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Die Gestaltwandler
Prolog:

Es gab eine Zeit, in der herrschte Angst und Schrecken, wohin man auch ging. Häuser wurden zerstört, Menschen rannten schreiend weg. Niemand entkam. Es fing harmlos an, so, wie alle Katastrophen anfangen. Niemand hätte gedacht, dass man einschreiten müsste. Es war eine Zeit, in der es normal war, sein Vampir Dasein offen auszulegen. Man ließ Blutdurst erst gar nicht aufkommen, sondern trank, wenn es sich grade anbot. Über den Dörfern und Städten sah man aus weiter Ferne Rauch und Feuer, damit hofften die Menschen sich beschützen zu können, doch was können Menschen schon ausrichten? Immer wieder gab es neue Opfer, viele Opfer. Besonders die zahlreichen Neugeborenen der Vampire brachten ganze Siedlungen zum Einstürzen. Dies war lange Zeit bevor die Königsfamilie Volturi über diese Spezies herrschte und solches verhindern konnte. Und damit war es gleichzeitig auch die Zeit, in der die mannigfaltigsten Geschöpfe aufzufinden waren. Da gab es nicht nur Vampire, Werwölfe und Gestaltwandler. Es war, als lehnte sich die Erde gegen all das Böse auf und alle Magie aus den Urtiefen wurde gebraucht um eine Armee aufzustellen, um die Menschen und somit auch die Erde zu beschützen. Denn niemand außer den Menschen kann die Welt beschützen, grade die schwächsten Lebewesen die es gibt, auserkoren eine so schwerwiegende Aufgabe zu erfüllen. Für die Vampire waren am gefährlichsten die Gestaltwandler, denn sie kämpften Seite an Seite und kamen aus allen Gegenden zusammen. Da waren Wölfe, Geparden und Löwen, Adler und vieles mehr. Sie griffen von der Luft, dem Land und dem Wasser an und verstecken konnte sich niemand der Vampire. Mensch und Tier wurden eins, eine gefährliche Mischung, die die Vampire zwar nie ausrotten konnte, doch zu jener Zeit, bei Gott, sie waren kurz davor. Nachdem das Grauen vorbei war, die wenigen Vampire kapituliert hatten und sich für eine Weile fernab von den Menschen im Wald zusammenrotteten, ging die Magie zurück. Viele Menschen erzählten sich, sie wäre gänzlich erlischt, doch wer wusste das schon?

1. Kapitel

Deutschland, 2011

„Na komm, Schatz, bleib liegen. Der Arzt hat ausdrücklich Bettruhe verordnet!Bitte halte dich doch nur einmal daran! Sieh mal, ich mache mir wirklich Sorgen!“, flehte meine Mutter mich an. Sie hatte ja Recht, meine Temperatur war in den letzten Tagen extrem gesunken. Ich, Runa, hatte Angst. Ich wurde NIE krank. Ich lief mit meinem Freund und seinen Freunden besoffen und halb nackt in Eiseskälte durch den Park, ging schon im Frühling in unserem See nicht weit von unserem Haus entfernt schwimmen und langärmlige Oberteile waren in meinem Kleiderschrank kaum zu finden – kurz gesagt, niemand hatte eine Ahnung was mir fehlte, aber es ging mir stetig schlechter. Auch nervlich war ich total am Ende, ich wusste einfach nicht wohin mit mir. Ich konnte es nicht ertragen, seit vier Tagen lag ich hier schon und zappelte und war unruhig. Ab dem dritten Tag wurde ich aggressiv, sodass ich meiner Mutter oft Vorwürfe machte, sie würde mich anketten und müsste mich unterhalten, dabei war sie ein absoluter Engel! Sie war immer da wenn ich aufstehen musste oder mich sogar nur aufsetzen musste. Doch heute war ein guter Tag und dadurch wurde ich noch unerträglicher. Ich wollte raus, die frische Luft einatmen, den Wind auf meiner Haut spüren... Doch Mutter ließ mich nicht. Ich glaube, am liebsten hätte sie mir Handschellen angelegt, damit sie mich in Sicherheit wägen konnte. Ich seufzte „Na gut, Mama. Ist ja gut. Lass mich bitte alleine, ich versuche zu schlafen, okay?“ Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen meiner wundervollen Mutter, sodass sich kleine Fältchen an ihren Augen bildeten. „Ist gut, mein Liebling, dann schlaf gut!“ und mit einem Kuss auf meine Stirn verschwand sie zur Tür hinaus. Das schlechte Gewissen überkam mich wieder einmal. Sie tat so viel für mich all die Jahre. Und ich dankte es ihr, indem ich immer wieder von zuhause ausriss und am frühen Morgen erst wieder hinein schneite. In seltenen Momenten schämte ich mich wirklich und nahm mir vor mich zu entschuldigen, ganz aufrichtig. Doch diese Momente vergingen schnell. Jetzt war kein Moment des Schämens. Ich riss das Fenster auf zur Freiheit, packte in eine Handtasche schnell noch Schlüssel, Geldbörse und etwas Wasser ein. Kurz betrachtete ich mein Handy auf dem Nachtschrank, winkte dann ab und ließ es liegen. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden sprang ich aus dem Fenster. „Uff“, machte es beim Aufprall und musste mich erst einmal an die Hauswand lehnen bis das Schwindelgefühl abklang. Ich kniff meine Augen vor Schmerz zusammen, denn das Licht störte mich auf eine seltsame Art und Weise. Langsam stolperte ich auf den angrenzenden Wald zu und er schützte mich vor diesen unangenehmen Reizen. Ich genoss das laute Rauschen der Blätter, das Zwitschern der Vögel und das Licht, das wegen der ganzen Pflanzen grünlich wirkte. Alles war bunt und grell und scharf und anstatt meine Haut an den kleinen Ästchen zu zerkratzen oder mit meinen Haaren hängen zu bleiben wich ich automatisch den kleinen Fallen aus. Ich ging sicherlich schon 15 Minuten so umher bis ich auf ein großes Feld stoß, dass unserem Nachbarn gehörte. Ich setzte mich auf die Bank die am Rand des Feldes stand und streckte mein Gesicht der Sonne entgegen. Jedoch lugte ich immer wieder unter meinen Lidern hervor und bekam ein ganz ungutes Gefühl, als würden tausende von Menschen mich sehen und kritisieren können, mehr noch, mich angreifen. Verwirrt und verängstigt zog ich mich wieder zurück in den beruhigenden Schatten der großen Birken. Ich betrachtete die Vögel und Eichhörnchen, wie sie in den Bäumen saßen und ihrer Arbeit nachgingen. Mir fiel nicht auf, dass ein normaler Mensch das nie gesehen hätte. Aber so kam es auch, dass ich mindestens 200 Meter von mir entfernt vier große, schwere Pfoten vorbei rennen hörte und dann plötzlich stehen blieben. Durch die Bäume sah ich Umrisse eines riesigen Ungeheuers und ich begann zu zittern wie verrückt. Ich hatte Angst, sehr große sogar. Ich biss meine Kiefer aufeinander und starrte weiter in die Richtung. Was auch immer es war, MICH hatte es noch nicht bemerkt und kam deshalb auf mich zu. Ich drehte meinen Kopf in Richtung unseres Hauses, aber mir war klar, dass ich das nie schaffen würde. Das Tier war schnell und ich war nur ein kleiner zierlicher Mensch. Ich sah die Gestalt nun einmal scharf, es ging ungefähr zehn Meter an mir vorbei, es dachte wohl ich hätte es nicht bemerkt. Es war ein riesiger Wolf, fast die Schulterhöhe eines Menschen hatte er. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt es wäre ein Mutant, eine Mischung aus Bär und Wolf. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis zu rennen, der Abstand zwischen dem Wolf und mir betrug nun bestimmt schon hundert Meter. Ich hatte aber nicht das Bedürfnis wegzurennen, nein, stattdessen lief ich ihm nach ohne einen Einfluss auf meinen Körper zu haben. Mir wurde wohlig warm im Körper und mit einem lauten *Ratsch* riss meine Kleidung auseinander. Ich stand auf...vier Pfoten? Was zum Teufel..? Tausend Gedanken strömten durch meinen Kopf, ich war vollkommen aufgelöst, drehte mich im Kreis und versuchte dabei mich zu begutachten, woran ich kläglich scheiterte. Daher dauerte es seine Zeit, dass ich mitbekam, das nicht alle Gedanken von mir stammten. Automatisch stellten meine Ohren sich auf, aber das war kein Mensch der da sprach. „Wer ist da?“, fragte es verwirrt und sicherlich auch eine Spur ängstlich in meinem Kopf. Doch eingehen konnte ich darauf nicht, ich ging immer wieder die letzten Minuten in Gedanken durch um zu erklären, wie ich von einem Menschen in was auch immer verwandelt wurde. Ich drehte mich um und ich dachte ich würde vielleicht über meine Beine stolpern, aber es ging so leicht, als wäre ich schon immer Tier gewesen. Ich rannte in Panik los, wusste nicht was ich tun sollte und was diese Stimme bedeuten sollte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und deshalb rannte ich. Kaum spürte ich den Boden unter mir, so schnell war ich unterwegs und noch etwas überraschte mich: Ich sah so klar wie noch nie und hörte noch viel schärfer als kurz vor meiner... Veränderung. Na toll. Jetzt war das animalische in mir doch ans Tageslicht gekommen. Ich bremste mit ungeheurer Wucht ab und stand vor einem Fluss. Noch traute ich mich nicht hinein zu gucken. Was würde mich erwarten? Ein Monster mit scharfen Zähnen? Ausserdem ertönte noch immer diese Stimme in meinem Kopf, die genauso verwirrt war wie ich und sich wohl überlegte ob es mir helfen sollte oder schnell zu seinem „Rudel“ zurückkehren sollte. Rudel? Was soll das denn bitte heißen? Konnte ich jetzt Tiere sprechen hören? Ich war mir inzwischen sehr sicher, dass die Stimme von diesem mutierten Tier stammte, doch das erklärte nicht, wieso ich seine Gedanken hörte und sah. Denn daher wusste ich, dass es nicht zu mir sprach, sondern Gedanken von ihm waren. Immer wieder huschten Bilder vor meinem Auge vorüber, die unmöglich von mir stammen konnten. Da war zum Beispiel ein Mann mit kurzem, schwarzen Haar, dunklen Augen und mit einer Haut von einem schönen rot-braun, wie man es von den „Native American“, den Indianern kannte. Und da war noch viel präsenter als das Bild davor ein großer...Luchs? Soll ich das etwa sein? Geschockt sah ich endlich in das Wasser und tatsächlich zeigte mir die Spiegelung einen Luchs, viel größer als es üblich gewesen wäre. Das wusste ich, da ich mich schon immer für diese Tiere interessiert hatte. Jetzt, wo ich darüber nachdachte war das schon ziemlich merkwürdig. Nur ein Zufall? Neben meinem Spiegelbild erschien nun ein zweites. Ich blieb ruhig, rührte mich nicht und wartete angespannt was nun geschehen würde.

