Henning konnte sein Glück nicht fassen. Manche Tage waren einfach ... perfekt. Der Ausrutscher kurz vor seinem Wohnhaus bildete da nur den krönenden Abschluss eines ohnehin schon besch...eidenen Tages. So ziemlich alles war an diesem Tag schief gegangen, was schief gehen konnte aber nicht nur das. Wenn er es ganz genau nahm, traf diese Feststellung momentan auf sein gesamtes Leben zu. Nicht nur, dass er an Heiligabend im Krankenhaus arbeiten durfte, damit andere frei hatten, um bei ihren Familien, ihren Liebsten zu sein und mit ihnen diesen besonderen Tag des Jahres feiern konnten. Das Fest der Liebe. Phh! Dass er nicht lachte. Gab es Liebe überhaupt noch? Nach seiner letzten Erfahrung scheinbar nicht mehr oder zumindest nicht für ihn. Sein Freund hatte am Anfang des Monats mit ihm Schluss gemacht - mehr oder weniger aus heiterem Himmel. Henning hatte zwar gespürt, dass da etwas war, und dass es womöglich auch an seiner Arbeit lag. Immer andere Arbeitsschichten, Überstunden und kurzfristig für Kolleginnen oder Kollegen einspringen, die krank wurden. Es tat ihm ja selbst leid, aber im Laufe der Jahre hatte er sich wohl oder übel daran gewohnt - sein Ex offenbar nicht. Er hatte ihm jedes Mal eine Szene gemacht, wenn er mal wieder eine ihrer Verabredungen verschieben musste, wenn sie zu einer Einladung von Freunden nicht zusammen gehen konnten, oder wenn sein Freund alleine ins Kino gehen musste, weil Henning mal wieder eine Doppelschicht einlegen durfte. Das tat ihm selbst jedes Mal Leid, aber mehr als entschuldigen konnte er sich auch nicht dafür. Es war ja keine Absicht, und in seinen Augen waren es auch keine leeren Versprechungen, es wieder gut zu machen. Sein Ex hatte ihm das aber vorgeworfen, als er seine Sachen packte, bevor er ihm den Wohnungsschlüssel in die Hand drückte und ihn somit vor vollendete Tatsachen setzte. Er hätte darauf einfach keinen Bock mehr und würde erst mal bei einem Freund unterkommen, bloß nicht bei seinen Alten, die ihm wohl vorhalten würden, sie hätten es ihm ja gleich gesagt. Schon klar, dass Henning in ihren Augen nie der Richtige für ihren Sohn war. Die Herrschaften waren ja etwas besseres - oder hielten sich zumindest dafür, weil sie studiert hatten und Henning nur eine Ausbildung vorzuweisen hatte. So oder so hatte ihr Sohnemann etwas besseres verdient, und am Anfang hatte Henning das auch gedacht. Er hatte es damals nicht glauben können, dass sein Ex ihn wirklich wollte. Nicht nur, dass er um Längen besser aussah als Henning. Als angehender Architekt standen seine Zukunftsaussichten auch nicht schlecht - sowohl monetär als auch was seine Arbeitszeiten betraf. Trotzdem trug Karsten seine Nase nie so hoch, war ein guter Zuhörer und aufmerksamer Beobachter. Er hatte seinerzeit sogar den ersten Schritt gemacht und Henning vor drei Jahren in einer Szene-Bar angesprochen, nachdem sie sich dort zuvor ein- oder zweimal flüchtig gesehen hatten. Entweder waren sie mit Bekannten dort verabredet gewesen oder aber, nun ja, hatten dort ein Date gehabt. Wer war aber schließlich schon gerne allein? In der Szene war es bloß ziemlich schwierig jemanden kennen zu lernen, der es ernst mit einem meinte und sich mehr als nur "Spaß" miteinander vorstellen konnte. Mit den anderen Dates hatte es daher nicht geklappt, was Henning im Nachhinein allerdings nicht leid tat. Um so schöner war es, dass es bei ihnen funkte. Also hatten sie sich zusammen an einen Tisch gesetzt, und Karsten hatte ihm einen Drink spendiert. Sie hatten sich gut unterhalten und natürlich auch miteinander geflirtet. So machte man es schließlich, oder? Ein frecher Blick hier, ein verführerischer Augenaufschlag da, eine zufällige Berührung über dem Tisch oder darunter. Sie hatten schnell gemerkt, dass sie sich