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Fade

Die Platte. Seit Jahren lebte er hier nun schon. Tief im Osten. Nach der Wende sind alle Kumpels ab in den Westen. Nur er nicht. Er blieb bei der kranken Mutter. Bettlägerig war sie mittlerweile geworden. Alles musste man ihr abnehmen. Sie konnte nichts mehr allein. Das wechseln der Windeln war ihm das größte Übel. Es kostete ihn jedesmal Überwindung. Er mochte nicht daran denken. Eine Frau hatte er unter diesen Umständen nicht abbekommen. Ja wie denn auch. Und dann war da noch die Arbeitslosigkeit. Seit Jahren nichts mehr gemacht. Nur die Mutter betreuen und den Hund ausführen. Das war sein Tagesinhalt. Und fernsehen. Ein paar Bier dazu. Nichts bewegte sich. Manchmal vermisste er die Kumpels von damals. Denen würde es bestimmt besser gehen als ihm. Familie, Häuschen, Auto, die Dinge, die er selbst nicht hatte. Da war nur der Hund. Jeden Tag ging er mit ihm durch die öde Plattenbausiedlung. Heruntergekommen und eigentlich keine Häusersiedlung. Es waren eigentlich keine Häuser sondern Kaninchenställe. Dort wurde gerammelt wie im Stall. Das konnte er hören. Hellhörig war es auch noch. Manchmal, wenn er sich vorstellte, wie es die Nachbarn trieben, legte er Hand an sich. Quälend langweilig. Nur unter größter Anstrengung einen kleinen Erfolg zu verbuchen. Von Zeit zu Zeit beobachtete er die Nachbarin durch den Türspion und hatte die Hand in der Hose. Das Luder wollte es doch so. Da war er sich ganz sicher. Er würde sie beizeiten mal fragen, ob sie nicht einen Kaffee mit ihm trinken wollte. Wer weiß, vielleicht wird was draus. Aber nein, doch eher nicht. Jedenfalls nicht so, wie er aussah. Die abgewetzte Trainingshose, das verwaschene hellblaue Poloshirt. Und dann die Latschen mit den gestopften Socken. Da war ja selbst das lederne Flohhalsband des Hundes appetitlicher. Nein, da würde ganz sicher keine anbeißen. Nicht mal das Luder von gegenüber. Diese Schlampe. Zum Friseur müsste er auch mal wieder. Und ein Bad nehmen. Rasieren und die Zähne kräftig schrubben um den Teer von den Zigaretten ab zu bekommen. Das hatte er auch schon ewig nicht mehr gemacht. Er war ein richtiges Schwein geworden. Er hatte sich gehen lassen, hing viel zu oft mit den anderen Gelangweilten beim alten Konsum rum um sich regelmäßig die Kante zu geben. Anders war es einfach nicht zu ertragen. Der Hund war ein Trost. War er doch auf Herrchens Wohlwollen angewiesen. Wenn er angetrunken auf einer der zahlreichen verschlissenen Bänke saß, dem Hund das grüne Plastespielzeug vor die Nase hielt, ging es ihm gut. Ein Zigarettchen dazu und dann ging es wieder für eine Weile. Jetzt war er fünfzig beinahe und nichts hatte er gesehen von der Welt außer der Platte. Im Internet sah man Sachen, die kannte man früher gar nicht. Er wollte mal probieren, ob er nicht dort Bekanntschaft knüpfen könnte. Da gab es doch so Seiten, wo die Frauen Männer suchten. Vorerst würden sie ihn ja nicht sehen. Seine Bierkugel und die dazu gehörigen Biertitten. Das schüttere Haar und den räudigen Hund, der es sich manchmal auf seiner Wampe bequem machte. Die Mutter auch nicht. Das war alles anonym zunächst. Hinterher, wenn eine Dumme angebissen hatte, konnte man ja immer noch die Hose runter lassen. Quasi. Nun, das wäre was. Aber der Mut sank ihm bei dem Gedanken daran, dass die Bekanntschaft ihn so sehen könnte wie er wirklich war. Ein alter Sack, der eigentlich schon zu nichts mehr zu gebrauchen war. Weder für irgendeine Arbeit noch für sonst eine sinnvolle Tätigkeit. Abhängen, rauchen, Bier trinken, den Hund verarschen, seine Haufen mit einem Taschentuch wegräumen und Mutter den faltigen, runzligen Arsch abputzen. Ihm wurde übel. Ein Bier musste her. Er ging rüber zum Kiosk. Die Jungs waren noch nicht zur Stelle. Besser so. Ihm war nicht nach Gesprächen zumute. Mit zwei Flaschen Bier und einer Flasche Klaren ging er zurück ins Haus. Es roch wie