2. Kapitel

Große braune Augen sahen mich von der Seite an: „Wie heißt du?“, fragte es sanft in meinen Kopf. Runa, dachte ich und hoffte, dass ich es richtig gemacht hatte. „Bist du ein Wolf?“ fragte ich, immer noch verwirrt und sah sie mit meinen blauen Augen an. „Nein, bin ich nicht. Ich denke, ich bin so etwas Ähnliches wie du, obwohl ich noch keinen Menschen gesehen habe, der sich in einen Luchs verwandeln konnte.“ Warum ich?, fragte ich mich unwillkürlich. Konnte ich überhaupt zurück zu Mutter? Und musste ich jetzt für immer in dieser Gestalt leben? „Ich möchte dir gerne deine Fragen beantworten, denn ich weiß noch genau wie es damals für mich war. Aber das wichtigste zuerst: Du kannst dich zurück verwandeln und ich schlage vor, das tun wir auch. Ich habe zwei T-Shirts mit, du kannst dir eines überziehen.“ Und wie mache ich das jetzt? „Versuch, deine innere Ruhe zu finden. Denk an etwas Schönes, ein Musikstück oder eine Erinnerung“, antwortete sie mir auf meine Gedanken. Daran werde ich mich wohl nicht gewöhnen können. Zwei Mädchen rannten lachend über eine mit Feldblumen bestückte Wiese. Die Luft flimmerte wegen der Hitze. Das lange, goldbraune Haar der Kinder wehte hinter ihnen her. Ich spürte, wie sich mein Körper abkühlte und ohne wirklich sagen zu können wann die Verwandlung eingesetzt hatte, stand ich plötzlich nackt im Wald vor dem Fluss. Jetzt wäre es mir doch lieber gewesen nochmal nach zu fragen ob der Wolf weiblich war. Die Stimme hörte sich so an, aber wer weiß, wie Gedanken klingen? Naja, zu spät, dachte ich und spähte vorsichtig über meine Schulter. Da stand ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren und mandelförmigen dunkelbraunen Augen. Sie war wunderschön. Sie bedeckte nur ein olivgrünes weites Shirt. Sie lächelte und warf mir mit einem „Hier!“ ein dunkelblaues Shirt zu, das ich dankbar anzog. So standen wir gegenüber, ich war total eingeschüchtert von ihrem wissenden, leicht überheblichen Blick. Nicht, dass ich sie für arrogant hielt. Sie wusste einfach, dass sie über mir stand und ihr gefiel das sichtlich. Dennoch, sie war freundlich und ich auf sie angewiesen. „Das hast du gut hinbekommen, mit der Verwandlung meine ich...Ich bin übrigens Leah“, ermunterte sie mich. Ich sagte nichts. „Du schmeißt alle meine bisherigen Vorstellungen von unserer...Art durcheinander, weißt du das?“, bemerkte sie mit ehrlichem Erstaunen und musterte mich. Da ich immer noch nichts raus brachte, redete sie einfach weiter. „Ich weiß, das alles ist ein riesiger Schock für dich, aber wir haben keine Zeit deine Fragen jetzt zu beantworten. Mein Volk wohnt drei Tage von hier, ich schlage vor wir brechen so schnell wie möglich auf. „Was? Das kannst du doch nicht ernst meinen!“ Ich war total perplex. „Ich will nicht wie ein Kleinkind klingen, aber meine Mutter wird mich vermissen, außerdem kenne ich dich gar nicht! Was ist mit Gepäck? Und wo wohnst du überhaupt?“, ratterte ich meine Gedanken herunter. Sie machte einen Schritt auf mich zu. „Ich denke, es ist gut wenn du erst einmal nicht zurück nach Hause gehst. Du könntest sie verletzen, doch zumindest schockieren und ich weiß nicht wie deine Mutter auf einen Luchs in ihrem Haus reagieren wird. Ich meine, momentan könntest du dich jeden Moment verwandeln, es muss noch nicht mal ein großer Streit sein. Du könntest genervt sein oder traurig, weil deine Freundin vergessen hat anzurufen oder ähnliches. Du gefährdest alle um dich herum.“ Ich sah sie mit großen Augen an. Ich wollte ihr so gern widersprechen, doch ich wusste, dass sie recht hatte. Es war auch egal wer sie war und wohin sie mich brachte. Sie wollte mir helfen und ich musste ihre Hilfe annehmen. „Kannst von Glück reden, dass ich gerade in dieser Gegend war. Ich bin schon seit ein paar Tagen hier und mir ist niemand sonst wie du über den Weg gelaufen. Aber... hast du denn irgendwelche Geschwister oder Cousins, Cousinen?“ Ich wusste nicht wofür sie diese Information brauchte und sie bereitete mir noch immer ein unwohles Gefühl. „Nein“, antwortete ich schlicht. „Gut. Wir werden jetzt ein ganzes Stück rennen und zwar nach München. Von da aus fliegen wir nach Seattle. Ich werde jetzt dort anrufen, eigentlich müssten wir noch einen Flug bekommen können.“ Das Telefonat war kurz und ich bekam mit, dass unser Flug in vier Stunden losgehen würde. Ich sah an mir herab und fragte mich ob sie wirklich so fliegen wollte und mit was sie bezahlen wollte. Als könnte sie meine Gedanken immer noch hören, erklärte sie mir, ihre Kreditkarte zückend, wir würden aber vorher noch Kleidung kaufen müssen, am Besten wo mich keiner erkannte. „Nehmen wir am besten irgendein Vorort von München. Da wird sich schon was finden. Sie schob die Kreditkarte zurück in ihr Lederbändchen und zog auch ihr T-Shirt wieder aus, rollte es zusammen und ich tat es ihr nach. Alles wieder verstaut, verwandelte sich Leah wieder in den großen Wolf. Etwas unschlüssig stand ich daneben. Von weiter weg hörte ich plötzlich einen gellenden Schrei, wohl ein größerer Vogel, doch ich erschreckte mich so, dass ich plötzlich wieder als Luchs neben meiner neuen Bekanntschaft stand. Es sah aus, als würde der große Wolf grinsen, was ziemlich merkwürdig aussah. Ich grub meine Krallen tief in die Erde und machte einen Sprung nach vorne und rannte in einer atemberaubenden Geschwindigkeit los. Dicht gefolgt von Leah. Ich spürte, dass mich das Laufen kein bisschen anstrengte, was ich ziemlich cool fand, denn vorher war ich zwar recht gut im Sport aber das hier war mit Sportlichkeit nicht annähernd zu vergleichen. Wir liefen jetzt durch dichtere Wälder, hier würden wir wohl niemanden antreffen. Ich wollte mir gar nicht ausmalen was dann passieren würde. Ein Luchs und ein Wolf in Deutschland! Ich schielte rüber zu dem Bär, der neben mir her trabte. „Du bist ganz schön schnell“, dachte Leah. Wie meinst du das?, dachte ich und Sie antwortete „Schneller als ich und ich bin die schnellste aus unserem Volk“. Das waren ehrlich gesagt viel zu viele Informationen über die ich nachdenken musste. Wie sah meine Zukunft jetzt aus? Könnte ich noch zur Schule gehen? Nicht, dass ich mich vorher drum geschert hätte, doch jetzt wo mir die Möglichkeit verwehrt zu sein schien, wurde ich ziemlich nervös. Ich war grade in der elften Klasse, also 16 Jahre alt. Vielleicht könnte ich mein Abitur nachholen? Und wieso war ich so anders als sie? Lag das daran, dass wir aus verschiedenen Ländern auf verschiedenen Kontinenten lebten? War ich überhaupt mit ihrer Art zu vergleichen? Das mysteriöse Mädchen neben mir gab mir keine Antworten auf die Fragen die ich mir stellte und ich fragte mich, ob sie sie überhaupt hören konnte. Sie selbst hing wieder Erinnerungen nach und eine Weile sah ich nur ihren Bildern zu. Nach einiger Zeit hatte ich wohl das gesamte Rudel schon in ihren Gedanken gesehen, sowie ein Mädchen, dessen eine Gesichtshälfte vollkommen vernarbt war. Meist folgte auf diesem Bild wieder der Mann den ich als erstes in ihren Gedanken gesehen hatte. Ich wusste immer noch nicht was ich von Leah halten sollte. Anscheinend war sie nicht so herzlich, doch das störte mich nicht. Am allerwenigsten brauchte ich jetzt eine Mutter, die mich bemitleidete. Auf einmal stoppte Leah und ich hatte Mühe nicht in sie hinein zu laufen. „Vorort von München“, dachte sie. Sie verwandelte sich und zog sich Shirt und Hose an. „Warte hier, ich besorge uns Kleidung“, sagte sie mit ernsten und bestimmenden Ton. „Ich lasse dir das Shirt hier, falls du dich verwandeln musst. Wir sind ziemlich dicht am Ort dran, also hör ganz genau auf Atemgeräusche oder Stimmen“, erklärte sie schnell. Das klang einleuchtend und ich rollte mich am Stamm eines Baumes zusammen während sie fort ging. Ein kleiner Teil von mir hatte Angst, dass sie nicht zurück kehrte. Alleine, würde ich wohl kaum überleben.

3. Kapitel

Natürlich kam niemand vorbei, sodass ich angespannt wartete. Ich merkte, dass ich ein gutes Zeitgefühl bekam, ich musste noch nicht einmal zählen oder so, ich wusste einfach wie viel Zeit vergangen war. Nach meinem Geschmack war zu viel Zeit vergangen. Immer misstrauischer sah ich in eine unbestimmte Richtung. In weiter Ferne hörte ich es rascheln. Ich versteckte mich zwar hinter zwei Büschen, doch ich war mir recht sicher, dass nun Leah zurückkehren müsste. Und da war sie, mit zufriedenem Gesichtsausdruck und einer Tüte in der Hand.Noch einmal warf ich einen Blick um mich herum, dann trat ich aus dem Gebüsch. „Ab hier werden wir laufen. Es sind nur noch zwei Kilometer bis zum Flughafen.“ Sie warf mir eine dunkelblaue Jeans und ein weißes Shirt zu, beides in genau der richtigen Größe. Als ich es angezogen hatte murmelte ich schnell „Danke“ und sah sie an. Sie kramte noch in der Tasche herum, doch als sie sich aufrichtete blickte ich in große, traurige Augen. Doch das war nur für einen winzigen Augenblick, dann hatte sie ihre übliche Distanz wieder aufgebaut. „Und Schuhe“, kommentierte sie die braunen Sandalen, die sie aus der Tasche hervor geholt hatte. Ich lächelte und zog sie an. „Also? Auf geht’s, nicht wahr?“, fragte ich seufzend und ging los. Sie sah mich von der Seite her an. „Ich weiß, das alles geht sehr schnell...“ setzte Leah an und stockte. „Keiner meiner freunde würde mir all das hier glauben“, sagte ich, nicht genau wissend was ich dabei fühlen sollte. Wut, weil ihr Unglauben stärker sein würde als das Vertrauen zu mir? Verständnis, weil ich es selbst nicht fassen konnte? Aber das war auch egal, meine Freunde würden denken, ich wäre weggelaufen. Ich hätte es nicht mehr zuhause ausgehalten und hätte alles stehen und liegen gelassen. Doch genau genommen hatte ich das gemacht. Hatte ich nicht auch vorgehabt, meine Mum im Stich zu lassen? Hatte ich selbst wirklich geglaubt, ich wäre wieder umgedreht, hätte mich ins Bett gelegt und mich auskurieren lassen? Nein, das war nicht ich. Somit stellte ich mir die Frage: War alles nur geschehen, weil ich es so wollte, dass es passiert?
„Hört sich nach richtigen Freunden an“, murmelte Leah ironisch. Ich sah sie von der Seite an. Auf diese Frage musste ich nicht antworten, sie wusste, dass es stimmte. Und ich wusste es auch. Ich fühlte mich wie eine Feder, die immer in eine bestimmte Richtung gepustet wurde, und dann plötzlich in einen großen Windsturm gerät. Von etwas Übermächtigen gelenkt. „Da vorne“, sagte ich und schlug in die große Straße ein die zum Flughafen führte.
30 Minuten später saßen wir in unserem Flugzeug. Während des gesamten Fluges redeten Leah und ich nicht. Es wäre auch nicht sicher gewesen, viele Menschen guckten durch die Gegend, auf der Suche nach irgend etwas Interessantem. Da wäre unser Gespräch sicher sehr auffällig gewesen. Also nutzte ich die Zeit, meine Gedanken weiterhin zu ordnen. Ich war ganz froh darüber, hatte ich doch noch keine Ahnung, ob und wie das alles weitergehen sollte. Ich hatte das dumpfe Gefühl in mir drin, dass es kein Zurück gab. Und selbst wenn das was-auch-immer vorbei sein sollte, dann würde ich doch nie wieder „normal“ werden. Ich hatte Angst. Ich meine, was wenn das alles doch nur ein abgekartetes Spiel war? Und außerdem: Okay, ich konnte mich in einen Luchs verwandeln. Das war ja auch irgendwie cool, doch was hatte das für einen Sinn? Irgendwann rutschten meine Gedanken in eine Kategorie, die ich mal als Wahn bezeichne. Ich stellte mir vor, im Zirkus ausgestellt zu werden, in einer Art „Freakshow“. War ich ein Freak? Und wenn, würde das mir etwas ausmachen? Auf die letzte Frage hatte ich definitiv eine Antwort: Ja! Es würde mir sehr viel ausmachen. Denn zwar rebellierte ich gerade gegen meine Mutter und sowieso alle möglichen Konventionen, doch ich war nicht so verblendet um zu ignorieren, dass ich mich trotz allem an die Gesellschaft anpasste. An meine Freunde, an die Bands die ich mochte und viele andere Dinge. Und was blieb übrig? Eigentlich rebellierte ich gar nicht, sondern passte mich nur anderen Leuten an. Das wusste ich, trotzdem änderte ich mein Verhalten nicht. Es ging mir nicht darum zu rebellieren, sondern darum, den Schrei der in meinen Inneren ertönte, zum Ausdruck zu bringen. Meine Beweggründe zeigte ich natürlich nicht meinen Freunden. Ob sie einen Säufer als Vater haben und die Mutter weggelaufen ist, ob sie von ihren Mitschülern gemobbt wurden, jeder hatte einen Grund rebellisch zu werden – gesprochen wurde davon aber nicht. Meine Augenlider wurden immer schwerer und ich blinzelte und gähnte. Zu meiner rechten sah ich, dass Leah auch schon am schlafen war und lehnte mich beruhigt zurück. „Und nun zum Wetterbericht...“, ich schreckte auf und fühlte mich wie gerädert. Ich war müde, rieb mir die Augen und drehte mich um, auf der Suche nach der Quelle dieses viel zu laut gestellten Fernsehers. Hinter mir saß ein Mann, der wohl nicht mehr schlafen konnte und die Kopfhörer ignorierte. Ich sah auf die Uhr. Schon kurz vor 11, trotzdem schliefen fast alle noch. Verständlich, was sollte man auch anderes machen? Nur die „Businessmen“ saßen schon an ihren Laptops und trommelten tüchtig auf ihre Tastatur. „Morgen“, begrüßte mich Leah verschlafen. „Wie lange noch?“, fragte sie mich kurz angebunden. „Ganze fünf Stunden!“, seufzte ich. Die restlichen Stunden vertrieben wir uns in dem wir uns irgendwelche amerikanischen Dokusoaps ansahen. An die andere Sprache musste ich mich überhaupt nicht gewöhnen. Ich hatte nie Probleme gehabt mit der Sprache und verstand und sprach es fließend. Gelangweilt sah ich auf die Glotze. Ich merkte, dass meine Augen brannten, mein Magen knurrte, doch auf Flugzeugfraß hatte ich keine Lust! „Ich bitte die Fahrgäste sich nun anzuschnallen, in wenigen Minuten landen wir!“, ertönte es aus dem Lautsprecher. Erleichtert setzte ich mich aufrecht hin, streckte mich und schnallte mich an.
Ich fühlte mich wie in „Auf ins neue Leben!“ als wir endlich aussteigen durften. Ich war unsicher wie noch nie und sah mich unruhig um. Selbst von weiten erkannte ich sie. Sie standen zusammen, stachen mir ins Auge und ich fühlte mich ihnen... zugehörig und doch nicht zugehörig.