mehr als sympathisch waren, und auch wenn der Drang seinerzeit groß gewesen war miteinander ins Bett zu gehen, hatten sie sich doch zurückgehalten und damit bis zum magischen dritten Date gewartet - um es dann um so ordentlicher krachen zu lassen. Die ganze aufgestaute Lust hatte sich da entladen, und es war einfach eine perfekte Nacht geworden - auch wenn das Hennings Nachbarn vielleicht anders gesehen hätten. Er konnte doch aber nichts dafür, dass die Wände seiner Wohnung so dünn waren - oder sie bei ihrem Liebesspiel zu laut? Zurückhalten könnte oder wollte sich damals aber keiner von beiden. Ganz egal, wer von ihnen gerade unter wem lag. Das war das Schöne an Karsten und ihm gewesen: sie waren da beide nicht so festgelegt wie andere und genossen ihr Liebesspiel einfach - egal wann, egal wo sie die Lust überkam - und sie ungestört waren. Weder Henning noch sein Ex standen hingegen auf Zuschauer dabei im Vergleich zu einigen anderen Artgenossen, die er im Laufe der Zeit kennengelernt hatte. Auf irgendwelche Sexpartys oder einschlägige Clubs hatten beide daher keine Lust, auch wenn man das als Single anders gesehen konnte. Aber das war wenn vor ihrer Zeit gewesen. Um ganz sicher zu gehen, hatten sie ferner das Ergebnis ihrer STI-Tests abgewartet, bevor sie auf Gummis verzichteten. Soviel Zeit musste sein, um auf Nummer sicher zu gehen. Das sollte aber nicht heißen, dass sie sonst nicht aufpassten oder wild durch die Gegend rum...gemacht hatten. Sich testen zu lassen war ihnen dennoch wichtig gewesen - aus Respekt vor dem anderen, und da waren sie sich zum Glück auch einig gewesen. Keine lange Diskussion, Absprachen, Beteuerungsversuche oder gar Unterstellungen. Das hatte Henning so an Karsten gemocht. Er war eigentlich recht pflegeleicht gewesen, so dass sie ihre gemeinsame Zeit meistens genossen hatten - nicht nur im Bett. Da zwar auch und um so mehr, aber sie hatten sich auch sonst exzellent verstanden. In vielen Dingen waren sie auf einer Wellenlänge gewesen - egal, ob es nun um die Musik auf einer Party ging (wenn sie Karsten nicht gefiel, war das meistens auch bei Henning so gewesen), um einen neuen Lover eines Kumpels (wenn Henning nicht mit ihm klarkam, tat sein Ex es in der Regel auch nicht) oder es sich um die Farbauswahl ihrer neuen Couch drehte (Türkis, weil Orange zu knallig war und Schwarz zu traurig).
Ach, Henning vermisste seinen Ex schon und trauerte ihm noch nach. Zu frisch war ihre Trennung, als dass er schon darüber hinweg war. Es war noch immer komisch aufzuwachen und nicht in das Gesicht des anderen wie sonst zu sehen, den so vertrauten Geruch des anderen in der Nase zu haben - von seinem Geschmack im Mund gar nicht erst zu reden. Vom Knutschen selbstverständlich! Karsten fehlte ihn schon sehr, sogar ihre kleinen Rangeleien auf dem Sofa, der Kampf im Bad vor dem Spiegel, auch wenn keiner von beiden jemals zugegeben hatte, dass er ein klitzekleines bisschen eitel war, was sein Aussehen betraf. Karsten sah auf jeden Fall gefühlt um Längen besser als er aus und hätte daher auch eine Mister-Wahl locker gewonnen - spätestens in einer Badehose. Dafür brauchte er mehr Platz im Kleiderschrank. Wenn es nach Henning gegangen wäre, hätte sein Ex aber auch gerne öfter nackt rumlaufen können, aber FKK war nicht so nach Karstes Geschmack gewesen. Eigentlich schade, aber Henning hatte es akzeptiert. Um so exklusiver genoss er den Anblick seines Freundes und nun leider Ex-Freundes. Aber damit musste Henning klarkommen. Es fiel ihm bloß noch schwer, und er fragte sich, wie lange er noch so leiden würde. Ganz vergessen wollte er Karsten jedoch auch noch nicht. Er ertappte sich stattdessen oft dabei, dass er seinen Ex anrufen wollte, um ihm eine Neuigkeit zu erzählen oder um einfach dessen