Cover

Alles fauler Zauber!




„Oh, ich sehe Gutes, sehr viel Gutes.“, sprach die bunt gekleidete Frau mir gegenüber. Sie sah wieder in ihre Kristallkugel, was aus meiner Sicht eine einfache Glaskugel war, die man in jedem Glasgeschäft bekommen konnte. Während die Frau daraus etwas lesen konnte, erkannte ich in der Kugel nur zwei Dinge. Zum einen eine Vergrößerung des kleinen runden Tisches und zum anderen die Tatsache, dass ich schleunigst hier raus wollte. Die Frau machte Handbewegungen, die, wie sie selbst sagte, dazu gehören. Ich sah sie gelangweilt und desinteressiert an. In dem winzigen Zelt roch es fruchtig uns aus Lautsprechern ertönte orientalische Musik. „Ich sehe aber auch einen dunklen Schatten über dir.“ Anscheinend versuchte sie mich in ihren Bann zu ziehen, doch bei mir erntete sie damit einen gelangweilten Bick. Die Frau lehnte sich zurück. „Gut. Die Show ist vorbei. Das macht dann 5 Euro.
„Was?“, fragte ich fassungslos. „Das waren doch gerade mal 5 Minuten.“
„Du möchtest mir doch wohl nicht sagen, dass dich mein Gerede auch nur im leisesten interessiert hat. Glaubst du ich habe deine Blicke nicht bemerkt?“
Ich wusste nicht was ich dazu sagen sollte, doch die Frau hatte gewonnen. Zähneknirschend stand ich auf, schlenderte zum Ausgang. Draußen warteten bereits Domme und Lea auf mich. „Und wie wars?“, erkundigte sich Lea, doch ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte, oder was sie von mir hören wollte. Also sagte ich so: „Dass du mich schon da rein schickst und ich diesen Humbuck über mich ergehen lassen muss, ist schon schlimm genug. Aber das ist so eine Abzocke!“
„Gehen wir weiter?“, fragte Dom.
„Gute Idee.“, sagte ich.
Trotz dieser frühen Stunde war der Platz in Feudenheim voll. Nach erfolgreicher Lösung unseres Falles hatten wir beschlossen, aufs Feudenheimer Frühlingsfest zu gehen. Die Stimmung hier war sehr ausgelassen. In der Luft lagen der Geruch von Zucker, gebrannten Mandeln, Würstchen und nachmal Zucker. Alles hatte mit den Abenteuern in Grönland angefangen und hatte mit der Legende der Tuhgathe geendet. Ach ihr wisst gar nichts davon? Ihr wisst nicht, was uns in Grönland widerfahren war? Nun denn. Es ist eine lange Geschichte, aber ich werde sie euch trotzdem erzählen. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen…


Der Krimiabend




Ihr wisst hoffentlich, was nach Abschluss unseres letzten Falles passiert ist. Falls nicht, hier noch einmal eine kurze Zusammenfassung, für alle, die beim Lesen zwischendurch pennen:
Man hatte nach meiner „Ermordung“ Gras über die Sache wachsen lassen. Das ging 5 Monate, dann war innerhalb weniger Wochen alles wieder wie früher. Von der Beute durften wir satte 10.000 Euro haben, womit wir die Zentrale aufgemotzt und uns einen neuen Fernseher gekauft hatten. Meine Mutter hatte ihre Einwände zurück genommen. Das war auch gut so. Natürlich wurden wir auch in der Presse gelobt, wodurch wir viele neue Fälle bekamen, doch die meisten waren nicht besonders aufregend. Was wir vermissten, war das große Abenteuer, doch wir ahnten nicht, dass dieses Abenteuer schon fast vor uns lag. Es begann zunächst mit einem Diebstahl…


Es war ein schöner Sommertag im März, eigentlich zu früh für diesen Monat, als wir uns in der Zentrale einfanden. Den ganzen Vormittag waren nur ich und Domme da. Wir waren gerade dabei Akten und Berichte zu sortieren. Es klopfte an der Tür. „Is offen!“, rief ich. Ich war gerade dabei, die handgeschriebenen Berichte abzutippen. Die Tür ging auf und Lea trat ein. Sie hatte dutzende Einkaufstaschen unter den Armen, war verschwitzt, aber fröhlich. „Hallöle zusammen.“, begrüßte sie uns freudestrahlend. „Hey Lea.“, grüßte ich zurück. „Wo bist du denn gewesen?“, fragte Domme geistesabwesend. „Sieht man das nicht?“, erwiderte sie und deutete auf die vielen Tüten. „Ich war shoppen.“, rief sie heiter.
„Na dann mach dich mal an die Arbeit. Es gibt noch jede Menge zu tun.“ Ich gab ihr ein dutzend Papiere in die Hand. „was ist denn das alles?“, fragte Lea erschrocken. „Dokumente aus den Fällen, die wir in den letzten Monaten hatten.“
„Sind das so viele gewesen?“
„Ja. 30 insgesamt.“
Lea seufzte. „Das wird ein langer Tag. Was macht Domme überhaupt?“
„Berichte sortieren. Die sind ziemlich durcheinander.“ Lea nickte und machte sich an die Arbeit. Es wurde tatsächlich ein langer Tag. Die sortierten Berichte kamen zu mir, ich tippte auf den Computer ab und Lea heftete das Handgeschriebene dann in verschiedene Ordner ab.
Es war halb acht, als diese mühevolle Arbeit endlich erledigt war. Wir waren alle fix und fertig. Draußen ging bereits die Sonne unter und tauchte den Horizont in rotorangenes Licht. Nach Hause zu gehen war unser letzter Wunsch, und als wir gerade gehen wollten, klingelte das Telefon. Widerwillig nahm Domme den Hörer ab. „Ja? Dominik Deichsel von der Detektei TTD?“
„Hallo. Hier ist Herr Maier. Einen tollen Leitspruch habt ihr euch ausgedacht.“ Die Stimme war uns vertraut. Domme schaltete den Lautsprecher an. „Hallo Herr Maier.“ Er seufzte hörbar.
„Stör ich?“
„Wenn sie es genau wissen wollen ja. Wir hatten einen harten Tag und wollten gerade gehen.“
„Ok. Ich will niemanden aufhalten. Kennt ihr das „Ele Dininjo“ in Mannheim?“
Lea und ich nickten. „Ja kennen wir. Warum fragen sie?“
„Nächste Woche Freitag um 19.00 Uhr findet dort ein Krimiabend statt und ich hätte noch drei Freikarten. Was sagt ihr?“ Domme sah zu uns hinüber, wir nickten und er wandte sich wieder dem Hörer zu. „Ok. Wir sind da.“
„Super. Ich freu mich. Dann bis nächste Woche.“ Es wurde aufgelegt. Er atmete tief aus. „So Kollegen, nun unser verdienter Feierabend.“


Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, als ein Taxi auf dem Vorplatz des „Ele Dininjo“ vorfuhr. Lea und ich hatten längst den Weg hierher gefunden. Aus dem Taxi stieg ein gut gelaunter Domme.
„Hast du auch den Weg gefunden?“, fragte ich, als er bei uns angekommen war.
„Der Fahrer hat sich verfahren. Warum geht ihr nicht rein?“
„Würden wir ja. Aber der Türsteher da lässt uns nicht ohne Karte rein.“
„Hat die Herr Maier?“
„Anscheinend.“
„Was ist das eigentlich für ein Laden?“, fragte Domme.
„Ein vier Sterne Hotel und einer der Topadressen in Mannheim.“, antwortete ich. Wir drehten uns um, als hinter uns ein Auto zum Stehen kam. „Hallo ihr drei.“, begrüßte er uns. Er war in einem eleganten Smoking gekleidet. „Ihr seht gut aus.“ Da hatte er recht. Doch was erwartete er wohl an einem solchen Tag. Ich trug ein rotes Abendkleid, Lea ein weißes Kleid und Domme einen eleganten Overall. Er schloss seinen schwarzen, glänzenden Mercedes via Zentralverriegelung und wir gingen los. Das `Ele Dininjo` war ein imposanter Altbau dessen Eingang an den berliner Bundestag erinnerte. Die steinerne Veranda war mit Rosen und Sträuchern verziert. Die perfekte Krönung für dieses Bild bildeten die riesigen Marmorlöwen, die auf Podesten vor der Holztür kauerten. Von der Treppe bis zur Tür war ein roter Teppich ausgelegt. Wir schritten die Treppe hoch, wo uns der Türsteher entgegensah. „Guten Abend.“, begrüßte er uns seine rechte behandschuhte Hand hin. Herr Maier gab ihm die Karten. Nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, sah er uns wieder an. „Danke Sir. Sie werden in der Lobby erwartet.“ Herr Maier nickte ihm dankend zu. Sofort wurde die Tür von zwei behandschuhten Händen geöffnet. Von innen war das Hotel noch viel majestätischer. Die rötlich tapezierten Wände waren mit Blumenmustern verziert, dazu noch einige Kronleuchter, edle Tische und Stühle. Im ganzen Saal saßen und standen Menschen, die mit einander sprachen. Die frische Luft trug die leise Klaviermusik durch den Raum. Obwohl wir etwas ähnliches schon einmal gesehen hatten, kamen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Herr Maier trat neben uns. „Ist es gut?“
Nicht gut. Fantastisch!“, sagte ich.
„Kommt. Ich möchte euch einigen Leuten vorstellen.“ Wir verließen den Raum und kamen in den Saal, in dem dutzende lange Tische standen. Sie waren durch goldfarbene Metallkärtchen von 1-60 nummeriert. Der Saal war jetzt schon gut gefüllt. Herr Maier ging mit uns zum vordersten Tisch, an dem allein ein Mann saß, der in einem dicken Ordner herumblätterte. „Hallo Thomas!“, rief Herr Maier. Der Mann sah auf und machte ein erfreutes Gesicht. „Daniel!“ Er stand auf und schüttelte dem Kommissar die Hand. Dann wandte er sich zu uns. „Und das sind sie? Die drei Detektive?“
„Genau.“
Ich, Domme und Lea bekamen seinen festen Händedruck zu spüren. „Es ist mir eine Ehre.“ Er wies uns Plätz zu und wir setzten uns. „Ich habe alles über euch gelesen. Ihr seid natürlich Ehrengäste. Für heute habe ich ein exzellentes Theater vorbereitet. Ich habe es ein bisschen eurem ersten Fall nachempfunden.“, sprudelte es überzeugt aus ihm heraus. Wir bekamen rote Backen. Wir mussten lächeln, so aufgeregt waren wir in dem Moment. Der Mann antwortete uns mit einem stolzen Grinsen. Er hatte sich wohl erhofft, uns imponieren zu können, obwohl er ein bisschen übertrieb. Ein lauter Gong hallte durch den Saal, kurz darauf drängte sich die Masse zu den Tischen. Der Mann erhob sich. „Entschuldigt mich bitte. Die Vorstellung beginnt gleich.“ Eilig machte er sich sogleich auf den Weg zur Bühne. „Klar. Viel Glück!“, rief ihm Herr Maier noch hinterher. Als sein Freund hinter der Bühne verschwunden war, wandte er sich wieder uns zu. „Na? Was sagt ihr?“
„Etwas sehr fanatisch.“, sagte ich kritisch.
„So ist er nun mal.“, verteidigte ihn Herr Maier.
Im nächsten Moment wurde im Saal langsam dunkel. Eine geheimnisvolle Melodie, die sehr an einen Krimi aus dem Fernsehen erinnerte, ertönte. Nach etwa 20 Sekunden kam Thomas auf die Bühne und unter ihm strahlten die Lichtkegel der vier großen Scheinwerfer. „Geehrte Gäste! Im Namen des Ele Dininjo Teams heiße ich sie herzlich willkommen, zum heutigen Krimiabend. Lauter Beifall ertönte im Saal. „Besonders freue ich mich über drei Prominenzen: Den Oberbürgermeister Mannheims Hermann Göttinger…“ Der Lichtkegel erschien über dem Bürgermeister. Der mittelgroße, stämmige, bärtige Mann stand auf, während alles applaudierte. „Den britischen Starautor George Mores…“ Wieder Beifall und auch der glatzköpfige Star erhob sich und machte eine leichte Verbeugung. „Und zu guter Letzt die „Three Detectives“, die bekannte Detektei aus Mannheim.“ Als der Lichtkegel unter uns erschien standen auch wir auf. Donnernder Applaus folgte, einige standen sogar auf! Wir wussten nicht woher diese riesige Anerkennung kam, denn seit unserem letzten Fall, waren wir zwar oft genug in den Medien zu hören und wussten ,dass wir dadurch bekannt waren, aber dass wir so bekannt waren ahnten wir nicht. Aber nichts desto Trotz. Es war sehr schönes Gefühl. Wir setzten uns wieder. Ich wusste nicht ob die andren das mitbekamen, doch die Anerkennung hatte bei den anderen beiden wohl Unmut ausgelöst. Der britische Autor verzog ernst seine Miene und der Bürgermeister drehte sich um und warf uns einen scharfen Blick zu. Ich erschrak etwas zuckte ein wenig zusammen. Domme sah mich an. „Alles okay mit dir?“, erkundigte er sich. Ich sah ihn an. „Ja, ja. Natürlich. Was soll denn sein? Meine Stimme klang nicht besonders überzeugt. „Nun ja bist, sagen wir mal, du sehr blass um die Nase.“
„Ah echt?“
Er nickte.
„Is wahrscheinlich die Aufregung.“, log ich. Ich war sehr erleichtert, als er seine Aufmerksamkeit wieder der Bühne schenkte und ich spürte wie mein Gesicht wieder Farbe bekam.
Wie das gesamte Stück anschließend war, will ich nicht groß und breit erzählen, doch hier die Kurzform:
Durch den tosenden Applaus war ein Kommentar des Moderators natürlich unnötig und mit einem breiten Grinsen eröffnete er die Vorstellung. Lauter Applaus ertönte, als der rote Vorhang zurück gezogen wurde. Zum Vorschein kam ein metallfarbener Sockel, auf dem ein Glaskasten platziert war. Auf dem rot glänzenden Samtkissen lag ein großer, weiß- silberner Edelstein. Im Hintergrund standen weitere Exponate, doch wie ich erkennen konnte, waren es ausschließlich Edelsteine. Als nächstes kamen einige Menschen zum Vorschein, die wohl Museumsbesucher darstellten. Neugierig bestaunten sie die Exponate. Sie bewegten sich so dicht, dass man nicht mitbekam, woher nacheinander die Massen strömten. Das ging so weit, bis aus der überschaubaren Menge eine undurchsichtige Masse geworden war, über die jedermann bald die Übersicht verloren hatte. Doch ein Detail entging keinem: Der große, silberne Diamant im Vordergrund raubte allen die Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass die Traube immer größer wurde, machte dies nur allzu deutlich. Es wurden Photos geschossen, es wurde fanatisch bestaunt. Dann gingen einige an dem Kasten herum, blieben stehen, sodass man den Stein für einige Sekunden aus den Augen verlor. Meine Augen wurden müde und ich wollte meinen Blick gerade abwenden, als es passierte! Gerade war auf beiden Seiten der Stein verdeckt, als der Kasten plötzlich leer war! Obwohl ich wusste, dass das alles nur Show war, aktivierte sich sofort mein Aufklärungsmechanismus, mir sagte, dass ich es doch nicht zulassen konnte, dass vor meinen Augen ein Diamant gestohlen wurde. Ich mich trotz alle dem schwer zusammenreißen, um mich nicht auf die Bühne zu stürzen! Zunächst blieb von den anderen eine Reaktion aus. Aber eben auch nur zunächst. Bis eine Dame mit ihrer schrillen Stimme die Ruhe zerriss! Danach ging alles schnell. Verkleidete Polizisten erschienen und verhörten. Schon nach wenigen Minuten hatten sich alle Verdächtige auf der Bühne aufgestellt. Vom Entertainer wurde das Stück mit folgenden Worten beendet: „Ab jetzt sind sie an der Reihe! Finden sie den Dieb des Silbermonds!“
Im Nachhinein kam heraus, dass beim Diebstahl eine Legende der Thugathe eine wichtige Rolle spielte. Ganze zwei Stunden wurde herum gerätselt, doch ohne Ergebnis. Herr Maiers Freund hatte wohl große Erwartungen uns gegenüber, doch wir mussten ihn enttäuschen. Wir konnten lediglich zwei Verdächtige feststellen, doch aufgrund mangelnder Beweise blieb es auch dabei. Am Ende löste er das Geheimnis, das im Saal wieder eine erregte Debatte auslöste. Sogar aus unserer Sicht ergab das keinen Sinn.
Es war fast ein Uhr als das Fest vorbei war und wir von Herr Maier in der noch warmen Nacht nach Hause gefahren wurden.


