Cover

Ich weiß nicht, wie viele Spitznamen ich dir in deinen bisherigen 16 Lebensjahren bereits vergeben habe. Den auf dem Buchtitel kennst du wahrscheinlich noch nicht. Warum ich diesen gewählt habe, erzähle ich dir hier.

Kaum zu glauben, dass aus meinem "Pünktchen", so nannte ich dich, als ich dich noch nicht in die Arme schließen konnte, mittlerweile ein Riesenbaby von über 180 cm herangewachsen ist.



Du bist unser Wunschkind, oft nenne ich Dich "Kind der Liebe". Dein geplanter Geburtstermin war der 1. Weihnachtsfeiertag, doch wir wollten Weihnachten schon zuhause sein. Scheinbar warst du schon damals irgendwie auf der Flucht, denn Mitte Dezember konnte ich dich schon in die Arme schließen.

Als Säugling und auch Kleinkind warst du sehr pflegeleicht. Klar, das ein oder andere, machte auch vor unseren vier Wänden nicht halt. Aber rückblickend war es eine super, tolle Zeit und auch nicht so stressig, wie es manch andere Eltern erleben mussten. Und doch dachte ich immer, irgendetwas stimmt nicht. Dein Interesse galt damals den Dinosauriern. Wir sind durch die Geschäfte gewandert und haben Dinos gesucht. Aus den Büchern haben wir dir vorgelesen und du konntest die Namen der schrecklichen Echsen besser aussprechen als wir. Es war teilweise unglaublich, was du dir alles merken konntest.

Selbst im Kindergarten gab es kaum Probleme bis zu dem Tag, als die Einschulung anstand. Plötzlich bat man mich zu einem Gespräch. Irgendetwas stimme nicht mit dir, du könntest dich nicht konzentrieren und wärst häufig abwesend! Hallo??? Warum gerade jetzt? Ich war sauer und habe mich gefragt, warum uns nicht schon eher etwas gesagt wurde. Ich habe damals das Gespräch mit deinem Kinderarzt gesucht. Der sagte aber nur, das verwächst sich wieder!

Zeitgleich entwickelte sich bei dir eine richtige Hundephobie. Auch das verstanden wir nicht, warst du doch hin und wieder mit Hunden zusammen und hast sogar mit ihnen gespielt. Ganz schlimm war es bei den kleinen Hunden. Wir sprachen viel darüber, versuchten dir die Angst zu nehmen, bis ich einmal deinen Herzschlag spürte. Von normal auf doppelt so schnell in 0 Komma nix, stocksteif bliebst du stehen. Viele Hundebesitzer in unserer Straße kannten dich und wechselten die Straßenseite, wenn sie dich sahen. Leider nahm eine Nachbarin keine Rücksicht und dieser kleine Hund machte es uns schwer. Mittlerweile hast du dich zwischen parkenden Autos versteckt, schlimm wurde es als du anfingst, einfach über die Straße zu laufen.

Ich habe dich lange Zeit zur Schule gebracht, klar war das irgendwann uncool, aber wir hatten eine gute Ausrede gefunden. Da ich den ganzen Tag arbeiten ging, haben wir deinen Freunden erzählt, dass wir so ein bisschen mehr Zeit miteinander verbringen konnten.

In der Grundschule fingen dann so langsam die Problemchen an. Häufig bist du aufgefallen, weil du den Unterricht gestört hast. In der dritten Klasse sprach mich dann deine Klassenlehrerin an und teilte mir mit, dass du viel mehr könntest, da aber scheinbar irgendetwas sei, was dich blockiert. Wir sollten doch einmal überlegen, professionelle Hilfe aufzusuchen.

Wir vereinbarten einen Termin bei der evgl. Beratungsstelle. Dein Vater ging mit gemischten Gefühlen mit, weil er zu diesem Zeitpunkt nicht viel von Psychologen hielt. Erst mussten wir alleine hin, haben dort "unsere Hosen" runtergelassen und Hausaufgaben mitbekommen. Es wurden Gespräche mit dir geführt und dann haben sie dich getestet. Ja, mein kleiner Einstein, du hast mit deinen sieben Jahren schon einen überdurchschnittlichen IQ von 105, in manchen Bereichen sogar 130, dafür auch ein paar Defizite, die bei 80 liegen. Und das sei ganz typisch bei ADS.