Stimme zu hören. Das hatte Henning in ihrer gemeinsamen Zeit oft neue Kraft gegeben, wenn er bei der Arbeit mal wieder auf dem Zahnfleisch ging. Auf der anderen Seite, war er aber auch immer für Karsten da gewesen - wenn er mal wieder Trouble mit seinen Eltern hatte, noch mehr aus seinem Leben zu machen und sich einen besseren sprich besser bezahlten Job zu suchen oder sich gar selbständig zu machen. Henning hatte ihm auch beigestanden, als Karstens Großmutter überraschend verstorben war. Ja, sie hatten wirklich viel in dem drei Jahren erlebt, in denen sie zusammen waren. Nicht alles war immer Friede, Freude, Eierkuchen, aber es war eben auch nicht alles nur schlecht gewesen, wie sein Ex es am Ende darstellte. Ja, okay, Henning hatte nicht alles richtig gemacht. Er hatte oft gesagt, dass sich etwas ändern würde, ändern musste. Er hatte seinem Vorgesetzten des Öfteren gesagt, dass es so nicht weitergehen konnte. Der hatte ihm aber offenbar nicht zugehört oder ihn zu besänftigen versucht. Es stimmte natürlich, dass Henning keine Kinder hatte, aber das konnte doch nicht der einzige Grund sein, warum er immer flexibel sein musste, um für andere einzuspringen. Hatte er kein eigenes Leben? Hatte er kein Recht auf Verabredungen oder Urlaubspläne mit seinem Freund zusammen? Scheinbar nicht. Oder es lag doch an ihm selbst. Er war wohl einfach zu nett, zu sanft, zu pflichtbewusst. Eigentlich sollten das alles keine negativen Eigenschaften sein, aber so wurde man oft ausgenutzt. Insofern hatte Karsten in diesem Punkt wohl doch Recht. Aber hatte das seinem Ex am Anfang nicht gerade so an ihm gefallen? Hatte er sich nicht auch deshalb in ihn verknallt? Auf der anderen Seite waren es Karstens süße Stupsnase, seine Kulleraugen und seine offene, mitreißende Art gewesen, die Henning in seinen Bann gezogen hatte. Sein Ex war selten schlecht gelaunt, ging auf Leute oder aber Probleme offen zu und verstand es auch andere mitzureißen und von etwas zu überzeugen, was sie vielleicht am Anfang gar nicht wollten. Es war ihnen aber wohl nur noch nicht richtig klar gewesen, dass sie es auch wollten. Wozu sollte Henning sich zum Beispiel ein Hemd kaufen, wenn Polo-Shirts auch reichten? Okay, das Hemd sah schon schicker aus und machte einen auch sexy. Zumindest hatte Henning das so in Erinnerung, weil Karsten es ihm später ziemlich schnell wieder vom Leib gerissen hatte, bevor sie ... etwas nicht jugendfreies getan hatten. Oh man, sie hatten echt viel Sex gehabt. Aber sie waren ja auch kein altes Ehepaar gewesen. Beide erst Anfang dreißig. Da ließ man es eben noch so richtig krachen, ging auf Partys und machte auch schon mal eine Nacht durch - wenn Henning denn man frei hatte. Obwohl es dann eher Karsten war, der am Ende nach Hause wollte - weil er todmüde war und nur noch ins Bett wollte. Kein Augenzwinkern, wie in den Fällen, wo sie Hennings Eltern besucht hatten, und sein Ex vorgeschlagen hatte, ein Mittagsschläfchen zu halten. Zum Glück waren die Wände in seinem Elternhaus dicker, auch wenn das Risiko bestand, dass seine Eltern mittendrin hätten reinplatzen und sie inflagranti erwischen können. Klugerweise taten sie das nie. Sonst wäre es ziemlich peinlich geworden - für alle. Das wusste Henning aus eigener Erfahrung. Ihm war das mal passiert wenn auch noch zu Teenagerzeiten. Ja, da hatte sein Vater nicht schlecht geguckt und schleunigst das Weite gesucht. Sie hätten aber auch gar nicht da sein sollen. Hennings Eltern wollten doch zu einer Tante. Oh man, war das peinlich gewesen, so mit heruntergelassenen Hosen erwischt zu werden - etwas, das Henning eigentlich gerne verdrängte, so wie er sich gar nicht vorstellen wollte, was seine Eltern in ihrem Schlafzimmer anstellten, als sie noch jünger, viel jünger waren.
