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Kurzgeschichte

Signore Roma war schon ein recht komischer Lehrer, und das meine ich nicht im positiven Sinne, nicht unbedingt der normale, übliche Pauker, den man sonst kennt. Vor ein paar Wochen kam er an unsere Schule als Teil eines Austauschprogramms. Abgesehen von Latein und nebenbei italienisch unterrichtet er noch Geschichte und Sozialkunde. Wie nicht anders bei seinem Namen zu erwarten war, hatte er zudem eine Vorliebe für römische Geschichte, über die er stundenlang reden könnte, als wäre er damals selbst dabei gewesen, hätte Cäsar oder gar Romulus und Remus persönlich gekannt. Aber das ist natürlich vollkommener Blödsinn. Das wissen wir Schüler und hoffentlich auch er, und trotzdem macht es ihn großen Spaß, darüber zu reden. Was sein anderes Lieblingsthema betrifft und für mich bloß ein Nebenfach darstellte, hatte er schon in seiner erste Stunde davon den ganzen Kurs in helle Aufregung versetzt. Er hatte nicht einfach nur die Sitzordnung geändert sondern auch gleichzeitig jedem Schüler eine Mitschülerin zuordnete, damit sie quasi ein Pärchen werden sollten - zumindest auf dem Papier, als Sozialkundeprojekt. Jede Zweiergruppe sollte dabei ein Tagebuch führen, wie es so in ihrer Beziehung lief, was toll dabei war und was weniger rund lief. Das bedeutete auch, dass wir uns hin und wieder treffen und miteinander reden mussten. Für mich war das vergeudete Zeit. Ich verstand den Sinn und Zweck des Ganzen nicht. Wie sollte mich denn das auf mein geplantes Mode- und oder Design-Studium vorbereiten? Meine Projektpartnerin, Sylvia, war zwar sehr nett und ich verstand mich gut mit ihr, aber mehr war da auch nicht. Sie liebäugelte meiner Meinung nach aber auch mit einem anderen Schüler aus unserer Klasse, traute sich aber scheinbar nicht, ihm das zu sagen. Vielleicht sollte ich sie dazu ermutigen, ohne dass ich eifersüchtig werden würde und am Ende wie der gehörnte Freund von ihr dastand. Andere aus dem Kurs hatten da mehr Glück und den oder die Partner*in abgekriegt, mit dem oder der sie wirklich schon in Echt zusammen waren. Wie hatte das Signore Roma allerdings wissen können? Bloßer Zufall wahrscheinlich. Der Rest von uns machte das Beste draus und erfand einfach lustige Geschichten. Ein paar davon wurden jedoch auch kleinere Dramen, wenn ein Junge einem anderen Mädchen in der Pause schöne Augen machte oder wenn eins der Mädels mit einem anderen Burschen in einer eindeutigen Situation auf dem Schulhof oder nach dem Unterricht erwischt wurde. Da wurde dann auch schon mal offiziell die Scheidung eingereicht. Nicht dass es mich groß interessierte hätte. Zum Glück hatten Sylvia und ich keine Probleme in diese Richtung. Stattdessen hatte ich ihr bereits zu Beginn des Projektes versprochen, nicht mehr von ihr zu wollen. Mit einem Seufzen hatte sie das kommentiert, was mich doch verwundert und fast aus dem Konzept gebracht hätte. Ihr musste doch klar sein, dass das alles nicht echt war, oder? Klar, aber der Grundgedanke des Projektes war doch romantisch, oder? Ja schon. Sicher. Da konnte ich ihr nicht widersprechen und fragte mich, ob ich der einzige Junge im Kurs war, der so wenig romantisch war, während sich einige der Girls so richtig in das Projekt hineinsteigerten und ihrem verehrten, geliebten Partner dann auch schon mal in aller Öffentlichkeit eine Szene machten, weil er ihr Wochenjubiläum vergessen hatte oder nicht an ihren Geburtstag gedacht und folglich auch kein Geschenk für sie dabei hatte. Oh man, Mädchen können ja so anstrengend sein. Vielleicht wollte ich daher auch von keiner was. Ich war aber bestimmt nur noch nicht der Richtigen begegnet, um mit ihr eine Familie zu gründen und zusammen alt zu werden. Das mit der Familie konnte allerdings in der Realität gerne noch etwas warten. Da waren meine Eltern und ich uns ausnahmsweise mal einig, während sie mich ansonsten dazu ermutigten, mal am Wochenende raus zu gehen, ins Kino vielleicht oder mich mit Freund*innen zu treffen. Sie sahen es nicht gerne, dass ich so oft über meinen Schulbüchern saß, andere Sachen las oder so viel lernte. Das konnte ihrer Meinung nach doch nicht gut sein. Sie verstanden mich aber leider nicht. Wenn ich schon etwas vorarbeitete, hatte ich es später leichter, würde