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„Ich bin Mo.“

Die Welt rauschte an mir vorbei.

Graue Städte wechselten sich mit leuchtend gelbem Getreide und Wäldern in frischem Grün ab.

Ich holte mein Smartphone aus meiner Tasche und warf einen Blick auf die Uhr, nur um es sofort wieder zurück gleiten zu lassen. Ich war noch weit von meinem Zuhause entfernt.

Seufzend stellte ich die Musik auf meinem IPod lauter und schlug mein Buch erneut auf, um die Langeweile zu vertreiben und die Zeit schneller vergehen zu lassen.

Lange Fahrten waren definitiv nichts für mich, so viel war mir wieder einmal klar geworden.

 

Kurze Zeit später schreckte ich hoch. Ein Ruckeln des Zuges hatte mich gezwungen, die Welt von Shen Te für eine Weile zu verlassen.

Ich war so in das Buch vertieft gewesen, dass ich nicht mitbekommen hatte, dass der Zug bereits in einen weiteren Bahnhof einfuhr. Die Lautsprecherdurchsage hatte ich anscheinend dank meiner Musik überhört.

Während der Zug das Tempo weiter drosselte und schließlich zum Stillstand kam, widmete ich mich wieder Brecht und seinem Werk.

Allerdings wurde ich bald wieder gestört, da sich plötzlich eine Hand zwischen das Buch und mein Gesicht schob.

Irritiert hob ich den Blick und schob mir gleichzeitig die großen Kopfhörer von den Ohren.

„…noch frei?“ Der junge Mann, der mich erwartungsvoll anblickte, deutete mit einer Hand auf die drei Plätze, die sowohl durch mein Gepäck als auch durch meine Füße, die in weinroten Chucks steckten, blockiert wurden.

„Wie bitte?“, fragte ich noch einmal nach. Ich richtete mich etwas auf und ließ die Füße von dem mir gegenüberliegenden Sitz gleiten.

Der Mann seufzte. „Ich hab gefragt, ob hier noch frei ist.“ Er grinste. „Und zwar schon zum vierten Mal.“

„Ähh… klar.“ Ich lehnte mich vor und packte schnell meine Sachen zurück in meine Tasche. In den vergangenen Stunden hatte ich alles einfach liegen gelassen, doch als ich nun meinen Blick durch den Zug schweifen ließ, wurde mir klar, dass tatsächlich fast alle Sitzplätze belegt waren.

Als schließlich auch mein Kuschelkissen, das immer und überallhin mit musste, wieder zurück in meine Tasche gewandert war, ließ der Mann sich schräg gegenüber von mir nieder. Auch er hatte eine große Reisetasche dabei und außerdem noch einen Instumentenkoffer, der verdächtig nach einer Gitarre aussah.

Nachdem wir unsere Gepäckstücke endlich so arrangiert hatten, dass wir beide noch genügend Platz hatten, widmete ich mich wieder meinem Buch und der Musik.

Der Mann setzte ebenfalls Kopfhörer auf und schloss nach einer Weile die Augen.

Er atmete ruhig und entspannt und so traute ich mich nach einer Weile, dass Buch sinken zu lassen und ihn anzusehen.

Ich kam zu dem Entschluss, dass es sich eher um einen Jungen als um einen Mann handelte. Er war älter als ich, da war ich mir ziemlich sicher, doch nicht viel. Knapp über 20, schätzte ich.

Ich musste zugeben, dass er äußerst attraktiv war. Mit den wilden dunkelblonden Haaren und den blauen Augen, in denen nun ein amüsierter und leicht spöttischer Ausdruck lag.

War ja mal wieder klar, dass er mich bei der erstbesten Gelegenheit ihn anzustarren erwischte. Die geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Dann schob er lässig seine Kopfhörer nach hinten, sodass sie um seinen Hals hingen.

Ich tat es ihm gleich.

„Mo“, sagte er.

Mein irritierter Blick ließ ihn das Grinsen noch vertiefen.

„Ich bin Mo“, klärte er mich auf und hielt mir seine Hand hin. „Und du?“

„Emily. Nett dich kennenzulernen.“ Innerlich schlug ich mir selbst gegen die Stirn. ‚Nett dich kennenzulernen‘ war sicher nicht das lässigste, was man in so einer Situation sagen konnte.