Wo Henning aber gerade an seine Familie dachte: er vermisste sie, und es tat ihm leid, dass er Weihnachten diesmal nicht bei ihnen sein konnte. Erst zwischen den Tagen würde er es schaffen, sie zu besuchen. Er würde also das köstliche Essen seiner Mutter verpassen und auch nicht seine Geschwister samt seiner Nichts vorher sehen. Außerdem würden sie zu Weihnachten noch keine Geschenke von ihm bekommen. Die Post hatte zwischenzeitlich gestreikt, und Henning hatte es wegen der Arbeit leider nicht vorher geschafft, die gesammelten Geschenke rechtzeitig abzuschicken. Mittlerweile wurden die Pakete und Päckchen zwar wieder ausgeliefert, aber die hatten sich in der Vorweihnachtszeit wohl zu Bergen in irgendwelchen Lagern aufgetürmt. Sein Vater war da klüger gewesen, und deshalb lag bei Henning zuhause bereits ein kleines Päckchen im Wohnzimmer, dass er aber nicht vor dem Weihnachtsabend aufmachen durfte. Wie gemein von seinem alten Herren, kam es für seinen Sohn doch einer Folter gleich es nicht vorher öffnen zu dürfen. Natürlich hätte sein Paps es nie erfahren, wenn Henning sich nicht an seine Anweisung gehalten hätte. Dennoch blieb er standhaft, um wenigstens etwas zu haben, woran er sich an Weihnachten freuen konnte. Ansonsten hätte es ihm aber auch gereicht, wenn er das Geschenk bei seinem Besuch bei ihnen bekommen hätte. Das kam für seine Erzeuger aber gar nicht in Frage. Weihnachten ohne Geschenk - das ging aus ihrer Sicht gar nicht. Schon schlimm genug, dass ihr Sohn in diesem Jahr auf einen Weihnachtsbaum verzichtet hatte. Henning hatte aber kein großes Verlagen oder aber einen Grund gesehen einen zu kaufen und aufzustellen. Für wen denn? Für ihn alleine, wenn er bei der Arbeit war oder zwischen den Tagen bei seinen Eltern? Karsten war es die letzten Jahre zu verdanken gewesen, dass ihre oder eigentlich ja seine Wohnung einem kleinen Winterwunderland geglichen hatte. Da gab es nicht nur immer einen riesigen Baum, der bis knapp unter die Decke ging und beinahe vor Baumschmuck zusammenbrach. An die viele Lichterketten darin wollte Henning gar nicht erst denken. Damit hätte man wahrscheinlich ihre halbe Innenstadt beleuchten können. Aber nein, das reichte seinem Ex natürlich nicht, bei weitem nicht. Eine andere Fußmatte musste her, ein Kranz an die Tür, auf ihrem Flur ein Weihnachtsgedeck. Aber auch in der Küche, selbstverständlich im Wohnzimmer aber auch in ihrem kleinen Schlafzimmer standen überall Kerzen oder allerlei andere Weihnachtsdeko verteilt. Dabei hätte Henning auch ein Mistelzweig über dem Bett gereicht. Sein Ex hatte sogar Zahnpasta mit Zimtgeschmack gekauft, Bratapfelmarmelade und andere Köstlichkeiten, wie er leider zugegeben musste. Karsten war ein wahrer Deko-Engel, und Henning befürchtete, dass er ihm das nie richtig gesagt hatte. Stattdessen hatte er sich mitunter darüber lustig gemacht und seinen Ex damit aufgezogen. Er hatte ihn frech gefragt, ob das nicht vielleicht ein klitzekleines bisschen zu viel wäre - mit dem Ergebnis, dass es ihm nächsten Jahr nur noch mehr wurde. Es grenzte fast an ein Wunder, dass die ganzen Sachen am Anfang jeden neuen Jahres wieder spurlos verschwunden waren - fast genauso, wie sie aufgetaucht waren.
