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Kapitel 1: Wohnung; günstig, äußerst ruhig und dennoch sehr zentral gelegen

 

 

Werner Dünnkirchen war schon in seinem ersten Leben lieber der Einäugige unter den Blinden gewesen. In dieser Rolle fühlte er sich viel besser aufgehoben, als in der eines Alphamännchens. Die mussten viel zu viel Verantwortung übernehmen und wurden doch von allen gehasst. Dann doch lieber im Fußvolk mitgehen, im Idealfall aber auf besonders schnellen Turnschuhen.

 

Hier auf dem Zentralfriedhof war das nicht viel anders. Er hatte den Toten zwar nicht besonders viel voraus, aber immerhin war er noch ziemlich lebendig. Das konnte man, selbst bei einer betont lockeren Betrachtungsweise, von seinen Nachbarn nicht unbedingt behaupten. Sie waren alle mausetot.

So konnte Dünnkirchen alle Vorteile dieses Ortes hemmungslos ausnutzen, ohne sich mit den Nachteilen abfinden zu müssen.

Eine sehr ruhige, aber dennoch zentrale Stadtlage, viel Natur um ihn herum, und die Mietkosten waren unschlagbar niedrig. Schließlich hatte sein Vater bereits zu seinen Lebzeiten die Pachtkosten der Familiengruft für die nächsten 99 Jahre im Voraus entrichtet.

Mit den Nachbarn konnte Dünnkirchen ganz gut leben, das konnte man umgekehrt nicht unbedingt behaupten. Aber die Toten beschwerten sich nicht. Dieser feine Unterschied zwischen seinen Nachbarn und ihm machte ihn zu dem erwähnten Einäugigen.

 

So hatte Werner sich in den vergangenen Monaten ziemlich gemütlich in der Dünnkirchen-Gruft eingerichtet. Nach seiner Rückkehr von dem Welttrip hatte er keine bessere Idee gehabt. Mittlerweile hielt er diese Entscheidung für die beste, die er jemals getroffen hatte. Möglicherweise war es sogar die einzige gute, die er je getroffen hatte.

 

Wenn ihm eines wirklich auf die Nerven ging, dann wenn man ihm nicht seine Ruhe ließ. Egal ob damals in seinem Job als Programmierer oder zu Hause. Ständig hatte irgendjemand irgendetwas von ihm gewollt. Das war zuweilen so weit gegangen, dass er sich manchmal gewünscht hatte tot zu sein. Wenn man erst einmal gestorben war, dann konnte niemand mehr einem auf die Eier gehen. Endlich Ruhe. Kein cholerischer Chef, keine ungeduldigen Kunden, kein unfähiger Kollege, keine unsensible Frau, kein pöbelnder Nachbar. Einfach nur Ruhe. Die Menschen, die ihn nun umgaben, lagen ein paar Meter unter der Erde und verrotteten dort. Und das taten sie stumm. Werner hatte mit Erleichterung festgestellt, dass Würmer nicht schmatzten wenn sie fraßen. Zumindest nicht für Menschenohren hörbar. Er hatte noch nie in seinem Leben eine so entspannte und geradezu meditative Nachbarschaft genossen, wie in den vergangenen Monaten.

 

Natürlich musste Werner ein paar Regeln beachten. Niemand durfte bemerken, dass er auf dem Friedhof lebte. Da er schon immer eher ein Nachtmensch gewesen war, fiel es ihm nicht besonders schwer, sich tagsüber unsichtbar zu machen. Er pennte einfach den ganzen Tag. Oder er vertrieb sich die Zeit mit seinen Büchern und seinen Rätseln. Erst wenn die Nächte anbrachen und die Besucher endlich ihren Weg zurück in ihre leeren Leben antraten, traute er sich aus seinem kleinen Mausoleum heraus.

Er begann seine Nächte stets mit einem ausgiebigen Spaziergang über den Friedhof. Die Totenstille war unbezahlbar. Lediglich das gelegentliche Rascheln einer übermütigen Ratte oder das enttäuschte Miauen einer verarschten Katze unterbrachen das stoische Schweigen der Toten.

 

So einen einsamen Spaziergang hatte er auch an diesem entscheidenden Abend unternommen, nachdem er das Notariat wieder verlassen hatte. Ohne nachzudenken, hatten seine Beine ihn zu dem alten Zentralfriedhof getragen. Dort war er stundenlang umhergeirrt, verloren in seine düsteren Gedanken. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er der einzige Mensch hier war. Zumindest von der lebendigen Sorte. Selbst die müden Friedhofswärter saßen längst bei ihren Feierabendbieren. Zuerst hatte ihn die Einöde erschrocken, er hatte sich noch einsamer gefühlt als damals in den Rocky Mountains. Doch mit jedem Schritt, den er über die knirschenden Kieselwege gegangen war, hatte sich sein Körper mehr und mehr mit Gelassenheit gefüllt. Als er sich gerade dazu entschlossen hatte, der alten Familiengruft einen Besuch abzustatten, hörte er flüsternden Stimmen. Neugierig, wer denn so spät noch auf dem Friedhof unterwegs war ( denn ihm war durchaus bewusst, dass man dieses Verhalten an diesem ganz speziellen Ort der Stadt nicht unbedingt als normal bezeichnen konnte), schlich er sich an die Stelle heran, von der die wispernden Stimmen zu kommen schienen.

Er versteckte sich hinter einem besonders pompösen Grabstein und lugte vorsichtig hervor. Was er dann erblickte, war noch viel weniger als gesellschaftskonform zu bezeichnen, als nachts über den Friedhof zu spazieren. Vor der kleinen Kapelle standen zwei Männer. Sie küssten sich. Nun, das alleine konnte Werner Dünnkirchen noch nicht aus der Fassung bringen. Er war in einer Großstadt aufgewachsen, und er war so einiges gewohnt. Er hatte sein Leben immer nach dem Motto gestaltet: „Jeder soll sehen, wie er glücklich wird.“

Also, zwei knutschende Männer hatte er schon öfter gesehen. Kein Problem für ihn. Doch an diesem späten Septemberabend, mitten auf dem Friedhof, unter der diffusen Beleuchtung der Katharinenkapelle, sah er wie der Herr Bürgermeister dem Herrn Pfarrer die Zunge in den Hals schob. Der erste Gedanke, der durch Werners Gehirn blitzte, beschäftigte sich mit der Frage, was wohl der Bischof von diesem Treiben halten würde. Aber Werner kam schnell zu dem Schluss, dass solche besonders priesterlichen Aktivitäten ja mittlerweile beinah so traditionell in der Kirche waren, wie das Osterfest zu feiern. Das Geknutschte des Pfarrers mit dem Bürgermeister hätte den Bischof wohl kaum mehr als ein leichtes Zucken in der rechten Augenbraue abgerungen. Wenn überhaupt. Aber Werners zweiter Gedanke war dann doch um einiges interessanter gewesen. Was würden eigentlich die werte Frau Bürgermeister und die erzkonservativen Parteifreunde des Stadtoberhauptes dazu sagen, wenn sie wüssten, mit wem er sich nachts so rumtrieb. Beziehungsweise, mit wem er es nachts so trieb?!