hoffentlich schneller durchs Studium kommen und danach einen gutbezahlten Job finden. Das war nämlich mein Plan. Für die Liebe hatte ich später immer noch genug Zeit. Ich war doch erst 16. Selbst wenn ich mit 26 heiraten würde, war das noch früh genug, um ein Nest zu bauen und für Nachwuchs zu sorgen, oder? Das klang doch gut, vernünftig, oder? Wieso musste also Signore Roma das alles kaputtmachen? Wollte er mich ärgern oder für etwas bestrafen? Wenn, dann wusste ich nicht, was es war. Oder fand er das einfach witzig? Machte er sich einen Spaß daraus, mich zu quälen? Andere aus meiner Klasse etwa auch? Bisher hatte mich das aber nicht betroffen. Bis zu jenem Dienstag. Es war allerdings nicht irgendein Tag nach einem Montag, den Schrecken jeder Woche. Nein, es war der 14. Februar, und wir alle wissen, was das heißt. Der romantischste Tag des Jahres!? Überall Rosa und Rot. Liebe liegt in der Luft, zumindest wenn man den Süßigkeitenherstellern, Juwelieren und Blumenhändlern Glauben schenkte. Bereits in der ersten Stunde bei ihm nahm das Drama sozusagen seinen Lauf, auch wenn ich es zuerst nicht kommen sah und das eine oder andere verliebte Paar um mich herum geflissentlich ignorierte. Signore Roma tauchte hingegen mit einem neuen Mitschüler im Schlepptau auf, der so anders war, als alle Jungs, die ich bisher kannte. Mit seinem dunklen, engen Rollkragenpulli sah er schon recht ... elegant und interessant aus. Drüber trug einer eine ziemlich kurze Jeansjacke, die nicht mal den unteren Teil seines Oberteils darunter bedeckte. Sein Pulli war zwar auch nicht besonders lang - oder seine Hüftjeans mit Schlag saß zu tief. Jedenfalls gab er so einen schmalen Streifen seines schlanken Körpers frei. WOW. Das sah schon ziemlich ... cool aus, obwohl mir in dem Moment eher heiß wurde. Hatte da etwas jemand an der Heizung rumgespielt? Der Wuschelkopf des Neuen war zudem bestimmt Absicht, und was sah ich da? Trug er etwa einen Ohrring und einen kleinen Nasenstecker auf der anderen Seite? Das hatten ihm seine Eltern erlaubt? War das nicht verboten? An ihm sah das allerdings verdammt gut aus. Unsicher stand er neben Signore Roma und ließ seinen Blick durch den Klassenraum schweifen - sicherlich auf der Suche nach einem freien Platz. Dabei sah er mich kurz an, und es traf mich wie einen Blitz. Er sah so gut aus, verboten oder zumindest verdammt gut. Trug er etwa Make-up um die Augen? Sie waren drum herum so dunkel wie die Nacht, während das Weiße in ihnen um so klarer zum Vorschein kam. Darin glänzten ferner zwei hellblaue Seen, die kurz auf mich gerichtet waren, während er sich ein Lächeln abrang. Nur für mich? Das bildete ich mir zumindest ein, bevor dieser kurze Moment auch schon wieder vorbei war und ich verlegen meinen Blick senkte. Um so mehr spitzte ich meine Ohren, als unser Lehrer den Namen unseres neuen Mitschülers verkündete: Dawid. Wie schön, etwas ungewöhnlich, aber er passte gut zu ihm. Bloß seine Zurückhaltung und Unsicherheit schien nicht zu ihm zu passen. Vielleicht war er aber auch einfach nur scheu - so wie ich. Einigen Mädchen aus der Klasse schien er jedenfalls sehr gut zu gefallen. Sie flirteten prompt mit ihm und boten Dawid einen Platz neben sich an, was ich ehrlich gesagt etwas peinlich fand, ziemlich aufdringlich und oder billig. Ein anderer Junge aus der Ecke vom Fenster fragte ihn hingegen unverblümt und direkt heraus, ob er schwul wäre und bekam ein leises aber deutliches Ja als Antwort darauf von ihm zu hören. Das brach dem einen oder anderen  Mädel im Raum das Herz, während ein Raunen durch die Klasse ging. Signore Roma unterband es jedoch im Keim und wollte nicht, dass wir Dawid deshalb mobbten oder dergleichen. Wir sollten ihn ganz normal behandeln. Das war er doch schließlich auch. Mehr wollte Dawid auch gar nicht, wie er uns selbst versicherte, bevor er auf einem freien Stuhl Platz nahm und sich den Rest der Stunde ruhig verhielt. Die Augen einiger Mitschüler*innen waren trotzdem noch eine Weile auf ihn gerichtet, bevor sie sich wieder auf den Unterricht und Signore Roma konzentrierten. Ich versuchte letzteres auch, aber es gelang mir kaum. Ich schielte immer wieder zu unserem neuen Mitschüler, der jedoch eisern nach vorne blickte und sich wie andere auch Notizen machte.