Egal, was Henning aber auch immer gesagt oder getan hatte, geliebt hatte er es doch, wenn er in dieser dunklen und kalten Jahreszeit nach Hause kam und Karsten dort auf ihn gewartet hatte. Mitunter in einer geringelten Leggings, einen Schlabberpulli und albernen Elfenohren hatte er schon sexy ausgesehen. Zum Glück dudelte auch nicht die ganze Zeit bei ihnen zu Hause Weihnachtsmusik wie auf den Weihnachtsmärkten oder in den Geschäften zu dieser Zeit des Jahres. Gegen den Geruch von selbstgebackenen Keksen hatte Henning hingegen nie etwas einzuwenden gehabt. Zusammen auf dem Sofa zu lümmeln, bei Kerzenschein und einen Weihnachtsstreifen im Fernsehen zu gucken, hatte allerdings auch was gehabt. Um so schwerer viel es Henning stets, seinen Schatz in dieser Zeit zu verlassen, weil er zur Arbeit musste. Er wäre auch viel lieber bei ihm geblieben, vorzugsweise im Bett, um an Karstens Rute zu spielen oder dessen Glöckchen zum klingen zu bringen. Aber das war nun eben leider alles nicht immer möglich. Aus und vorbei. Er musste sich damit abfinden. Vorher war er sich oft wie ein Spielverderber oder gar wie der Grinch vorgekommen. Er wäre auch lieber bei Karsten gewesen, hätte gerne einen Bummel durch die weihnachtlich geschmückte Innenstadt gemacht oder wäre mit ihm und ihren Freunden über den Weihnachtsmarkt geschlendert. Wann immer er das konnte, war er jedoch dabei, und alleine dürfte sich Karsten eher selten gefühlt haben. Es war aber wohl etwas anderes die ganze Zeit von Freunden und Bekannten umgeben zu sein als mit seinem Liebsten zu verbringen. So hatte Henning das vorher gar nicht gesehen. Vielleicht lag das aber auch daran, dass sein Ex immer so viel gelacht und vergnügt ausgesehen hatte, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, Karsten könnte sich einsam fühlen. So war es aber offenbar gewesen. Ach, hätte er Henning das bloß früher und deutlicher gesagt. Obwohl ... das hatte er. Karsten traf also keine Schuld. Soviel gestand Henning zumindest ein. So oder so wäre das Ergebnis jedoch dasselbe gewesen. Er hätte dann nur nicht so ein schlechtes Gewissen gehabt und fragte sich daher, ob er einen Freund überhaupt verdient hatte. Er hatte seinem Ex so viele Versprechungen gemacht und alle gebrochen. Er hatte Besserung gelobt und sich wirklich bemüht, dafür zu sorgen, dass es nicht wieder passierte. Trotzdem hatte er keinen Erfolg damit gehabt. Mit den Konsequenzen musste er nun leben. Er hoffte nur, dass ihn Karsten irgendwann verzeihen konnte und nun ja, dass sie vielleicht sogar Freunde blieben. Das würde Henning zumindest freuen, auch wenn es sicherlich am Anfang komisch sein würde, seinem Ex wieder zu begegnen oder wenn Karsten einen neuen Lover haben würde. Dass er bestimmt lange allein bleiben würde, stand für Henning außer Frage. Dafür war Karsten ein viel zu toller Typ. Aber was machte er sich da für Gedanken? Henning dachte doch nicht wirklich dran, seinen Ex zu verkuppeln, oder? Wie schräg war das denn? Sollte er nicht lieber versuchen, ihn für sich zurückzugewinnen? Nein, der Zug war abgefahren. Er konnte nur Schadensbegrenzung betreiben und hoffen, dass Karsten ihn nicht ganz aus seinem neuen Leben ausschloss. Dank ihrer gemeinsamen Freunde wäre das aber wohl auch nur schwer möglich. Hatten diese doch nach dem offiziellen Aus ihrer Beziehung für keinen von ihnen Partei ergriffen und den anderen als Buhmann dargestellt. Sie hatten nur ihr Bedauern darüber ausgedrückt, weil die beiden so ein schönes Paar waren. Genau "waren". Sie waren zudem beide erwachsen genug, um keinen Rosenkrieg zu starten. Bei ihnen war jedenfalls kein Teller durch die Luft geflogen, und auch keine Schere hatte die Lieblingsklamotten des anderen in Stücke geschnitten. Keiner hatte den anderen betrogen, und das Thema offene Beziehung war auch nie aufgekommen. Oder hätte das vielleicht ihre Beziehung gerettet? Es war müßig darüber nachzudenken. Keiner von ihnen von ihnen wäre Hennings Meinung nach der Typ dafür gewesen. Und an ihrem Sex hatte es ja nun weiß Gott nicht gelegen. Den hatten sie reichlich gehabt, und er war stets geil gewesen. Trotzdem war das nicht genug gewesen, aber auch Händchen halten und tolle Gespräche alleine hätten keinen von ihnen gereicht. Um so dankbarer war Henning für die Zeit, die sie zusammen hatten, und würde sich auch immer gerne daran zurückerinnern, früher oder später, wenn es nicht mehr ganz so weh tat. Das Geschenk, welches er für Karsten zu Weihachten besorgt hatte, würde er ihm daher trotzdem geben, bei nächster Gelegenheit. Wäre ja auch kindisch es ihm vorzuenthalten. Er erwartete hingegen nicht, dass er noch eins von seinem Ex bekam. Er hatte es ohnehin nicht verdient, denn ganz ohne Tränen war ihre Trennung natürlich nicht verlaufen. Das ist aber ganz normal, wenn Gefühle mit im Spiel sind, vornehmlich verletzte Gefühle.
