Jung. Sie fühlt sich jung. Nach so vielen Jahren – oder sind es Jahrzehnte? – kommt sie wieder einmal hierher. Das Tal erscheint ihr enger, als sie es in Erinnerung hat, oder nein, es liegt daran, dass sie größer ist, die Perspektive ist eine andere.
Sie geht wieder die sommerwarme, staubige Schotterstraße entlang und die Steinchen knirschen unter ihren Schritten. Beim kleinen Landgasthof bleibt sie stehen. Ihr Blick fällt auf die wohlvertraute Kirche. Nicht nur baulicher Mittelpunkt einer Ortschaft, so kommt es ihr in den Sinn, sondern hier im Dorf auch ein Mittelpunkt im Leben der Menschen. Sie blinzelt gegen die Sonne. Dort in dieser Richtung müssten die Himbeeren am Waldrand stehen. Sie setzt ihre Schritte zielsicher und beeilt sich hinzukommen. Wie lange ist ihr das schon nicht vergönnt gewesen, dieser Geschmack der reifen Beeren. So schmecken Sommertage.
Als sie den steilen Hang hinauf geht, bemerkt sie, wie mühelos sie ihre Füße tragen. Das liegt sicherlich daran, dass sie ihre guten, knöchelhohen Schnürschuhe anhat, aus braunem Leder, das an manchen Stellen schon etwas brüchig ist. Sie trägt auch dieses unverwüstliche, immer adrett aussehende Dirndlkleid aus dunkelblau geblümter Baumwolle mit hellblauem Oberteil und Schürze – mein Gott, wie lange hat sie das schon nicht getragen, sie wusste gar nicht, dass sie es noch hatte.
Nun hat sie den Wald erreicht, der sie mit seinem schützenden Schatten umfängt. Nach dem Wiesenstück spürt sie ganz bewusst den Waldboden unter ihren Füßen und sie atmet den vertrauten Duft von Holz. Die kühlere Dunkelheit, wird von zahlreichen, tanzenden Sonnenlicht-Tupfen durchbrochen.
Sie geht den steilen Pfad wie im Schlaf und zwischen den Bäumen hindurch kann sie, während sie schnell höher kommt, immer wieder das Dorf erkennen. Wie ein paar Bausteine, von einem spielenden Kind hingestellt, wirken die Häuser aus dieser Sicht. Sie erinnert sich, dass sie sich hier auf dem Weg von der Dorfschule nach Hause, manchmal vorgestellt hat, sie wäre Rotkäppchen und dann hat sie sich vor dem nächsten Knacken im Unterholz erschreckt, denn vielleicht gab es hier wirklich den Wolf? Sie musste lächeln, als ihr diese kindliche Vorstellung einfiel.
Hier kennt sie auch einen Platz, an dem Heidelbeeren wachsen. Sie pflückt eifrig einige Beeren und isst sie direkt von der Handfläche. Sie bemerkt aber, dass sie wohl einige Blätter mit erwischt hat…
„Spuck` das Papierl aus!“ hört sie jemanden sagen und sieht erstaunt ihre Hand, in der sie eine zerknüllte Papierserviette hält…
Sie wandert aber gleich voller Erwartung weiter und es erfüllt sie mit Glück, wenn sie daran denkt, dass sie nun bald zu ihrem Elternhaus kommt. Ob alles noch so sein wird, wie sie es in Erinnerung hat? Sie spürt in ihrem Innersten, dass das, was sie gerade erlebt, etwas sehr Zerbrechliches ist und dass es eigentlich nicht möglich ist, an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, aber ist sie denn nicht wirklich und wahrhaftig gerade auf dem Weg dorthin? Wird sie vorfinden, was sie erhofft? Werden die geliebten Menschen da sein, nach denen sie sich sehnt?
Mit eiligen Schritten geht sie nun über die heimatliche Wiese. In großen Sprüngen bringen sich Heuschrecken vor ihr in Sicherheit. Sie hört das Vogelgezwitscher, dass sie merkwürdigerweise an das Klappern von Besteck erinnert und sie begegnet einem unbekannten Wanderer, der mit „Mahlzeit“ grüßt, was nicht so recht in die Umgebung passen will. Schließlich steht sie vor dem Haus. Unter dem knorrigen kleinen Birnbaum war immer ihr Lieblingsplatz, hier hat man die schönste Aussicht über das Tal und die gegenüberliegenden Berge.
Soeben kommt die Mutter aus dem Haus, ihre dunklen Haare hat sie wie immer im Nacken zu einem Knoten gebunden und sie umarmen sich stumm vor Glück. Die Mutter schien sie sogar erwartet zu haben, denn als sie in die Stube hineingehen, ist der große Tisch schon für drei gedeckt und es riecht sehr deutlich nach frischer Gemüsesuppe. Nun sieht sie auch den Vater, der sie freundlich um die Schultern nimmt und sagt:
„Frau Mayerhofer, die Suppe steht schon vor ihnen, gehn`s tun`s ein bissl was essen, schaun`s, da liegt der Löffel…“ sagt der Pfleger mit fürsorglicher Stimme.
Sie sitzt mit nach unten gerichteten Blick im Rollstuhl und verspürt nicht viel Lust in ihre triste Realität zurückzukehren. Nun schaut sie sehr langsam auf, geradewegs in die Augen des Vaters, der ja schließlich eben noch da war. Sie sagt lange nichts, schließlich murmelt sie „Papa…“
Der Pfleger richtet sich auf und sagt zu seiner Kollegin etwas von „…verwirrt…“.
Trotzig starrt sie wieder nach unten.
Verwirrt! – So ist das also, wenn man als verwirrt gilt.
Was wissen DIE schon!
Mag sein, dass sie schlecht hört und schlecht sieht was um sie herum geschieht. Aber was geschieht auch schon um sie herum? Sicher nichts, was ihrer Aufmerksamkeit wert wäre!
Sie hat ihr Leben neu entdeckt. Es war wie ein weites, unergründliches Tal und jetzt erst hat sie die Gelassenheit, die Zeit und auch den Mut, dieses Tal immer wieder zu erforschen indem sie die Höhen ihrer Erinnerung erklimmt und sie findet dabei auch solche Erinnerungen, die ihr selbst neu sind. Wer niemals auf dem Berg war, kennt die Ebene nicht.
JETZT kann sie es – Berge erklimmen…
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die mit Pflege und Betreuung alter Menschen befasst sind.
Verwirrte sind gar nicht so verwirrt, wie es uns manchmal scheint - im Gegenteil sie haben vielleicht ihre eigene Weisheit gefunden. Davon erzählt diese Geschichte.