Als es zur ersten Pause klingelte, wurde Dawid von vielen Mitschülerinnen und Mitschülern umringt. Unser Lehrer blieb noch eine Weile, um das zu beobachten. Als er jedoch erkannte, dass niemand dem Neuen etwas böses wollte, machte er sich wohl auf den Weg ins Lehrerzimmer. Ich packte währenddessen meine Sachen und verließ ebenfalls den Raum, um zum nächsten Unterricht zu gelangen. In der Tür blieb ich allerdings noch mal stehen und riskierte einen Blick über meine Schulter, aber die anderen hatten Dawid immer noch in Beschlag genommen. Hilfesuchend sah er sich um, aber ich konnte ihm da wohl kaum rausholen, so sehr ich es auch wollte. Er war schwul und scheinbar auch echt cool. Ich war es nicht. Und selbst wenn ... Nein, ich verbot mir weiter darüber nachzudenken. Auf dem Flur lief ich, abgelenkt wie ich war, stattdessen fast in unseren Lehrer rein. Ich hatte ihn echt nicht gesehen und er mich offenbar auch nicht, oder was sollte das?

"Alles okay bei dir, Lucas?"

"Ja klar, Signore Roma. Alles bestens. Tut mir leid, dass ich sie nicht gesehen habe."

"Ja, das kenne ich. Für einige bin ich sogar unsichtbar. Was machst du denn hier? Schon auf dem Weg zum nächsten Unterricht? Fleißig, fleißig. Aber wieso alleine? Wo sind denn die anderen?"

"Bei Dawid, unserem Neuen."

"Netter Junge, oder?"

"Ja. Ich denke auch. Aber ich kenne ihn ja noch gar nicht weiter."

"Aber das würdest du gerne?"

Die Frage unseres Lehrers irritierte mich. Vielleicht war das aber genau Signore Romas Absicht gewesen - warum auch immer. Er lachte nämlich daraufhin nur und ließ mich irritiert zurück. Was sollte das denn heißen? Was wollte er denn damit sagen oder andeuten?