Ein mysteriöser Auftrag




Ein mysteriöser Auftrag
„Fällt irgendjemandem von euch ein Wort mit drei Buchstaben und einem a am Ende ein?“, fragte Lea über ihrer Zeitschrift in die Runde. Der Ventilator, der hinter ihr stand, blies ihr die mittellangen, braunen Haare in die Nacken. Ich arbeitete am Computer. „Null Plan.“, antwortete ich teilnahmslos. „Wie wäre es denn mit „Lea“?“, drang Dommes dumpf klingende Stimme aus der Küche. Er brühte gerade einen Kaffee auf, was er zwar immer machte, wenn wir in der Zentrale saßen, was aber heute überflüssig war. Immerhin zeigte uns das Thermometer draußen auf dem Mini Balkon 35 Grad. Und das im Schatten! Doch er war offenbar ein Mensch, der einfach immer Kaffee trinken konnte, selbst, wenn es noch so warm war. Oft fragten wir uns, wie er das bloß aushielt. Schließlich hatte ich heute ein T- Shirt an, dazu eine braune Sommerhose. Das Outfit war zwar sehr luftig, doch es war immer noch warm!
„Sehr witzig!“, antwortete Lea und ließ ihren Kopf wieder unter der Zeitschrift verschwinden.
„Was?! Du wolltest ein Wort mit drei Buchstaben und einem a am Ende. Hier hast du eins.“
„Das Problem ist, es passt nicht in die Lücke. Ich hab alle Lexika durchstöbert, aber das Wort ist nirgendwo dabei gewesen!“
„Ich sehe dich fast immer mit einem Kreuzworträtsel, aber an dem sitzt du jetzt schon seit Tagen rum. Was ist denn das besondere daran?“, fragte Domme aus der Küche.
„Ganz einfach. Da kann man 1 Millionen Euro gewinnen!“
„Und was würdest du mit dem Geld machen?“, wollte ich wissen.
„Na was wohl! Shoppen!“, rief Lea, als wäre ihr der Gewinn zum Greifen nahe. Ich schüttelte verständnislos den Kopf und arbeitete am PC weiter. Lea nahm ihre Zeitschrift runter. „Was machst du eigentlich?“
Ach. Ach nichts. Besonderes.“
Lea legte die Zeitschrift weg und stand auf. „Lass mal sehen.“ Ich minimierte die Seite, auf der ich war, doch es brachte nichts, denn Lea holte sie bereits wieder zurück. Ich hätte die Seite besser gleich schließen sollen. „Na was haben wir denn da?“ Ich konnte es nicht verhindern, dass ich feuerrot wurde und drehte mich weg. „Unsere Annika flirtet mit einem uns (noch) unbekannten Jungen.“ Ich vergrub vor Scham mein Gesicht in den Händen. Leas Stimme hörte sich an, als ob da was Ernstes wäre. „ Ich flirte nicht, ich chatte!“, versuchte ich verzweifelt abzulenken. „Also wenn ich mir das geschriebene da so ansehe, habe ich nicht wirklich den Eindruck, dass das ne einfache Bekanntschaft ist.“ Lea grinste, als hätte sie riesigen Spaß an der Sache. „Und siehe da, er ist auch noch auf unserer Schule! Was will man da noch mehr?“ Ein Kommentar aus der Küche blieb mir glücklicherweise erspart. Plötzlich öffnete Lea den Chatroom und tippte etwas ein. „Ey Lea! Lass das! Ich warn dich!“ ich wusste nicht, was sie geschrieben hatte, doch ich wollte es auch gar nicht wissen und als sie gerade auf Enter drücken wollte, klingelte das Telefon, das auf dem Tischchen neben uns stand. „Geht mal einer hin? Ich kann grad nicht!“, dröhnte es aus der Küche.
„Ich mach schon!“, rief ich zurück, ich tippte gerade noch etwas ein. Doch Lea wollte ich keinen Gefallen tun, also meldete ich mich ab. Anschließend nahm ich den Hörer ab. „Ja? Annika Kreid von der Detektei TTD?“
„Hallo?“, meldete sich eine kleinlaute Stimme.
„Bin ich mit der Detektei TTD verbunden?“
„Ja. Wer sind sie?“
„ich bin Herr Kovalksi, Thomas Kovalksi. Ich bin der Freund von Herr Maier“ Ich stellte den Lautsprecher an. „Erinnert ihr euch noch an mich?“
„Natürlich. Worum geht es denn?“
„Wie hat euch denn das Stück vorgestern gefallen?“ Ich wurde etwas stutzig.
„Ja. Gut. Aber sie rufen doch wohl kaum an, nur weil sie die Meinung zu ihrem Stück einholen wollen.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie genau das gleiche bemerkt hatte, wie ich. Die kleinlaute Tonart fiel sofort auf, aber seine Frage verriet, dass irgendetwas im Busch war.
„Du hast recht, das ist nicht der eigentliche Grund meines Anrufs. Ich, ich habe seit gestern Nacht kein Auge mehr zugetan, weil der Schrecken einfach zu tief saß und, und ich nicht wusste, was eigentlich passiert war, oder wie es passieren konnte.“ Jetzt war in seiner Stimme zu kleinlaut auch Entsetzen und Panik gekommen.
„I… i… ich, ich wusste einfach nicht, an wen ich mich wenden sollte, und ihr seid genau richtig, hab ich gedacht.“
„Beruhigen sie sich erst einmal und sagen sie mir bitte dann was passiert ist.“, versuchte ich auf ihn einzureden, doch meine Formulierung war mehr als blöd. Domme kam aus der Küche und lauschte angespannt.