Und ohne einem dritten Gedanken auch nur den Hauch einer Chance zu geben, entschloss Werner sich dazu, dem Bürgermeister genau diese Frage zu stellen.

 

 

 

 

Kapitel 2: Ein süßes Geheimnis

 

 

Selbst unter den sehr schlechten Lichtverhältnissen, die auf dem nächtlichen Friedhof herrschten, konnte Werner erkennen, wie blass seine Gegenüber geworden waren, als sie ihn entdeckt hatten. Vielmehr, dass sie entdeckten, dass er sie entdeckt hatte!

Instinktiv hatte Bürgermeister Blaubach den Pfarrer von sich weggestoßen. Als ob er durch diese lieblose Handlung die vorherige Szene hätte ungeschehen machen können. Pfarrer Leisten war da um einiges abgebrühter. Er schien es gewohnt zu sein, bei Dingen ertappt zu werden, die sich für einen Mann in seiner Position eigentlich nicht geziemten. Am Ende hielt die Kirche immer ein Deckmäntelchen bereit, unter dem selbst die verdorbensten Sünder schlüpfen konnten. Welche andere Institution in der ganzen Welt leistet sich sonst noch den Luxus eigener Missbrauchsbeauftragter? Es musste schlimm um die katholische Kirche stehen, wenn sie diese Stellen einrichten musste.

Aber Dünnkirchen hatte es gar nicht auf den Kirchenmann abgesehen.

 

„Guten Abend, Herr Bürgermeister. Wie ich sehe, sind Sie darum bemüht, wenigstens eines Ihrer unzähligen Wahlversprechen einzulösen. Schließlich hatten Sie mehrfach betont, dass Sie und Ihre Partei bei einem erneuten Wahlsieg auch die Zusammenarbeit zwischen Politik und Kirche in unserer schönen Stadt weiter intensivieren wollten. Als überzeugter Politikmuffel kann ich nicht beurteilen, ob Ihre Parteigenossen sich an dieses Versprechen halten. Aber auf Sie scheint es ja bedingungslos zuzutreffen. Sie scheinen ja geradezu dahinzuschmelzen aus lauter Leidenschaft.“

„Nun, Herr Dünnkirchen. Es ist, ... es ich nicht so, wie es scheint“, stotterte das Stadtoberhaupt.

„Der Herr Pfarrer und ich haben lediglich...“

„Was Sie und Pfarrer Leisten getrieben haben, habe ich mit meiner Digitalkamera für die interessierte Öffentlichkeit festgehalten“, unterbrach Werner den Politiker spöttisch lächelnd.

Er hatte nicht vor, sich lange mit Förmlichkeiten aufzuhalten. In den wenigen Sekunden, die er benötigt hatte, um von seinem Versteck bis zu dem eng umschlungenen Liebespaar zu gelangen, hatte sich in seinem Kopf ein Plan entwickelt. Ein Plan und ein Entschluss. Er würde nicht mehr weiter seine Weltreise fortsetzen. Er würde nicht in sein Leben zurückkehren. Er würde auf dem Friedhof leben. Einfach so. Und die beiden Turteltauben würden ihm dabei helfen, diesen Plan umzusetzen.

 

 

Anfangs hatte der Bürgermeister noch versucht, sich herauszureden. Der Gedanke, von einem durchgeknallten Freak erpresst zu werden, hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Schließlich wurde man nicht in so ein mächtiges Amt gewählt, wenn man ein Weichei war, das jeder Bedrohung widerstandslos nachgab. Aber sein klerikaler Liebhaber hatte ihn dann doch recht schnell davon überzeugen können, dass es für alle Beteiligten das Beste sei, wenn die delikaten Fotos nicht an die Öffentlichkeit gelangen würden. Dünnkirchen hatte weder ein schlechtes Gewissen, weil er die beiden erpresste, noch dass er sie anlog. Er hatte noch nie in seinem Leben eine Digitalkamera besessen. Er hasste diesen ganzen Technikkram. Als Programmierer war er den ganzen Tag mit elektronischen Geräten beschäftigt gewesen, da brauchte er sie nicht auch noch in seiner kostbaren Freizeit.

 

Schnell waren sich die drei Männer einig geworden. Dünnkirchen würde ihr süßes Geheimnis mit ihnen teilen. Im Gegenzug ließen sie ihn auf dem Friedhof wohnen und bezahlten ihm eine bescheidene Sofortrente, die den beiden nicht besonders wehtat, aber es Werner ermöglichen würde, seine wenigen Bedürfnisse zu befriedigen.

Nachdem er das Paar noch einmal eindringlich gemahnt hatte, ihren Teil der Abmachung einzuhalten, hatte der Pfarrer ihm den Generalschlüssel des Friedhofes überlassen. Der Schlüssel für eine neue Welt, für ein völlig neues Leben. Sozusagen war es mitten in dem Ort des Todes die zweite Geburt des Werner Dünnkirchen.

 

Noch in der selben Nacht bezog Werner das Familien-Mausoleum und richtete sich dort häuslich ein.

 

 

Kapitel 3: Das Leben ist nichts für Taphephobiker

 

Werner Dünnkirchens Vater war zeit seines Lebens ein unerschrockener Kämpfer gewesen. Er hatte nach dem Krieg die Schraubenfabrik aus dem Nichts aufgebaut. Auf seinem Weg zum erfolgreichen Fabrikanten hatte er alle Hindernisse und Gegner mit einer Mischung aus Unverfrorenheit und Rücksichtslosigkeit aus dem Weg geräumt. Ein Feigling hätte das nie geschafft. Ludwig Dünnkirchen war nie ein Feigling gewesen. Bis zu seinem Tode nicht. Aber für die Zeit danach hatte er sich doch reichlich Sorgen gemacht. Immer wieder hatte er sich mit dem Problem geplagt, was wohl nach seinem Tod mit ihm geschehen würde. Die größte Sorge machte ihm dabei der Gedanke, er könnte lebendig begraben werden. Er hatte als Junge die Geschichten von Edgar Allen Poe verschlungen. Offensichtlich war er damals noch zu jung für diese Schauergeschichten gewesen. Denn seit dieser Zeit hatte er sich davor gefürchtet, eines Tages zu vorschnell beerdigt zu werden und er hatte sich zu einem ausgereiften Taphephobiker entwickelt. Dass im Laufe der Jahre sein Vermögen und die Anzahl der möglichen Erben immer weiter angewachsen waren, hatte dieser krankhaften Angst noch weitere Nahrung gegeben.