Ich versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, als es zur nächsten Stunde klingelte. Der Rest der Klasse kam natürlich zu spät, während Dawid die beste Entschuldigung von allen hatte: er war schließlich der Neue und kannte sich in der Schule noch nicht so gut aus. Natürlich. Zwei Mädels hatte währenddessen in Mathe Platz zwischen sich gemacht und Dawid den freien Stuhl zwischen sich angeboten, den er notgedrungen annahm. Er bedankte sich dennoch bei den beiden dafür und quatschte nebenbei mit ihnen, während er mich kaum beachtete - weder im Unterricht noch in der Pause danach. Keine Ahnung, warum mir das nicht egal war. Ich war schließlich nicht ... Warum interessierte es mich dennoch, was ein anderer Junge für Klamotten trug? Ich selbst war für meinen etwas eigenwilligen Stil ansonsten schon bekannt, da ich gerne mal ein Oberteil meines großen Bruders trug, das mir meist viel zu groß war und auf halb acht hing, also in der Regel bloß über eine meiner Schultern. Ich fand das cool, war damit aber wohl der einzige in meiner Klasse wenn nicht gar auf der ganzen Schule. Abgesehen davon beachteten mich die anderen Jungs weniger und brachten nur mal hier und da einen dummen Spruch. Damit konnte ich aber leben, und ich vermied es tunlichst, die Klamotten eines anderen Typen zu kommentieren. Von Stil zeugten die leider selten, was entweder auf die Jungs selbst oder aber auf einen echt lausigen Geschmack ihrer Mütter zurückzuführen war. Aber wie gesagt, ich hielt mich da mit meiner Meinung zurück. Zu viel Ablenkung war zudem nicht gut. Dawid war da ganz anders. Er hatte echt Stil und schien nicht nur den von anderen zu kopieren. Ich konnte ihn mir auch gut in ein paar Jahren als Model vorstellen, der über die Laufstege dieser Welt - in New York, Paris, London oder Mailand laufen würde. Sicherlich ein schönes und aufregendes aber wohl auch anstrengendes Leben. Aber ich träumte schon wieder mal vor mich hin. Nicht dass ich mir so ein Leben für mich selbst wünschte, aber Mode zu entwerfen war schon cool. Das wollte ich machen. Irgendwann. Die Basics hatte mir meine Mutter gezeigt, und mittlerweile konnte ich auch mit ihrer alten Nähmaschine umgehen - besser als sie sogar. Wo immer ein Loch zu stopfen war oder eine Naht locker saß, war fortan ich gefragt. Aber ich wollte mehr, viel mehr. Ein Traum eben, als ich draußen auf dem Pausenhof saß und in den Himmel blickte, der an diesem Tag so schön blau und klar war wie die Augen eines gewissen Jungen. Oh man, ich sollte lieber nicht weiter an ihn denken. Wie erwartet, sah ich hingegen wenig später an diesem Tag Signore Roma über den Platz laufen, weil er es im Lehrerzimmer oft nicht aushielt oder weil er mal wieder sein Feuerzeug vergessen hatte. Dann lieh er sich gerne eins bei den älteren Schülern in ihrer Ecke des Schulhofs, um eine zu rauchen. Bei seinem ersten Erscheinen hatten sie echt Angst gehabt, dass er ihnen eine Standpauke halten würde. Mittlerweile hatten sie sich jedoch an ihn gewöhnt, und er hatte sie noch nie verpetzt.

"Cooler Lehrer, dieser Roma, oder?"

Ich erschreckte mich, als ich eine Stimme neben mir hörte, während ich unserem Pauker nachsah. Als ich mich umsah, blickte ich in Dawids Augen und nickte, aber er schien mehr zu erwarten.

"Ja, da hast du recht. Er ist schon echt toll, etwas sonderbar, aber jeder von uns ist das wohl auf die eine oder andere Art. Wer will schon normal sein, oder?"

"Ach, etwas normal ist schon okay. Aber man sollte es damit nicht übertreiben."

"Da hast du wohl recht. Willkommen übrigens an unserer Schule. Ich bin Lucas."

"Dankeschön. Freut mich, Lucas. Ich dachte schon, du hättest mich gar nicht bemerkt." Was sollte das denn heißen? Natürlich hatte ich das. Im Unterricht, oder meinte er jetzt gerade? Wie konnte ich ansonsten nicht? "Du scheinst ja oft deine Nase in die Schulbücher zu stecken."

"Kann sein. Du scheinst dich aber auch auf den Unterricht zu konzentrieren, oder?"
"Es lenkt mich von den Blicken der anderen ab. Die bin ich zwar gewöhnt, aber an einer neuen Schule ist es natürlich noch mal wieder etwas anderes."