„Zum ersten Mal in meiner Karriere als Administrator, ist es passiert! Nach fast 20 Dienstjahren!“, plötzlich glaubte ich ihn schluchzen zu hören. Ich wusste nicht, wie ich weiter machen sollte und Domme nahm mir den Hörer aus der Hand, zum Glück. „Herr Kovalksi! Was ist passiert?“, sagte er bestimmt, aber mitfühlend.
„Mein wertvollstes Exponat ist gestohlen worden. Der Silbermond!!!“, rief er bestürzt in den Hörer. Auf uns allen breitete sich eine Gänsehaut aus. Keiner wagte es etwas zu sagen. Für einige Sekunden war es still in der Zentrale. „Kommt bitte so schnell wie möglich ins Dininjo.“, sagte er leise. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, irgendetwas zu erwidern, denn gleich darauf wurde aufgelegt. Ich legte langsam den Hörer auf. Wir waren enorm betroffen. „War das nötig?“, fragte Lea. Domme antwortete nicht sondern holte seine Jacke. Ich wusste auch nicht, ob das wirklich richtig war, aber hatte keine andere Wahl. So schwer es ihm auch jetzt fiel. Doch ich traute mich in diesem Moment nicht, das zu äußern.
Auf dem schnellsten Weg machten wir uns auf den Weg ins Dininjo. Es ging schnell, denn an diesem Tag fuhren viele Bahnen. Es war ein warmer, wolkenloser Tag und die Massen strömten entweder auf die Wiesen oder ergötzen sich an riesigen Eisbechern. Und wir dagegen saßen in unserer Zentrale und waren damit beschäftigt, Fälle zu lösen, die sonst vielleicht kein anderer aufzuklären vermochte. Manchmal stellte ich mir die Frage, was gewesen wäre, wenn es den Fall `Späte Abrechnung` nie gegeben hätte, genauso wie `The three Detectives`, unsere Detektei? Was wäre gewesen, wenn es niemals eine Detektei A&D gegeben hätte? Hätten wir dann vielleicht das getan, was jeder andere in unserem Alter auch getan hätte? Partys, Shoppen, Kino, Fußball oder Playstation? Nicht das ihr mich und meine Kollegen jetzt für totale Langeweiler oder sogar Hinterweltler haltet. Selbstverständlich hatten auch wir unsere Hobbys was auch heute noch so ist. Aber in der Gesellschaft wird das Hobby `Detektiv` eigentlich nur bei Kindern akzeptiert. Wohl deshalb, weil sie noch klein sind und die Welt erforschen wollen. Wenn ich mit meinen 14 Jahren heute auf Partys ging (was ich sehr gerne tat und tue) und teilweise stolz mein Hobby angab, erwachte ich sehr früh aus dem Dornröschenschlaf, denn meistens wurde ich damit einfach nur belächelt, nicht ernst genommen! Dann gab es aber zum Glück noch die Art von Menschen, die dieses Hobby als „für ein Mädchen ungewöhnlich“ bezeichneten und welche, die es begrüßten waren fast immer nur Schleimer gewesen. Auf diese Weise musste ich lernen, dass „für ein Mädchen ungewöhnlich“ der positivste Kommentar war, den ich von einem Erwachsenen ernten konnte. Zu dieser Personengruppe zählte auch meine Mutter. Als ich mit Domme in der 5. Klasse die Detektei A&D gegründet hatte, sagte sie natürlich nichts, da wir entweder gar keine Fälle hatten, oder uns nur mit Katzen und Hunden beschäftigten. Darin waren wir sogar oft erfolgreich, doch auf die Dauer wurde es eintönig, langweilig. Einige Male stand die Detektei kurz vor dem Aus. Hätte es die Zwischenfälle in der Schule nicht gegeben, wäre es bestimmt bald zu einer Trennung gekommen. Den Rest der Geschichte kennt ihr schon, falls ihr unser letztes Abenteuer verfolgt habt.
Nach etwa 20 Minuten hatten wir das „Ele Dininjo“ erreicht. Es standen nur einige Nobelwagen auf dem Vorplatz. Wir schritten die Treppe hoch und öffneten die schwere, mit Gold beschlagene Holztür. Im Inneren des Gebäudes herrschte nicht viel Betrieb und als der einzige Mann hinter den Tresen uns erblickte, verzog er erst einmal mürrisch das Gesicht. Als wir uns dann auf ihn zubewegten, tat er so, als arbeitete er am PC.
„Guten Tag.“, begrüßte Annika ihn.
„Guten Tag.“, sagte der Mann gleichgültig.
„Wir möchten Herrn Kowalksi sprechen. Ist er im Haus?“
„Er ist im Haus, ja. Allerdings bezweifle ich es stark, dass er bereit ist jemanden zu empfangen.“ Er sprach es von oben herab aus. Er machte sich nicht die Mühe aufzuschauen, doch es war deutlich, dass er nur so tat, als würde er arbeiten.
„Nun in unserem Fall glaube ich es schon.“
„Seid ihr wegen Spendenaktionen hier, oder aus einem ähnlichen Grund? Wenn ja, möchte ich euch bitten zu gehen. Wir geben dieses Jahr keine Spenden mehr.“, sagte er, als würde ihn allein unser Dasein nerven. Jetzt reichte es mir! Ich holte meinen Geldbeutel aus meiner Tasche, holte eine Visitenkarte hervor und legte sie dem Mann auf den Tisch. Wenigstens jetzt blickte er auf.


TTD- The three Detectives
Die Detektei für alle Fälle!