Wo Karsten wohl gerade war. Wahrscheinlich bei seiner Familie, zumindest wünschte sich das Henning für ihn - und dass sie seinem Ex nicht allzu sehr nach ihm ausfragten oder ihm womöglich gar Vorwürfe machten. Dass hätte der Süße einfach nicht verdient. Stattdessen hoffte Henning, dass sie seinen Ex notfalls lieber über ihre Trennung hinweg trösteten. Im Kreis der Familie sollte das wohl möglich sein. Und seine eigene, nun ja, die vermisste er schon, und ihm graute schon davor nach oben in seine leere Wohnung zu gehen, in der niemand auf ihn wartete, und an welcher der Weihnachtsmann dieses Jahr wohl einfach so vorbeigeflogen war, ohne ihm kurz einen Besuch abzustatten. Der Mann war schließlich schwer beschäftigt, auch wenn er nur einen Tag im Jahr arbeiten musste. Der Glückliche. Die Geschenke stellten hingegen doch seine fleißigen Elfen das restliche Jahr her, oder? Stünde ihnen also nicht eher die Anerkennung zu? Vielleicht würde Henning ansonsten im nächsten Jahr mehr Glück haben und von der Liste mit den bösen Jungs wieder gestrichen werden, schließlich hatte er in diesem einem anderen, tollen Jungen, den er eigentlich liebte, das Herz gebrochen. Das tun keine netten und lieben Jungs, oder?
Am Liebsten hätte sich Henning also nur noch zu Hause eingeschlossen und wäre ins Bett, unter die Decke gekrochen. Dann ließ er Weihnachten dieses Jahr eben ausfallen. Wäre das wirklich so schlimm? Zuerst einmal sollte er aber wohl lieber langsam wieder aufstehen. Dank des Frostes war der Gehweg nur leider ziemlich glatt und Hennings Schuhe nicht gerade die rutschfestesten. Da war es Glück im Unglück, dass er nicht hart mit dem Hinterkopf aufgeschlagen war und sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Das wäre die Krönung des Tages geworden. Stattdessen war er auf dem Rasen und auf seinem, wie Karsten ihn mal gestanden hat, ansehnlichen Hinterteil gelandet und lag nun einfach der Länge nach auf dem Rücken da. Etwas Schnee hätte seinen Aufprall zudem noch etwas abgefedert, aber so viel Glück hatte er dann doch nicht. Er hätte dann allerdings behaupten können, dass er bloß einen Schneeengel machen wollte. Wenigstens hatte das keiner gesehen. Es wäre Henning sonst unangenehm in so einer peinlichen Situation erwischt zu werden. Auf der anderen Seite fühlte er sich allerdings auch gerade ziemlich hilflos, aber das war nicht nur der Situation geschuldet. Ach man, alles war derzeit im Argen bei ihm. Vielleicht sollte er daran etwas ändern. Das bevorstehende, neue Jahr wäre eine gute Gelegenheit, in seinem Leben aufzuräumen und etwas zu verändern. Er konnte sich doch einen neuen Arbeitgeber suchen oder aber den Job wechseln? Wie wäre es mit der Arbeit in einer Reha-Klinik oder als Erzieher in einer Kita? Letztere suchten doch auch Personal, und auch wenn die Arbeit mit Kindern sicherlich anstrengend sein konnte, schaute man dabei am Ende doch wohl immer in glückliche Kinderaugen. Ob es wohl auch alleinerziehende, schwule Väter gab? Warum denn nicht? Aber was dachte er denn da? Er war noch nicht so weit, war noch nicht über Karsten hinweg. Vielleicht sollte er sich ansonsten einfach mal eine Auszeit nehmen und für eine längere Zeit verreisen, auch wenn er sich das finanziell kaum leisten konnte. Aber wohin sollte er denn, noch dazu alleine? Mit Karsten zusammen wäre er fast überall hin gefahren aber so. Alleine zu sein war total doof.
"Hey du! Alles okay bei dir?"
Diese Worte aus einer dunklen, fast schon brummigen Kehle ließen Henning vor Schreck erstarren, und ihm wurde zurück ins Gedächtnis gerufen, dass er sich immer noch in einer für ihn ziemlich unvorteilhaften Lage befand. Schließlich ging er nicht dem horizontalen Gewerbe nach wie in einem gewissen, anderen Teil der Stadt.