4. Kapitel

Sie wirkten nicht bedrohlich, obwohl die vier Männer sehr groß waren, mit breiten Schultern und sehr muskulös. Leah ging zielstrebig auf die Männer zu. „Irgendwie habe ich mit euch gerechnet“, lächelte sie und umarmte jeden. „Darf ich vorstellen, das hier ist Runa!“,sagte sie, während sie auf mich zeigte. „Runa Sommerfeld“, meldete ich mich zu Wort und wusste nicht genau ob ich ihnen die Hand schütteln sollte. „Schön, euch kennen zu lernen!“, setzte ich noch hinzu. Einer von ihnen war schon die ganze Zeit am grinsen und kam nun auf mich zu um mich in seine Arme zu schließen. „Irgendwie gehörst du ja auch zu uns, nicht wahr? Ich heiße Embry“, lachte er mich an und ich grinste zurück. Doch ich bemerkte sehr wohl, wie ihm die anderen warnende Blicke zuwarfen. „Wo treffen wir uns?“, fragte Leah nun und ihr Blick verdüsterte sich etwas. „Sam wartet mit den anderen im Wald. Er will gleich hier die Lage besprechen“, antwortete einer der grimmig guckenden Männer. Ich war wütend, dass ich nicht von ihnen akzeptiert wurde! Wenn ich nicht mehr zu den Menschen gehörte und auch nicht zu ihnen, zu wem sollte ich dann gehören? War ich auf mich allein gestellt, sollte diese „Besprechung“ schlecht verlaufen? Als wir uns verwandelt hatten und tiefer in den Wald rannten, zügelte ich meine Gedanken so gut es ging. Ich konzentrierte mich stattdessen auf die Gedanken der anderen, diese strengten sich nicht an, ihre Gedanken zu verbergen. „Sie wird nur Unheil über uns bringen“ oder auch „Als ob wir nicht schon genug Unerfahrene in unserem Rudel hätten“ waren nicht die verletzendsten Gedanken. Es gab aber auch positive Reaktionen, von Embry wahrscheinlich, der das alles als ein großes Abenteuer ansah und gar nicht abwarten konnte, alles zu erfahren. Als wir ankamen standen drei Wölfe zu uns gewandt auf einer Lichtung. „Als Rudelanführer begrüße ich dich bei uns. Durch Leah haben wir schon einiges über dich erfahren. Doch vieles ist uns noch schleierhaft und dir sicher auch. Lass uns deshalb gemeinsam nach Antworten suchen.“ Diese Stimme kam eindeutig von dem großen schwarzen Wolf, der mir direkt gegenüber stand. Seine schwarzen Augen bohrten sich in meine und ich sah darin viel Weisheit, aber auch Verbitterung. Die Rede hörte sich an wie einstudiert und im ersten Moment wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Deshalb sagte ich nur: „Ich freue mich, dass Leah mich gefunden hat. Keine Ahnung, was ich ohne sie getan hätte. Ich suche einfach nur den Platz wo ich hingehöre. Ich hoffe, wir finden darauf eine Antwort“. Ich merkte, dass ich in der Mitte eines Kreises stand, denn alle hatten sich positioniert. Nur Leah sah so aus, als wollte sie am liebsten an meine Seite treten um mir beizustehen. „Es ist eine Selbstverständlichkeit für uns, dich willkommen zu heißen und dich in die dir neue Welt einzuweisen“,meldete sich wieder der Schwarze zu Wort. „Genau!“, ertönte es und ich versuchte die Stimme jemanden zuzuordnen. Das war nicht schwer, denn alle sahen nun den Besagten an, wie um zu verdeutlichen „Das hätte jetzt nicht sein müssen!“. „Wie auch immer. Wir sollten jetzt erst einmal zu Emily um etwas zu essen und in menschlicher Gestalt reden zu können.“ Unwillkürlich fragte ich mich, ob Emily auch „dazu gehörte“. „Nein“, beantwortete Sam meine gedachte Frage. „Sie ist meine Frau.“ Das machte mich noch stutziger, ich war sogar empört. Meinte Leah nicht, ich könnte nicht zurück, weil ich alle in Gefahr bringen würde? Sollte sich das als Lüge herausstellen? Es fiel mir schwer ruhig zu bleiben und ein knurren zu unterdrücken. Alle sahen gespannt zwischen Sam und mir hin und her, als würden sie einen Kampf erwarten. Man sah ihnen an, wie erpicht sie darauf waren, zu sehen wie ich mich schlagen würde. „Das können wir später klären“, meinte Sam jedoch nur und wandte sich um. Die Enttäuschung war groß im Rudel, doch sie folgten ihm sofort und ich trottete neben Leah her und den hellen Wolf, der vorhin Sam so enthusiastisch zugestimmt hatte. „Schön, dass du zurück bist, Schwesterherz. Wir haben dich vermisst.“ Seine Stimme klang sanft und besorgt, als er sich an Leah wandte. „Mit „wir“ meinst du wohl nur dich“, dachte Leah. Selbst ihre Gedanken hörten sich kalt an und ich war erstaunt. Ich hätte nicht gedacht, dass Leah Probleme im Rudel hätte. „Du warst ein ganzes Jahr weg. Natürlich haben wir alle dich vermisst, auch wenn mir deine Launen zugegeben nicht gefehlt haben!“, mischte sich ein anderer ein. Sie schnaubte nur. Mir fiel auf, dass kein einziger weiblicher Wolf außer Leah unter ihnen war. „Stimmt. Ich bin die einzige. Schön zu wissen, dass ich nicht die einzige bin, die verflucht wurde.“ Ich sah sie fragend von der Seite an. „Verflucht? Was soll das heißen?“ Ich hörte mich wohl etwas panisch an, denn auch Sam mischte sich in unser „Gespräch“ ein. „Genug jetzt, Leah. Setz ihr keine Flausen in den Kopf!“ Leah knurrte und dachte nur noch „Das sind keine Flausen, Sam!“ doch er ging nicht darauf ein. Der Wald lichtete sich und Leah blieb stehen. Ich tat es ihr nach uns fragte „Was ist los?“, denn die anderen liefen weiter. „Wenn du dich nicht mit den Jungen umziehen willst, solltest du hier bleiben“, erklärte sie es mir. „Oh“, dachte ich. „Das klingt einleuchtend.“ Es fiel mir immer leichter mich zurück zu verwandeln. Inzwischen brauchte ich vielleicht eine oder zwei Sekunden länger als Leah. „Also, diese Emily...Ist das das Mädchen aus deiner Erinnerung?“, fragte ich sie während wir aus dem Wald gingen. „Ja“, meinte sie nur und mir war klar, dass sie nicht mehr zu diesem Thema sagen wollte. „Auf dem Weg roch es an einigen Stellen sehr komisch...Es hat richtig in meiner Nase gebrannt!“, sprach ich deshalb nun einen anderen Punkt an. Sie sah mich etwas überrascht an.
„An einigen Stellen waren wir recht nah an der Grenze, aber das hätte dir normalerweise kaum auffallen sollen.“ Ich dachte darüber nach. Mal wieder war etwas noch merkwürdiger an mir, als sowieso schon. Das ärgerte mich, denn es machte mich zu einen Außenseiter.
„Grenze? Zu was?“, fragte ich stattdessen.
„Guck mal, gleich sind wir da, das Haus ist es. Sam wird dir alles beim Essen erklären.“ Ich hatte das Gefühl, am liebsten hätte sie mir auf der Stelle alles erzählt was sie wusste, doch sie schwieg und ich tat es ihr nach. Wir gingen über das letzte Stück Gras vor dem Wald und ich betrachtete, das kleine süße Haus mit Veranda aus dem ich schon jetzt Lachen und Getuschel hören konnte. Vermutlich redeten sie grade über mich und bewerteten mein Verhalten, studierten das, was ich gesagt hatte und versuchten vielleicht sogar Tücken hinter meinen Worten zu entdecken.
Eine von vielen Hürden hatte ich bereits hinter mir. Doch bereits jetzt stand ich vor der nächsten. Gleich würde sich herausstellen wie stark ich mich wirklich von den Wölfen unterschied, wer oder was ich war und was sich in meinem Leben ändern würde. Meine Zukunft lag hinter dieser Tür. Und am liebsten wäre ich umgekehrt. Leah öffnete mir die Tür und ich trat ein.