Detektiv: Dominik Deichsel
Detektiv: Annika Kreid
Rech&Arch: Lea Utzi


Selbst die Karte schien ihn nicht zu beeindrucken. „Detektive? Und noch so jung?“ Wieder hatte er diesen herablassenden Ton in seiner Stimme, die Wut in mir aufsteigen ließ! Im Stillen ballte ich meine Hände zu Fäusten. Domme entging das nicht, er kannte mich gut, wusste, zu was ich in solchen Situationen in der Lage war und löste mich ab. „Tun sie uns den Gefallen, und geben sie keinen Kommentar ab, ok? Wir haben auf dieses Gespräch genau so wenig Lust wie sie, also stellen sie uns bitte zu Herr Kowalksi durch, Sir!“ Er trat bewusst auf und er konnte dem Mann die Stirn bieten. Das war gut. Doch allein am listigen Gesichtsausdruck des Mannes konnten wir abschätzen, dass er uns keinen Wein einschenken wollte. „Habt ihr einen Termin bei ihm?“, offenbar wollte er uns aus der Reserve locken, wissen, was wir drauf hatten. Domme ließ sich bewusst darauf ein. Wenn du die Schlacht willst, kannst du sie haben!
„Ja.“
„Und wann genau?“
„Er nannte uns keinen Zeitpunkt.“
„Oh. Das ist dumm. Denn ohne Termin werde ich euch nicht zu ihm lassen.“ Das breite Grinsen ließ wissen, dass er sich als Sieger des Rennens sah. Ich wurde ungeduldig, und plötzlich sah es! Den Grund! Den Grund, warum uns dieser Mann so ab lässig behandelte! Es war der einfache Grund, dass wir mit der Jeans und dem normalen Kleidern nicht in diese Smoking Welt hinein passten! Und plötzlich fiel mir auf, dass er genau das von uns erwartete. Dass uns dieser Unterschied auffallen würde! Doch genau diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun. Und plötzlich kam mir die Idee, mit dem wir den Mann zu Schweigen bringen könnten, also, ihr wisst schon, wie ich das meine. Jetzt schienen sogar ihm die Argumente auszugehen. Er beugte sich leicht zurück: „Leute! Was soll ich tun??!“, flüsterte er. Ich holte aus meiner Tasche die Karte für den Krimiabend. „Nimm.“ In seinem Gesicht stand eine Frage. Doch er ging zunächst nicht genau auf sie ein, sondern legte dem Mann die Karte auf den Tisch. Als dieser sie erkannte machte er erstmal große Augen und plötzlich schien er von `mir doch egal` auf `einigermaßen freundlich` umzuschalten. „Sagt doch gleich was ihr wollt!“ Als ob wir das nicht oft genug gesagt hätten!! Er drehte sich am Telefon noch einmal um. „Auf welchen Namen darf ich anfragen, die Herrschaften?“
„Sagen sie einfach: TTD!“

Ich konnte es nicht fassen! Ich konnte es einfach nicht fassen! Eine geschlagene halbe Stunde stehen wir da drinnen rum und falschen mit dem Portier nur um einen Anruf beim Chef. Warum ist mir die Karte nicht früher eingefallen?! So ein Mist! Aber egal. Jetzt waren wir drin und jetzt gab es kein zurück. Soviel wussten wir. Wir fühlten uns auch nicht besonders wohl mit unserer Alltagskleidung unter den feinen Leuten mit ihren Wracks und Smokings. Jeder Mensch, der etwas auf sich hält, würde jetzt sagen: „Ignoriert die Leute doch einfach. Vielleicht beneiden euch manche sogar.“ Auch ihr habt diesen Satz garantiert schon hundertmal gehört und ihr alle werdet festgestellt haben müssen, dass das in der Realität alles andere als leicht ist. Und spätestens jetzt bekamen wir genau diese Tatsache auf brutale Weise zu spüren! Blöderweise war das Büro des Direktors am anderen Ende des Hauses. Fazit: Wir wurden von einem Angestellten quer durchs Haus geführt. Durch Salons, Säle, Zimmer… Das war insbesondere für uns irre peinlich, da wir neugierige, entfremdende, abstoßende Blicke ernteten, Gekicher und anderes auslösten. Doch peinlich war es nach und nach doch nicht mehr, sondern einfach nur noch demütigend! Bei dieser Führung lernten wir auch, dass das Gebäude von innen größer war, als es nach außen hin ausschaute. So verging eine weitere Viertelstunde, bis wir endlich am Ziel angekommen waren, schnauf!!
Etwas abseits von den Salons führte man uns durch einen langen, gut beleuchteten Gang. Direkt vor uns erkannten wir eine große, edle Flügeltür. Auf dieser prangerte ein goldenes Schild. „Direktion“ stand darauf in schnörkeliger Schrift. Der Angestellte sah seine Arbeit hier erledigt und machte sich ohne ein weiteres Wort auf und davon. Domme, der an der Front war, klopfte an. „Herein?“ Er war kaum hörbar.
Wir öffneten die Tür und traten ins gedämpft beleuchtete Zimmer. Unter uns knarrte der Holzboden. Am abgeschirmten Fenster konnten wir einen großen, breitschultrigen Mann erkennen. Besonders viel war in dem Raum nicht zu erkennen, doch die mannshohen Bücher und Ordnerregale entgingen keinem. Es gab drei abgeschirmte, große Fenster, durch die gedämpftes Licht viel. Davor stand ein riesiger Schreibtisch, auf ihm Papierstapel so weit das Auge reichte. Herr Kowalksi selbst stand an einem der Fenster und sah wohl hinaus. „Setzt euch.“ Missmutig nahmen wir auf drei Stühlen, die vor dem Schreibtisch waren, Platz. Eine ganze Weile lang herrschte eine erdrückende Stille im Raum, die jedem von uns den Wunsch laut werden ließ, sich ganz klein zu machen. Keiner von uns wagte es, etwas zu sagen! „Es tut mir leid, dass ich euch so schnell hier her bestellt habe.“, sagte er niedergeschlagen. Er setzte sich an den Schreibtisch. „Aber ich wusste nicht, zu wem ich sollte.“ Er wirkte bis auf die Knochen deprimiert.
„Kein Problem.“, versuchte ich ein wenig zu trösten.
„Herr Kowalksi. Sie sagten am Telefon, dass der Silbermond verschwunden sein. Wie konnte es dazu kommen?“
„Genau das ist ja!“ Er schlug mit den Händen auf den Tisch. „Ich habe keine Ahnung!“
Annika nahm ihr Diktiergerät aus der Tasche und Lea einen Notizblock. „Erzählen sie uns einfach mal, wie der gesamte Abend letzte Woche abgelaufen ist.“, sagte Domme.
„Also gut. Nach, nachdem wir mit der Vorstellung fertig waren und die Gäste gegangen waren, ließen wir alles stehen und liegen. Der Silbermond war hier hinten im Safe.“ Er deutete auf einen orientalischen Wandteppich. Lea machte sich eilig einige Notizen. „Das Hotel war perfekt abgesichert. 24 Stunden. Ununterbrochen.“ Es war nicht zu überhören, dass er völlig aufgelöst war. Am nächsten Morgen war alles normal und als ich den Tresor öffnete, war der Silbermond weg!!“
„Moment, Moment! Sie sagen, alles war normal?“, hakte Domme nach. Auch mich machte das stutzig. Ob Domme wohl das gleiche dachte, wie ich…?
„Ja. Alles war ganz normal. Der Wachposten hatte nichts zu vermelden, auch die Nacht war ruhig geblieben.“
„Das heißt keine Einbruchsspuren? Weder am Haus noch am Safe?“
„Nicht die Spur.“ Dachte ich es mir doch.
„Das ist allerdings seltsam.“ Wir sahen uns verdutzt an. „Haben sie Feinde, oder Menschen, die ihnen schaden wollten?“
„ich habe sicherlich Feinde. Der Silbermond war heiß umkämpft bei den Hoteliers, er ist schließlich auch einiges Wert.“
„Wie viel ungefähr?“
„Keine Ahnung. Ich schätze so ca. 2 Millionen Euro.“
„Dann ist der Diebstahl wenigstens was wert gewesen.“, sagte ich.
„Habt ihr fürs erste noch Fragen?“, Domme sah zuerst mich, dann Lea an und wir schüttelten beide die Köpfe. „Ok.“
„Eine Frage noch.“, meldete ich mich, denn ich hatte noch eine wichtige Frage, die mich seit dem Anruf beschäftigte.
Herr Kowalksi sah mich aufmerksam an. „Wieso haben sie eine Woche vergehen lassen und haben erst dann uns informiert? Weiß die Polizei schon bescheid?“
„Nein, ich, ich wollte erst auf euch warten.“ Allein an seinem um wölbten Gesichtsausdruck konnte man lesen, dass selbst er diese Antwort nicht als Erklärung vorweisen konnte. Doch warum nahm er sie dann?
„Aber wir sind nur Detektive. Die Polizei hat die Spurensicherung Netzwerke und noch viel mehr. Warum also?“
Kowalksi zeigte Gesten, die wohl einer Entschuldigung gleichkommen sollten, da er dafür wohl keine Erklärung hatte. Ich sah ihn zweifelnd an. Ich hatte keine Scheu davor ihm zu zeigen, dass ich ihm hier nicht so ganz traute. „ich werde die Polizei heute noch informieren, ist das für euch ok?“ Wir nickten und Lea packte ihr Schreibzeug weg. Herr Kowalksi legte einen Umschlag vor uns auf den Tisch. Domme Beugte sich vor. „Was ist das?“
„Euer Honorar.“ Ich lehnte mich wieder zurück. „Tut mir leid. Aber wir nehmen kein Geld. Als ein Fan sollten sie doch wissen, dass wir unsere Dienste grundsätzlich kostenlos anbieten.“
„Dennoch. Nehmt es als Aufwandsentschädigung. Es ist ja nicht einfach, während der Schulzeit zu arbeiten.“
„Nein danke. Behalten sie es.“
„Wie ihr meint.“
„Werdet ihr den Fall übernehmen?“
„Das können wir ihnen jetzt noch nicht sagen. Wir melden uns bei ihnen.“, sagte Domme, als wir uns anzogen. Er stand auf und lächelte erleichtert. „Vielen Dank für euren Besuch und schon jetzt gutes Gelingen!“


