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Vorwort

 

Die Welt steht am Abgrund. Ein Szenario, das, wie wir hoffen, nie eintreten wird.

 

 

Das Schicksal der kleinen Lingyu

Lingyu saß wie jeden Abend mit ihren Eltern beim Essen, als plötzlich von draußen laute Geräusche zu ihnen drangen. Schwere, gepanzerte Lastwagen kamen in das kleine Fischerdorf und hielten auf dem Marktplatz. Soldaten sprangen heraus, verteilten sich überall und klopften an den Hütten. So auch bei Lingyu.
    »Wer ist das denn, Papa?«
    »Ich kann es dir nicht sagen.«
    Lingyus Vater stand auf und ging zur Tür. Es klopfte abermals, doch diesmal stärker. Als er die Tür schließlich öffnete, sah er in die Augen eines Soldaten, der mit einer Waffe in der Hand vor ihm stand.
    »Sind Sie Sheng Lu?«, fragte der Soldat mit ernster Stimme.
    »Ja, der bin ich! Was wollen Sie von mir?«
    »Sie müssen jetzt mitkommen.«
   »Was ist der Grund, wenn ich fragen darf?«, wollte Sheng wissen, obwohl er es eigentlich schon ahnte. Bisher hatte er versucht die Nachrichten vor seiner Familie zu verheimlichen. Doch nun kam er um die Wahrheit nicht herum.
    »Wir befinden uns im Krieg. Alle waffenfähigen Männer werden umgehend eingezogen. Also kommen Sie jetzt mit.«
    »Lassen Sie mich bitte noch von meiner Frau und meiner Tochter verabschieden.«
    Sheng drehte sich um und ging auf seine Familie zu.
   »Lingyu ... Mei ... Ich hatte gehofft, dass es nicht so weit kommen würde. Wir haben Krieg und ich muss   unser Land verteidigen. Ich muss Euch verteidigen ...«
    »Aber Papa, wer macht so etwas?« Sheng kniete sich vor seine Tochter und streichelte ihr Haar.
   »Es sind ganz böse Menschen, die weit im Norden leben. Sie wollen alles hier zerstören, aber das werden wir nicht zulassen. Du musst mir eines versprechen. Egal was Mama von dir verlangt. Du wirst tun, was sie sagt! Hast du mich verstanden?«
    »Ja, Papa. Aber ...«
    »Kein aber!«
    Sheng schaute seiner Frau tief in die Augen und dann auf eine Klappe im Fußboden. Seine Frau verstand ihn sofort und nickte, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Sheng gab jedem noch einen Abschiedskuss und verschwand danach mit dem Soldaten in der Dunkelheit.
    »Kommt Papa wieder nach Hause?«, fragte Lingyu ihre Mutter.
    »Ganz bestimmt, mein kleiner Engel, ganz bestimmt ...«
   Doch ein Gefühl in ihrem Inneren sagte etwas anderes und das machte ihr Angst. Jeder in dem kleinen Fischerdorf versuchte den Alltag so gut es ging zu meistern. Immer wieder kamen Nachrichten von schweren Kämpfen an der nördlichen Grenze. Es gab auf beiden Seiten große Verluste. Mei hatte schon länger nichts von ihrem Mann gehört. Sie redete sich dabei ein, dass es ein gutes Zeichen war und alles wäre in Ordnung. Mei hatte Angst vor der Wahrheit. Angst davor ihrer kleinen Tochter sagen zu müssen, dass ihr Vater gefallen war. Jede Nacht betete sie und hoffte alles würde wieder so wie früher werden. Doch täglich kamen schlimmere Meldungen aus dem Kriegsgebiet. An einem Sonntagnachmittag, als Lingyu im Garten mit ihren Puppen spielte, hing ihre Mutter Mei Wäsche auf. In der Ferne erklang ein Donnern. Mei schaute instinktiv in den Himmel und erkannte sofort, wie riesige Rauchschwaden sich auf sie zu bewegten. Ihr war klar, was dies zu bedeuten hatte. Raketen … Ihre Wäsche fiel zu Boden und sie rannte zu ihrer kleinen Tochter.
    »Lingyu! Lingyu! Komm sofort her! Du musst ins Haus«, schrie Mei.
    »Aber Mama, ich spiele doch noch.«
    »Keine Widerrede. Du weißt, was Papa dir noch gesagt hatte?«
   Sie packte ihre Tochter am Arm und zerrte sie regelrecht in die Hütte hinein. Panik machte sich breit und die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben. Lingyu erinnerte sich nur zu gut an das Versprechen, was sie ihrem Vater geben musste und sie gehorchte. Ihre Mutter riss eine Luke im Fußboden hoch. Sie gab jetzt einen kleinen Schacht mit einer Leiter frei. Gerade groß genug, damit ein Kind hineinpasste.
   »Schatz, gehe bitte dort hinunter und verhalte dich ruhig. Egal was auch passiert, du bleibst dort unten. Erst wenn alles ruhig ist, darfst du wieder hochkommen. Versuche nach Long Tiu zu deiner Großmutter zu kommen.«
    »Mama, lass mich bitte nicht alleine! Komm mit zu mir!«, flehte die kleine Lingyu ihre Mutter an.
   »Das geht nicht ... es ist nur Platz für dich ...Vergiss nicht, das ich dich über alles Liebe ...«, mit diesen Worten und Tränen in den Augen schloss Mei die Luke zum Loch.
   Tödliche Stille ... Ein gleißender Lichtblitz erhellte die Umgebung. Sekunden später brachte ein Feuerball und eine gewaltige Druckwelle den Tod über das Land. Rasend schnell breitete sie sich aus und verschlang alles und jeden. Bäume knickten um wie Streichhölzer und Häuser brachen in sich zusammen. Überall verteilt stiegen bedrohlich wirkende Staubwolken in die Höhe, die zusätzlich eine tödliche Fracht mit sich brachten. Lingyu kauerte immer noch in diesem kleinen Erdloch. Sie zitterte am ganzen Leib und war verängstigt. Durch Löcher in der Bodenklappe hatte sie den Blitz und ebenso das darauf folgende Donnern und Grollen wahrgenommen. Immer wieder rief sie nach ihrer Mutter. Doch ihre Rufe verhallten im Nichts. Ihre Mutter sollte ihr nie wieder antworten. Wie lange hatte sie bereits in