5. Kapitel

Eine große Gruppe von Männern hatte sich an einen viel zu kleinen Tisch gesetzt, das war das erste was mir auffiel. Auf dem Tisch befanden sich drei fast leere Backbleche. Die letzten Überreste zeugten von irgendeinem Kuchen, der ganz ehrlich, fucking KÖSTLICH aussah...
Am Herd stand eine Frau mit langem schwarzen Haar, mit dem Rücken zu mir gedreht und schob schon die nächste Portion Kuchen in den Ofen. Sie kam mir merkwürdig bekannt vor und ich drehte mich leicht fragend zu Leah, die mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck die Frau beobachtete. Als „das Rudel“ mich bemerkte hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit und ich wandte mich Sam zu. „Ich denke, wir haben einiges zu besprechen. Ich möchte Antworten“, sagte ich eindringlich und ignorierte die Blicke der anderen. „Natürlich“, sagte dieser und gestikulierte mir, mich zu setzen. „Ähm...“, machte ich und sah auf den überfüllten Tisch, doch da sprang der Junge mir am nächsten schon auf und bat mir seinen Platz an. Auf einmal waren wir uns nah, viel zu nah! Er duftete anders als die anderen, nicht vertraut und so... widerwärtig! Der Geruch brannte in meiner Nase und ich fing wieder an zu zittern, die Kontrolle zu verlieren. Ich konnte nicht anders, ich starrte den Jungen an, hasserfüllt und unberechenbar. So verhielt sich auch der Junge – als stände eine Bestie vor ihm, die er bändigen müsste. „Man, Jacob, ich hab doch gesagt, du sollst dich duschen!“ ertönte es aus weiter Ferne, zumindest kam es mir so vor. Beschwichtigend hob der Junge seine Hände und sagte etwas angespannt „Es ist nichts!“ Er trat einen Schritt zurück. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich in Angriffsstellung gegangen war, geduckt und heftig am knurren. Ich warf schnell einen Blick zu Leah, dann zu Sam. Leah sah Sam wütend an. „Ich hab dir gesagt, du sollst mich das machen lassen. Aber nein, du musstest erst sehen, wie sie auf den verliebten Trottel reagiert! So etwas nenne ich unmenschlich, Sam! Unmenschlich!“ Sam blieb ganz ruhig, als hätte ihn nichts von dem was grade geschehen war, überrascht. „Runa, es tut mir leid, es muss den Eindruck erwecken, dass wir dich reizen wollen. Aber glaub mir, du bist hier in sicheren Händen. Wir wollen dir nur helfen.“
Er sprach mich an, doch während seinem Vortrag sah er fortwährend Leah an, als würde die Entschuldigung ihr gelten. Als würde ihm überhaupt nicht Leid tun, was auch immer er mir grade angetan hatte. „Jacob, du kannst gehen.“ Der Junge stand auf, und mit einem leichten Nicken zu Sam, ging er. Ich war fassungslos. „Was sollte das denn eben sein?“, fragte ich halb perplex, halb wütend.
„Runa, glaubst du, du bist ein übernatürliches Wesen?“, stellte er mir die Gegenfrage. „Jetzt schon, ja. Anders ist das alles nicht zu erklären, oder?“ entgegnete ich ihm. Jetzt sah er mir wieder direkt in die Augen. „Aber das stimmt nicht. Lass dir niemals einreden, du wärst nicht normal, nicht natürlich. Tiere sind Natur und wir Menschen sind es auch. Nur weil die Menschen nicht wissen, was uns alles möglich ist, heißt das nicht, dass es von der Natur nicht bestimmt worden ist. Man muss nicht alles erklären können, Runa. Wichtig ist nur, dass man weiß, wo man steht.“ Das waren, ehrlich gesagt, ziemlich beeindruckende Worte. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich ihnen glauben schenken konnte. „Und wo stehe ich?“ Er zog die Augenbrauen hoch, dann lächelte er mich herzlich an. „Du stehst auf unserer Seite.“ Jetzt wurde ich misstrauisch. Es gab Seiten? Musste ich mich zwischen ihnen entscheiden? War ich in einen Krieg hineingeschlittert ohne es zu wissen? Leah schnaubte. „Und was ist die andere Seite? Hat es etwas mit „Der Grenze“ zu tun?“ Sam und auch die anderen richteten sich etwas auf. „Was weißt du über die Grenze?“, fragte er mich. Mir fiel auf, dass niemand wagte etwas zu sagen, schon die ganze Zeit war es so. Als hätten sie sich ihm unterworfen. In diesem Augenblick war das vertraute Geffühl vom Anfang geschrumpft, ich spürte es nur noch ganz schwach in meinem Herzen. Etwas angriffslustig meinte ich: „Außer dass es dort stinkt und mir der Geruch in der Nase brennt nichts.“ Der gleiche Geruch, den ich an dem Jungen roch, fügte ich in Gedanken noch hinzu. „Wann warst du dort?“, wurde ich von ihm gefragt. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Leah kam mir zuvor. „Sie war nicht da. Sie roch es, als wir daran vorbei liefen!“ Jetzt bekam ich wieder die volle Aufmerksamkeit. Ich fühlte mich unwohl, von allen Seiten begafft. „Also...“, setzte ich an, „um wieder auf das eigentliche Thema zurück zu kommen... Was ist auf der anderen Seite?“ Sam sah nicht so aus als wollte er mir offenbaren, was auf der anderen Seite der Grenze war. „Vampire.“
„Wie, Vampire? Soll das ein Witz sein?“ Ich bekam keine Antwort. Mir dämmerte, dass sie nicht scherzen wollten, sondern sie grade die Wahrheit ausgesprochen hatten. „Sind sie...Sind sie gefährlich für uns?“, brachte ich schließlich hervor. Die Männer sahen sich an, dann brachen sie lauthals in Gelächter aus. Es war ein schon fast verächtliches Lachen, respektlos könnte man meinen. Um mich herum begann alles zu verschwimmen und ich konnte kaum noch die Augen offen halten, musste mich mit einer Hand am Tisch abstützen und sagte: „Okay, also, wenn mich diese Vampire nicht umbringen wollen, dann würde ich ganz gerne irgendwo schlafen...“, und hoffte, dass ich nicht zu unhöflich geklungen hatte. „Ich stimme Runa zu, es ist spät und wir können genauso gut morgen weiter reden, Sam!“ Er widersprach Leah nicht und wünschte uns beiden eine gute Nacht. Kein anderer außer Leah und mir machte Anstalten aufzustehen, doch das wunderte mich nicht. Sie hatten sicher noch viel zu besprechen. „Du wirst bei mir schlafen, wenn dir das nichts ausmacht. Seth geht heute Nacht auf Patrouille und wird erst Morgen früh wieder da sein.“ Sie sah mich von der Seite an und lächelte aufmunternd. „Danke sehr. Das nehme ich gerne an!“ Ich war kaputt und müde und verwirrt. Es war, als wüsste ich in dem Moment gar nichts mehr, als hätte nichts Bestand in der Welt die ich kannte. Schweigend liefen wir neben einander her. „Sam ist ein Arschloch“, ertönte es plötzlich von Leah. Und auf dem Weg nach Hause, in der Stille der Nacht, erzählte sie mir ihre Geschichte. „Wir waren zusammen, lange Zeit. Und wir haben uns geliebt. Er war meine große Liebe und er beteuerte mir immer wieder, ihm ginge es genauso. Er verwandelte sich und niemand war da der ihm sagen konnte, was mit ihm geschieht. Ich habe mir schreckliche Sorgen um ihn gemacht.“ Sie sah mich von der Seite an. „Irgendwann tauchte er wieder auf. Durch den Wind und geheimnisvoll. Dann tauchte meine Schwester auf, Emily. Er hat sich in sie verliebt.“ Ich sog zischend die Luft ein. Leah lächelte. „Nicht so wie du denkst. Er konnte nichts dafür, konnte nichts machen. Er hat sich auf sie GEPRÄGT!“ Sie sprach das Wort aus wie ein entsetzliches Schimpfwort. „Ich sollte dir das vermutlich überhaupt nicht sagen, denn es gehört zu den Geheimnissen der Gestaltwandler. Wenn man sich prägt, gibt es kein zurück. Es ist, als gäbe es nur diese Person für dich.“ Nachdenklich sah sie in den Himmel. „Deshalb hasse ich ihn nicht, wie könnte ich auch? Er hat nichts getan. Ich hasse ihn, weil ich ihn nicht hassen kann. Weil er mich verließ, aber nicht aus eigenen Stücken. Weil er mir das Herz brach, ohne Schuld auf sich zu laden.“ Sie senkte ihren Kopf und starrte auf den Boden. Weiterhin schweigend legte ich ihr meinen Arm um ihre Schultern.

6. Kapitel

Am nächsten Morgen saß ich auf der Bettkante und zog die Kleidung an, die mir Leah auf das Bett gelegt hatte. Ich stand auf und begutachtete mich im Spiegel, das erste mal seit meiner Verwandlung. Eigentlich wollte ich nur gucken ob irgendwelche Haare abstehen oder ob ich passabel aussah. Doch jetzt sah ich genauer hin – meine Augen waren strahlend blau, nicht hell sondern eher von einem unruhigen Meerblau mit hellen Lichtreflexen. Mein ganzes Gesicht wirkte schlanker, meine Kiefer- und Wangenknochen waren nun deutlich sichtbar. Gleich geblieben waren meine glatten hellbraunen Haare. Meine glatten, langweiligen, braunen Haare „Runa?“, hörte ich Leah von unten rufen. „Ich komme!“ Bevor ich aus dem Zimmer ging, betrachtete ich mich noch einmal von oben bis unten im Spiegel. Ich war eindeutig schlanker. Verwirrt ging ich die Treppe runter. „Was ist los?“, fragte sie mich. Sie wirkte frisch und ausgeschlafen. Es ging ihr sichtlich besser. „Ich habe mich verändert!“
„Das hätte ich dir auch sagen können. Man verändert sich nun mal wenn man so viel rennt und sich ständig in ein Tier verwandelt...“ Ich schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Meine Augen...“ Leah runzelte die Stirn. Das kommt dir bestimmt nur so vor. Mir fällt nichts auf!“ Sie drückte mir ein Sandwich in die Hand und ging hinaus. „Wo wollen wir hin?“, fragte ich während ich ihr folgte. „Wir treffen uns mit den anderen im Wald. Dann Training.“ Oh nein. Training? Wie das aussehen würde konnte ich mir bei Leibe vorstellen! Und ich hatte keine Lust da mit zu machen!
„Für mich?“, fragte ich etwas zu schrill. Leah lachte und ging etwas zügiger.
„Für uns alle! Doch wir sind alle schon gespannt wie du dich schlagen wirst!“ Ich musste hart schlucken. Ich hatte ganz schöne Angst um mich. Ich hatte das Rudel schon in Wolfsgestalt gesehen und gutmütig sahen die nicht aus! „Keine Angst“, fügte sie noch hinzu, „das ist nur Training und du bist ein Neuling. Keiner wird dich mit voller Kraft angreifen!“ Das beruhigte mich nicht grade.
Ich hatte keine Vorstellung, wie stark ich war, oder sie. Bisher hatte ich immer wieder für Überraschungen gesorgt. Heute werden sie vermutlich überrascht sein, wie schlecht ein Gestaltwandler im kämpfen sein kann.
Während wir weiter in Richtung Wald gingen, mampfte ich an meinem Sandwich. „Sag mal...diese Vampire“, nuschelte ich zwischen zwei Bissen. Leah warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ich darf dir nichts erzählen. Sam ist das Alphatier. Nunja, neben Jacob natürlich.“ Sie sah aus, als wäre da mehr als nur ein Versprechen, dass sie mir nichts erzählen würde. Doch da war noch etwas, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Neben Jacob? Habt ihr zwei Alphatiere? In einem Rudel?“ Leah seufzte. Endlich im Schatten der Bäume erzählte sie mir von Jacob und Sam.
„Sam war der erste der sich verwandelte. Ausserdem waren schon seine Vorfahren in den höheren Rängen des Rudels. Also war es für alle klar, dass er das Alphatier war und den anderen die Befehle erteilte. Doch mit einem Befehl war Jacob nicht zufrieden. Er widersetzte sich ihm, was für uns eigentlich unmöglich ist. Doch Jacob konnte es, denn er ist ein Black, er ist der wirkliche Anführer unseres Rudels. Doch Jacob wollte Sam nie seinen Rang wegnehmen, er empfand tiefen Respekt und Freundschaft für Sam. Also trennte Jacob sich vom Rudel.“
Ich sah sie völlig verblüfft an und sie lächelte nur leicht. „Das hört sich ziemlich unschön an, was bei euch abgegangen ist. Was ist aus Jacob geworden?“
„Du hast ihn gestern gesehen, derjenige der so eklig gerochen hat. Ihm schlossen sich zwei weitere aus Sams Rudel an, die lieber ihm gehorchen wollten. Erst wollte Jacob nicht, wollte über niemanden bestimmen und nur Herr über sich selbst sein. Schlussendlich nahm er uns doch auf.“ Jetzt grinste Leah gedankenverloren. „Uns?“, hakte ich nach. „Seth und mich. Wir hatten beide unsere Gründe.“ Jetzt sah sie wieder schweigsam und traurig aus. In mir schwirrten noch tausende von Fragen in Kopf, doch in dem Moment stießen wir auf eine große Lichtung, größer als die vom Vortag, wo sich Sams Truppe aufgestellt hatte, in Menschengestalt.