„Das kann ich nur zurückgeben“, erwiderte Mo. Bevor eine peinliche Stille entstehen konnte, sprach er auch schon weiter.

„Wo fährst du hin?“

Die Anspannung, die ich gerade noch verspürt hatte, fiel mit einem Mal von mir ab und es wurde leicht, mich mit ihm zu unterhalten.

„Nach Hause“, meinte ich und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster. Das Feld, an dem der Zug gerade vorbei rauschte, wurde gerade mit Hilfe eines riesigen Mähdreschers abgeerntet.

„Wo warst du denn?“, fragte Mo weiter und lehnte sich mir dabei etwas entgegen.

„Bei einem Schreibseminar.“ Ich musste lachen, als ich Mo´s verwirrten Blick sah. „Ich möchte Schriftstellerin werden“, klärte ich ihn auf.

„Du schreibst Bücher?“

Ich spürte, wie mir langsam aber sicher das Blut in den Kopf schoss und mein Kopf sich rötete. Nur wenige Leute wussten, dass ich schrieb, denn normalerweise behielt ich es lieber für mich. Vor allem Fremden erzählte ich sonst nie etwas von meinem heimlichen Hobby.

Da Mo mich noch immer ansah, nickte ich schließlich schüchtern.

„Was schreibst du denn so?“

„Wird das ein Verhör?“, fragte ich leicht schmunzelnd und versuchte damit weiteren Fragen auszuweichen.

Mo lehnte sich entspannt zurück und legte stützte seine Füße auf dem Sitz neben mir auf. Die Position ließ ihn unverschämt selbstbewusst erscheinen. Was er wahrscheinlich auch war.

„Nein, das hier ist kein Verhör“, behauptete der Junge. „Ich bin nur neugierig – Also? Was schreibst du so?“
Ich setzte ein falsches Lächeln auf und sagte: „Wenn das kein Verhör ist, habe ich das gute Recht zu schweigen und meine Geheimnisse für mich zu behalten.“

Mo lachte.

 

Irgendwann schaffte Mo es doch noch, mich zum Weitererzählen zu bringen.

„Du hast also schon mehrere Bücher geschrieben?“, fragte Mo erstaunt. Ich nickte.

„Naja, nicht ganz“, schränkte ich ein. „Bücher sind es noch nicht. Nur Manuskripte, die in meinen Notizbüchern und auf meiner Festplatte vergammeln.“

„Warum veröffentlichst du sie nicht.“ Mein Gegenüber klang wirklich interessiert.

Ich musste lachen. „Das erste ‚‘Buch‘ hab ich mit zwölf geschrieben. Es heißt ‚Anna-Marie das Eichhörnchen, findet die große Liebe‘.“ Ich grinste. „Ich glaub, du kannst dir vorstellen, dass die Qualität zu wünschen übrig lässt.“

Auch Mo musste grinsen. „Was hast du sonst noch so geschrieben?“

Die Geschichte, in der die Protagonistin mit Tieren sprechen und so Verbrechen aufklären kann, verschwieg ich lieber.

„Momentan arbeite ich ehrlich gesagt an einer Liebesgeschichte. Ich versuche dabei gängige Klischees zu benutzen und neu zu verarbeiten.

Und gleichzeitig plane ich eine Geschichte, in der ich auf die Vergänglichkeit des menschlichen Seins eingehen will.“
Wow, formte Mo mit den Lippen und brachte mich so wieder zum Lachen.

„Du interessierst dich nicht sonderlich für Literatur.“

„Ehrlich gesagt, nicht übermäßig. Aber ich finde ich finde, deine Geschichte klingt ganz spannend. Du scheinst echt auf dem besten Weg zu sein, eine Autorin zu werden.“

Ich winkte ab. „Schleimer.“

Mo grinste immer noch. Der Typ schien auch nie etwas anderes zu machen. Seit er mir gegenüber Platz genommen hatte, war das Lächeln kaum einmal aus seinem Blick verschwunden. Und wenn doch, dann nur um einem nachdenklichen Ausdruck Platz zu machen.

