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Das verschwiegene Buch


Aline hustet. Ihr Rücken schmerzt. Sie ist schon seit Stunden damit beschäftigt das alte, staubige Büchergestell auf dem Dachboden zu durchforsten. Alte Bücher, Ordner und vergilbte Blätter, Briefe und kaum mehr lesbare Grusskarten aus aller Welt hat sie schon gefunden. Das meiste war wirklich nicht mehr zu gebrauchen. Nur hie und da kamen Dinge zum Vorschein die es Wert waren aufgehoben oder verkauft zu werden. Die Bücher die noch in Ordnung waren würde sie der Bibliothek schenken. Seltene Grusskarten, da findet sich vielleicht ein Sammler. Aline legt alles auf die sortierten Haufen neben sich. Endlich kommt sie zum untersten Regal. Ein dickes grosses Buch fällt ihr auf.
„Das wird sicher ein schwerer Brocken sein“, seufzt sie. Aline macht sich bereit das grosse, dicke Buch auf den Tisch zu heben. Ihre Hände greifen sicher danach und „How-Ruck“....... Aber was soll dass den? Dieses Buch ist leicht wie eine Feder! Aline stutzt. Sie hebt den Deckel. „Ha. Das Buch ist ja hohl. Keine Seiten zum lesen. Ein Karton, getarnt als Buch!“ Aline ist erstaunt. Im Buch drinnen liegen ein paar Briefe mit einem roten Samtband zusammengebunden. Sie liest die blass geschriebenen Worte auf dem obersten Brief. Ihr Herz beginnt ganz laut und wild zu pochen. Da steht: „ 15. Mai 1944. An meine Tochter Aline.“ Aline schliesst die Augen. Am 15. Mai hatte sie Geburtstag. 1944 war ihr Geburtsjahr. Würde Sie jetzt endlich erfahren wer sie wirklich ist? Nach 60 Jahren der Ungewissheit ein erster Hinweis von ihren Eltern? Aline sieht sich auf dem Dachboden nach einer Sitzgelegenheit um, denn sie hat ganz weiche Knie bekommen. Alles ist mit Möbeln und Gerümpel verstellt. Doch da entdeckt sie unter alten Kleidern und Stoffen einen Schaukelstuhl. Aline legt alles auf eine alte Spiegel-Kommode gegenüber. Ihr Blick fällt dabei auf ihr Spiegelbild. Ein Gesicht in dem grüne Augen leuchten schaut ihr entgegen. Fast weisse Haare umspielen ihr Haupt. Das Alter sieht man ihr nicht an. Aline dreht sich um und setzt sich in den Stuhl. Langsam beginnt sie zu schaukeln. Die Bewegung hat etwas beruhigendes.
Mit einem tiefen Atemstoss holt sie die Briefe aus dem getarnten Buch und löst das Band. Sie öffnet den Umschlag. Als sie den Brief herauszieht fällt etwas auf den Boden. Aline schaut nach unten. Ein altes Foto mit einem Paar darauf schaut ihr entgegen.
Aline bückt sich nach dem Bild und nimmt es vorsichtig auf. Die Frau hat eine Hand auf ihrem gewölbten Bauch und schaut liebevoll in die Kamera. Der Blick des Mannes liegt stolz auf der Frau. Auch er hat eine Hand auf ihren Bauch gelegt. Darunter steht April 1944.
Waren das ihre Eltern? Ihr Vater? Ihre Mutter?
Aline faltet den Brief auseinander. Ihr Mund ist ganz trocken. Sie schluckt ein paar mal und beginnt dann zu lesen.

„Meine liebe Tochter Aline
Ich hoffe dass es dir gut geht und du in einer besseren und schöneren Zeit lebst. Lieber hätte ich dir die Geschichte deiner Herkunft selber erzählt. Aber leider sind die Zeiten nicht die besten. Als deine Mutter bei deiner Geburt starb, musste ich schnell handeln. Denn auch dein Leben war in Gefahr. Aber alles der Reihe nach.
Wir haben Krieg. Seit 1939.
Leider muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich eine Zeitlang mit Begeisterung für den Nationalsozialismus einstand. Ich war Leutnant in einem Infanterieregiment der Wehrmacht unter Adolf Hitler.“

Aus Alines Kehle dringt ein qualvoller Laut. Ihr ganzer Körper beginnt zu zittern. Mit Tränen in den Augen zwingt sie sich weiterzulesen. Sie hat Mühe die Zeilen zu entziffern.