Und so hatte er sich, noch bevor er seine erste Millionen gemacht hatte, ein luxuriöses Mausoleum erbauen lassen. Es lag im westlichen Teil des Zentralfriedhofes, etwas abgelegen, beinahe ein wenig versteckt. Es war bei Weitem nicht so protzig wie die Marmorbauten im vorderen Teil des Friedhofes, dort wo die alten Stadtväter, die Reichen und die Prominenten begraben lagen. Aber dennoch war die Gruft von einer ganz besonderen Art. Zumindest in ihrem kalten Inneren. Sie verfügte über Strom, Licht, Telefon, hatte eine Heizung und was das Wichtigste war: sie hatte ein Türschloss, welches sich auch von innen öffnen ließ!

Sollte Ludwig Dünnkirchen das gleiche Schicksal ereilen, wie es den tragischen Opfern in Poe`s Geschichten widerfahren war, so war er jedenfalls vorbereitet. Er hatte nicht sein ganzes Leben lang geschuftet, damit er im Tode leiden musste.

 

Der Schriftsteller Hans Christian Andersen soll angeblich, wenn er schlafen ging, immer einen Zettel neben sein Bett mit dem Hinweis: Ich bin nur scheintot! gelegt haben. Eine einfachere, kostengünstigere, aber vielleicht auch nicht besonders effektive Methode als der komplette Umbau einer Familiengruft.

 

Nun war Ludwig Dünnkirchen mittlerweile bereits seit zwei Wochen tot. Und zwar richtig tot. Wenn man von einem umgekippten Baukran erschlagen wurde, blieben da wenig Zweifel. Die Untersuchungen von gleich drei renommierten Ärzten der Universitätsklinik hatten die Vermutung bestätigt. Werner Dünnkirchen, der Schraubenkönig, war für immer tot. Er würde nie wieder einen Atemzug nehmen, sein Herz würde nie wieder auch nur ein Zucken von sich geben. Nach dem Unfall waren nicht nur Lunge und Herz des Fabrikanten platt wie ein Blatt Papier gewesen. Der ehemals so stattliche, robuste Herr hatte am Ende die Form einer seiner Geschäftsbriefe gehabt.

Man hatte den alten Mann in einen handelsüblichen Sarg verfrachtet, obwohl ein Schuhkarton wahrscheinlich ausgereicht hätte. Man hatte ihm eine äußerst respektvolle Messe gehalten und ihn, mit den besten Wünschen für sein weiteres Dasein, in sein Mausoleum geschoben. So wie er es sich zu den Zeiten, als er sich noch besser gefühlt hatte, gewünscht hatte, hatte man das Licht brennen lassen, Vorräte für mehrere Monate hinterlassen und den Schlüssel des Mausoleums unter einem der Kerzenständer gelegt, die dem kalten Raum so etwas wie Wärme verleihen sollten.

 

 

Die Nachricht von dem Tod seines alten Herren hatte Werner in Kalkutta erreicht, wo er für ein paar Wochen seine Zelte auf einer Elefantenfarm aufgeschlagen hatte. Das Telegramm war kurz und pragmatisch gewesen, schließlich hatte es seine Schwester verfasst. Sie war auch deshalb Vaters Liebling gewesen, weil sie nie viele Worte machte, sondern lieber handelte. Genauso wie ihr Vater. Werner hatte nie eine besonders tiefe Beziehung zu seinem Vater gehabt. Nicht, dass er ihn gehasst hätte. Nein, er war ihm einfach nur ziemlich gleichgültig gewesen. Werner hatte sich nie sonderlich für die Fabrik interessiert. Schrauben waren nie seine Welt geworden. Aber Susanne hatte schon als kleines Mädchen ständig nach Öl gerochen, weil sie stundenlang im Lager verbracht hatte, wo sie mit der größten Freude die Schrauben nach Größe sortiert hatte. Ihr Vater hatte dies immer mit Genugtuung und Stolz beobachtet. Werner hatte lieber vor dem Fernseher gesessen, oder sich die Reiseberichte von Marco Polo durchgelesen. Susannes Welt waren die Schrauben und Muttern, seine Welt war die Welt.

 

Werner hatte es noch rechtzeitig zu der Beerdigung geschafft, auch wenn es ihm nicht mehr gelungen war, sich einen schwarzen Anzug zu besorgen. Immerhin hatte er vor der Zeremonie geduscht, seine langen Haare zu einem einigermaßen ordentlichen Pferdeschwanz gebunden und sich rasiert. Das war für seine Verhältnisse schon fast zu viel der Respektbezeugung. Während des Leichenschmauses in der elterlichen Villa hatte Werner sich in das Arbeitszimmer seines Vaters verkrochen. Er hatte kein großes Interesse daran gehabt, den Tratschereien der Trauergäste zu lauschen. Je mehr Alkohol floss, um so mehr versiegten die geheuchelten Tränen, und stattdessen wuchsen die Schärfen der üblen Nachreden. Das hatte sein Vater nicht verdient. Aber so war es halt in dieser Welt. Die Lebenden urteilten über die Verstorbenen, und die Urteile fielen selten gerecht aus.

Ohne recht zu wissen, wonach er suchte, hatte Werner sich durch die Schubladen des Schreibtisches gewühlt. Auf diese Art erfuhr er einiges über seinen Alten, was er nicht für möglich gehalten hätte. Dass er zum Beispiel eine romantische Affaire zu seiner ehemaligen Sekretärin unterhalten hatte. Scheinbar hatte sein Vater doch mehr im Kopf gehabt als Schrauben und Bilanzen. Die leeren Cognacflaschen, die er unter diversen Akten fand, erschreckten Werner beinahe noch mehr als die Untreue seines Vaters. Sein Vater ein hemmungsloser Säufer? Das passte so gar nicht zu dem Bild des disziplinierten und kontrollierten Fabrikbesitzers.

 

In der untersten Schublade fand Werner einen altmodisch verzierten Schlüssel, den er ohne großartig nachzudenken in seine Hosentasche steckte.

Dass ihm dieser alte, verrostete Schlüssel das Tor zu einem neuen Leben öffnen würde, ahnte Werner in dieser Sekunde noch nicht.

 

 

 

 

Kapitel 4: Ignaz, Ludwig, Johannes, Ambrosius von der Wiesenhain

 

Mittlerweile waren einige Monate vergangen, Werner hatte erfolgreich und unbeschadet den ersten Winter in seinem neuen Domizil überstanden. Dank der üppigen Ausstattung in der väterlichen Gruft war es weit komfortabler gewesen als er zuerst befürchtet hatte. Die alten Gussheizkörper hatten eine wohlige Wärme geschaffen und die Luft war erstaunlich frisch. Die Gruft hatte gar nichts von dem Muff eines feuchten, modrigen Kellerraumes. Werner hatte sich dahingehend ganz überflüssige Sorgen gemacht.

Die Gesellschaft seines toten Vaters störte ihn nicht weiter. Sein Alter hatte völlig unnötig die lebensverlängernden Vorkehrungen getroffen. Entgegen seiner Befürchtungen war er nicht wieder auferstanden. So hatten beide Bewohner der Familiengruft das, was sie sich gewünscht hatten. Ihre Ruhe.