"Ich hab dich hinknallen sehen. Hast du dir was getan? Soll ich einen Krankenwagen rufen? Du bist doch nicht bewusstlos oder gar tot, oder? Ich hab ja schon von Unfällen gehört, die ziemlich unglücklich geendet haben."
"Nein, keinen Krankenwagen, bitte!", brachte Henning rasch heraus. Das musste er nun nicht haben, seinen Kollegen noch Scherereien zu machen und sich womöglich ihrem Spott auszusetzen. Die andere Bemerkung des Fremden brachte ihn hingegen zum Lachen.
"Wenn ich bewusstlos wäre, könnte ich dir nicht antworten, und wenn ich tot wäre erst recht nicht."
"Stimmt auch wieder. Da bin ich aber froh, mein Hübscher. Aber was liegst du denn dann hier so rum? Hast du gerade nichts besseres vor - am Weihnachtabend? Soll ich dir nicht lieber aufhelfen?"
"Äh, ja gerne. Das wäre sehr nett von dir."
Noch im selben Augenblick beugte sich ein Engel über Henning und rückte damit in sei Sichtfeld. Das war also das Gesicht zu der angenehmen Stimme, die er da vernommen hatte. Der Engel reichte ihm seine Hand, und Henning wollte sie schon ergreifen, bevor ihm ein Gedanke kam. Vielleicht war er mit der Beurteilung seiner Lage doch zu voreilig gewesen. Wann sah man schließlich schon mal einen leibhaftigen Engel? Fuck, dann war sein Sturz wohl doch nicht so glimpflich verlaufen, wie er noch bis gerade eben gedacht hatte? War er doch unglücklich gestürzt und nun, nun ja, tot? Offenbar doch zu früh gefreut. Die Schmerzen, die er verspürte, hätten ihn allerdings eines besseren belehren müssen. Aber das alles war gerade eher zweitranig, da er seinen Blick nicht von dem Engel abwenden konnte, der im Licht der Straßelaterne besonders stark zu leuchten schien. Gleichzeitig musterte dieser Henning besorgt und wartete offenbar darauf, dass dieser endlich seine Hand nahm. Fast hätte Henning sich dabei ertappt "Ja, ich will" zu sagen, denn der Typ war schon ein echter Augenschmaus. Er sah schon ziemlich heiß aussah: markantes Kinn, dunkle Haare und Augenbrauen sowie süße Ohren, soweit Henning das aus seiner Position beurteilen konnte. Dazu ein fester Händedruck, der ihn sicherlich mit einem Ruck hätte wieder auf die Beine holen können, aber zum Glück war der Engel vorsichtiger und half ihm nur langsam wieder auf, bis sich die beiden gegenüber standen.
"Danke Mann."
"Kein Problem, mein Lieber. Sicher, dass bei dir alles okay ist? Vielleicht sollte dich doch lieber ein Onkel Doktor durchchecken. Kann doch nicht schaden, oder?"
"Du bist nicht zufällig einer, oder?"
"Nee, sorry. Da muss ich dich leider enttäuschen."
"Schade, aber hätte ja sein können. Wie heißt du eigentlich, mein Engel und Retter in der Not?"
"Uih, da geht aber jemand ran, aber okay. Ich heiße Roman, und du?"
"Henning. Freut mich dich kennenzulernen."
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Du machst ja Sachen. Legst du dich öfter auf der Straße hin oder bloß um Typen kennenzulernen."
"Weder noch. Es war wirklich ein Unfall. Einmal reicht mir auch schon vollkommen, obwohl ... wenn ich dann immer solche Engel wie dich kennenlerne."
"Das würde dir gefallen?"
"Nicht wirklich. Aber seit mein Freund mit mir Schluss gemacht hat ..."
"Oh, das tut mir leid zu hören."
"Schon okay. Es war ja meine Schuld. Aber bevor du jetzt gleich schlecht von mir denkst: Nein, ich bin ihm nicht untreu oder so geworden. Ich hab wohl nur zu oft etwas falsch gemacht."
"Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Single zu sein ist aber echt ätzend. Das kenne ich aus eigener Erfahrung. Leider."
Nachdem Roman ihn zuvor noch immer gesorgt angesehen hatte, trübten nun offenbar schlechte Erinnerungen seinen Gesichtsausdruck. Wirklich schade, denn das Lächeln stand ihm viel besser. Henning musste etwas tun. Schließlich war es seine Schuld, dass er seinen Ex erwähnt hatte.
"Wie kann ein Engel wie du denn Single sein? Haben die anderen da oben bei euch denn Tomaten auf den Augen?"
