Es ist nichts Neues für mich unbeliebt zu sein. Es ist nichts neues, dass ich auf meine beste Freundin angewiesen bin. Aber es ist neu, dass sie nicht für mich da sein kann, wenn ich sie brauche. Und ich brauche sie eigentlich immer. Ich würde den Schulalltag ohne sie nicht überstehen. Jede Partner- und Gruppenarbeit ist eine Qual wenn ich nicht mit ihr zusammenarbeiten kann. Die Fächer ohne sie sind die schlimmsten Stunden in meinem Stundenplan. Und auch außerhalb der Schule ist sie mein Anker, der mich davon abhält verrückt zu werden. Sie ist einfach immer für mich da, hört mir einfach immer zu und versteht mich meistens auch noch. Ohne meine beste Freundin bin ich ein niemand.
Und jetzt kommen vier Wochen auf mich zu, in denen ich mich ohne Hoffnungsschimmer durch den Alltag quälen muss. Vier Wochen ohne Steffi.
Es ist ja nicht so, dass sie mich freiwillig im Stich lässt, oder so. Nein, Steffi möchte ganz bestimmt nicht vier Wochen in Kur gehen. Für sie bedeutet die Kur vier Wochen ohne mich und ohne ihren Freund Felix. Dafür vier Wochen lang Sport und Gymnastik und zu allem Überfluss auch noch vier Wochen verpasster Stoff in der Schule. Ein Jahr vor dem Abi.
Dem entsprechend schlecht ist unsere Laune in den Wochen vor ihrer Abreise, aber die wenigsten bemerken es. Wie sollen sie es auch bemerken wenn sie und mehr oder weniger ignorieren? der Obwohl ich denke, dass eigentlich irgendwas passieren müsste, läuft die Zeit weiter wie bisher. Weder geht die Welt unter, noch bleibt einfach die Zeit stehen. Und so kommt es wie es kommen muss: Der Tag der Abreise ist da.
Morgens in Deutsch und auch in Geschichte sitzt sie noch neben mir so wie immer. Aber es ist nichts so wie immer. Wir lachen nicht wie sonst. Wir lästern nicht wie sonst. Wir besprechen nicht unsere Probleme wie sonst. Und wir motzen nicht wie sonst. Wir sitzen einfach nur da, nebeneinander und leiden still vor uns hin. Und dann ist es soweit. Kurz bevor unser Englischlehrer um die Ecke biegt nimmt mich Steffi ein letztes Mal in den Arm. Spricht mir ein letztes Mal aufmunternde Worte zu. Dann dreht sie sich um, geht davon und lässt mich allein.
Englisch ist noch schlimmer als sonst. Ich sitze nun allein neben Johannes, der wie immer stinkt und ungepflegt ist. Ich habe niemanden mehr, der mir hilft die langweiligen Stunden zu überstehen. Aber es ist mir egal. Es ist mir alles egal. Mir ist einfach nur nach heulen zu mute. Aber das erlaube ich mir nicht. Diesen Triumpf gönne ich den anderen nicht, auch wenn ich genau weiß, dass kaum einer mitbekommen hat, was geschehen ist.
Kurz bevor ich komplett verzweifle höre ich von links eine Stimme: "Kira, willst du nicht zu uns sitzen? Wir rutschen zusammen!" Jessica sieht mich voller Mitleid an. Sie wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern stellt gleich einen dritten Stuhl an den Tisch und holt meine Tasche zu sich. Also sitze ich bei Jessica und Alex, die sich meiner angenommen haben. Normalerweise haben wir ja nichts miteinander am Hut, aber dieses Schicksal wünschen die Beiden nicht mal mir. Allein Johannes ausgeliefert zu sein... Diese Angst schweißt in unserer Klasse zusammen.
Gutmütig sieht Herr Behnke in dieser Stunde über mich hinweg, er zwingt mich nicht aufzupassen oder mich anzustrengen. Er lässt mich einfach in Ruhe. Von Jessica werde ich alle paar Minuten gefragt, ob es mir wirklich gut geht. Sie scheint sich wirklich Sorgen um mich zu machen. Mal ganz was Neues. Aber ich wundere mich über nichts mehr. Ich sitze einfach nur da und starre vor mich hin. Die Welt ist vielleicht nicht untergegangen um mich zu erlösen, aber meine eigene kleine Welt liegt jetzt in Trümmern da.
Noch am selben Abend rufe ich Stefanie in der Kur an und erreiche sie sofort. Sie hat bereits auf meinen Anruf gewartet.
Wir klagen uns gegenseitig unser Leid und ermuntern uns weiterhin stark zubleiben und das durchzustehen. Was sind schon vier Wochen? 28 Tage, das hört sich gar nicht so viel an.
Mit neuem Mut nehme ich meinen Kalender zur Hand. Ich zähle 28 Tage ab und mache einen großen, roten Kreis um den Mittwoch. Ein Tag auf den ich mich freue, den ich herbei sehne. Dann lege mich ins Bett. Es war ein langer, anstrengender Tag. Eingekuschelt in meine Decke und völlig fertig mit den Nerven kommen nun doch die Tränen. Vier Wochen sind eben auch ein Monat, und das hört sich richtig lang an!
Ohne jeden Hoffnungsschimmer weine ich mich leise in den Schlaf.
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2012
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