Nikolaus
Der zweite Advent war bitter kalt über ihn hereingebrochen, der sackgebeugte Nikolaus war da gewesen und Schröder verzweifelte erneut an der schier unlösbaren Aufgabe, Weihnachten abermalig ins eisig grimme, ins eiseseinsame Auge zu blicken. Müde und niedergeschlagen legte er sich in fötaler Lage auf den Boden, schaukelte eifrig jammernd hin und her und frass den selbst gefüllten Nikolausstiefel zügig leer. Ein gequältes Ächzen und Lechzen entrang sich seiner schmerzgestählten Brust. Wieder und wieder schluchzte er mühselig vor sich hin, den Schmerz geniessend. Die Qual durfte kein Ende nehmen. Niemals. Er wälzte sich schmatzend in geschmolzener Tränenschokolade.
Oh Herz sei stark.
Rüdiger
Rüdiger war mal wieder auf dem Weg nach Nirgendwo. Halbwegs die Strecke schon zurück gelegt, liess er sich nieder zu einer Rast. Rasend rastend, Verspieltes im Sinn, fiel ihm Ute ein. Jene Elfengleiche, die ihm den Verstand geraubt hatte mit ihrer Löwenmähne, dem glockenhellen Lockenkopf . Ein unbändiger Kopf voller Haare, Locken hell wie das Läuten der Glocken von Sankt Walburga, der Schutzheiligen aller verliebten, verlorenen Seelen. Das war er ja. Und was für eine. Er beschloss, umzukehren, um ihre Hand anzuhalten.* Idiot, der er ja auch schon immer gewesen war.
*Oder sie alternativ zu fragen, ob sie nicht Bock hätte, miteinander zu schlafen, lauter bescheuerte Blagen zu machen.
Kirschen
Schrage blickte durch das völlig verdreckte Fenster seines ehemaligen Kinderzimmer in den verwilderten Garten. In diesem Garten hatte er als Kind gespielt, hatte das Obst von den Bäumen genascht und war in ihnen herumgeklettert, wie ein junger Affe. Alles um sich herum vergessend.
Aber als er jetzt die Krähe in dem alten Kirschbaum erblickte, fielen ihm seine lang vergessen geglaubte Kindheit und damit all die schwarzen Momente in seinem Leben ein. Der dunkle Schatten der Vergangenheit als dunkler Vogel in der Gegenwart. Er wandte sich erschrocken um und blickte sich in dem nun leer stehenden Zimmer um. Da wurde ihm plötzlich klar, dass er seitdem keine Kirschen mehr gegessen hatte.
Ehelos
„Lass mich!“, brüllte Vera lauthals, als sie Hinrichs gierige Finger zwischen ihren spürte. Er stutzte für einen Moment und kratzte sich an seinem beinahe schon kahlen Kopf. Nichts verstand er. Was war das?. Von der Arbeit gekommen, hatte er sich an den gedeckten Tisch gesetzt und Zeitung gelesen. Sie erzählte von ihrem Tag. Er hatte nicht zugehört, das hatte er schon seit Jahren nicht mehr getan. Und jetzt das. Hinrich verstand die Welt nicht mehr. Genau so blickte er sie an.
Vera musterte den Mann, den sie vor Jahren geheiratet hatte und erschauderte. Ein vergeudetes, vergeigtes Leben lag zwischen ihrer juvenilen Dummheit und seiner Altmännerzudringlichkeit
Sie seufzte himmelweit.
Kaspar
Kaspar hatte zeit seines kurzen Lebens unter seinem Namen gelitten. Schon als ganz kleines Kind war er ohne Unterlass gehänselt und gekaspart worden. Sein trübsinniger Trotz und ein gerüttelt Mass an Gleichmut liess ihn an seinem mitunter schweren Schicksal dennoch nicht verzweifeln. Oder es war einfach nur seine Einfalt, die ihn nicht spüren liess, was da mit ihm und um ihn herum geschah.
Gott habe den armen Kasparkopf selig, diesen glorreichen Gaudiburschen wider Willen!
Ich hätte mich über ihn immer wieder und wieder totlachen können, wie auch all die anderen Leute in unserem humorigen kleinen Ort am Rande des finsteren Waldes, wenn es nicht so masslos herzerweichend gewesen wäre.