dem Loch gesessen hatte? Vielleicht 1 oder 2 Tage? Nun war Stille eingekehrt und vorsichtig kletterte Lingyu die Leiter nach oben. Sie wollte sehen, was passiert war und versuchte die Bodenklappe zu öffnen. Einige Anstrengungen später gelang auch ihr Vorhaben. Sie stand nun dort, wo sich früher einmal ihre Hütte befunden hatte. Jetzt waren hier nur noch Asche, Staub und Trümmer. Der Wald hinter dem kleinen Dorf existierte nicht mehr. Kein süßes Vogelgezwitscher war zu vernehmen. Lingyu sank auf ihre Knie und weinte bitterlich. Mit einem Schlag hatte man dem kleinen Mädchen alles genommen. Ihre Familie, ihre Freunde und ihr sonst so unbeschwertes Leben. Alleine und verlassen saß sie in einem verwüsteten Land. Lingyu versuchte sich daran zu erinnern, was ihr die Mutter noch gesagt hatte. In ihrem Kopf hörte sie ihre Stimme.
    »… Versuche nach Long Tiu zu deiner Großmutter zu kommen …«
    »Ja Mama, ich werde es machen.«
  Lingyu versuchte sich zu orientieren. Long Tiu lag im Süden, doch es gab nichts, woran sie sich hätte orientieren können. Es gab keine Häuser, Straßen oder Bäume. Da fiel ihr Blick auf einen Gegenstand, der unter einigen Holzlatten begraben war. Es war die Puppe, mit der sie vor dem Unglück gespielt hatte. Ihr Vater schenkte sie ihr zu ihrem siebenten Geburtstag. Sie hob sie vorsichtig hoch, entfernte den Staub und drückte sie so fest es ging an sich. Erinnerungen an eine glückliche Zeit schwirrten durch ihren Kopf und plötzlich hörte sie die Stimme ihres Vaters.
    »Lingyu. Weißt du noch, was ich dir über den Lauf der Sonne beigebracht habe?«
    »Ja Papa, jetzt fällt es mir wieder ein. Im Osten geht die Sonne auf, im Süden hat sie ihren Mittagslauf, im Norden ist sie nie zu sehen, im Westen wird sie untergehen. Wenn ich am Mittag nach der Sonne Ausschau halte, dann kenne ich die richtige Richtung. Danke Papa!«
Es war bereits zu spät, um noch aufzubrechen. Ein letztes Mal stieg sie hinab in das Erdloch, um zu schlafen. Am nächsten Tag wollte Lingyu ihr Versprechen halten und sich auf die Suche nach ihrer Großmutter machen. Diese Nacht jedoch schmiegte sie sich eng an ihre kleine Puppe. Ein neuer Tag brach an und Lingyu klettere aus ihrem Loch und hielt nach der Sonne Ausschau. Der Himmel war bedeckt. Eine Staub- und Ascheschicht verdunkelte den Himmel und dennoch konnte sie schwach ihr Licht erblicken.
    »Da bist du ja. Ich werde dich finden Großmutter.«
Das kleine Mädchen machte sich auf den Weg. Je länger sie unterwegs war, desto schlechter ging es ihr. Sie fühlte sich schlecht und müde. Immer wieder musste sie sich übergeben und der einsetzende Schwindel machte es nicht leichter. Eines Morgens wachte sie auf und erschrak, als sie sich ansah. Am ganzen Körper hatte sie rote, juckende Hautflecken. Doch es gab etwas noch schlimmeres als diese Flecken. Als sie sich am Kopf kratze, hielt sie kleine Haarbüschel in der Hand.
    »Mama, was ist mit mir los? Ich habe Angst.«
    »Schon gut mein kleiner Engel. Alles wird wieder gut«, hörte sie die Stimmer ihrer Mutter sagen.
Tag um Tag ging es dem kleinen Mädchen schlechter. Mittlerweile kam es sogar so weit, dass sie Blut spukte und immer müder wurde. Doch sie wollte ihr Versprechen halten und ihre Großmutter finden. Am vierzehnten Tag ihrer Wanderung glaubte sie Geister zu sehen. Gestalten in gelben und weißen Anzügen kamen auf sie zu.
    »Die bösen Männer … ich muss hier weg …«, dachte Lingyu. Aber ihre Kräfte verließen sie und das Mädchen sank zu Boden. Die Gestalten kamen immer näher, bis sie sich direkt neben ihr befanden.
   »Mein Gott. Das Mädchen hat überlebt. Sergeant Kinley! Bringen Sie das Mädchen sofort ins Sanitätszelt. Der Doktor soll sie umgehend untersuchen.«
Ein Mann in einem Schutzanzug hob die kleine Lingyu hoch und trug sie zurück ins Lager, welches keine hundert Meter entfernt war. Sie wurde von den Ärzten eingehend untersucht. Major Higgins ließ sich Bericht erstatten.
    »Wie geht es ihr, Doktor?«
   »Es tut mir schrecklich leid, Major Higgins. Wir können nichts mehr für sie tun. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt so weit gekommen ist. Das Mädchen muss sich in unmittelbarer Nähe einer der Explosionen befunden haben.«
    Der Major schlug mit der Faust auf den Tisch.
    »Dieser verdammte Krieg …«
    Er schaute zu dem Mädchen hinüber. Es sah so aus, als würde sie sich mit jemandem unterhalten. Lingyu lag auf einem Lazarettbett und schaute nach vorne. Vor ihr standen ihre Mutter und ihr Vater.
    »Mama? Papa? Ihr seid hier? Verzeiht mir, aber ich habe es nicht zu Großmutter geschafft.«
    »Ist schon gut, mein kleiner Engel«, antwortete ihre Mutter.
    »Alles kommt wieder in Ordnung«, sagte ihr Vater.
    »Wir sind gekommen, um dich abzuholen. Nimm meine Hand und komme mit uns mit.«
   Mutter und Vater streckten ihr Arme nach ihrer Tochter aus und das Mädchen ergriff sie. Major Higgins sah, wie Lingyu ihren Arm hob, der kurz darauf niedersank. Leblos lag sie in ihrem Bett.
    »Doktor! Schnell! Schauen Sie nach dem Kind …«
   Der Doktor eilte zu ihrem Bett und suchte ihren Puls. Traurig schaute er den Major an und schüttelte langsam den Kopf. Vorsichtig schloss er ihre Augen und bedeckte den Kopf mit der Zudecke.
    »Es tut mir schrecklich Leid. Sie wurde von ihren Leiden erlöst.«