"Das glaube ich dir. Ich fand es cool, wie offen und ehrlich du warst. Du hast zwar die Hoffnung einer Mädels damit zum Platzen gebracht, aber dafür kannst du ja nichts. Ich denke trotzdem, dass Du noch einige Fans in der Klasse hast. Wo sind die denn gerade?"

"Ich konnte sie zum Glück endlich mal abschütteln. Und danke für die anderen Komplimente. Findest du echt? Ich dachte bloß, ich sag es lieber gleich. Früher oder später kommt es eh raus, und so weiß ich gleich, wer damit klarkommt und wer nicht. Wie sieht es denn bei dir aus?"

"Äh, wie meinst du das denn?"

"Ach nur so. Hast du derzeit eine Freundin oder hattest du schon mal eine?"

"Offiziell gehe ich mit Sylvia.", kurz veränderte sich Dawids Gesichtsausdruck, verlor seinen Glanz. Aber er fing sich schnell wieder, und ich konnte auch nicht sagen, wie er zwischendurch dreingeblickt hatte, "Aber das ist nur ein Schulprojekt. Sozialkunde. Wirst du heute Nachmittag noch merken. Mal sehen, mit wem dich Signore Roma verkuppeln wird."

"Ach so meintest du das. Verstehe. Na, da bin ich dann auch mal gespannt. Gegen einen neuen Freund hätte ich eigentlich gar nichts einzuwenden. Mal sehen, ob mir Signore Roma den Gefallen tut."

Ich wusste es natürlich auch nicht. Auf Anhieb fiel mir aber auch keiner meiner Mitschüler ein, der dafür in Frage kam. Viel überraschender war zudem der Gedanke, dass ich mir keinen anderen an Dawids Seite vorstellen wollte. Zum Glück hatte ich jedoch keine Zeit mehr, um genauer darüber nachzudenken, was das bedeuten konnte, denn die schrille Schulklingel rief uns zum Unterricht. Ich würde zu spät kommen. Mist. Ich hatte während des Gesprächs mit Dawid ganz die Zeit vergessen. Ich wollte schon aufspringen und losrennen, als ich seine Hand auf meiner Schulter spürte, was mich innehalten ließ.

"Bitte warte. Nimmst du mich mit? Ich hab noch keinen Plan von eurer Schule, und ich möchte mich ungern verlaufen. Kannst du mir also zeigen, wo es lang geht?"

Klar konnte ich das. Gern sogar, wenn er es wollte und mich dafür unendlich dankbar ansah. Zusammen sprinteten wir daraufhin los, um natürlich zu spät zu Latein zu kommen. Alle in der Klasse schauten auf uns, als wir den Raum betraten - bevor Signore Roma wieder mehr Aufmerksamkeit von uns allen verlangte. Er plapperte halb in lateinisch und halb auf italienisch, was um so schwieriger zu verstehen war, für ihn aber kein Problem darstellte, und vielleicht wollte er ja auch gar nicht verstanden werden. Was unser spätes Erscheinen betraf, drückte er zum Glück ein Auge zu und hielt der ganzen Klasse stattdessen einen kleinen Vortrag, diesmal glückerlicherweise auf Deutsch, dass italienisch die Sprache der Liebe wäre, nicht französisch, weil die Römer äh Italiener viel leidenschaftlicher wären. Er schwärmte uns danach noch eine ganze Weile weiter von Bella Italia vor - von Latium, der Lombardei oder so ziemlich jeder anderen Ecke des Landes. Das Gute daran war, dass der Unterricht schneller verging und nicht langweilig war. So klingelte es bereits nach gefühlt nur ein paar Minuten wieder, was unseren Lehrer vorne gar nicht gefiel. Entweder hätte er uns gerne noch mehr über seine Heimat erzählt, oder er wollte ungern die Mittagspause im Lehrerzimmer verbringen. Verübeln konnte ich ihm letzteres nicht. Ich machte mich auf den Weg in unsere Schulkantine, um etwas zu futtern, und wollte danach an meinen Lieblingsplatz in der Bücherei, direkt am Fenster mit Blick auf den Schulgarten. Dort sah ich jedoch schon von Weitem jemanden sitzen. Na prima. Bei näherem Hinsehen bemerkte ich zudem, dass es Dawid war, der sich dort breitgemacht hatte. In seiner Hand hielt er ein Buch, aber er las nicht darin sondern hatte es her auf seinem Schoß liegen und schaute stattdessen nach draußen. Ich überlegte kurz mich umzudrehen und wieder zu gehen, um ihm die Ruhe zu gönnen, welche er vielleicht suchte, aber so ganz wollte ich auch auf meinen Platz nicht einfach verzichten. Verscheuen wollte ich ihn jedoch auch nicht. Ich näherte mich daher unserem neuen Mitschüler und räusperte mich leise, als ich diesmal neben ihm auftauchte. Er sah mich an, schien noch im Gedanken zu sein, wenn auch keinen besonders schönen, wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig interpretierte.