„Bis ich mich traue, etwas von mir zu veröffentlichen, wird es allerdings noch eine ganze Weile dauern.“ Oh Gott, wie schaffte er es nur, mich dazu zu bringen, wie ein Wasserfall zu reden? Das war sonst so gar nicht meine Art. Ich hätte mich selbst eher als ruhige Zuhörerin beschrieben.

„Erstmal muss ich aber noch die Schule zu Ende bringen und danach will ich nach Afrika.“

„Afrika?“ Mo zog eine Augenbraue in die Höhe. „Was willst du denn da?“

„Helfen. Es gibt so viele Menschen in Afrika, die Hilfe brauchen. Und ich will mich einfach nutzlich machen.“

„Respekt“, sagte Mo und schien es auch so zu meinen.

 

„Wie alt bist du eigentlich?“ Mo´s plötzliche Frage brachte mich aus dem Konzept. Wir hatten uns noch eine Weile unterhalten, bevor jeder in seinen eigenen Gedanken versunken war.

Doch nun sah Mo mich wieder aufmerksam an.

„18 – Wieso?“, erkundigte ich mich.

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Nur so. Ich finde du wirkst älter.“

Skeptisch hob ich die Augenbrauen. Als kleines Mädchen hatte es mich immer geärgert, dass mein Bruder so spöttisch gucken konnte, ich aber nicht. Also hatte ich mich eines Tages vor den Spiegel gestellt und geübt – bis ich es auch konnte.

Mo ließ sich von meinen Fähigkeiten allerdings nicht ablenken. „Ich meine – also nach dem, was du mir erzählt hast – wirkst du irgendwie erwachsen. Und reif. Du hast einen Plan. Du hast Träume, Ziele. Ich weiß nicht ganz, wie ich das ausdrücken soll, aber ich hoffe, du verstehst trotzdem, was ich meine.“ Er sah mich abwartend an.

„Ähh… danke“, erwiderte ich nicht besonders geistreich und wurde schon wieder rot. „Hast du denn noch keine Pläne?“

Mo sah an mir vorbei aus dem Fenster und sah nicht aus, als hätte er vor, mir zu antworten. Das ewigwährende Lächeln war verschwunden und ein grauer Schleier legte sich über sein Gesicht.

Umso mehr überraschte es mich, als er doch antwortete.

„Alles in den Griff bekommen“, murmelte er. Ich war mir nicht sicher, ob er mit sich selbst gesprochen hatte oder mit mir.

„Was in den Griff bekommen?“, fragte ich nach, da mir aufgefallen war, dass Mo die ganze gemeinsame Zugfahrt über derjenige gewesen war, der die Fragen stellte. Jetzt wollte ich den Spieß umdrehen und etwas über ihn erfahren.

Mein Gegenüber machte mir allerdings einen Strich durch die Rechnung. Er fuhr sich einmal mit der Hand durch die Haare und richtete den Blick seiner Augen dann wieder auf mich.

Ein Lächeln, das seine Augen nicht ganz erreichte, erschien auf seinem Gesicht. „Nicht so wichtig, Süße.“ Er griff nach seiner Reisetasche und dem Gitarrenkoffer und stand auf.

„Ich muss hier übrigens raus.“ Er wandte sich um, blieb wieder stehen und drehte sich noch einmal zu mir. „Nett dich kennengelernt zu haben, Emily“, widerholte er meine dumme Floskel.

„Geht mir genauso“, brachte ich noch hervor, dann schob Mo sich bereits mit seinem Gepäck zwischen den Sitzreihen hindurch und ließ mich stirnrunzelnd zurück.

Die Durchsage, die kurze Zeit später ertönte, weckte mich aus meiner Starre.

Das hier war nicht nur Mo`s Endbahnhof sondern auch meiner!

Ich griff hektisch nach meinen Sachen und eilte auf die Tür zu, die sich gerade laut zischend öffnete.

In einem Moment entdeckte ich Mo, der direkt vor der Tür stand. Im nächsten war hatte er den Zug verlassen und war im Strom der Menschen verschwunden.

„Willkommen daheim“

„Willkommen daheim, meine Kleine“, brüllte meine Mutter mir regelrecht ins Ohr und zerrte mich in eine stürmische Umarmung.
Kaum hatte sie mich losgelassen, wiederholte sich die Prozedur etwas weniger stürmisch mit Lukas. Mein Bruder war zum Studium ausgezogen und nur während seiner Semesterferien zu Besuch. Umso mehr freute ich mich, ihn nun wiederzusehen.