immer nach Scheuerpulver und Pisse. Die Besoffenen benutzten den Flur gelegentlich als Pissoir. Er auch, wenn er zu faul war die dreckigen Stufen bis nach oben in die Wohnung zu laufen, wo die Toilette war. Sechs Stockwerke hoch und durch das marode Treppenhaus aufwärts. Nur hier im Treppenhaus ging es mit ihm auch mal aufwärts. Aber nirgendwo sonst. Schweiß trat auf seine Stirn. Das Leibchen roch wie Raubtierkäfig. Dem Hund gefiels. Übermütig sprang und trippelte er die Stufen rauf und runter. Schnaufend hielt er inne, zog den Hund heran und trank die erste Bierflasche in einem Zug leer. Die leere Flasche ließ er stehen. Die würde sich jemand mitnehmen und das Pfandgeld kassieren. Dann ein Schluck aus der Schnapsflasche. Noch zwei Stockwerke. Der Hund tollte umher, forderte ihn auf mit ihm zu spielen. Dann hatte er eine Idee. Er ging an seinem Stockwerk vorbei, stieg weiter auf bis zum Dach und durch die Feuertür gelangte er ins Freie. Er nahm dem Hund die Leine ab. Wehmütig beobachtete er das Tier. So viel Lebensfreude hatte er selbst schon lange nicht mehr entwickelt. Er wollte es noch einmal probieren. Bertrunken stolperte er über das Dach und versuchte so gut es ging ein Lachen zu imitieren. Vergebens. Es war kein Lachen sondern der elende Raucherhusten mit einigen satten Rülpsern unterlegt. Die zweite, die letzte Bierflasche war im Nu geleert. Die Aussicht von dort oben war ebenso niederschlagend wie von jeder anderen Stelle in der Siedlung auch. Der Blick ging hinunter auf die Rasenflächen mit den Inseln aus Müll. Es war still dort oben und von den Bewohnern war auch keiner zu sehen. Nur die, die immer an den Fenstern hockten mit ihren Kippen, Flaschen und Ferngläsern. Emsige Beobachter einer erstarrten Welt. Einer der Spanner hatte ihn ins Visier genommen. Er winkte freundlich zu ihm hinüber. Das Fernglas sank aber nicht. Er versuchte es noch einmal. Keine Reaktion. Der Beobachter war zu sehr damit beschäftigt den Trunkenbold auf dem Dach im Auge zu behalten. Er machte eine obszöne Geste in Richtung des Gaffers. Nichts. Dann ritt ihn der Teufel und er reckte dem neugierigen Nachbarn den nackten Arsch entgegen. Das zeigte Wirkung. Gleich noch einen Stinkefinger hinterher. Das Fernglas sank und wurde abgestellt. Dann kam ein Handy zum Vorschein. Ein kurzer Anruf konnte es nur gewesen sein. Man zeigte auf ihn und fuchtelte mit den Händen herum. Es war doch immer wieder derselbe Ablauf. Leute anschwärzen, sie denunzieren, das konnten die Leute. Aber ihm war es egal. Der Klare verschwand in seinem Mund und er warf die leere Flasche vom Dach herunter. Es klirrte. Alles sinnlos. Alles Quatsch. Völliger Blödsinn. Ein weiterer Beobachter behielt ihn aufmerksam im Auge. Er war wohl vom ersten Glotzer informiert worden, dass sich auf dem gegenüber liegenden Dach etwas Interessantes abspielte. Nun winkte er zweihändig hinüber. Der Hund kam zu ihm und sprang ihm in die weit geöffneten Arme. Ohne zu zögern trat er an den Rand des Daches und warf das überraschte Tier hinunter. Einen Schritt zurück machte er, damit er nichts von dem sah, was sich weiter unten abspielte. Das Tier gab keinen Laut von sich. Das war so sinnlos wie alle anderen Sachen, die er in seinem verplemperten Leben je gemacht hatte. Er wollte zum ersten Mal in seinem Leben etwas Richtiges und Gutes tun. Um die Mutter machte er sich noch ein wenig Sorgen. Wie würde es ihr ergehen? Es war egal. Egal auch wie es ihm ergehen würde. Er sprang ohne Umschweife. Er stürzte tiefer und tiefer hinab und dann fiel ihm das Wort ein, das er gesucht hatte. Dieses Wort beschrieb genau sein Leben. Es war nur ein ganz kurzes Wort. Und es brachte ihn zum Lachen. Ein kurzes aber ein echtes Lachen. Wie schon so lange nicht mehr. Und auch nie mehr wieder.
Fade.


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Tag der Veröffentlichung: 02.11.2010

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