ADS, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom! Immer mal gehört, aber was ist das? Bekommst du zu wenig Aufmerksamkeit von uns? Also fing ich an Bücher zu wälzen.

Und damit begann für mich eine Art Spießrutenlauf. Deiner Lehrerin teilte ich die Diagnose mit. Sie glaubte nicht daran, da hatte sie ganz andere Kinder in der Klasse, aber nicht du! Ich gab ihr ein Buch zu lesen und musste sie erst einmal aufklären! ADS ohne H, nicht ADHS usw. Nein, er braucht kein Retalin. Jedem, der es hören wollte, habe ich in einfachen Worten versucht zu erklären, was ADS heißt. Es gibt nicht nur die hyperaktiven Kinder, sondern auch die Träumerle. So oft habe ich dem lieben Gott gedankt, dass du ein Träumerle bist, denn alle Familien mit hyperaktiven Kindern haben weitaus mehr Sorgen als wir.

Und nein, du bekommst nicht zu wenig Aufmerksamkeit von uns. Das Problem liegt daran, dass es dir schwerfällt, deine Aufmerksamkeit deiner Umwelt gegenüber so zu filtern oder zu priorisieren, wie es "Normalis" können. Das fallende Blatt vor dem Klassenzimmerfenster oder der flüsternde Kumpel drei Tische weiter, lenkt dich einfach ab. Langfristiges verlierst du aus den Augen.

Irgendwann fiel ich in ein kleines Loch und weinte tagelang. Was habe ich dir nur immer wieder angetan? Habe häufig von dir etwas verlangt, du hast alles gegeben und es war doch nicht gut genug. Seitdem habe ich meine Erwartungen runtergesetzt und ich finde, es klappt ganz gut.



In dieser Zeit entwickelte ich eine Wut auf die Gesellschaft. Durch das Retalin in der Presse entstand ein Schubladendenken und leider sortierten ein paar Menschen auch dich in eine solche hinein. In der Schule kam dann noch die Schublade "Störenfried" hinzu. Lange Zeit habe ich über ADS nicht mehr gesprochen.

Viele Bücher haben mir geholfen. Wir haben einiges umgesetzt, mit Punktelisten gearbeitet, viel darüber gesprochen, bei manchen ein Auge zugedrückt aber niemals ADS als Entschuldigung für etwas gesehen. Wenn man dich kennenlernte merkte man nichts, erst wenn dein Gegenüber länger mit dir zusammen war.

Irgendwann sahen dein Vater und ich eine Reportage über ADS, wir schauten uns an, nickten uns zu ... ja, auch dein Vater hat ADS. Keine Ahnung, ob es vererbbar ist. Manche sagen auch ein traumatisches Ereignis könne dies auslösen. Ursachenforschung interessierte uns nicht, wir wollten daran arbeiten, wie wir als Team miteinander umgehen können. Denn die Rollen hatten sich verschoben. Wieder tat sich ein Loch für mich auf, ich fühlte mich ausgeschlossen. Du und dein Vater seit ein tolles Team und ich bin glücklich Teil von diesem Team zu sein.

Heute weiß ich, dass eine Phobie recht häufig bei ADS vorkommt und Gefahren schlecht eingeschätzt werden können. Wir waren kürzlich auf der Hunde- und Heimtiermesse. Dort hat es vor Hunden nur so gewimmelt und du hast nur noch Respekt aber keine Angst mehr gezeigt.

Ein Buch hat mir sehr geholfen. Darin werden Menschen mit ADS mit Jägern und "Normalis" mit Bauern verglichen. Ein Bauer muss langfristig planen und die Ernte rechtzeitig einbringen, damit es über den Winter hinaus etwas zu essen gibt. Ein Jäger ist ständig auf der Hut, vorsichtig und beschützt sein Dorf. Jeder hat seine Aufgabe im Leben, auch Du!

Du bist ein toller Mensch, herzensgut und einzigartig. Du wirst Deinen Weg noch finden, mein verträumter Jäger!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.05.2010

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