„Hey, Luki-Bärchen“, begrüßte ich ihn in dem Wissen, dass er diesen Spitznamen verabscheute. Keine zwei Sekunden später bekam ich einen leichten Schlag gegen den Hinterkopf.

„Ich hab dich auch vermisst, kleines Gummibärchen.“ Er zerstörte meine Frisur, in dem er mit seiner Hand durch meine roten Haare fuhr.

Sofort keifte meine Mutter dazwischen. „Ihr seid so kindisch. Ich hab euch 25 Jahre lang“, sie warf Lukas einen strengen Blick zu, „beziehungsweise 18 Jahre lang“, ihr Blick traf mich, „aufgezogen und vor allem erzogen. Und doch verhaltet ihr euch immer noch so.“

Mein Bruder und ich brachen gleichzeig in schallendem Gelächter aus. Einige Passanten blickten uns verständnislos an, doch nun konnte sich auch meine Mutter das Lächeln nicht mehr verkneifen. Meine Mutter schwankte ohnehin grundsätzlich immer zwischen der strengen Erzieherin und dem ‚junggebliebenen‘ Teenager.

Junggeblieben war vielleicht nicht mehr ganz korrekt, aber meine Mutter störte das herzlich wenig.


„Und was war hier so los, während ich weg war?“, fragte ich, als wir uns durch die Menschenmassen drängelten, um zum Parkplatz zu gelangen.

„Dein Bruder hat sich verliebt“, platzte meine Mutter auch sogleich heraus.

Lukas rutschte einen Moment das Grinsen aus dem Gesicht. Dass er so die Aussage unserer Mutter nur noch bestätigte, war ihm wohl nicht bewusst, denn er behauptete: „Stimmt doch gar nicht.“ Er wurde etwas rot und beschleunigte seine Schritte. „Ich weiß gar nicht, wie du auf sowas kommst.“

Es schien ihm wirklich unangenehm zu sein und so beschloss ich, das Thema erst einmal fallen zu lassen. Ich würde meine Gelegenheit, ihn auszuquetschen, schon noch bekommen. Normalerweise konnten wir uns nämlich alles erzählen.


Bei unserem Auto angekommen, verstaute mein Bruder, der netterweise meine Tasche getragen hatte, das Gepäck im Kofferraum. Dann schnappte er mir doch tatsächlich den Beifahrersitz vor der Nase weg. Ich hasste es, wenn er das tat, da ich es liebte, vorne zu fahren. Hinten wurde mir immer etwas schlecht und das wusste Lukas ganz genau.

So blieb mir nichts anderes übrig, als auf der Rückbank Platz zu nehmen.

„Jetzt erzähl mal“, begann meine Mutter ein neues Gespräch. „Wie war deine Woche? Hat´s Spaß gemacht?“

„Auf jeden Fall“, meinte ich und begann gleich weiter zu erzählen. „Die Mentoren waren einfach super. Super nett und super in ihren Themenbereichen. Und die anderen Mädels und Jungs waren mir auch sympathisch. Ein gemeinsames Hobby verbindet also wirklich. Zwischen Weihnachten und Neujahr wollten wir uns nochmal treffen. Und…“, ich wartete auf den Trommelwirbel, der leider nicht einsetzte, „weil relativ viele Teilnehmer von hier oben aus dem Norden gekommen sind, werden wir uns in Hamburg treffen.“

Das bedeutete für mich, dass die Zugfahrt nicht allzu lang werden würde. Das Seminar, von dem ich gerade kam, hatte in Frankfurt stattgefunden und die Fahrt war für mich kaum erträglich gewesen. Von den letzten zwei Stunden, die ich in Mo´s Begleitung verbracht hatte, einmal abgesehen.

Dieser Gedanke überraschte mich, doch ich musste mir eingestehen, dass ich die Gespräche mit Mo wirklich genossen hatte.

Bei dem Gedanken an den Jungen musste ich wieder daran denken, dass wir am gleichen Bahnhof ausgestiegen waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns einmal über den Weg liefen, war trotzdem nicht besonders groß.

Ein Seufzen entfuhr mir.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Dich!

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