7. Kapitel

Auch Sam sah so aus, als wartete er darauf was er sagen würde. Ich hatte Angst. Sahen sie mich jetzt als eine Bedrohung an? Würden sie mich verstoßen? Ich gehörte nicht zu ihnen, sie waren nett, doch das würde jetzt vorbei sein. Würde ich anders handeln? Vermutlich nicht. Doch was sollte ich ohne sie machen? Keine Ahnung wie ich mit meinem neuen Ich umgehen sollte. Sam schwieg immer noch. Auch er sah angsterfüllt aus.
„Wer bist du?“, sagte er schließlich und ging einen Schritt zurück. „Alles an dir ist so anders. Bist du überhaupt auf unserer Seite?“ Er wurde immer aufbrausender. Mir kamen Tränen in die Augen, wegblinzeln half nichts. Jeder konnte meine innere Schwäche sehen. Ich sag verzweifelt zu Leah, doch sie würde mir dieses Mal auch nicht helfen können, das sah ich ihr an. „Sag, auf welcher Seite stehst du?“, bluffte er mich an und das Rudel murmelte zustimmend. „Ich...welche Seiten? Ich bin nicht euer Feind, glaubt mir!“, schluchzte ich. Niemand ging darauf ein. Alle sahen mich abschätzend an, sie kamen näher, so nah. „Bringen wir sie zu den Cullens, vielleicht zeigt sie da ihr wahres Gesicht!“, tönte es aus der Menge. Cullens? Ich kenne keine Cullens. Wer oder was sind sie? Monster, die mich angreifen, wenn ich mich nicht wehre? „Ich kenne keine Cullens!“, rief ich verzweifelt. „Wenn du wirklich auf unserer Seite stehst, kommst du freiwillig mit!“, sagte Sam. „O..okay“, stammelte ich, doch nichts war okay. Meine Knie zitterten und mein Puls raste. Ich bekam Kopfschmerzen, hörte das Blut durch meinen Kopf rauschen. Ich stieg in das Auto und dann hat mein Gedächtnis nichts mehr aufgezeichnet. Wie in Watte verpackt. Nichts von Bedeutung. Alles kaputt. Grade angefangen zu leben und nun soll alles vorbei sein. Das Auto stoppt. Die Tür wird aufgemacht. Ich versuche mich zu erinnern, wie man seine Muskeln benutzt. Wieso habe ich ihn besiegt? Immer wieder spielt sich der Kampf in meinem Kopf ab. In ihren sicherlich auch. Nur ein Schrittfehler und er hätte mich gehabt. Die anderen hätten gelacht, mir aufmunternd auf die Schulter geklopft „Das wird schon noch“ oder „Hast dich gut geschlagen“ gesagt. Nur ein Schrittfehler, nur ein kurzes Zögern. So naiv war ich. Ich gehörte nie zu ihnen, kein Stück. Ich steige aus. Mein Atem stockt. Ich blicke fragend nach hinten, dann wieder auf die helle Villa, mit der 9-Köpfigen Familie auf der Veranda. Sie lächeln. Warum nur? „Bringen wir sie zu den Cullens“ hallt in meinen Ohren. Es klang wie eine Drohung. Vielleicht sind sie das garnicht. Jetzt roch ich es. Und fühlte es am ganzen Leib. Es brannte so sehr und fast fing ich wieder an zu knurren. Ich versuchte es zu unterdrücken. Was auch immer das war, ich musste da durch. Aber dieser Drang... der Drang sie anzugreifen. Ich dachte an etwas friedliches, an Feldblumen und am Meer. „Hallo Runa“, sagt der blonde gutaussehende Mann. Überhaupt sehen alle gut aus. Sehr gut sogar. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich noch nie so einen schönen Menschen gesehen. „Ihr habt es ihr nicht gesagt?“, wandte sich einer von ihnen an Sam. Er sah beunruhigt aus. „Wir wollten etwas...testen.“, wand sich Sam. Testen? Wie ich reagiere? Ob ich zu ihnen gehörte? „Das ist uns bekannt“, zischte die kleine schwarzhaarige Frau, die unnatürlich gefährlich aussah. „Die Antwort ist Nein! Sie steht nicht auf „unserer Seite“! Sie weiß ja noch nicht einmal was wir sind! Aber vielleicht wäre sie bei uns besser aufgehoben, wenn ihr sie so schnell verstoßt! So etwas...“, sie zögerte einen Moment, „unmenschliches hätte ich von euch nicht erwartet!“ Nach ihrem Vortrag herrschte unheilvolle Stille, bis drei Wölfe aus den Wald kamen. „Ich soll für ihn sprechen“, murmelte der Mann mit den rot-braunen Haaren. „Er schlägt vor, dass wir alles in Ruhe bereden. Das Mädchen ist für jeden von uns ein Rätsel, doch es bringt nichts, sie von uns zu stoßen. Wir sollten versuchen eine Lösung zu finden, bis dahin soll das Kriegsbeil begraben sein.“ Ich blickte hoffnungsvoll in die Runde. Plötzlich trat der Blonde Mann auf mich zu, doch er lächelte und schüttelte mir die Hand. Ich stand stocksteif da und hielt die Luft an. Verdammt, wie Feuer in meiner Lunge. Dann sagte er im perfekten Deutsch: „Herzlich Willkommen, Runa! Wir entschuldigen uns für dieses unmögliche Verhalten. Das ist meine Familie, meine Frau Esme, Unsere Kinder Emmett mit seiner Frau Rosalie, Alice, mit ihrem Mann Jasper und Edward mit seiner Frau Isabella, äh, Bella und deren Tochter Renesmee!“ Ich sah ihn ungläubig an. „Ihre Kinder? Aber Sie sind so jung!“, presste ich hervor. Er lächelte, als wäre ich ein kleines Kind, dem er die Welt erklären müsste, doch ich fühlte mich nicht klein gemacht. Im Gegenteil. Ich fühlte mich als ob er es mir leichter machen wollte. Als wüsste er von meinen Schmerzen, die ich grade empfand. Seine Frau, Esme, eilte ebenfalls zu mir und lud mich in ihr wahnsinniges Haus ein. „Es ist wunderschön hier!“, raunte ich atemlos, mehr zu mir selbst. So langsam ging mir die Luft aus. Vorsichtig sog ich sie durch meinen Mund ein und unterdrückte ein Zittern. Was war mit mir los? „Vielen dank. Es ist immer wieder schön Komplimente dafür zu bekommen. Besonders, da wir nicht häufig Besuch bekommen. Willst du etwas trinken, oder essen?“ Ich lächelte. Sie war nett. Wie konnten Sie vorhin nur so schlecht über sie reden? Auch wenn diese Familie in mir viele Fragen aufwarf. Alles an ihnen war mir ein Rätsel. Von ihrem aussehen, über ihr perfektes Deutsch bis hin zu ihren rätselhaften Reden. Wer hatte ihnen all das erzählt? War es hier normal, ein Gestaltwandler zu sein? Machten sie sich keine Sorgen, dass dieses Wissen gegen uns verwendet werden könnte? Ich durfte nicht zu meiner Mutter, aber völlig fremden Menschen erzählten sie von meinem...Wesen. „Nein, danke.“
„Also, du bist Catwoman?“ grinste mich der riesige Kerl mit den Grübchen an, ich glaube Emmett war sein Name. Ich verzog mein Gesicht. „Emmett!“, tadelte Esme ihn, „halt dich ja zurück!“ Jetzt ergriff Carlisle wieder das Wort. „Nun, Runa, du fragst dich wer wir sind.“ Keine Frage, eine Feststellung. „Vorab möchte ich dir sagen, dass du jederzeit gehen darfst... keiner wird dich daran hindern, geschweige denn dir etwas antun. Am besten du hörst einfach nur zu und stellst am Schluss Fragen, das geht am schnellsten. Okay?“ Damit hatte er mir mehr Angst gemacht, als ich davor hatte. Wieso sollte ich das Bedürfnis haben zu gehen? Ich meine, das hatte ich. Schon die ganze Zeit. Doch was dachte ER, wieso ich gehen wollte? Sie würden mir nichts tun? Das klang wie in einem schlechten Film, sagen das nicht immer die Psychopathen und im nächsten Moment bringen sie dich um? Dieser Edward guckt schon so komisch, fast...amüsiert... oder mitleidig? Ich nickte. Was auch immer geschehen würde, von vornherein weglaufen brachte gar nichts. Ich würde zuhören. Bis zum Schluss.

8. Kapitel

Oder auch nicht. Dieses Brennen in meiner Kehle...diese Wut! Und im krassen Gegensatz zu meinen aufkochenden Gefühlen, die ich nicht fühlen wollte, Carlisles samtene Stimme. Es war, als würde man eine wunde unter kaltes Wasser halten. Es half nicht viel, aber ein wenig. Ein kleiner Trost, eine Ermunterung sitzen zu bleiben. Er sah mich prüfend an.
„Ich weiß, was du gerade durchmachst. Nicht nur, weil man dir das sofort ansieht. Sondern weil ich ein ähnliches Gefühl kenne. Oder zumindest kannte. Vielleicht hast du dir inzwischen gedacht, dass auch wir keine Menschen sind. Und keine Gestaltwandler. Du hast die Feindseligkeit zu spüren bekommen.“ Er machte eine kurze Pause und sah betrübt aus. „Das muss alles sehr Unwirklich für dich sein. Eben noch ein normales Mädchen bei seiner Familie und jetzt in einem fremden Land bei fremden Leuten und selbst du musst dir ganz fremd erscheinen.“ Er sah mich nachdenklich an, als würde er sich an eine Zeit zurückerinnern. Vielleicht kennt er diese Situation ja? Niemanden zu haben den man kennt und den man sich vollkommen anvertrauen könnte.
„Runa, ich will dich nicht auf die Folter spannen. Das Gefühl, diese Aggressivität die du uns gegenüber verspürst kommt daher, dass wir deine natürlichen Feinde sind. Du bist ein Gestaltwandler, zumindest sprechen einige Dinge dafür. Meine Familie und ich sind Vampire.“
Ich zog die Augenbrauen hoch. Massen von Bilder erschienen in meinem Kopf. Blass, schwarze schulterlange Haare, schwarzer wehender Umhang. Aber so sah die Realität nicht aus. Mir wurde klar, dass ich mich vollkommen loslösen musste von den Dingen, die vorher meine Welt bestimmt hatten. „Sicherlich hast du den Begriff schon gehört, aber ich will dir erklären, was er in Wahrheit bedeutet. Es heißt, dass meine Familie und ich uns von Blut ernähren. Von Tierblut, was uns zu besonderen Vampiren macht. Leider muss ich sagen, dass in dieser Hinsicht die Vorstellung, die die
Menschen haben real ist. Die meisten Vampire ernähren sich von Menschenblut. Es schmeckt ihnen besser und sie sehen Menschen als niedere Geschöpfe haben, die nur leben, weil sie ihnen als Nahrung dienen. Die, die du hier sitzen siehst, sehen das natürlich anders. Sie erinnern sich noch daran, wie es war selbst Mensch zu sein, wenn auch nur noch sehr schwach. Durch einen Biss wird man in einen Vampir verwandelt. Es ist äußerst schmerzhaft, weil sich das Gift im Körper ausbreiten muss. Das Vampir-Dasein hat auch positive Seiten. Wir schlafen nie und sind unsterblich, obwohl es Wege gibt, einen Vampir zu töten.“ Ich sah wohl leicht verwirrt aus, denn er erläuterte dies nochmal genauer. „Wir können nicht sterben, sondern nur vernichtet werden, verstehst du?“ Ich nickte. „Ich könnte dir noch viel mehr von unserem Wesen erzählen, doch das muss für den Anfang genügen. Wie wäre es, wenn wir uns in die Küche begeben? Ihr müsst hungrig sein und Esme hat für euch gekocht.“ Ich lächelte. Wie zuvorkommend, wo sie doch selbst nichts aßen. Meine und Edwards Blicke trafen sich. Er sah entspannter aus als vorhin, genauso wie der blonde Junge neben ihm. Trotzdem hatte sein Blick noch immer etwas Gequältes. Edward trat nun auf mich zu „Hallo, ich bin Edward. Es freut mich dich kennenzulernen. Du fragst dich sicher was das vorhin war, warum ich für Sam gesprochen habe.“ Ich nickte schüchtern. „Kannst du Gedanken lesen?“ fragte ich nun. Ich hatte die Vermutung erst bekommen während Carlisle erzählte. Wie er mich ansah. So wissend.
„Genau“, beantwortete er mir die Frage. „Einige von uns haben besondere...Fähigkeiten.“
Während er erzählte schlenderten wir Richtung Küche. Alice und Bella saßen noch auf der Couch und unterhielten sich leise. „Jasper kann die Gefühle im Raum spüren oder sie sogar beeinflussen. Leider beeinflussen die Gefühle auch ihn, wenn sie allzu stark sind. Bella“, er warf einen verliebten Blick in ihre Richtung den sie kurz erwiderte, „sie kann einen Schutzwall um sich und um andere ziehen und somit vor vielen, aber nicht allen von unseren Fähigkeiten schützen.“
Ich sah sie nachdenklich an, dann wieder Edward. „Also gibt es viele mit solchen Fähigkeiten? Alle Vampire sogar?“
„Nein, nicht alle. Aber es sind einige. Manche Fähigkeiten sind weniger offensichtlich wie andere und ähneln eher stark ausgeprägten Charakterzügen, wie du bei Carlisle, Esme und Rosalie noch merken wirst. Alice kann in die Zukunft blicken und Renesmee kann anderen ihre Eindrücke per Berührung anderen mitteilen. Emmett zeichnet sich durch seine Stärke aus. Er ist noch stärker, als „normale“ Vampire“. Ich sah Richtung Emmett, der schon am Tisch saß. Ich bemerkte, dass einige aus dem Rudel gegangen sind. Wie unhöflich, dachte ich, obwohl es für mich noch immer eine Qual war zu atmen. Die einfachsten Dinge waren so schwer. Gehen, ohne gleich auf einen los zu rennen. Ausatmen ohne zu knurren. Sprechen, ohne die Zähne wie ein aufgebrachter Hund zu fletschen. Es war mir so peinlich, dass Edward genau hörte was ich dachte. Was er von mir halten musste. Oder Jasper, der meine Gefühle spürte. „Wir verurteilen dich deswegen nicht, Runa. Du schlägst dich großartig. Besonders, wenn man bedenkt, dass es bei dir weitaus stärker ist als bei den anderen Gestaltwandlern. Du kannst sehr stolz auf dich sein! Du beweist sehr viel Stärke!“ Ich sah auf den Teller, den mir Esme soeben hingestellt hatte und bedankte mich. Am Tisch saßen nun alle Cullens außer Rosalie, sowie Sam, Jakob, Leah, Seth, Paul, Quil und Jared. Der Rest des Rudels war schon gegangen. Wir unterhielten uns noch viel, ich lernte nun auch Bella kennen und ihre wundervoll ruhige Art. In dieser Hinsicht erinnert sie mich an Carlisle. Sie und Esme waren mir gegenüber besonders einfühlsam. Sie fragten mich mehrmals nach meinem Befinden, machten die Fenster weit auf und stellten eine Duftkerze auf den Tisch. Zwar brachte das so gut wie nichts, aber die Geste zählte, weshalb ich mich bedankte und so tat, als würde es mir schon viel besser gehen. Jasper und Edward verrieten mich nicht. Nach dem Essen, welches wirklich vollzüglich schmeckte, blieben wir am Küchentisch sitzen. Carlisle ergriff nun wieder das Wort. „Runa, wir sind hier um herauszufinden, wieso du anders bist als die anderen Gestaltwandler. Ich schlage vor, du erzählst uns erst einmal etwas von dir und wir werden sehen, ob uns das weiter bringt. Natürlich nur, wenn du dazu bereit bist. Dir steht schließlich zu, jederzeit aufzustehen und zu gehen.“ Ich sah ihm fest in die Augen. „Und wohin sollte ich?“