"Oh, hi Lucas."

"Hi Dawid. Alles okay bei dir?"

"Was? Ja klar. Wie kommst du sonst darauf?"

"Ach, nur so. Du sahst etwas traurig aus."

"Nein. Nein. Alles gut. Geht schon. Schön dich zu sehen."

"Das freut mich. Und wie gefällt dir mein Lieblingsplatz?"

"Wie bitte? Was? Oh entschuldige. Hab ich ihn dir weggenommen? Sorry. War keine böse Absicht."

Er wollte sich schon erheben und seine Sachen zusammensammeln, als ich ihn beruhigend eine Hand auf die Schulter legte.

"Bleib ruhig sitzen. Wenn es dich nicht stört, würde ich gerne den Platz neben dir nehmen. Wäre das okay für dich? Oder möchtest du lieber allein sein?"

"Nein. Setz dich gerne. Das ist doch das Mindeste, was ich tun kann, wenn ich dir schon deinen Platz geklaut habe."

Statt das weiter auszudiskutieren, ließ ich mich einfach neben ihn plumpsen und begann mich mit ihm zu unterhalten - über seine alte Schule, das Buch, was er gerade privat las (ein Comingout-Ratgeber, wie sich herausstellte). Darüber wollte er allerdings weniger reden, und so plauderten wir über unseren Lehrer. Zudem erzählte mir Dawid, dass er mit seinen Eltern schon oft in Italien Urlaub gemacht und einiges dort gesehen hatte. Nicht nur Rom, die ewige Stadt, auch Florenz, Pisa, Mailand und Neapel. Wirklich ein schönes Land, und ich glaubte ihm das, einfach so, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich hörte ihm fasziniert zu, lauschte seinen Worten, seiner Stimme und hing am Ende an seinen Lippen, zwar nicht wortwörtlich, aber auch das hätte ich gerne. Er schien so begeistert von Italien zu sein, dass ich ihn ungern in seinem Redefluss unterbrach. Zudem sah er mich dabei ab und zu mit seinen strahlenden Augen an, dass ich ohnehin nicht gewusst hätte, was ich sagen sollte. Mir fehlten die Worte, und ich verstand einfach nicht, was mit mir los war. Noch an diesem Morgen war alles gut. Ich wusste, wer ich bin, zumindest hatte ich mir das eingeredet, und dann ... war Dawid auf einmal da. Ich kannte ihn doch kaum, erst ein paar Stunden, und doch schien es mir so, als ob ich ihn schon lange kennen würde. Er war einfach toll und hatte mich einfach mit seiner Art und na ja vielleicht auch seinem guten Aussehen einfach von Hocker gehauen, mich kalt erwischt. Ich hätte das niemals für möglich gehalten.

Nur sehr ungern brachen wir beide am Ende der Mittagspause auf,  bevor der Nachmittagsunterricht begann, und ich zeigte ihm, wo der Sozialkundeunterricht stattfinden würde. Neugierig aber auch mit etwas Sorge im Blick schaute Dawid da drein. Hatte er etwa Angst vor dem Projekt? Ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, hätte aber noch viel lieber seine Hand gehalten, um ihn zu unterstützen oder ihm Kraft zu geben, falls er das wollte oder zuließ. Signore Roma erschien wenig später und schloss den Raum auf, damit wir uns alle auf unsere Plätze setzen konnten. Sylvia konnte ich allerdings nirgendwo sehen. Stattdessen erfuhr ich mit dem Rest des Kurses von einer ihrer Freundinnen, dass es ihr nicht gut ging und sie in der Mittagspause nach Hause gegangen war. Verdacht auf Magen-Darm. Wie unangenehm. Ein Mitschüler witzelte darüber: "Lieber das als Übelkeit am Morgen. Schließlich wissen wir alle, was das bedeutet, oder?"