„Ich fasse es nicht! Jetzt hat uns dieser Sack doch tatsächlich das Geld zugesteckt!“, rief Domme aus dem Flur.
„Wie viel ist es denn?“, fragte Lea, die wieder auf dem Sofa lag und sich ihrer Zeitschrift gewidmet hatte. Ich zählte die großen Scheine. „200 Euro.“
„Ist das nicht ein bisschen hoch?“, wandte ich skeptisch ein.
„Lass ihn doch.“ Lea grinste breit. Domme kam aus der Küche und stellte uns eine Tasse Kaffee hin. „Haben wir was bestellt?“, fragte Lea. Als sie die volle Tasse erblickte. „Nein, habt ihr nicht.“, erwiderte Domme.
„Gewöhn dich dran, Lea. Diesen Tick hat er schon seit unserem Einzug. Aber dafür ist er echt gut.“
„Also Kollegen.“
Domme setzte sich auf den abgewetzten Sessel. „Wie sieht es mit dem Fall aus?“
„Ganz ehrlich. Ich trau dem Typ nicht.“, warf ich ein.
„Warum das nicht?“, wollte Lea wissen.
„Na überleg doch mal! Es wurde ein Einbruch ohne jede Spur vollzogen. Das ist doch absurd!“
„Müssen Profis gewesen sein.“, fügte Domme nachdenklich hinzu.
„Aber der Tresor ist merkwürdig.“, meinte Lea. „Ich kenne diese Marke. Mein Cousin hat den gleichen und ohne Spezialschlüssel kommst du da nicht ran. Und den kriegt man nur ganz schwer.“
„Also noch ein Indiz. Ich schlage Versicherungsbetrug vor.“ Domme schüttelte den Kopf. „Warten wir auf die Ergebnisse der Spusi. Danach wissen wir hoffentlich mehr.“
Er griff nach dem Telefonhörer und wählte.
„Wie kann man nur so dämlich sein und einen Einbruch eine Woche später melden!“, ärgerte ich mich.
„Is schon merkwürdig.“, stimmte Lea mir zu. Domme stellte den Lautsprecher an. „Hauptkommissar Meier?“
„Hallo! Hier ist Dominik Deichsel. Ich wollte wegen des Einbruchs nachfragen. Hat man sie schon informiert?“
„Natürlich!“, sagte er grimmig.
„Und?“
„Und!? Meine Freundschaft zu Thomas in allen Ehren, aber wie kann man nur so blöd sein! Er weis doch, wie Polizeiarbeit ist!“, er seufzte hörbar. Er hat uns beauftragt diesen Fall zu lösen.“
„Ich weis, ich weis. Kommt ihr bei mir vorbei? Dann können wir alles besprechen.“