9. Kapitel

„Also...Ich wurde am 28. Dezember 1995 geboren. Also bin ich jetzt 16... Als ich 5 Jahre alt war ließen sich meine Eltern, Markus Sommerfeld und Antonia Meier scheiden. Mein Vater zog aus. Ich hab ihn seitdem vielleicht fünf mal besucht oder so. Und dann waren auch nie alleine, sondern mit der Familie von Dad essen. Eigentlich verlief mein Leben ganz normal, also... ich hätte nie gedacht, dass etwas anders mit mir ist.“ Ich sah in die Runde. Ich wusste nicht genau was sie hören wollten. „Das bringt uns nicht weiter. Anscheinend lag dieses Gen nicht in ihrer Familie. Etwas anderes muss es ausgelöst haben“, meinte Emmett.
„Woher willst du das wissen? Sie ist abgehauen, bevor die Mutter etwas davon mitbekommen konnte. Außerdem würde wenn überhaupt ihr Vater etwas davon wissen“, widersprach Leah heftig. „Wie lief deine Verwandlung ab?“, fragte nun Carlisle ruhig und musterte mich.
„Ich wurde krank. Ich war extrem unterkühlt, meine Temperatur lag bei 34 Grad oder so. Dementsprechend war ich schwach und hatte Kopfschmerzen. Ich hab gezittert. Aber trotzdem hatte ich den Drang nach Draußen zu gehen, in den Wald. Ich hab mich aus dem Fenster geschlichen als meine Mum aus meinem Zimmer ging. Naja, als ich Leah in Wolfsgestalt dann sah, habe ich mich verwandelt.“ Sie sahen mich verblüfft an. Alle, außer Leah, die mich ja gesehen hatte und bestimmt meine Unterkühlung bemerkt hatte. „Noch ein Unterschied zu Sams Rudel. Sie zeichnen durch ihre erhöhte Temperatur aus“, murmelte Carlisle. Er stand auf. „Darf ich einmal deine Temperatur messen?“ Ich nickte und er legte seine Hand auf meine Stirn. „34,2 Grad Celsius“, verkündete er. „Das ist interessant.“
„Aber was hat das zu bedeuten?“, fragte ich angespannt. Ich wollte nicht schon wieder diese Feindseligkeit spüren, die Sam vorhin an den Tag gelegt hatte. Das ganze erinnerte mich stark an Faschismus. Aber ich verwarf den Gedanken. Er war lächerlich. „Vielleicht eine Mischung aus Vampir und Gestaltwandler?“, schlug Emmett vor. „Hm“, machte Carlisle nach einer Weile, als wollte er das nicht ganz ausschließen. „Dann müssen wir wohl Ahnenforschung betreiben“, während er das sagte, fixierte er Jasper und Alice.
„Natürlich, das machen wir. Und nein, ich kann nichts sehen. Es ist wie bei den anderen“, flötete Alice und ergriff Jaspers Hand. Esme trat neben Carlisle. „Du könntest doch Runas Blut untersuchen. Vielleicht sagt uns das etwas zu ihrer... Zugehörigkeit.“
Mein Blut? Wie war das denn jetzt zu verstehen? Edward antwortete mir. „Carlisle stellte fest, dass Vampire, Menschen und Gestaltwandler eine verschiedene Anzahl von Chromosomenpaaren haben. Wenn er dein Blut untersucht, kann er diese ermitteln. So können wir feststellen, in welchen der drei Kategorien du am ehesten einzuordnen bist.“ Das klang einleuchtend. „Okay. Einverstanden.“

Schon fünf Minuten später saß ich im Auto von Carlisle. Der eklig süße Geruch trieb mir die Tränen in die Augen. Alles roch so gefährlich. Was jedoch so absurd war, denn die Cullens waren so nett und herzlich, gut, einige von ihnen waren noch sehr misstrauisch. Ich könnte eine Gefahr sein. Niemand wusste wer ich war und woher ich kam. Doch wenn sie damit ein großes Problem hatten, zeigten sie mir es nicht. Carlisle ließ, aufmerksam wie er war die Fenster des Autos ganz runter und sah mich besorgt an. „Wenn ich sonst noch was für dich tun kann..?“
Ich unterbrach ihn. „Ihre Familie tut schon so viel für mich. Und wie danke ich ihnen? Indem ich die ganze Zeit dem Drang widerstehen muss, sie anzugreifen. Es tut mir so leid. Ich schäme mich wirklich sehr dafür.“ Er sah mich mitleidig an. „Aber dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Das ist nun mal deine Natur. Wir alle haben diesen Drang. Mit der Zeit wird es leichter. Glaub mir.“ Ich glaubte ihm. Nicht nur, weil er eine so aufrichtige Art hatte, die mich daran zweifeln ließ, ob er je aus Eigennutz gelogen hatte, sondern auch, weil ich selbst merkte, wie es mir schon leichter fiel neben ihm zu sitzen. Ich konnte schon einatmen, ohne das Gefühl zu haben, etwas würde meine Lunge zusammen zu pressen. Ich hatte nicht das Gefühl, kurz vor der Verwandlung zu stehen. Wenn ich darüber nachdachte, war ich sogar sehr stolz darauf, mich nicht verwandelt zu haben. Ich sah aus dem Fenster und betrachtete die Gegend. Forks.
Sollte das nun mein neues Zuhause werden? Oder vielmehr LaPush? Würde ich je wieder nach Deutschland zurückkehren, zu meiner Mum um ihr zu sagen wie sehr ich sie liebte und was für eine Idiotin ich war. Sie hatte alles verloren. Ich habe ihr den letzten Halt kaltblütig unter den Füßen weggezogen. Einfach so. Bei dem Gedanken krampfte sich alles in mir zusammen und gleichzeitig wollte ich schreien, so laut, dass niemand es überhören konnte. Andererseits wollte ich stark sein. Für meine Mutter. Für SIE. Und für mich selbst.
„Runa? Alles okay mit dir? Was ist los?“, fragte Carlisle erschüttert. Er hielt den Wagen an. Ich stieg nicht aus. Ich blieb einfach sitzen. Und ich weinte. Was für eine merkwürdige Situation. Hier sitze ich, neben meinem „natürlichen Feind“ und zeigte ihm wie schwach und kaputt ich war. Er beugte sich zu mir herüber und nahm mich in den Arm. Ich verkrampfte mich, meine Finger pressten sich an seinen Rücken, als wollte ich ihn zerdrücken, aber er ließ mich nicht los. Er zeigte keine Reaktion, als wäre nichts Abnormales an dieser Umarmung. Ich war mir sicher, dass ich ihm weh tat, aber ich konnte meinen Griff nicht lockern. So grotesk. Mein Kopf an seiner Halsbeuge, weinend und meine Arme, die ihn verletzen wollten. Aber irgendwann sackte ich einfach in mich zusammen. „Du vermisst sie sehr, nicht wahr?“ Ich nickte und schluchzte auf. „Sie...sie hasst mich...jetzt bestimmt“, brachte ich hervor. „Nein, wieso sollte sie? Du bist ihr Kind. Sie liebt dich“, versicherte er mir leise, aber bestimmt. „Aber wegen...mir, wegen mir muss sie nochmal leiden.“
Carlisle erwiderte nichts. Und dafür war ich ihm sehr dankbar. Ich war zu aufgelöst um noch mehr preis zu geben. Um etwas von IHR preis zu geben. Wir lagen uns noch minutenlang so in den Armen, bis ich mich irgendwann zurückzog. „'s geht schon wieder“, nuschelte ich immer noch unter Tränen, die ich erbost fort wischte. Er sah mich noch mal kurz von der Seite an, dann fuhr er weiter. „Das bleibt doch unter uns, oder?“, fragte ich leise, mit brüchiger Stimme. Dass ich ihm so nahe gekommen war, verschüchterte mich nun.
„Natürlich“, lächelte er. „Du musst dich dafür nicht schämen. Ich wäre froh, wenn ich weinen könnte. Es muss sehr entlastend sein.“ Ich sah ihn perplex an. „Du kannst nicht weinen?“, fragte ich ungläubig. „Nein.“
Ich versuchte mir vorzustellen wie es war, nicht weinen zu können. Ich konnte es nicht. Ich nahm das Weinen als Selbstverständlichkeit und eine Selbstverständlichkeit konnte ich mir nun einmal nicht wegdenken. „Carlisle, darf ich dich etwas fragen?“
„Alles“, meinte er aufrichtig. „Was für eine Gabe besitzt du?“ Er schmunzelte. „Es ist mein Mitgefühl. Es hat mir ermöglicht, den Lebensstil zu entdecken den ich und meine Familie jetzt führen. Und dass ich Arzt geworden bin.“
„Aber besitzt nicht jeder Mitgefühl?“, fragte ich prompt und bereute es sofort. Er sollte nicht das Gefühl haben, ich hielt seine Gabe für wertlos. Doch er lachte leise. „Eine sehr interessante Frage. Ich vermute, du beziehst dich dabei auf die anderen Vampire? Die Nicht-Vegetarier?“ Ich nickte stumm. „Ganz genau kann ich das nicht beantworten. Vampire haben viel mehr animalische Triebe. Sie können menschliche Gefühle ganz abstellen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht da sind.“ Ich zog meine Augenbrauen zusammen. „Das heißt also, sie glauben, dass Tiere kein Mitgefühl empfinden?“ Wieder lachte er. Nicht spöttisch, sondern vielmehr anerkennend. „Stimmt, das sollte ich anderes ausdrücken. Vampire können soziale Gefühle wie Mitleid einfach abschalten.“ Er sah mich an und dann wieder auf die Straße. Wir sind jetzt gleich da. Merk dir deine Fragen für später.“ Ich grinste.