Ich wäre fast vom Stuhl gefallen. So geschockt war ich darüber. Oh man, war das peinlich. Was bildete sich dieser Typ ein? Was dachte der denn von ihr - oder von mir? Ein Kichern ging durch den Raum. Schön wenn man jemanden findet, über den man sich lustig machen kann, oder? Besser so als wenn man selbst das Ziel des Spottes wird. Ja, Jugendliche in unserem Alter können ja so ... "erwachsen" sein. Damit sich nicht alle noch weiter über mich lustig machten, hätte ich etwas sagen müssen, aber mir fiel nichts schlagfertiges ein. Dawid hingegen schon.

"Hmm, na und wenn? Das würde ja nur bedeuten, dass einige von uns schon mal Sex hatten - im Vergleich zu einigen anderen, oder?"

Das machte den frechen Burschen prompt mundtot. Einige andere sahen zudem etwas schockiert drein. Dawids Spruch hatte gesessen. Die meisten anderen im Kurs fanden ihn hingegen einfach bloß lustig und konnten darüber lachen, und ich wollte gar nicht erst wissen, wie es um Dawids Erfahrungen beim Thema Sex stand. Bevor unserem Lehrer die Situation währenddessen ganz entgleitete, rief er uns zur Ruhe auf und ... wies unserem neuen Mitschüler den leeren Platz neben mir zu. Ich konnte es nicht glauben und Dawid ebensowenig. Er schien jedoch nichts dagegen zu haben und fügte sich ohne Widerworte der Anweisung unseren verehrten und hochgeschätzten Lehrers, der daraufhin endlich mit dem Unterricht anfing. Da Sylvia zudem nicht anwesend war, überging man mich bei den Wochenberichten, so dass ich den anderen bloß zuhören musste. Was die meisten von ihnen sagten, bekam ich jedoch gar nicht mit. Ich saß stattdessen wie unter Strom auf meinem Platz und Dawid erneut direkt neben mir. So nah, und doch traute ich mich nicht mehr zu machen, nicht einen Versuch zu wagen, etwas daran zu ändern. Stattdessen sah ich ihn nur ab und zu verstohlen von der Seite an und schrieb seinen Namen in mein Heft, bevor ich ganz im Gedanken gesunken noch allerlei anderes, kitschiges Zeug drum herum malte wie Blumen, Schmetterlings oder Herzen. Alles Meisterwerke - für den Mülleimer, wie ich dachte und oder hoffte, aber da lag ich falsch. Ich hätte besser aufpassen müssen. Stattdessen blickte ich gegen Ende des Unterrichts in Dawids Augen, die mich frech und wohl wissend angrinsten, während seine Hand unter dem Tisch meine suchte und ich sie ihm nicht vorenthielt. Schon verrückt, wie sich das eigene Leben von einem Tag, von einem Moment auf den anderen ändern kann. Ich wusste zwar noch nicht, was mich dabei erwartete, aber ich war nun bereit dazu, zusammen waren wir das und würden sicherlich auch andere Sachen durchstehen. Da war ich mir sicher.

Nach dem Unterricht verließen wir jedoch erst mal den Raum, aber ich musste noch mal zurück, weil in Dank Dawids bloße Anwesenheit zu abgelenkt war und meine Jacke vergessen hatte. Ich rechnete noch damit Signore Roma anzutreffen, aber von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Es war auch das letzte Mal, dass wir ihn überhaupt an unserer Schule sahen. Stattdessen lagen an jenem Tag bloß ein paar weiße Federn auf seinem Stuhl und ein kleiner Taschenspiegel neben seinem Namensschild auf dem Tisch, was mir fast den Atem raubte. Aber das konnte doch nicht sein, nicht stimmen.

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Texte: Autor
Bildmaterialien: Freepik/Flaticon
Cover: Autor
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2023

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