"Wie meinst du das denn mit da oben?"
"Na im Himmel. Da kommst du doch bestimmt her. Oder bist du etwa ein gefallener Engel?"
Roman verdrehte kurz die Augen, bevor er aber nicht mehr an sich halte konnte und laut lachen musste.
"Oh man, der Anmachspruch war jetzt aber echt schlecht. Hattest du damit jemals Erfolg? Ich hoffe doch nicht."
"Hey, das war mein Ernst!"
"Ja klar, und das soll ich dir jetzt glauben. Tztztz. Männer!"
"Tut mir leid. Ich wollte nur ..."
"Mich zu dir einladen, um mir deine Briefmarkensammlung zu zeigen, oder wie?"
"Nein. So etwas besitze ich gar nicht. Aber hey, du siehst aus wie ein Engel, du benimmst dich fast wie ein Engel, bist so nett und hilfsbereit. Da dachte ich ..."
"Du musst schlimmer gestürzt sein, als ich dachte. Vielleicht sollten wir doch den Notarzt rufen." Roman musste offenbar erneut die Angst in Hennings Augen aufblitzen gesehen haben, bevor er weiter sprach. "Okay, dann nicht, auch wenn ich denke, dass es besser wäre. Du musst es aber ja wissen. Bist schließlich alt genug. Um aber auf das andere zurückzukommen: Das ist nur ein Kostüm. Hast du das nicht bemerkt? Zum Beispiel den Draht an meinem Heiligenschein? Ja, genau der. Ansonsten hätte ich mir den wohl auch nicht verdient. Ich bin zwar auch kein Teufelchen, aber es gibt Dinge, die ich schon getan habe, auf die ich im Nachhinein selbst nicht stolz bin. Das kannst du mir glauben."
"Ach ja? Was wäre das denn zum Beispiel?"
Kurz schien Hennings gegenüber gewillt zu sein, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Er öffnete bereits seinen süßen Mund und wollte wohl schon etwas sagen, bevor er sich eines besseren besann.
"Netter Versuch, aber ich werde dir doch nicht hier so einfach von meinen Fehltritten erzählen. Wir kennen uns doch gar nicht richtig."
"Schade. Das ließe sich aber ändern, oder? Natürlich nur, wenn du magst."
"Vielleicht. Kommt drauf an, was du heute noch vorhast."
"Nicht viel, aber ich weiß nicht. Geht das jetzt nicht ein bisschen zu schnell? Nun gehst du ganz schön ran."
"Blödi. So war das nicht gemeint. Für was hältst du mich denn? Ich war nur gerade auf dem Weg zu einer Weihnachtsparty bei Freunden. Daher auch das Kostüm. Falls Du Lust hast, kannst du gerne mitkommen. Niemand sollte schließlich an Weihnachten alleine sein."
Von so viel Freundlichkeit war Henning ganz überwältigt. Roman kannte ihn doch gar nicht, und bisher hatte er sich ihm auch nicht unbedingt von seiner besten Seite gezeigt. Hoffentlich dachte der B-Engel nicht allzu schlecht von ihm. Hätte er ihm dann überhaupt das Angebot gemacht? Dennoch zögerte Henning es anzunehmen.
"Ich, äh, habe gar kein Kostüm, und deine Leute kennen mich doch gar nicht. Sicher, dass es okay wäre, wenn du einen wildfremden Typen mit auf die Party schleppst?"
"Erstens ist das keine Kostümparty, aber ich dachte, so wäre es witziger. Ein paar andere wollten sich auch verkleiden. Also stehe ich dann wenn nicht alleine blöd da, und was das andere betrifft: so oft schleppe ich nun auch keine gutaussehenden, wildfremden Typen an. Das sollte ich aber vielleicht. Ich wollte dich aber zu nichts überreden. Ich hätte total Verständnis dafür, wenn du meine Einladung ablehnst."
"Nein, so war das nicht gemeint. Okay, wenn das so ist, nehme ich sie gerne an. Sooo schnell wirst du mich nicht wieder los."
"Das freut mich. Ich hätte dich sonst nach deiner Nummer gefragt, um mich im neuen Jahr mal so mit dir zu treffen. Keine Angst. So ein Engel bin ich dann auch nicht."
Roman sagte das mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen, während er immer noch Hennings Hand hielt, ohne dass einer von ihnen das bemerkte oder beenden wollte. Stattdessen machten sie sich zusammen auf dem Weg zu der Party.
Texte: Autor
Bildmaterialien: Freepik/Flaticon
Cover: Autor
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2023
Alle Rechte vorbehalten