Spuren ins Nichts




„Herein?“, rief eine Stimme, als Lea an die Tür klopfte. Wir traten ein. Der aufgewirbelte Kommissar hatte uns bereits erwartet und saß hinter seinem Schreibtisch. Er las einige Akten. „Setzt euch.“
„Was hat die Spusi herausgefunden?“, erkundigte sich Domme. Herr Maier antwortete nicht und legte uns stattdessen eine Mappe auf den Schreibtisch. Domme schlug sie auf und hielt sie so, dass alle den Inhalt sehen konnten. Ich las nur wenige Zeilen, denn ich verstand das geschriebene nicht, während Lea Domme offenbar etwas mit den vielen lateinischen Wörtern anzufangen wussten. Mir war das etwas peinlich. „Was steht da genau?“, fragte ich etwas kleinlaut. Die Antwort lieferte Domme. „Das was zu erwarten war.“ Er verzog gelangweilt die Miene. Meine Frage war geklärt und die Antwort hatte sichtlich niemanden überrascht.
„Eben.“, übernahm Maier wieder das Wort. „Keine Fingerabdrücke, kein gar nichts.“
„Lohnt sich der Fall eigentlich noch?“, fragte Lea skeptisch in die Runde und ihre Frage war durchaus berechtigt.
„Keine Ahnung. Tatsache ist, dass der Staatsanwalt schon nächste Woche Ergebnisse sehen will.“, in seinem Ton schwang ein wenig Ärger mit, was man verstehen konnte. Doch wie sollten wir aus nichts Spur finden?
„Nächste Woche schon?“, rief Lea.
„Wie sollen wir das schaffen?“ Ich runzelte die Stirn.
„Ganz einfach. Wir müssen ermitteln. In alle Richtungen!“ Auf diesen Vorschlag brach ein Gestöhne im Zimmer aus. „Und wie soll das gehen, so ganz ohne Spuren?“, wollte Lea genervt wissen. Auf diese Frage hatte selbst ich keine Antwort parat, denn es herrschte Stille im Zimmer. Ich sah gebannt auf die Bewegung des Bleistifts, mit dem Herr Maier unruhig spielte. Da kam ihm ein Gedanke. „Wie habt ihr es denn beim letzten Mal gemacht?“
„Im Netz recherchiert und in der Bibliothek gesucht.“
„Dann macht ihr es einfach so noch einmal.“
„Mit anderen Worten: Ermitteln, ermitteln, ermitteln!“, stellte Lea klar.
„Aber ist das nicht merkwürdig?“ Für mich war die Sache längst nicht erledigt, denn dazu gab es zu viele offene Fragen. Alle sahen mich an, als wüssten sie nicht, was ich meine. „Ihr Freund hat einen Einbruch fast eine Woche geheim gehalten! Da ist doch was faul!“
„Stimmt.“
„Leider.“
Der Kommissar schüttelte wiederwillig den Kopf, doch man konnte ihm ansehen, dass er das nicht wahr haben wollte. Doch wir konnten ihn gut verstehen. Wenn uns so gehen würde, hätten wir das auch nicht wahr haben wollen. Doch auch Domme und Lea wussten, dass ich trotz aller Zweifel recht behielt.

Verhängnisvolle Entscheidung




„Ich stand am Abgrund, auf dem Dach des Empire State Building. Es war stockdunkle Nacht. Mehrere Hundert Meter unter mir rauschte dröhnend der New Yorker Verkehr vorbei, die Straßen waren bewegt und die Lichter der Stadt funkelten wie große Sternenhaufen in den kalten Nachthimmel. Mit meinen Augen und Ohren tastete ich die Umgebung ab. Zunächst war niemand zu sehen, doch plötzlich spürte ich ihn! Den schatten, der sich mutwillig mir näherte. Eiskalter Angstschweiß rann an meinem ganzen Körper hinunter und die Angst umklammerte mich in immer festeren Griffen! Panisch sah ich mich um! Ich konnte ihn offenbar nicht sehen, aber spüren! Er kam immer näher! Gefährlich näher, tödlich näher! Es brauchte nur wenige Schritte, bis ich in das tiefe Lichtermeer fallen würde. Ich zog meine selbst gebaute Kanone aus der Scheide, denn ich spürte meinen Feind, der mich bald in Stücke zerreißen würde! Mein Atem wurde immer schwerer, die Angst breitete sich als Schauer immer weiter aus, ich hielt schützend meine Kanone vor mich. Meine Bewegungen wurden immer schwermütiger, ich wurde immer panischer, meine Bewegungen immer hektischer. Ich konnte ihn immer noch nicht sehen, dafür aber spüren und hören. Die Nachtluft trug das klack Geräusch in alle Richtungen. Klack, klack, klack! Die schritte kamen immer näher, wurden lauter und schneller! Als ich glaubte, ich hätte die Richtung erkannt, ertönte hinter mir ein schwerfälliges Stöhnen. Panisch fuhr ich herum und da sah ich ihn: Meinen Schatten!“ ich hörte auf zu lesen. Um mich herum nichts als Stille. Alle hatten sich auf die Zeilen des Buches „Mirrow of Secrets“ konzentriert. Es war das erste Kapitel und schon jetzt hochspannend. „Sehr gut, Annika.“, sagte Frau Dell und nahm sich die braunen Haare aus dem Gesicht. „Wir machen morgen weiter. Lest euch bitte das 2.Kapitel durch.“ Es gongte zur Pause. Alle standen auf, um in die Pause zu gehen. „Einen Moment noch.“, hallte Frau Dells klare Stimme durch den Raum. Sie teilte Flugzettel aus, auf denen ein Tanzpaar und darüber in schnörkeliger Schrift „ 25 Jahre MRSM“ stand. Im Vordergrund standen ein Datum und eine Uhrzeit. „Wie unschwer zu lesen ist“, erklärte sie, während sie die Zettel austeilte. „findet am 13 Juli ab 17 Uhr in der Schule eine große Tanzveranstaltung statt. Ihr werdet euch entsprechende Partner aussuchen und von der Schule ausgewählte Tanzkurse besuchen. Die Lehrerin machte sich keine Mühe die Unruhe in der Klasse zu kontrollieren. Als sie ihre Rede endlich beendet hatte, waren fast drei von den ohnehin mickrigen 5 Minuten vergangen. Ich schnellte aus dem Klassenzimmer und stürmte die Treppe hoch. Völlig außer Atem erreichte ich das Dachgeschoss, in dem sich nur ein einziges Klassenzimmer befand. Vor dem Klassenzimmer hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Ich versuchte, durch die redenden Gestalten einen Blick zu erhaschen, doch noch hatte ich ihn nicht. Ich suchte nach Robert. Von ihm kann ich nur sagen euch nur sagen, dass er ein absoluter Traum typ ist. 1,80 m groß, breitschultrig, muskulös, Augen wie Haare braun und leicht italienischer Akzent. Was ich an ihm besonders schätzte, war sein Einfühlungsvermögen, sein Humor, sein Charme. Ich weis, ich fange gerade an zu schwärmen, aber es war ganz anders als ihr jetzt wahrscheinlich denkt. Aber wie gesagt, er war es. Warum, werdet ihr später noch früh genug erfahren. Doch dann hatte ich ihn endlich gefunden. Im Klassenzimmer stand er. Mit einigen Freunden redend. Ich wank ihm zu, er sah mich, machte ein erfreutes Gesicht und kam zu mir rüber. Wir fielen uns in die Arme, doch ich löste mich schnell wieder und Robert machte ein irritiertes Gesicht. „Sorry, aber ich hab keine Zeit mehr. Ich wollte dich nur wegen des Balls fragen.“ Er sah mich zärtlich an, seine klaren braunen Augen ließen mich nicht los. „Wir chatten heute wie gewohnt, ok?“ Es waren warm gesprochene Worte, wie sie nur von ihm hätten kommen können.

