Ich lächle. Bis ich wieder lächeln konnte, war es ein langer Weg. Ich bin erstmal froh, dass Gott mir diesen Weg noch gezeigt hat. Dieser Weg zeigte sich vor allem durch meine unersetzbaren Freunde und endlose Telefongespräche. Und natürlich durch die Kraft von meinem Vater, die sich in seinen Blicken äußerte. Kämpferisch. Bewundernswert.
Meine Mum war auf Kur. Das war okay. Für sechs Wochen. Das war hart, aber mir lieber, als eine kranke, unglückliche und arbeitsunfähige Mutter. Ich mochte es nicht, mich über Telefon mit meiner Mutter zu unterhalten. Generell hasste ich Telefonate. Ich drückte mich davor, bei fremden Menschen und Nummern anzurufen. Aber das war Mum. Das war okay. Ich muss sagen, das Verhältnis zwischen meiner Mum und mir ist nicht auf einer Gesprächsbasis aufgebaut. Wir kommunizieren viel mehr mit unseren Blicken, mit Umarmungen. Jedoch kamen wir klar. Nach einer guten Woche besuchten wir sie in der Klinik, es schien alles in Ordnung so weit zu sein. Ich sah sofort, dass ihr Zustand sich nicht gerade verbessert hatte, aber wir alle setzten große Hoffnungen in diese Klinik. Das zweite Mal als wir Mum dort besuchten, waren nur meine Schwester und ich mit dem Zug gekommen. Wir waren sehr stolz auf sie, als sie erzählte, dass sie uns ganz allein vom Bahnhof abgeholt habe. Wir gingen essen. Ganz schick, in ein leckeres, ruhiges Restaurant mit wenig Menschen. Wir hatten eine schöne Zeit, mit den Stunden wurde unsere Mutter immer ruhiger und entspannter. Ich habe diese Zeit wirklich sehr genossen und war mir recht sicher, dass Mama nach diesen sechs Wochen nach Hause kam. Dem war jedoch nicht so. Unser Vater erzählte uns dies. Meine Mutter hatte selbst den Antrag gestellt. Ich dachte, zwei Wochen länger, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, obwohl ich mir eingestehen muss, dass ich schon ziemlich enttäuscht war.
Umso schlimmer war es für uns, gerade zu eine Katastrophe, als mein Dad von der Arbeit anrief. Ich ging ran, gut gelaunt, wir arbeiteten an einen Geschenk für Mama, Kim und ich. Der ausschlaggebende Satz kam unerwartet und schmerzhaft. „Ronja, Mama wurde verlegt. Zwangs eingewiesen.“ Am Telefon wirkte seine Stimme so monoton, jedoch hörte ich die unendliche Trauer und Wut, die in seiner Stimme mit schwang. In mir schwebten nur noch Fragen, ich suchte verzweifelt nach Gründen an die ich mich klammern konnte. Besonders jedoch wollte ich meine Mutter in Sicherheit wissen. Antworten auf meine wirren Fragen, sollte ich später zu Hause bekommen. In Ruhe. Nachdem wir aufgelegt hatten, ging ich zu meiner Schwester. Am Telefon hatte ich mutig und stark geklungen, ich hatte auf meine feste, klare Stimme gesetzt. Kaum hatte ich aufgelegt, rannten mir Tränen übers Gesicht. Ich setzte mich auf Kim's Schoß, erläuterte das Wenige was ich wusste und wir weinten ein wenig zusammen.