 

Werners Vater hatte immer von einem Segelschiff geträumt. Nicht, dass er es sich nicht hätte leisten können. Mit Schrauben konnte man ein erstaunlich großes Vermögen anhäufen. Aber er hatte einfach nie die nötige Zeit gefunden, um den Segelschein zu machen, geschweige denn eine ausgiebige Segeltour zu unternehmen. Sein Vater hatte nie Urlaub gemacht, selbst an den meisten Wochenenden hatte er in seiner Fabrik geschuftet.

Aber seine Sehnsucht nach den Meeren war ihm über den Tod hinaus geblieben. So hatte er bei dem Bau der Familiengruft darauf bestanden, dass man den Eingang wie die Türen eines Schiffsunterdecks gestaltete. Also hatte der Bauunternehmer zwei tonnenschwere Eisentüren über den Grufteingang legen lassen. Die rechte schmückte eine überdimensionierte Schraube, die linke eine entsprechende Mutter. Die beiden Flügeltüren waren so schwer, dass bei der Beerdigung acht muskelbepackte Bestattungsarbeiter nötig gewesen waren, um sie zu schließen. Das hatte Werner bereits während der Zeremonie verwundert, denn dies passte so gar nicht zu der Paranoia seines Alten. Wie hätte der lebendig begrabene Schraubenkönig die schmiedeeiserne Türen alleine wieder von innen öffnen sollen? Es machte doch keinen Sinn, das Innere der Gruft mit allem auszustatten, was eine notwendige Flucht ermöglichen würde, wenn der zu vorschnell Begrabene dann die Türen nicht aufbekommen hätte! Es hatte aber nicht lange gedauert, bis Werner die Lösung dieses Problems entdeckt hatte. Als er bei seinem ersten Besuch der Gruft vor den geschlossenen Eisentoren gestanden hatte, war ihm ein eigentümlicher Geruch aufgefallen. Selbst an der Gruft seines Alten hatte es noch nach Maschinenöl gerochen. Dieser Geruch hatte Werner sein ganzes Leben begleitet. Sein Vater hatte diesen Geruch stets an sich gehabt, egal, wie intensiv er sich nach Feierabend auch duschte, egal wie viel exklusives Rasierwasser er auch benutzt hatte. In seiner Nähe hatte es immer nach Fabrik, Schrauben und Öl gerochen. Zu Anfang seiner Weltreise hatte es Wochen gedauert, bis der Gestank aus Werners Nase verschwunden war.

 

Und kaum stand er vor der Ruhestätte seines Vaters, hatte ihn dieser Geruch wieder eingefangen. Nachdem die letzten Trauergäste sich gierig auf dem Weg zum Leichenschmaus gemacht hatten, hatte Werner sich vor den Grufteingang gekniet um ihn näher zu untersuchen. Und tatsächlich, je näher seine Nase den Türen kam, umso intensiver wurde der Geruch. Hydrauliköl! Sein Alter hatte die schweren Flügeltüren mit einem Mechanismus versehen lassen, der es ermöglichte, ohne jegliche Muskelkraft die Türen zu öffnen. Knopfdruck genügte! Sein Alter war ein verdammter Fuchs gewesen, der nichts dem Zufall überlassen hatte.

 

Werner hatte die Türen noch eingehender untersucht und tatsächlich einen kleinen Knopf entdeckt, der geschickt in die modellierte Schraube der rechten Flügeltür eingearbeitet worden war. Mit einem raschen Blick hatte Werner festgestellt, dass er alleine in diesem abgelegenen Teil des Friedhofes war und hatte gespannt auf den Knopf gedrückt. Wie von Zauberhand, ohne auch nur das geringste Quietschen zu verursachen, öffneten sich die beiden Flügeltüren. Werner blickte die Treppe hinunter und wunderte sich nicht ein bisschen, dass das Innere hell erleuchtet war. Bevor er entdeckt werden konnte, drückte er schnell wieder auf den Knopf. Fürs Erste hatte er genug gesehen. Die Türen schlossen sich wieder lautlos. Ein graubärtiger Seemann hätte das Schiffsunterdeck einer Yacht kaum eleganter vor einem nahenden Sturm verschließen können.

 

 

Werner schaute auf seine Armbanduhr. Fast schon Mitternacht, Zeit für seinen nächtlichen Rundgang.

Er streifte sich seine Hochleistungsstirnlampe über die langen Haare und schaltete sie ein. Der bereits ausreichend beleuchtete Raum war nun taghell erleuchtet. Die Kirche bewies zwar ihr treffsicheres Gefühl für Geldverschwendung, indem sie den Friedhof mit unzähligen Laternen ausgestattet hatte, die an diesem öden Ort genauso viel Sinn machten wie Sonnenöl bei einer Höhlenexpedition, aber dennoch verließ sich Werner gerne auf seine eigene Lichtquelle. Nicht, dass er sich im Dunklen gefürchtet hätte. Dann wäre der Friedhof wohl kaum der richtige Ort für seine Residenz gewesen. Aber er wollte bei einem plötzlichen Stromausfall nicht völlig im Dunklen dastehen.

 

Bevor er den Toröffner betätigte, schaute er durch sein selbstgebasteltes Periskop, das die Umgebung der Gruft absuchte. Auch wenn es tiefste Nacht war, wollte Werner nicht plötzlich vor einem ungebetenem Gast stehen, wenn er die Gruft verließ.

Er benutzte den Knopf, der elegant in einer der Engelsfiguren eingearbeitet war, die hier zuhauf rumstanden. Auch ein Fabrikbesitzer konnte dem Wahnsinn der Kitschsucht verfallen, das bewies die Einrichtung der Gruft eindrucksvoll. Trompete spielende Engelchen, flatternde Schmetterlinge aus Plastik, Kunststoffrosen, Jesus am Holzkreuz. Werners Vater hatte nichts ausgelassen. Nur von dem Bild eines röhrenden Hirsches, der in einer sonnendurchfluteten Waldlichtung thronte, blieben Werners Augen verschont.

 

Langsam ging er die Stufen der kleinen Treppe hinauf und verließ sein Heim. Zufrieden lächelnd atmete er die nächtliche Frühlingsluft ein. Eine Mischung aus Moder, Moos und Lavendel schlängelte sich in seine Nase. Schon möglich, dass die Rose die Blume der Verliebten war, trotz ihrer blutbringenden Dornen. Wenn dies so war, dann war das Moos die Pflanze der Toten. Jede einzelne Grabstätte auf diesem Friedhof war mit Moos überwachsen. Die Pflanze machte keine Standesunterschiede. Egal ob millionenschwerer Bankmanager oder verarmte Rentnerin. Wenn sie alle eines Tages hier landeten, (und da ist das Leben mehr als gerecht, jeder landete am Ende hier!), dann dauerte es nicht lange, und diese geduldige Pflanze bemächtigte sich der Ruhestätten. Zuerst bildete sich am Fuß des Grabsteins eine kleine grüne Siedlung. Und obwohl eine Moospflanze ausgesprochen langsam wuchs, bahnte sie sich selbstbewusst ihren Weg nach oben.