Millionen Menschen sind in diesen Tagen gestorben. Sie waren Väter, Mütter, Söhne und Töchter. Großeltern, Geschwister, Onkel und Tanten. Oder einfach nur gute Freunde. Die Entscheidung über Leben und Tod hängt oft an einem seidenen Faden. Eine einzige Person, ein Wort oder eine einfache Aktion kann der Auslöser dafür sein. Es wird keine Gewinner oder Sieger geben. Wir alle werden dabei verlieren und am Ende wird sich keiner mehr an uns erinnern. Der einstige Blaue Planet wird dann wüst und leer sein.

Lasst es nicht so weit kommen …

 

Weitere Werke des Autors

 

"Die Abenteuer des kleinen Kater Felix"

"Geschichten aus dem Meer – Hugo und Lotta –"

"Einmal noch nach New York"

"Atlantis – was wirklich geschah"

"Kurzgeschichten Band 1"

"Spiegelbild des Bösen"

"Thrilling Time – Hochspannung Pur"

"Thrill before you die – Der letzte Tag in deinem Leben"

 

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Texte: © Copyright by Rüdiger Kaufmann (08.03.2013)

Autor: Rüdiger Kaufmann

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Texte: Rüdiger Kaufmann
Bildmaterialien: Rüdiger Kaufmann unter Verwendung eines Fotos von almogaver (Lizenz: morgueFile license). http://www.morguefile.com/license/morguefile)
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2013

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