Das was mir mein Vater am Abend erzählte, meinem Bruder, meiner Schwester und mir, analysierte ich auf eine ungewöhnlich sachliche, schnelle Art, bis alles auf mich nieder stürzte. Es war ein reines Missverständnis. Ich verfluchte, dass wegen dem Robert Enke Fall alle so in Panik waren, denn nur aus diesem Grund saß meine Mutter in einer geschlossenen Psychiatrie für sexuelle Straftäter. Meine Mutter hatte ihrer Betreuerin in der Klinik vertraulich gesagt, dass sie schon einmal Selbstmordgedanken hatte. Aber was ist Vertrauen denn noch heutzutage? Das Ende dieser Informationsweiterleitungskette war der Chefarzt der Klinik. Diese Klinik könne nichts mehr für ihren Fall tun, auch wenn meine Mutter beteuerte, dass dies schon längst vergessen ist, schon lange her und nicht mehr auf diesen Moment übertragbar. Durch der Therapie ging es ihr besser, sie hatte das Gefühl, sie hätte gute Fortschritte gemacht. Doch das wollte niemand hören. Sie kam in die nächstliegende Anstalt, in welches Umfeld sie dadurch geriet ist empörend und lässt mir noch jetzt die Tränen in die Augen steigen. Man sagte ihr so gut wie gar nichts, der Aufenthalt würde sehr kurz sein, sie brauche nichts an Gepäck mit zu nehmen, das wäre nicht notwendig. Sie wollte dies nicht so recht glauben, packte ihren Laptop, Kulturbeutel, wenige Kleidungsstücke von ihr ein und natürlich die Sachen, die wir ihr für die Zeit ohne uns mitgegeben hatten. Sie wurde dann mit einem Krankenwagen zur Anstalt gefahren, geschätzte dreißig Kilometer entfernt. Angekommen, wurden zuerst sämtliche Gegenstände entwendet. Darunter waren Nagelpfeile, mein Steinherz, welches ich ihr mitgegeben hatte, Rasierapparat und alles mögliche. Manches mehr, manches weniger sinnvoll. Das Gespräch mit der Ärztin war katastrophal. Meine Mutter war kaputt, wütend, verletzt und am Ende. Sie weinte und sah auf den Boden, die Ärztin sah das als eine Bestätigung dafür, dass sie genau hierhin gehörte, wenn meine Mutter ihr noch nicht einmal in die Augen sah. Ich war noch nie so entsetzt und unfassbar über eine so gefühlskalte und vor allem vollkommen falsche Aussage. Es gab keinen Ort, keine Minute wo sie eine Privatsphäre besaß. Die Bewohner waren oft nicht bei klarem Verstand, dazu kam noch, das nicht immer ein Aufpasser auf der Station war. Es gab unendliche Dinge, die mich so schockiert haben, dass ich wirklich nicht mehr weiter wusste. Ein Richter sollte entscheiden wie vorgegangen werden solle und wie lange meine Mutter dort in Therapie sein sollte. Normalerweise bekommt der Patient ein persönliches Gespräch mit dem Richter, das bekam sie nicht. Die Ärztin saß dabei und setzte den Mann unter Druck, meinte in einem solchen Fall entschiede jede Sekunde. Unglaublich, dass der Richter sie nicht hinaus bat, sondern eine voreilige Entscheidung traf. Der richterliche Beschluss sagte, sie müsse bis zum 1. 12. 2009 dort bleiben. Mein Vater war länger bei der Arbeit, weil er von dort die Telefonate mit Anwalt, Klinik, Gericht und so weiter machte, oder aber er war zu Hause. Es regte mich auf, wenn ich mit ihr telefonierte, zu wissen, dass sie in einem Gemeinschaftsraum war und wir kein richtiges Gespräch führen konnte. Jedes „gut“ auf die Frage „wie geht es dir?“ schmerzte, denn ich wusste, dass es nicht stimmte. Nicht bei ihr und auch ebenso wenig bei mir stimmte dies. Ich traute mich nicht zu fragen, was sie am Tag gemacht habe, weil ich es wusste. Eben nichts. Keine Therapie, kein gar nichts. Ihr wurden Medikamente verabreicht, die sie nicht brauchte und Medikamente radikal abgesetzt, die sie dringend brauchte. Es war ein einziger Alptraum. Und wirklich, auch nachts verfolgten mich die schlimmsten Vorstellungen, ich traute mich nicht mehr zu schlafen, doch wach zu sein war kaum besser. Ich wartete auf den Tag an dem Papa uns sagte, dass Mama nach Hause, zu uns kam, oder wenigstens in eine andere Klinik. Die Gespräche mit Mama wurden immer kürzer, was sollte ich schon sagen? Ich konnte ihr nicht sagen, dass alles wieder gut werden würde, denn ich glaubte nicht mehr wirklich daran. Meine Schwester und ich glaubten auch nicht, dass sie am 1. 