seuchen ausbreiten wie nichts.“ Er verzog angewidert das Gesicht. „Aber die schlimmste Erfindung der Sarazenen sind diese verflixten Brandtöpfe, die sie auf dem Schlachtfeld nur zu gerne einsetzen. Einmal wäre ich fast von einem getroffen worden. Ich hatte verdammtes Glück, die Flüssigkeit in diesen Brandtöpfen brennt wie Zunder und lässt sich nicht einmal mit Wasser löschen, wenn man Glück hat mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6187-9

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