Wenn die erste Aufregung über das Dahinscheiden eines (mal mehr, mal weniger) geliebten Menschen erst einmal vorübergegangen war und die Grabstätte für ein paar Tage ohne trauernden Besuch dahinsiechen musste, hätte ein aufmerksamer Beobachter erkennen können, dass ein grüner Untermieter unauffällig Einzug gehalten hatte. Ein Untermieter mit Mietrecht auf Lebenszeit. Und dieser kleine Untermieter wuchs langsam aber beharrlich. Nach wenigen Monaten schon nahm er den Großteil des Heimes für sich in Anspruch. Nach nur wenigen Jahren würde es das Namensschild des Mitbewohners bis zur Unkenntlichkeit überwuchert haben, sollte sich niemand finden, der es regelmäßig entfernte. Doch es würde sich immer wieder seinen Weg bahnen. Es war der stumme, grüne Herr über den Friedhof. Das Moos wird noch dort sein, wenn auch der letzte Verstorbene viel weniger als ein einzelnes Staubkorn sein wird.

 

Werner schloss seine Augen und lauschte den Geräuschen der Nacht. Da ein Mäuserascheln, dort das Schwirren eines Fledermausflügels. Falls der Fuchs mal wieder einen Abstecher auf den Friedhof gemacht hatte, so tat er dies wie immer völlig lautlos. Werner hatte ihn erst ein paar mal, und auch nur aus größerer Distanz, zu Gesicht bekommen. Das Rotfell machte seinem Ruf alle Ehren, es war tatsächlich äußerst schlau. Aus der Ferne hörte er wie immer die Geräusche der Großstadt, die hier eher wie das Rauschen eines nahen Meeres als das Dröhnen von stinkenden Blechkisten klangen. Erst einmal war Werner daran erinnert worden, dass es sich doch um die Hauptstraße seiner Stadt und nicht um den Pazifik gehandelt hatte. Statt der Brandung lauschen zu können, war ein Auto mit geöffneten Fensterscheiben durch die schlafende Stadt gebrettert. Der Fahrer schien ein ausgesprochener Schlagerfan gewesen zu sein. Sein Autoradio dröhnte:“...denn ich lieebe das Leeben!“ Ein ziemlich unpassender Text für einen Friedhof, doch das hatte den Fahrer natürlich nicht gejuckt. Und Werner war es damals auch egal gewesen. Wie alles im Leben ging auch diese Störung wieder vorbei. Der Wagen war mit samt seinem Schlagerradio weiter gefahren und schon bald hatte wieder das Meeresrauschen der Großstadtstraßen eingesetzt.

 

Wie jede Nacht begann Werner seine Patrouille damit, dass er die Flügeltüren wieder schloss. Den alten Schlüssel, den er in dem Arbeitszimmer seines Vater gefunden hatte, benutzte er allerdings nie. Er sah keinen Sinn darin, zwei tonnenschwere Eisentüre zu verschließen. Aber den Mechanismus betätigte er immer, selbst wenn er die Gruft nur für einen Moment verließ. Nicht auszudenken, wenn jemand sein kleines Versteck entdeckt hätte! Der Bürgermeister und sein Lover hatten verdammt gute Gründe, dieses Geheimnis zu wahren. Möglich, dass der ein oder andere Friedhofswärter etwas bemerkt hatte, aber die hatten viel zu viel Angst ihre erbärmlichen Jobs zu verlieren. Sie kümmerten sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten. Das war in den meisten Fällen Bier saufen und hohle Quizshows im Fernsehen zu glotzen.

Aber ein zufällig auftauchender Besucher hätte vielleicht dem Hunger seiner Neugier zu sehr nachgegeben und hätte Werner hinterhergeschnüffelt. Das durfte auf keinem Fall geschehen, also war Werner stets mit äußerster Vorsicht auf dem Friedhof unterwegs.

 

Leise vor sich hinsummend schlenderte er über den Kiesweg in Richtung Besuchertoiletten. Neben der Melodie in seinem Kopf hörte er noch eine andere Stimme. Er war im ersten Moment noch zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden welches Liedchen sich denn da in seinem Hirn festgebissen hatte, um sofort zu bemerken, dass es sich nicht um seine eigene Stimme handelte. Allerdings hatte Werner noch nie dazu geneigt, Selbstgespräche zu führen, daran hatten auch die einsamen Monate in der Gruft nichts geändert. Dazu liebte er viel zu sehr das Geräusch der Stille. Wenn es so leise war, dass es beinahe dröhnte. Das hörte Werner Dünnkirchen am liebsten.

 

Doch jetzt hörte er eine fremde Stimme. Sie sprach leise, ohne jedoch wirklich als flüsternd bezeichnet werden zu können. Sie klang etwas dünn. Dünn, wie eine, eine... wie eine dünne Kinderstimme.

 

„ ... aber auch nicht besser. Vielleicht wäre es ja das Beste, ich zöge zu Großmutter? Was meinst du dazu? Ach, könntest du mir doch nur antworten!“

 

Werner pirschte sich vorsichtig an die Kinderstimme heran. Vor einem frischen Grab, das gestern Nacht definitiv noch nicht dort gewesen war, kauerte ein kleiner Junge. Zwischen den klobigen Kränzen und Bouquets wirkte er noch zerbrechlicher als er es sowieso schon war. Was suchte der Knirps dort? Warum hatte er sich ausgerechnet die Mitternachtsstunde ausgewählt um das Grab aufzusuchen? Hatten denn die Kids von heute vor gar nichts mehr Angst? Oder wenigstens Respekt?

 

„Vater meint natürlich, ich sei am besten im Internat aufgehoben. Doch was sollte ich dort anfangen? Ich würde mich doch nur zu Tode langweilen. Vater meint, die strenge Erziehung täte mir gut, ihm hätte es schließlich auch nicht geschadet. Obwohl ich durchaus der Meinung bin, dass er den ein oder anderen geistigen Schaden sein Eigen zu nennen qualifiziert ist.“

 

Wie redete der Knirps eigentlich? Werner wusste durchaus, dass die heutigen Blagen ihre ganz eigene Sprache nutzten, das war in seiner eigenen Kindheit schließlich auch nicht viel anders gewesen. Aber der Kurze da vorne wählte Wörter, die ein gleichaltriger Junge höchstwahrscheinlich als Chinesisch identifiziert hätte.

 

„Meine geliebte Anna! Mir fehlt dein Rat, ich vermisse die tröstende Sanftheit deiner Worte. Warum musstest du denn sterben? Warum lässt du mich im Stich? Ich kann nicht auf das Internat gehen! Außerdem hasse ich die geschwindigkeitsreduzierte Art der Schweizer. Immer gemächlich, immer arrogant! Das ertrage ich nicht! Nein, ich werde nicht in dieses Internat gehen!!! Und wenn Vater noch so sehr drängt. Lieber sterbe ich!“

 

Jetzt wurde es Werner aber doch eine Spur zu dramatisch. Er musste den Jungen bremsen, ihn ansprechen, ihn trösten. Er wollte gerade ein paar Schritte auf ihn zugehen, ohne zu wissen, mit welchen Worten er den Kleinen anreden sollte, ohne ihm einen Schrecken einzujagen. So ein kleiner Knirps, ganz alleine auf einem menschenleeren ( der lebendigen Sorte) Friedhof. Konnten Kinder auch einen Herzinfarkt erleiden? Werner wusste es nicht. Und er hatte Angst davor, es gleich herauszufinden. Doch bevor er sich einen Plan zurechtlegen konnte, der ihm einigermaßen behutsam erschien, sprach der Junge ihn an. Dabei drehte er sich nicht um, ja, seine dünne Jungenstimme veränderte noch nicht einmal ihr gelassene Schwingung.