10. Kapitel

„Setz dich doch schon mal auf den Stuhl dort, ich komme sofort wieder“, versicherte mir Carlisle und verließ den Raum. Anstatt mich zu setzen ging ich umher und sah mir die verschiedensten Dinge an. Ein großes Regal über und über gefüllt mit Büchern zog mich an. Mit meinen Fingerspitzen strich ich vorsichtig über die Bücherrücken. Einige von ihnen waren schon sehr alt. Ich glaubte nicht wirklich, dass er daraus noch sein Wissen zog. Vermutlich hatte es sentimentalen Wert. Oder er mochte alte Bücher. Andere hingegen waren sehr modern. Auflage 2011. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er ein guter Arzt war. Man konnte sich glücklich schätzen, von ihm behandelt zu werden.
Auf seinem dunklen Schreibtisch standen mehrere Fotos. Von Esme und den Rest seiner Kinder. Von Renesmee hatte er gleich zwei aufgestellt. Er muss sehr stolz auf sie sein. Zwar hatte ich selbst das Mädchen noch nicht gesehen, aber darüber war ich auch größtenteils froh. Was, wenn ich sie verletzen würde? Nein, so wie es war, war es gut. Leah hatte mir einiges erzählt. Sie empfand Renesmee als verzogen und hochnäsig. Auf den Bildern sah sie aus wie jedes andere Kind.
Dasselbe Leuchten in den Augen. Ich spürte eine kalte Hand auf meiner Schulter, so kalt wie meine, und zuckte kurz zusammen. „Du hast mich erschrocken“, tadelte ich ihn. „Sollen wir?“, fragte er und deutete mir mich zu setzen. Ich zog meinen Cardigan aus und setzte mich hin und drehte den Arm so, dass meine Handfläche nach oben zeigte. Blut abnehmen war für mich nicht schlimm. Zwar war ich immer etwas angespannt, aber ich bekam keine Angstzustände oder so. Während er seine Arbeit tat, sah ich trotzdem vorsichtshalber in eine andere Richtung. Man muss das Schicksal ja nicht heraus fordern.
Wirklich spannend wurde es erst, als wir ins Labor gingen um mein Blut auszuwerten. Er hatte mir genug entnommen um auch ganz normale Tests durchzuführen, wie meine Eisenwerte waren und so weiter. Das wollte ich eh schon vor Jahren machen, hatte es dann aber doch immer wieder vor mich her geschoben. So ganz genau verstand ich nicht was er da machte. Ich vermute, dass er in einigen Proben eine Art Kontrastmittel hinzufügte, andere schob er unberührt unter das Objekt eines großen Mikroskops – viel größer, als die, die ich aus meiner Schule kannte. Neugierig stand ich neben ihm. Als er kurz seinen Blick von der Linse nahm um seine Beobachtungen zu protokollieren warf ich einen Blick hinein. Tatsächlich sah ich Chromosomenpaare – wie viele Paare es waren hätte ich jedoch nicht sagen können. Auf dem ersten Blick sah es einfach nur aus wie ein Knäuel aus Fäden. Als ich mich wieder aufrichtete, spürte ich Carlisles amüsierten Blick auf mir. Mit gespielter Fachkenntnis beäugte ich sein Protokoll. „Mr Cullen, sind Sie sich der Richtigkeit ihrer Protokolle sicher?“ Wir lachten. Dann sah ich ihn ernster an. „Und? Was bin ich? Gestaltwandler? Mensch? Vampir?“ Auch er blickte nun ernster. „Nunja. Natürlich können wir uns nicht nur auf diese Aussage stützen, aber du hast genau dieselbe Anzahl an Chromosomen wie Jakob. Herzlichen Glückwunsch, vermutlich bist du tatsächlich ein Gestaltwandler!“ Ich atmete laut aus. Ein Stein viel mir vom Herzen. Auch wenn Carlisle keine verbindliche Aussage machte, den anderen würde es vermutlich fürs erste reichen, um mich in ihrem Rudel zu akzeptieren. „Das sind gute Neuigkeiten!“, sagte ich nachdrücklich. „Deine anderen Werte sind übrigens alle nahezu perfekt. Ich habe zwar nicht alles überprüft, aber die Wichtigsten Dinge sind im grünen Bereich. Erstaunlich bei deiner Körpertemperatur.“ Ich blickte wohl auch etwas enttäuscht drein, denn er lachte. „Und du hast kein Mutanten-Gen entdeckt oder so?“
„Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen, rein gar nichts. Allerdings möchte ich gerne noch einmal in ein paar Wochen genauer forschen, wenn du damit einverstanden bist?“ Auf dem Weg nach Draußen sagte ich ihm diesen „Termin“ zu.
„Und, schon eine Ahnung wie du es den Anderen sagen willst?“ Ich verstellte meine Stimme, sodass sie sehr tief klang. „Und? Was kam raus? - Dann sag ich: Bin ein Gestaltwandler! - Und er dann: Dann ist ja alles gut!“ Carlisle lachte. Du kannst Sam gut einschätzen. Er ist kein Mann großer Worte, er beschränkt sich eher auf das Wesentliche...“ Ich unterbrach ihn. „Freund oder Feind“, murmelte ich grimmig. „Er versucht nur, sein Rudel zu beschützen“, verteidigte er ihn. Ich seufzte. „Du hast recht Vermutlich würde ich an seiner Stelle sogar noch verschlossener sein.“
Der Rest der Fahrt verlief schweigend, obwohl ich noch unendlich viele Fragen an Carlisle hatte. Ich merkte, wie ich müde wurde. „Ich bringe dich zu den Clearwaters. Leah ist auch schon dort. Wir besprechen morgen, was die anderen herausgefunden haben. Du brauchst eindeutig Schlaf.“ Ich sah wieder aus dem Fenster. Draußen war es schon stockdüster. Die Laternen brannten wie kleine schwebende Kugeln. Ich nickte. Ich hatte gar nicht bemerkt wie lange wir im Labor gewesen waren.
Den Rest der Fahrt verschlief ich leider. Ich hatte mein Kopf an das Fenster sinken lassen, meine Hände zwischen meine Beine geklemmt als wollte ich sie wärmen, obwohl mir gar nicht kalt war. Ich hörte noch, wie Carlisle Musik einschaltete, Pianomusik. Ich glaubte, ein paar sogar erkennen zu können und überlegte wie der Pianist hieß.

Ich war im Zirkus und ritt auf einem Elefanten. Er war wunderschön geschmückt und ich saß ein einem großen ledernen Sitz. Ich ließ meinen Blick durch das Publikum schweifen und lächelte. Aber plötzlich Stand eine Frau auf und schrie und zeigte mit ihrem Finger auf mich. Alle sahen von der Frau zu mir und gerieten in Panik. Die Frau war meine Mutter. Meine Mutter, die Angst vor mir hatte. Ich sah an mir herunter, doch ich konnte nichts merkwürdiges erkennen, ich sah aus wie immer. Plötzlich nahmen sich die Leute Stöcke und Eisenstangen und gingen auf den Elefanten, auf dem ich noch immer saß zu. Sie schlugen auf den Elefanten ein, bewarfen mich mit Allem was sie in die Finger bekamen und schrien „Tötet das Monster!“ oder „Sperrt es weg!“ oder auch direkt an mich gerichtet: „Du kannst uns keine Angst machen!“
Um mich herum zwitscherten Vögel, Gras kitzelte meine Wange. Durch meine geschlossenen Augenlider konnte ich schon die Sonnenstrahlen erahnen. Ich sah hinauf in den Himmel. Die Vögel kreisten ihre Runden. Sogar ein Adler war unter ihnen. Komisch, welch ein Tumult! Auf der Erde sah es nicht anders aus. Ich sah wie Rehe mich durch die Lücken vom Busch beobachteten, zumindest kam mir das so vor. Igel und Kaninchen saßen im hohen Gras, sogar einen Fuchs meinte ich erkennen zu können. Ganz friedlich sah er aus. Doch auf einmal stoben sie alle auseinander! Für einen kurzen Moment verdunkelte sich der Himmel, weil so viele Vögel aus den Bäumen geflogen waren um das Weite zu suchen. Fasziniert beobachtete ich sie, dann blickte ich in den Wald und sah, was sie beunruhigt hatte. Es war ein Vampir.

Ich schreckte auf. Und ließ mich seufzend zurück in die Kissen fallen. Carlisle musste mich ins Haus getragen haben. Wie peinlich. Mein Wecker zeigte mir, dass es viel zu früh zum aufstehen war. Aber ich war hellwach. 3 Uhr 27. Was kann man da schon machen? Niemand war wach, da war ich mir sicher. Sam hatte gesagt, manchmal lief sein Rudel auch Nachts Patrouille, aber momentan wäre die Gegend ruhig und friedlich. Die Vampire fürchteten sich vor den Cullens. Die, die ihre Sippe verraten hatten, indem sie sich mit Werwölfen abgaben. Dass sie keine Werwölfe waren hatte niemand korrigiert. Anscheinend gefiel es Sam, dass die Anderen sie für finstere Geschöpfe hielten. Also, was jetzt? In eine Kneipe fahren, flüsterte mir die alte Runa zu. Betrink dich doch mal wieder ordentlich, ist doch sowieso überfällig. Ich entschied mich dagegen. Aber die Tatsache, dass es einen Teil in mir gab, der das wollte, beunruhigte mich. Ich starrte an die Decke. Gut, ich würde mich nicht in eine düstere Bar begeben und mich von schmierigen Männern bequatschen lassen.Liegen bleiben wollte ich aber trotzdem nicht. Ich stand auf, zog mich an und warf noch einen Blick in den Spiegel. Einen Moment der Überlegung und ich hatte meine Haare zusammen gebunden. Dann nahm ich mir meinen MP3-Player und ging bedacht die Treppe runter. Fast hätte ich ein Bild von der Wand runter geschmissen, konnte es aber noch fest halten und grade rücken. Als ich die weiße Holztür aufmachte, kam mir eine sanfte Sommerbrise entgegen. August. Eindeutig einer der schöneren Monate.

11. Kapitel
Als ich die toten Hosen durch meinen MP3-Player spielen hörte, erinnerte ich, wie gerne ich Musik hörte. Und wie sehr ich es vermisste, deutsch zu sprechen. Zwar konnten die Cullens alle akzentfrei deutsch sprechen, doch ich hatte sie gebeten mit mir Englisch zu sprechen. Schließlich wohne ich ja jetzt hier, dachte ich mit ein wenig Bitterkeit. Ich lief die Auffahrt herunter, auf der ein Auto parkte. Bisher hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht, wohin ich wollte. Da ich mich hier nicht allzu gut auskannte, lief ich einfach nach links. Der Himmel war absolut schwarz, die Sterne konnte ich an zwei Händen abzählen. Allein die Straßenlaternen spendeten grelles, unnatürliches Licht. Je länger ich lief, desto dümmer kam ich mir vor. Mitten in der Nacht loslaufen, in einer Stadt die ich kaum kannte. Ich hatte Angst, obwohl ich alles gestochen scharf sehen konnte und ich womöglich das gefährlichste Wesen war, was sich zurzeit auf den Straßen aufhielt. Immer noch keine Menschenseele zu entdecken. Der Wald zeigte sich einige hundert Meter von mir entfernt in voller Pracht. Warum auch nicht?, dachte ich mir und lief darauf zu. Ich versuchte mir den Weg zu merken, suchte nach markanten Steinen oder Bäumen, an die ich mich später sicherlich erinnern würde. Meine innere Uhr sagte mir, dass ich nun ungefähr eine Stunde gelaufen war, als ich Geräusche vernahm. Nicht ungewöhnlich, hier gab es viele Tiere, die es pflegten Nachts zu jagen.Trotzdem blieb ich auf der Hut, sah mich um und lief langsamer. So lief ich, bis mir ein Fuchs auf dem Weg sprang. Ich atmete erleichtert aus. Wusste ich es doch. Wer oder was sollte denn für mich gefährlich werden? Es war vermutlich das Gefühl, noch nicht alles von der neuen Welt in der ich geraten war zu verstehen und die Tatsache, dass ich meinen Platz in ihr noch nicht kannte. Der Wald lichtete sich wieder, nach dem Vorfall mit dem Fuchs hatte ich vergessen auf den Weg zu achten und war überrascht, als ich merkte was für ein Geruch mir in die Nase stieg. Vampire. Schon wieder fing ich an zu Zittern, versuchte es aber zu unterdrücken. Abwarten, Runa, abwarten.