12. aus der Klinik entlassen würde. Sie würden sie nicht gehen lassen. Ich hatte schreckliche Angst, dass Mum den Verstand verlieren würde. Ich betete abends und manchmal auch tagsüber, ich bin ein sehr gläubiger Mensch, unsere ganze Familie. Und doch fand ich bei Gott nicht immer den nötigen Halt. In der Klinik, wo noch ein Großteil von Mamas Sachen waren, hatte das Personal unrealistische, schon fast lächerliche Pläne. Meine Mutter solle ihre Sachen doch tatsächlich persönlich abholen, ein Familienmitglied käme auch in Frage, schade nur, dass wir 300 Kilometer entfernt wohnen und mein Vater auch arbeiten musste. Dass sich eine Patientin der Klinik zur Verfügung gestellt hatte, Mama ihre Sachen zu bringen, missachteten sie und meinten, eine Patientin dürfe dies nicht machen. Letztendlich konnte es eine ehemalige Patientin übernehmen mit der sich meine Mutter auch bei ihrem Aufenthalt angefreundet hatte. Auch in der Psychiatrie fand Mum wenigstens einen Ansprechpartner. Er war freiwillig gekommen, jedoch hatten die Ärzte so lange auf ihn eingeredet, bis er so zu sagen gezwungenermaßen freiwillig dort fest saß. Tierische Sorgen machte ich mir, als ich von ihr hörte, dass sie einige Tage, dort gar nichts Vernünftiges zu Essen bekam, sie waren auf Veganer keinesfalls eingestellt. So musste sich meine Mutter mit Brot und Salz zu Frieden geben. Unvorstellbar sollte man meinen. Eine Stationsärztin hatte die Küche jedoch derartig zurechtgewiesen, dass am folgenden Tag sogar ein veganer Pudding zum Dessert aufgetischt wurde. Die zynischen Sprüche konterte Mama in zwischen und jede Unverschämtheit unterlegte sie mit einem ironischen Satz.
„Mama kommt raus, die Krankenkasse bezahlt den Transport, sie wird nach Herford gebracht!“
Als ich die Worte von Papa realisierte war ich so glücklich, ich hakte nach, doch es sollte keine Schwierigkeiten geben, in der Verordnung lautete, dass Mama in dieser oder einer ähnlichen Klinik bis zu dem Datum behandelt werden sollte. Endlich kam sie aus dieser Mittelalter-Psychiatrie raus! Endlich hatte ich das Gefühl, es ginge Mama wirklich gut, obwohl es eher ein „gut, dass ich hier endlich herauskomme“ war. Am nächsten Tag war die Visite. Und das Vorhaben mit der Umlegung nach Herford scheiterte. Die Begründung war, dass eine Umlegung medizinisch nicht begründet wäre, man könne sie ebenso gut in ihrer Klinik behandeln. Die Definition die diese Anstalt von „behandeln“ hatte, würde ich heute zu gerne wissen. Ich hatte fast den Satz von einem guten Freund „Jetzt wird endlich alles wieder gut“ geglaubt und dann zerplatzte auch diese Hoffnung vor unseren Augen wie eine Seifenblase. Ich telefonierte stundenlang mit meinen Freunden, die mich wieder auf zu bauen versuchten. Mum war in diesem Moment wohl kaum ansprechbar, die Enttäuschung saß zu tief. Die vermeintliche Tröstung war, dass Mama jetzt für wenige Augenblicke in Begleitung von Personal nach draußen durfte, natürlich wurde sie davor und danach durchsucht. Von einem Tiergehege, wie es auf der Homepage stand, sah meine Mutter gar nichts.
Zehn Tage nach ihrer Einweisung, die Erlösung. Mein Opa holte meine Mutter von der Klinik ab, wir hielten es am sinnvollsten wenn einer mit Ruhe und ohne Wut die Abholung übernahm. Er brachte sie ins Klinikum Herford und nach wenigen Tagen durfte sie endlich zu uns nach Hause. Ein Alptraum, mein schlimmster und realistischster noch dazu, ging endlich zu Ende.
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für mich ist es sehr schwer, dieses Buch online zu stellen. Weil das nicht nur mich betrifft, sondern meine Familie, meine Freunde. Weil ich mich nicht hinter einer fiktionalen Geschichte verstecken kann. Das bin ich und diese Begebenheit hat mich geprägt. Ich möchte euch, liebe Leser, teilhaben lassen.