 

„Guten Abend, mein Herr! Ich hoffe doch sehr, ich habe Sie nicht allzu sehr in Ihrer ohne Zweifel verdienten Ruhe gestört? Wenn doch, so bitte ich Sie höflichst mir dies gütigerweise nachzusehen. Ich konnte keinesfalls davon ausgehen, dass ich zu dieser vorgerückten Stunde ein menschliches Wesen antreffen würde, welches noch nicht das Zeitige gesegnet haben würde.“

 

Werner erstarrte mitten in seiner gerade erst aufgenommenen Vorwärtsbewegung. Nicht nur seine Beine froren augenblicklich ein, er musste außerdem mit Schrecken feststellen, dass sein erbärmliches Gehirn der Schnelligkeit der soeben gehörten Worte nicht folgen konnte. Mit offenstehendem Mund und einem linken Bein, was zum nächsten Schritt erhoben, nun mitten in der Luft zum Stillstand gekommen war, blickte er auf den zerbrechlichen Kinderkörper, der da so verloren vor dem immer noch nach frischer Erde duftenden Grab stand. Für einen zufälligen Beobachter hätte diese Szene wirken müssen, als ob ein perfekt abgerichteter Jagdhund (Werner) soeben ein hilfloses Kaninchen (Knirps) gestellt hatte, und nun ergeben auf den nächsten Befehl seines Herrchen wartete. Werner verharrte weiterhin in seiner Habachtstellung, er bemerkte kaum, dass er einen Wadenkrampf im erhobenen Bein bekam.

 

Der kleine Junge drehte sich immer noch nicht um.

 

„Sie sollten Ihre Körperhaltung verändern, bevor Sie ernsthafte Schmerzen erleiden.“

Werner schloss den Mund und setzte den Fuß auf. Wie es ein gut dressierter Hund nicht viel anders gemacht hätte.

Langsam ging er auf den Jungen zu. Dabei stakste er wie ein Storch mit Holzbeinen, denn der Wadenkrampf verhinderte eine geschmeidigere Bewegung.

„Was, um alles in der Welt, machst du um diese Zeit auf dem Friedhof? Du solltest jetzt nicht hier sein. Eigentlich sollte ein Kind in deinem Alter nie alleine auf einem Friedhof sein!“

„Nun, da mögen Sie durchaus nicht im Unrecht sein. Allerdings täte sich da doch die Frage auf, was Sie zu dieser späten Stunde auf den Friedhof verschlagen hat? Unabhängig des Lebensalters stellt dieser Ort doch zweifelsohne nicht den passenden Aufenthaltsort eines lebenden Menschen dar, nicht wahr?“

„Ähem, ja. Nein. Ich meine, ich weiß es nicht. Ist ja jetzt auch egal.“

 

Mittlerweile hatte der Junge sich aufgerichtet und herumgedreht. Mit neugierigen Augen musterte er Werner. Der Kleine war höchstens zwölf, eher jünger. Er hatte leichte Segelohren, eine etwas altmodische Brille auf seiner sommersprossigen Nase und glattgescheitelte, kurze, rote Haare. Dass er außerdem in einem sündhaft teueren Anzug steckte, machte seine Erscheinung - unabhängig vom aktuellen Ort – etwas, nun, skurril. Ein passenderes Wort fiel Werner nicht ein.

 

„Hat du dich verlaufen?“

Dass diese Frage mehr als dämlich war, wusste Werner bereits bevor sie seinen Mund vollständig verlassen hatte.

 

„Ich meine, was tut ein kleiner Junge mitten in der Nacht an einem Ort, wo er sich doch eigentlich vor Angst in die Hose scheißen müsste?“

„Auch wenn mich die drastische Wahl Ihrer Worte doch etwas verwundert, kann ich Ihnen versichern, dass mich weder ein Gefühl der Furcht, noch ein dringendes Bedürfnis meinen Körperausscheidungen eine unpassende Gelegenheit zu geben mich zu verlassen, ereilt hat.“

„Häh?“

Wie bitte wäre wohl in dieser Situation passender“, mahnte der Knirps Werner zu mehr Sorgfalt bei der Wahl seiner Worte.

 

Werners Gehirn beschloss daraufhin erneut, den Mund wortlos aufzusperren. Allerdings verzichtete es dieses mal darauf, einem Bein den sinnleeren Befehl zu geben sich zu erheben und in der Luft zu erstarren. Er sah auch so schon bescheuert genug aus.

 

„Vielleicht darf ich mich erst einmal vorstellen? Mein Name ist Ilja von der Wiesenhain.“

Freundlich lächelnd ging der Junge ein paar Schritte auf Werner zu und ergriff dessen Hand, die er nun voller Enthusiasmus schüttelte.

Werner starrte abwechselnd auf die Kinderhand und in das unschuldige Strebergesicht.

Endlich nahm sein Sprachzentrum, wenn auch noch etwas unbeholfen, wieder seine Tätigkeit auf.

„Ilja wie?“

„Ignaz, Ludwig, Johannes, Ambrosius, also kurz: ILJA, von der Wiesenhain. Ich darf Ihnen auf das Ehrlichste versichern, dass ich sehr erfreut bin, Ihre gnädigste Bekanntschaft machen zu dürfen, Herr...?“

„Dünnkirchen. Kannst Werner sagen.“

 

Werner hatte nicht einen Moment gezögert, dem Jungen das „Du“ anzubieten. Er hatte eher bezweifelt, ob es angebracht sei, wenn er ihn duzen würde. Werner Dünnkirchen musste sich eingestehen, dass der Knirps ihn eingeschüchtert hatte. Nun zweifelte er nicht mehr daran, dass der Junge keine Angst hatte, hier von einem spukenden Monster zerstückelt zu werden, oder was Jungen in seinem Alter sonst so alles dachten, nachdem sie alle Level des neuesten Computerspieles durchgenudelt hatten.