Als Alice und Jasper wenig später in mein Sichtfeld traten legte sich mein Zittern zwar nicht, aber ich war erleichtert. „Oh, ähm. Tut mir leid, ich hab mich verlaufen. Ich wollte nicht stören!“, entschuldigte ich meine unangemeldete Ankunft und wollte mich umdrehen und auf den Rückweg machen. „Bleib doch, Runa. Wir haben dich schon erwartet“, flötete Alice. Ich lächelte, als ich an ihre erstaunlichen Fähigkeiten dachte. Jasper sah mich freundlicher denn je an. „Ich will euch wirklich keine Umstände machen...“, bemerkte ich. Alice sprang, in menschlicher Geschwindigkeit, auf mich zu und hakte sich bei mir unter. „Tust du nicht“, lachte sie. „Ein bisschen Abwechslung ist immer nett!“ Und schon wurde ich von Alice mitgezogen, Jasper lief vor uns und sah sich kein einziges Mal um. Die erste, die mich empfing, und zwar genauso enthusiastisch wie Alice, war Esme. Sie umarmte mich vorsichtig und sah mir in die Augen. „Schön dich zu sehen, Runa. Wir freuen uns sehr über deinen Besuch!“ Von so viel Freundlichkeit wurde ich richtig verlegen und hatte den Drang, ihr etwas davon zurück zu geben. „Danke, dass ich hier sein darf“, murmelte ich und drückte sie noch einmal kurz an mich. Sie strahlte. Schräg hinter ihr stand Carlisle. „Guten Morgen, Runa! Was treibt dich so spät in den Wald?“, fragte er sanft, eine Hand auf meine Schulter gelegt führte er mich ins Wohnzimmer. „Ich weiß nicht genau. Ich hab schlecht geschlafen.“ Ich setzte mich auf eine Couch und zog meine Beine an zum Schneidersitz. „Und dann dachtest du, lauf ich einfach mal ganz allein irgendwo hin?“, fragte Jasper mich mit hochgezogener Augenbraue, den so viel Unverstand sichtlich zu verärgern schien. „Wieso nicht? Sam meinte, die Gegend sei ruhig, seit eurem Kampf mit den Volturi“, erwiderte ich. „Das stimmt. Viele, unserer Artgenossen haben nun Angst vor unserer Macht. Doch sie durchqueren trotz alledem ab und zu unser Gebiet, natürlich nur, wenn ihnen nichts anderes übrig bleibt. Sie haben Angst uns zu treffen, doch keine, den Volturi zu berichten wenn sie eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht haben. Wie zum Beispiel eine neue Art eines Gestaltwandlers“, erklärte Jasper. „Du scheinst dir sehr sicher sein, dass ich ein Gestaltwandler bin“, merkte ich verwundert an. „Ja, das sind wir alle, Runa. Und das nicht nur wegen den Laborergebnissen. Sie bestätigen nur unseren Verdacht, weißt du?“, sprach Carlisle nun wieder. „Ihr habt es die ganze Zeit geahnt?“
„Ich würde noch weiter gehen und sagen: Es lag auf der Hand“, flötete Alice mit behutsamer Stimme, „als sich die Quileute damals in ihrer Not im Geiste mit Wölfen verbanden, hätte es auch jedes andere Tier sein können. Zumindest haben wir das so geglaubt. Niemand von uns hätte es sich vorstellen können, dass es irgendwo anders auf der Welt noch einen Zirkel gab, der auf dieselbe Idee kam, nur dass sie sich mit einem Luchs verband.“ Ich starrte Alice an. Das alles ergab Sinn für mich. Ich trug keinen Funken Zweifel in mir, dass es genauso war wie sie sagten. Es hörte sich einfach richtig an und es war dazu auch noch die nächstliegendste Erklärung. Eine Erleichterung durchflutete mich, die auch Jasper zu spüren schien, denn er sah mich interessiert an. Ich war erleichtert, denn nun wusste ich, wo mein Platz in dieser verdrehten Welt war, zumindest hatte ich eine ungefähre Ahnung. Das gab mir ein Gefühl von Sicherheit. „Jetzt steht also nur noch die Frage im Raum, zu welchem Zirkel ich gehöre“, flüsterte ich und sah in die Runde. Die Cullens sahen mich gespannt an. „Nicht ganz“, widersprach Edward. „Uns alle interessiert inwiefern du dich von den Quileute aus LaPush unterscheidest, abgesehen von der Gestalt und der Stärke. Irgendetwas ist anders an dir. Vielleicht ist es dein noch viel stärkerer Drang, Vampire anzugreifen“, bei diesen Worten sah ich schuldbewusst zu Boden, „aber auch dein bemerkenswerter Sinn für Gerechtigkeit. Schließlich hat dieser innere Drang sehr stark nachgelassen, als du erfuhrst, dass wir keine Menschen töten.“ Ich sah ihm in die Augen. Er hatte Recht. Zwar war es schrecklich, als Carlisle und ich uns so nahe waren und auch jetzt musste ich ständig auf der Hut sein. Aber er hatte Recht, dieses unbändige Gefühl, sie auf der Stelle töten zu MÜSSEN, war abgeklungen. Doch ich verließ mich nicht darauf. Was, wenn es wiederkam?
Urplötzlich fühlte ich mich sehr alt und sehr müde. Diese ständige Kontrolle strengte mich an. „Ich bin müde. Ich werde mich draußen etwas hinlegen, wenn es euch nichts ausmacht. „Natürlich nicht“, sagte nun die wundervolle Esme. „Aber du sollst wissen, dass auch hier ein Bett für dich bereit steht und was du sonst noch brauchst.“ Als ich mich von der Couch aufrichtete, merkte ich wie wackelig ich auf dem Beinen war vor Müdigkeit. „Danke für das Angebot. Ich weiß das sehr zu schätzen. Doch ich denke, ich habe für heute genug darauf aufgepasst, niemanden an die Gurgel zu springen.“ Ich lächelte matt. „Es tut mir leid, aber Draußen im Wald kann ich mich entspannen.“ Sie nickte verständnisvoll, aber besorgt. „Wir sehen dich nachher wieder?“, fragte sie mich mit einer Spur von Hoffnung. Es rührte mich, dass sie mich so zu mögen schien. „Nachdem ich ein wenig geschlafen habe, komme ich zurück.“ Und damit verließ ich das Haus der Cullens, Vampire wider der Natur.

12. Kapitel

Was ist gefährlicher? Der Wald? Die Cullens? Welche sollte ich im Blick behalten? Vermutlich ist der Wald gefährlicher für mich, dachte ich mir und legte mich trotzdem mit der Schnauze in Richtung des schönen Herrenhauses. Es war irgendwie beruhigend das Treiben zu beobachten. Es war warm, doch das störte mich nicht sehr. Es lullte mich viel mehr ein. Ich brummte ein Schlaflied vor mich hin und wog mich damit selbst in den Schlaf. Es war so einfach Tier zu sein. Ich hätte mir vorstellen können, dass ich mir fremd vorkommen würde, aber dem war nicht so. Viel mehr hatte ich das Gefühl von den Zwängen die wir Menschen uns selbst auferlegen losgelöst zu sein. Ich fühlte zwar noch genauso wie vorher, den Verlust meiner Freunde und Familie. Ich weiß, das war dämlich, meine Freunde hatten mich sicherlich schon längst vergessen und die einzige die mir aus meiner Familie geblieben war, war meine Mum. Und das vergrößerte die Sehnsucht vermutlich um ein vielfaches. Unwillkürlich dachte ich an das Gespräch von Carlisle und mir zurück. Das beruhigte mich wieder. Ein weiterer Unterschied war, dass ich weniger kompliziert denken konnte. Zwar hatte ich immer noch die gleichen Gedanken, war also genauso intelligent (oder nicht intelligent) wie vorher, doch ich konnte nur Alles nacheinander denken, während als Mensch meine Gedanken nur so herumwirbelten und ich an mehrere Dinge gleichzeitig dachte, ohne zu versuchen etwas davon festzuhalten. Das hieß natürlich auch, dass ich alles viel bewusster dachte und es war auch schwerer einen Gedanken zu verdrängen, zum Beispiel, dass ich meine Mutter vermisste und unser Haus und den Wald mit den hochgewachsenen Bäumen, die vielen kleinen Blumen, die im Sommer einen so betörenden Duft verströmten. Jetzt plötzlich kam mir unser Zuhause wie das Paradies vor. Die Vögel, die mich Früher wegen dem Krach so genervt hatten, ließen mich jetzt wieder einschlummern. Doch bevor ich endlich in den wohlverdienten Schlaf abdriftete hörte ich wie sich etwas hinter mir aus dem Wald näherte. Aber der Geruch kam mir bekannt vor, er war mir so vertraut und doch fremd, dass ich nicht sonderlich beunruhigt war. Als ich auf meinen Pfoten stand und in den Wald blickte, erkannte ich den Jungen, den ich wegen seines Geruchs angefaucht hatte. Jacob hieß er, glaub ich. Er war genauso verwundert mich zu sehen, wie ich ihn. Erst jetzt wurde uns unser Problem bewusst – wir konnten unsere Gedanken nicht hören. Von drinnen hörte man ein Kichern. Ich verdrehte die Augen. Was will er hier?, dachte ich. Mir war klar, dass wir jetzt einige Zuschauer hatten, trotzdem ging ich auf ihn zu und legte meinen Kopf schräg um ihm klarzumachen, dass ich nicht verstand. „Ich bin dir keine Rechtfertigung schuldig!“, grummelte er. „Aber was machst DU hier? Ich dachte, es wäre so schwer für dich den Geruch von Vampiren zu ertragen“. Mein Fell sträubte sich. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass er mich an den Geruch erinnerte, oder mir einfiel, wer mein Feind eigentlich war. Mein Körper sagte es mir und ich hörte nicht auf ihn. Bei den Menschen ist das Missachten von Körpersignalen immer etwas negatives und führt zu Krankheit. Ob ich wohl auch krank werde, weil ich meiner Natur nicht entspreche? „Also entweder du verwandelst dich, oder Edward spielt Übersetzer“, forderte Jacob. >>Ich werde mich jetzt garantiert nicht verwandeln! Edward? Hörst du mich?<<, dachte ich in die Stille. Keine Sekunde später stand er an meiner Seite. Ohne darauf zu warten, dass ich ihm vermittle, was er Jacob sagen sollte, erzählte er ihm wieso ich zu den Cullens gelaufen war. Jacob sagte lange nichts, genauso wenig wie Edward. Schließlich fügte Edward hinzu „Sie und Carlisle scheint etwas zu verbinden. Ob es etwas Übernatürliches ist, oder nur weil sie eine Vertrauensperson braucht, vermag ich nicht zu sagen.“ Ich knurrte Edward an. Ich fühlte mich wehrlos, weil er in meinen Kopf sehen konnte und vermutlich meine Erinnerung gesehen hatte. Und anstatt sie für sich zu behalten, erzählte er es einem Gestaltwandler, die sich eh nicht sicher waren, ob ich nicht doch auf Seiten der Vampire stand! All das schrie ich Edward gedanklich um die Ohren und ließ meinen Frust an ihn raus, aber das war mir in diesem Moment egal. Noch während ich mit ihm schimpfte lief ich los in den Wald. Zwar tat es mir für Esme leid, der ich versprochen hatte, noch einmal vorbei zu kommen, aber ich war nunmal nicht gut in Versprechen halten. Nicht mehr.
Ich sah auch nicht zurück, das brauchte ich nicht um zu wissen, dass sie mir folgten. Ich weiß nicht, ob ich wirklich wegen Edward davon lief. Vielleicht war es auch der selbe Grund, weshalb ich vorhin mitten in der Nacht von den Clearwaters weggelaufen war. Aber jetzt wollte ich mich mit meinen Gefühlen nicht auseinander setzen! Wieso sollte das ganze so kompliziert sein? In dieser Welt gab es weder richtige Feinde noch Verbündete. Und dann unterschied sie sich kein Stück mit der früheren Welt, der Welt der Menschen.
Die Schritte hinter mir wurden schneller, viel schneller. Als würde jemand seine ganze Kraft in die Aufgabe legen, mich einzuholen. Jetzt drehte ich mich doch um und sah Edwards erschrockenes Gesicht hinter mir. Was hatte er nur? Es sah nicht so aus, als hätte das länger mit mir zu tun.
Als mein Blick sich wieder nach vorne richtete, bremste ich abrupt ab. Ich schlitterte noch einen Meter nach vorne, dann kam ich zum stehen und ging sofort in Kampfposition. Über meine Augen legte sich der gleiche rote Film, den ich bei der ersten Begegnung mit den Cullens hatte. Aus meiner Kehle kam das tiefste, gefährlichste Grollen, das ich je von mir gegeben hatte. Mir standen Vampire gegenüber, die ich nicht kannte. Die nicht die Cullens waren und somit nicht verschont werden durften! Ich sah in ihre Augen, die mich mit einer Verwunderung und Entsetzen ansahen, dann sprang ich mit einem Satz auf den ersten zu!

Kalte Arme schlangen sich um meinen Brustkorb, bremsten meinen Flug ab und zogen mich zu Boden. Mit einem lauten Krachen erreichten wir ihn und die Erde erzitterte. Oder war ich das?
Ich versuchte etwas durch meinen Rotfilter zu erkennen und sah, dass es einer der Cullens sein musste, der mich hier in Schach hielt.
Einer? Es waren drei, die mich unter größter Anstrengung außer Gefecht setzten, indem sie meine Vorder- und Hinterläufe sowie meine Schnauze umklammerten. Ich sah wie Carlisle zu den Feinden rannte und irgendetwas sagte, das ich in meiner Wut nicht hörte. Wieso verstand Carlisle nicht, dass ich sie töten MUSS? Sie bedrohen uns, sie zerstören alles und versetzen die Menschen in Angst und Schrecken! Wir müssen das stoppen!
Erst jetzt wunderte ich mich über die Abwesenheit von den Gestaltwandlern. Diese Verräter! Was ist mit ihren Pflichten? Das einzige was sie tun, ist jemanden, der ganz offensichtlich kein Feind von ihnen ist, mit Misstrauen zu begegnen! Ich sah wie der Rest der Cullens mit der Truppe von Vampiren abzog, drei waren es. Drei Rotaugen, die die Spezies Mensch gefährden! Esme drehte sich noch einmal um und warf mir einen halb traurigen, halb mitleidigen Blick zu. Lange Zeit nachdem auch ihr Geruch verflogen war, entspannte ich mich und gab auf. Als Edward, Jasper und Emmett von mir vorsichtig runtergingen, rührte ich mich immer noch nicht. Der Rotfilm war verschwunden. Ich weiß nicht, was genau eben passiert war oder eher, wie ich das Geschehen interpretieren sollte, aber es war zu viel für mich. Der Adrenalinstoß war weg und ich war einfach nur kaputt.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mich zurückverwandelt hatte, bis ich sah, wie sich die drei beschämt wegdrehten. Ich sagte nichts dazu. Es war mir egal.

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Texte: Alle Rechte bezüglich des Textes liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2011

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