„Doch ich distanzierte mich immer mehr davon. Mein Gott, was haben wir zugelassen.
Dass ganze ist der reinste Irrsinn und Wahnsinn.
Doch schon eine ganze Zeit lang, bildet sich nun der stärkste Widerstand von Deutschen gegen das Regime Hitlers. Eine Verschwörung aus vielen Schichten der Bevölkerung. Ich habe einen Klaus Schenk Graf von Stauffenberg kennengelernt. Wir sind uns alle einig, die einzige Möglichkeit ist ein Attentat auf Hitler um einen Machtwechsel zu bewirken. Ich bin an der Planung und Ausführung unmittelbar beteiligt.
Wenn du diesen Brief liest, Aline, dann ging so ziemlich alles schief. Auch diesen Brief zu schreiben ist gefährlich, so hoffe ich aber doch, dass er dir eines Tages in die Hände fällt. Denn ich kann in dir nicht mit auf deinen Weg geben.
Ich werde nie die Freude haben dich kennenzulernen und dich Aufwachsen zu sehen. Das einzige was ich noch tun kann, ist dein Leben zu retten. Damit deine Mutter, Cornelia, nicht umsonst gestorben ist.
Wie du siehst ist dein Name aus den letzten fünf Buchstaben deiner Mutter zusammengesetzt. Sie war eine wunderbare, schöne Frau. Wir wollten nichts weiter als eine glückliche Familie sein.
Aber wir müssen diesem Wahnsinn ein Ende bereiten. Und ich habe eine Schuld zu begleichen. Das was ich mit verbrochen habe muss ich wieder gutmachen. Ich bin aufgewacht und muss handeln. Muss den Menschen eine Zukunft geben, die die jetzt noch am Leben sind.
Graf von Stauffenberg hat viele Beziehungen im Ausland. Niemand dort wird deinen Weg zurückverfolgen können, wenn du endlich wieder ein Zuhause hast. Ich wünsche dir liebevolle Eltern, ein unbeschwertes Leben und eine grosse Familie.

Ich Küsse und Umarme dich

In Liebe dein Vater Hans-Jürgen Graf von Blumenthal“

Aline ist geschockt. Sie ist wie erstarrt. In einem plötzlich über sie kommendem Schüttelfrost schlingt sie die Arme um ihren zitternden Körper. Hin und her schaukelt sie den Stuhl. Sie hebt den Kopf.
Verstört blickt sie um sich. Sie kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Vieles hat sie sich ausgedacht, wer sie sein könnte! Aber auf dass wäre sie niemals gekommen!
Mit der rechten Hand wischt sie sich über das tränennasse Gesicht. Was sollte sie jetzt tun?
Einfach in ihr altes Leben zurückkehren?
Und ihre Familie?
Ihr Mann. Ihre vier Kinder und sechs Enkelkinder?
„Aline, bist du immer noch da oben?“ Aline schreckt aus dem Schaukelstuhl hoch! Die Stimme ihres Mannes holt sie in die Wirklichkeit zurück. Sie hat kein Zeitgefühl mehr. Wie lang hatte sie dagesessen?
„Ja, bleib unten! Es ist ziemlich staubig hier oben. Nichts für dein Asthma!“ Mit erstaunlich fester Stimme antwortet sie ihm.
Die Briefe legt sie zurück in das Buch. Sie legt das Buch wieder an seinen alten Platz in das Büchergestell. Aline schaut sich nochmals kurz auf dem Dachboden um. Nur das Foto steckt sie in ihre Tasche.
Vor dem Spiegel entfernt sie die Spuren der Zeit und strafft sich. Sie hat einen Entschluss gefasst. Langsam steigt sie die Treppe hinunter. Nichts sieht man ihr an.
„Aline, hast du nichts gefunden, was du behalten möchtest? Du weisst, dass das Haus morgen abgerissen wird. Dann ist es zu spät.“
Aline nimmt ihren Mann zärtlich am Arm und führt ihn langsam aus dem Haus.
„Nein, alle meine Erinnerungen sind in meinem Kopf. Da kann ich sie überallhin mitnehmen.“
Draussen auf der Strasse wartet schon die Familie. Denn sie wollen endlich losfahren. Morgen ist doch ihr grosses Fest. Der Sabbat. Und ihr Mann Alon Bronsky feiert gleichzeitig seinen 75. Geburtstag.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.11.2011

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