Elternlos
Meine Vergesslichkeit begann im Alter von etwa 12 Jahren. Es fing damit an, dass ich vergass, wer meine Eltern waren. Sie wurden für mich zu Fragmenten aus einer lang zurück liegenden Zeit und mein Geist sagte mir, dass es besser war, diese Fragmente abzulegen, sich ihrer sicher zu entledigen, wie einen viel zu lang mit sich herumgetragenen Ballast. Von da an kannte ich weder meine Eltern, noch meine anderen Verwandten. Es war dies nur ein kleineres Desaster, das mich über einen längeren Zeitraum begleitete. Aber als ich dann 13 wurde, da hatte ich die ganze höllische Brut wie einfach nur so nebenbei und tatsächlich bald auch schon total komplett vergessen. Es war nicht traurig, es war nicht rührselig. Ich war froh, dass ich das Alphabet nicht vergessen hatte, damit ich wenigstens noch niederschreiben konnte, was geschehen war. Zumindest jedoch das, was mir nicht durch die Finger geglitten war wie feiner Sand. Es hätte mich wirklich mehr als alles andere betroffen, wenn ich sogar dieser Fähigkeit verlustig geworden wäre. Und so ging es eine Weile
Sein Leben überdenken
Für späterhin nahm er sich vor, sein Leben zu ändern. Es sollte anders gestaltet werden. Nicht so eintönig wie bislang. Mit etwas mehr Pep. Mit Verve und Schmackes, wenn man es denn so nennen wollte. Es müsste aufregender sein, spannender und es müsste jeden Tag etwas passieren, mit dem er nicht gerechnet hätte, das ihn aber nicht umhauen würde. Ja, so sollte es sein. So stellte er sich sein neues Leben vor.
Aber einstweilen sollte es erstmal so bleiben wie es immer schon gewesen war. Nicht aufregend und spannend, sondern eher beschaulich und sicher. Nur ja nichts überstürzen. Es nicht übers Knie brechen. Besonnenheit war das Gebot der Stunde. Ihm wurde bewusst, dass sich auf diese Art und Weise das Leben niemals ändern würde. Sein Zaudern hinderte ihn daran, mehr aus sich und seinem Leben zu machen. Als diese Erkenntnis seinen ermatteten Geist durchfuhr, stolperte eine Träne über seine breite Nase hernieder.
Stille trat ein.
Dagmar
Mit satten 70 Sachen durch die geschlossene Ortschaft. Dagmar himmelte ihn an dafür. So draufgängerisch und rebellisch hatte sie ihn seit Jahren nicht mehr erlebt. Beinahe war es so wie damals, als er jung und aufmüpfig war. Zu der Zeit trug er als einziger Junge in der Clique keine Blue Jeans, sondern Lederhosen und Trachtenjanker.
Sie schmiegte sich an ihn.
Schnurrend wie eine Katze.
Der Motor schnurrte zurück.
Erwin lächelte selbstbewusst, siegessicher. Wie jemand der wusste, dass er unbesiegbar und unverwundbar war. Kühn reckte er das Nussknackerkinn und atmete hörbar durch.
Dann tauchte der Schupo am Ende der Strasse auf und hielt seine Kelle hoch.
Dagmar entsicherte ihre Pistole.
Mutter und Sohn
Lächelnd spreizte sie ihre schlanken Beine. Ihr senkrechtes Lächeln prangte ihm tropfnass entgegen. Er spürte wie das Blut in seinem harten Dingens pochte. Sie öffnete langsam ihre feucht glänzenden, roten Lippen. Ihre Zunge lugte zart rosa dazwischen hervor.
Er wollte sich gerade über sie hermachen.
Dann rief Mutter von nebenan und wollte wissen, ob er ihre Coregas irgendwo gesehen hätte.
Gerd würde sich nachher eine andere schweinöse Situation ausdenken. Das stand für ihn felsenfest. Aber hammerhart!
…
Er hatte einen harten Tag hinter sich. Die Kunden waren noch schlimmer als sonst gewesen, hatten ihn mit ihren Sonderwünschen beinahe in den Wahnsinn getrieben und am Ende hatte er kaum Umsatz gemacht.
Nun musste er zu allem Überfluss nach Haus zu seiner alten Mutter, die ihn auch noch mit ihrem endlosen Geplapper nerven und piesacken würde. Er hasste diese Tage.
Seine Mutter lag mit offenem Mund schlafend auf dem Sofa. Getrockneter Speichel klebte weiss in ihren Mundwinkeln. Sie schnarchte schwer. Der Fernseher lief und auf dem Bildschirm erblickte er Paviane, die sich gegenseitig lausten. Er sah auf die Schlafende herab. Sie bemerkte ihn nicht.
Noch nicht.
…
Drangvolle Enge, Hetze, Eile, Gedrängel und fluchende Mitmenschen. All das nur, um schnellstmöglich von dem einen Ende der Einkaufsstrasse zum anderen zu gelangen. Bepackt mit sinnlosen Geschenken, die spätestens nach den Feiertagen im Müll landeten.
Die Tage werden kürzer, der Weg bleibt der ewig gleiche. Gerd würde es auch diesmal wieder überstehen. Dieses Mal, wie die anderen Male auch schon.
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2010
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