„Ich denke es geziemt sich nicht, in Anbetracht Ihres doch schon etwas fortgeschrittenen Alters, wenn ich diese vertrauliche Art der Anrede wählen würde.“

„Alle sagen Werner, kannste auch so machen. Ist kein Problem. Ich steh nicht so auf dieses abgehobene Knigge-Getue.“

„Meinetwegen, Werner. Ich möchte aber mit Nachdruck betonen, dass ich diese Form der intimen Anrede lediglich wähle, um Ihrem, ähem Deinem ausdrücklichen Wunsch ergiebigst Folge zu leisten.“

„Gut! Wäre das geklärt. Und was tust du hier?“

„Nun. Ich muss zu meinem allergrößten Bedauern konstatieren, dass meine mir mehr als liebgewonnene Kinderfrau leider von uns gegangen ist.“

 

Das Wort „Kinderfrau“ wirkte aus dem Mund dieses kleinen Schnösels beinahe wie ein Fremdwort für Werner.

„Sie hatte leider einen höchst bedauerlichen Verkehrsunfall, infolgedessen sie betrüblicherweise ihren nicht unerheblichen Verletzungen erlegen ist.“

Ilja drehte seinen Kopf wieder zu der Grabstelle. Etwas leiser als zuvor fügte er hinzu:

„Sie wurde noch nicht einmal neunundzwanzig Jahre alt.“

 

Doch schnell hatte der Kleine seine Fassung wiedergewonnen.

„Meine Mutter verstarb leider während meiner Geburt, und da mein Vater natürlich keine Zeit hatte sich näher mit meiner Person zu befassen, hatte er seinerzeit Anna eingestellt, die nunmehr meine Betreuung in ihre zarten Hände genommen hatte. Ich darf lobend hinzufügen, dass sie dies mit vollster Hingabe und dem allerhöchsten Geschick ausgeführt hat.“

 

Irgendwie klang das für Werner wie ein Satz aus einem Arbeitszeugnis. Dennoch spürte er, dass der Junge dieses talentierte Kindermädchen geliebt haben musste. Beinahe bedauerte es Werner, dass er diese Frau nie kennengelernt hatte.

„Tut mir echt leid, mit deinem Kindermädchen. Aber warum bist du zu dieser unzivilisierten Zeit hier? Hätte dein Besuch nicht bis morgen warten können?“

„Ich soll morgen in aller Frühe meine Reise in die Schweiz antreten, wo ich das selbe Internat besuchen soll, welches mein Vater bereits in seiner lange vergangenen Kindheit erfolgreich absolviert hat. Sehr erfolgreich absolviert, wenn ich das hinzufügen darf. Vorher musste ich unbedingt Annas Grab besuchen. Ich erhoffte mir etwas Trost, ja, möglicherweise sogar einen Rat von ihrer Anwesenheit. Sie wusste immer einen Rat.“

 

Werner blickte sanft auf den Jungen herab. Er mochte die Attitüden eines Snobs besitzen, nach außen hin blieb er ein kleiner Junge, der den einzigen Menschen verloren hatte, der sich etwas aus ihm gemacht hatte. Werner wusste nur zu gut, wie es war, einen Vater zu haben, der sich mehr um die Bilanzen seiner Firma als für die Passquote seines Sohnes beim ersten Fußballturnier interessierte. Irgendwie hatte Werner den Eindruck, als ob Iljas Alter noch nicht einmal wusste, dass er einen Sohn hatte.

 

„Dein Vater vermisst dich bestimmt bereits. Ich sollte dich nach Hause bringen, bevor er die Polizei alarmiert.“

„Er vermisst mich nicht. Er geht davon aus, dass mich Jakob, unser Fahrer, morgen früh zum Flughafen bringen wird. Da ich aber wiederum Jakob erzählt habe, ich würde alleine mit dem Zug reisen, wird mein Vater nichts von meinem Verschwinden bemerken. Zumindest nicht vor den Ferien.“

„Wenn schon nicht dein Vater, dann wird doch sicherlich dieser Jakob Verdacht schöpfen?“

„Ich habe bereits des Öfteren den Schienenweg gewählt, wenn ich verreist bin. Anna liebte das gleichmäßige Rattern der Züge, es beruhigte sie. Ich bin allerdings auch schon mehrmals alleine verreist, Anna bestand auf meine Selbstständigkeit. Jakob kennt das schon. Er ist froh, wenn er länger schlafen kann. Er stellt keine überflüssigen Fragen, wenn ihn sein weiches Bett lockt.“

„Schön. Aber wie soll es nun weitergehen mit dir? Wo willst du denn hin, wenn nicht in das Internat?“

„Wenn ich das nur wüsste! Kann ich nicht erst einmal mit zu dir? Ich würde mich auch nützlich machen können. Anna hat mich nicht nur in Sprachen, Naturwissenschaften, Computertechnik, Philosophie, Geschichte, Mathematik, diversen Kampfsport-und Ballsportarten, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Medizin unterrichtet; sie hat auch immer den allergrößten Wert darauf gelegt, dass ich etwas über die profanen Dinge des Alltags erfahre. So darf ich mich unbescheiden als einen vorzüglichen Koch und außerordentlich pedantisch eingestellten Haushälter rühmen. Mit schlichten Worten ausgedrückt: ich könnte dir deinen Haushalt führen.“

 

Der Junge war unheimlicher als ein Friedhofsgespenst bei Vollmond. Werner wusste nicht, was er davon halten sollte. Er konnte den Jungen doch unmöglich in seine Gruft einladen! Platz wäre genug. Sein Vater hatte seiner Natur entsprechend eine etwas größere Bauweise gewählt und dafür gesorgt, dass in seiner letzten Ruhestätte reichlich Platz vorhanden war. Platz, den er nun kaum brauchte. Sein Sarg war in eine Wand der Gruft eingelassen worden. (Natürlich mit einer Vorrichtung versehen, die es ihm jederzeit ermöglicht hätte, die Wand und den Sarg zu verlassen. Eine Vorrichtung, die er bis jetzt noch nicht benutzt hatte. Werner glaubte auch nicht, dass dieser Fall jemals eintreten würde. Sein Vater war für ewige Zeit in der Wand seiner Gruft eingemauert). Also Werners Vater hätte wohl kaum etwas gegen einen weiteren Bewohner einzuwenden gehabt. Aber konnte Werner das einem Kind zumuten? In einem unterirdischen Keller mitten auf dem Zentralfriedhof zu leben? Zu leben mitten unter den Toten der Stadt? Warum eigentlich nicht? Werner war jahrelang in der Welt unterwegs gewesen. Er hatte alle Kontinente bereist, die wunderschönsten Flecke dieser Erde gesehen. Doch er hatte sich nirgendwo wohler gefühlt als in der Gruft. Er war wochenlang durch Wüsten gewandert, hatte in den Rocky Mountains gecampt. Ja, er hatte sich sogar an einer Expedition in die Antarktis beteiligt. (Die er allerdings nach zwei Tagen wieder abgebrochen hatte, eisige Kälte war nichts für ein verwöhntes Kind der Großstadt...). Egal, wo er auch gewesen war. Nirgendwo hatte er diese Form von Ruhe gefunden, wie hier unter den Toten. Hier war es nun mal totenstill. Werner konnte sich keinen schöneren Ort vorstellen. Trotzdem zögerte er. Machte er sich nicht strafbar, wenn er einem wildfremden Kind Asyl in seiner Gruft gewähren würde? Andererseits: würde er sich nicht auch gegen die Gesetze der Menschlichkeit stellen, wenn er den armen Wurm wegschicken würde? In ein Internat in die Schweiz, wo man dem Kleinen auch noch den letzten Rest an Kindlichkeit austreiben würde. Oder zurück zu einem Vater, dessen Sekretärin ihn wahrscheinlich daran erinnern musste, wenn sein Filius Geburtstag hatte? Nein! Das brachte Werner nicht über sein Herz.

 

„Ok. Du kannst erst mal bei mir wohnen. Aber ich muss dich warnen. Meine Wohnung ist nicht gerade das, was man gewöhnlich nennen würde.“

„Ich weiß“, antwortete der Knirps.

„Du lebst in einer Gruft, nicht war?“

 

Wieder war Werner verblüfft.

„Woher weißt du das denn nun schon wieder?“

„Das ist doch nun wirklich ganz einfach! Ein Kind wäre in der Lage, dieses Geheimnis, welches ja nun keines mehr darstellt, zu lösen.“

 

Werner war keineswegs überrascht, dass Ilja so von einem Kind sprach, als ob er Jahrzehnte davon entfernt sei selber eines zu sein.

 

„Selbst hier in der Dunkelheit ist es unschwer zu erkennen, dass deine Haut schon seit längerer Zeit kein Sonnenlicht mehr erhalten hat. Zudem verraten die Reste der Spinnweben auf deiner Kleidung, sowie die Staubpartikel auf deinen Schuhen, dass du dich in einem Raum aufgehalten hast, der sich unterhalb der Erdoberfläche befinden muss.“

„Wer bist du? Supermännchen?“

„Nein. Ich bin Ignaz, Ludwig, Joha-“

„Ach, sei still! Komm mit!“

 

 

So bekam Ludwig Dünnkirchen neben seinem Sohn einen weiteren Untermieter. Mit dem neuen Mitbewohner hatte er allerdings noch weniger gemeinsam als mit seinem Sohn. Genauer betrachtet trugen er und der Kleine lediglich den gleichen Namen. Obwohl Ilja dieser Meinung widersprochen hätte. „Ludwig“ war lediglich sein dritter Vorname. Er hasste alle vier. „Ilja“ war schon besser. Das war die erste Maßnahme gewesen, die Anna damals getroffen hatte, als sie beschloss, ihn nur noch mit diesem Namen anzusprechen. Es sollte die erste von unzähligen guten Maßnahmen sein, die sie traf.

 

 

 

 

Kapitel 5: Straßenbahn und Prachtvilla

 

Mit den analysierenden Augen eines Innenausrichters schaute sich Ilja in seinem neuen zu Hause um. Er war die wenigen Stufen ohne jegliche Gefühlsregung hinab gestiegen. Vielleicht hatte Werner ein wenig mehr Furcht, wenigstens Ehrfurcht, von dem Jungen erwartet. So mancher Erwachsener hätte sich nicht in diese ungewisse, gruselige Dunkelheit getraut ( Werner hatte, um den Gruseleffekt zu erhöhen „vergessen“ das Licht einzuschalten). Ein Kind sollte, müsste sich doch vor Schiss in die Hosen machen. Doch Iljas Hosen und seine Kinderseele blieben von dem Anblick unbefleckt. Eher mit Anerkennung stellte er fest, dass sich seine neueste Bekanntschaft als äußerst geschmackvoller Dekorateur erwies. Und die Gruft war erstaunlich groß! Direkt am Fuße der Treppe befand sich eine Stehlampe, die Werner dann doch anknipste, denn er wollte die Ankunft des Jungen nicht dadurch zu einer Slapstick-Komödie verderben, indem er im Dunklen ( und in einer Gruft ist es verdammt dunkel!) über einen herumliegenden Gegenstand stolperte. Werner hatte es nicht so besonders mit der Ordnung. Es reichte ihm vollkommen aus, wenn er die Dinge, die er benötigte, mehr oder weniger auf Anhieb wiederfand.

 

„Bitte, setz dich doch!“, forderte Werner den Jungen auf und wies mit einer Hand auf eine etwas ausgeleierte Couch, die am anderen Ende des Raumes stand.

„Dort werde ich schlafen, solange du mein Gast bist. Du kannst selbstverständlich das Bett nehmen.“

 

Das Bett stand unmittelbar unter der „Grabschublade“, wie Werner sie nannte. In diesem Fach war sein verstorbener Vater eingelassen worden und wunderte sich jetzt wohl, dass er tatsächlich tot und keineswegs lebendig begraben worden war. Hätte er zu seinen Lebzeiten nicht so viele Schauergeschichten von Poe gelesen, wären ihm eine Menge Unkosten erspart geblieben. Unkosten, von denen jetzt sein Sohn ( und natürlich seit heute auch dessen Logiergast) reichlich profitierte.

 

Ludwig Dünnkirchen hatte bei der Errichtung seiner letzten (der allerletzten!) Ruhestätte auf nichts Weltliches verzichtet. Ob Kühlschrank (mehr als gut gefüllt), Weinregal, Vorratskammer mit Lebensmitteln, die dicke für eine dreijährige Vollverpflegung einer achtköpfigen Familie ausgereicht hätten, Fernseher, Klimaanlage (was hatte der alte Schraubendreher eigentlich gedacht, wie heiß es in einer steinernen Gruft drei Meter unter der mitteleuropäischen Erde werden könnte?), zwei gusseiserne Heizkörper (Ok, die machten hier unten schon etwas mehr Sinn), Bücherregal, eine kleine Anrichte mit Fächern und Schubladen für die Küchenutensilien und anderem Krimskrams, einen Kleiderschrank, ein Tisch, zwei Stühle, ein urgemütlicher Ohrensessel und eben die bereits erwähnte Couch und das Bett. Abgerundet wurde der Raum durch einige Bilder, die hauptsächlich Naturmotive zeigten.

Aber auch an die dringendsten Bedürfnisse der Lebenden hatte Ludwig Dünnkirchen gedacht. In der hintersten, nicht ganz so gut ausgeleuchteten Ecke, dezent von einem Wandschirm verdeckt, stand eine chemische Toilette.

 

Werner hatte die Einrichtung komplett belassen, er hatte lediglich das ein oder andere Stück etwas umgestellt. Und natürlich hatte er das Telefon, das auf dem Tisch gestanden hatte, entfernt. Wenn auch ganz sicher niemand (von dieser Welt zumindest) die Telefonnummer gekannt und angewählt hätte, so war er doch lieber auf Nummer Sicher gegangen. Der Hauptgrund, warum er sich dazu entschlossen hatte, hier unten

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 15.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7835-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich allen Toten, auf dass sie niemals vergessen werden sollen! Ich widme es allen Lebenden, die ihren Mut auch dann nicht verlieren, wenn das Leben ihnen wieder einmal ein Bein stellen will! Ich widme es mir, der nach einer langen Zeit der Lebensmüdigkeit jeden neuen Tag als ein Geschenk anzunehmen gelernt hat.

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