„Mit wem geht ihr zum Ball?“ Lea legte das Buch zur Seite.
„ich geh wahrscheinlich mit meiner Freundin.“, antwortete Domme.
„Wie heißt die gleich noch mal?“
„Sarah. Warum?“
„Ist das nicht die schwarzhaarige mittelgroße?“
„Genau“
Zum Glück fragte mich niemand.
„Und mit wem gehst du?“
Schön wars gewesen.
„Ich äh, ich gehe mit einem guten Freund.“
Sie sahen mich an. Lea flüsterte Domme etwas zu und die beiden grinsten mich an. „Lea, ich wette um einen Euro, dass es der Typ aus dem Chat ist.
„Ist er es tatsächlich?“, fragte Lea neugierig.
„Werdet ihr mich nicht mehr aufziehen, wenn ich es euch sage?“
Nicken.
„Ja, er ist es.“ Ich wurde langsam rot.
„Haben wir es uns doch gedacht.“
„ist es was Ernstes?“, wollte Lea grinsend wissen.
„Noch nicht, aber hoffentlich bald.“
„Na gut, Kollegen. Konzentrieren wir uns wieder auf den Fall. Wie weit sind wir?“
Schweigen.
„Gibt es für Nichts eine Definition?“, fragte ich unsicher. Domme rieb sich das Gesicht mit den Händen. „Ok, dann machen wir es so: Lea, du versuchst in der Bücherei etwas Brauchbares herauszufinden. Annika, du machst dich im Internet schlau.“
„Und was machst du?“, fragte ich.
„ich halte mit Herr Maier Kontakt.“ Ich sah auf die Wanduhr. Fast 20 Uhr. „Aber nicht mehr heute.“ Ich reckte mich müde. „ich muss noch für morgen lernen.“
„Na gut. Dann morgen Nachmittag wieder in der Zentrale.“
Nach dieser raschen Entscheidung mussten wir alle nach Hause, denn wir schrieben am nächsten Tag einen Test, im schlimmsten Fach der Welt: Mathe!! Viel lieber wäre noch in die Bibliothek gefahren und hätte gesucht. Aber was nicht ging, ging nun mal nicht. Jeder von uns hätte das gerne so gemacht, doch die Schule wollte es uns nicht gönnen und während langsam die Dämmerung eintrat und die Schatten der Menschen und Häuser immer länger wurden, fuhren wir müde nach Hause, ohne zu ahnen, was sich noch ereignen würde…

Nächtliche Schatten




Während es dunkel war und wir längst im Bett lagen, fing für andere der Tag erst an.

Als er vor über einer Woche angerufen wurde und über den verlauf des Auftrags informiert wurde, den er seinem Untergebenen anvertraut hatte, war er höchst erfreut. Er hatte sich so schnell wie möglich einen geeigneten Treffpunkt gesucht, sowie einen Zeitpunkt. Jetzt stand er mit seinem Rolls Royce am Straßenrand eines kleinen, verlassenen Waldstücks im Neuenheimer Feld. Es war stockdunkle, sternenklare Nacht. Seine tiefliegenden blauen Augen starrten auf die dunkle Straße vor ihm. Die Scheinwerfer seines Wagens schienen wie kalte Augen auf die Straße. Er wirkte dort wie ein Raubtier, das mit weißlich, glühenden Augen auf Beute wartete. Seine Halbglatze sah von oben aus, wie eine Sichel aus dichten braunen Haaren. Ungeduldig trommelte er mit dem Finger auf dem Armaturenbrett. Angespannt sah er auf die Uhr des Wagens. 23.45 Uhr. Sein Klient war schon eine gute Stunde überfällig. „Zehn Minuten.“, murmelte er leise. Er war nie besonders nachtragend, aber wenn es eine Sache gab, auf die er so viel Wert legte, wie nirgendwo anders, dann war es Pünktlichkeit. Der Innenraum gab die unheimlich, nächtlichen Geräusche des Waldes dumpf wieder. „Zehn Minuten gebe ich ihm noch.“ Die Zeit schwebte an dem Mann vorbei, der fast regungslos im Ledersitz saß und unbeirrt auf die Straße. Jeder andere hätte vermutlich einen schönen Sommertag in einem Innenstadtcafe bei einem Stück Sahnetorte gewählt. Aber nicht er.
Er hatte fast sein ganzes Leben bei der italienischen Mafia verbracht. Morde, Überfälle und Anschläge zählten zu seinen Aufgaben. Zuerst noch viel zu grausame Vorstellungen, doch nach einigen Jahren war die diese Skrupel längst verflogen.
Plötzlich sah er ein sich rasch näherndes Licht, das von den Bäumen reflektiert wurde. Dann kamen runde Scheinwerfer zum Vorschein. Im Licht der Scheinwerfer zeichnete sich der Umriss eines Autos ab. Die Umrisse einer Kastanien- farbenen Limousine, dessen helle Scheinwerfer den Mann blendeten. Der Wagen hielt gegenüber am Straßenrand. Aus dem wagen stieg ein elegant gekleideter, glatzköpfiger Mann. Die dunkle Sonnenbrille deckte sich perfekt mit seiner aalglatten Erscheinung. Gelassen ging er auf die andere Seite, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. „Sie sind zu spät!“, fuhr der andere ihn an, ohne ihn anzusehen. „Ich weis. Ich bin aufgehalten worden.“, erwiderte die fast totenblasse Erscheinung auf dem Beifahrersitz. Der andere Mann schüttelte verständnislos den Kopf. „Wissen sie eigentlich, dass sie genau das immer und immer wieder sagen?“
„Durchaus möglich.“
Señor Karpone. Ich habe nur wenig Zeit. Worum geht es?“
„Ich will wissen, wie es um meinen Auftrag steht.“
„Es könnte nicht besser laufen, Señor. Ich habe in zwei Tagen ein treffen mit einem Fachmann.
Der andere nickte. „Gut.“
„ich hörte, dass sie einen Nachfolger suchen. Ist das zutreffend?“, fragte Ibi leicht zögerlich. Der andere lächelte spöttisch. „Ja, Señor Ibi, es ist wahr, ich suche tatsächlich einen Nachfolger.“
„Und wer soll es sein?“
„Ich weis noch nicht wer, aber ich weis ganz sicher, dass sie es nicht sein werden.“ Karpone lachte über seinen Spruch und Señor Ibi machte ein grimmiges Gesicht. Dieser Hieb hatte gesessen. „Sie sagen, sie haben ein Treffen mit einem Fachmann. Wie gut ist er?“
„Wie gesagt. Er ist ein Fachmann. Warum?“
„Nun, ich erinnere sie nur ungern an ihren letzten Fall. Ich hatte sie gebeten, mein `Erbe` aufzuspüren, sie sagten, sie hätten einen Fachmann engagiert und was ist passiert?“
Ibi erinnerte sich. Es war eine von wenigen Erinnerungen, die Ibi lieber verdrängte. Aber das war nun mal nicht immer möglich. Der Grund dafür war, dass er schon sein ganzes Leben lang ein ehrgeiziger Mensch gewesen war, der versuchte, möglichst fehlerfrei zu arbeiten. Fehler, wie damals bei Herrn Kalli passten nicht in dieses Schema, da sie für ihn einen unnötigen Imageschaden verursachten. Doch bei fast jedem Auftrag, den er bekam, ging er das Risiko ein, einen Handlanger zu engagieren, der für ihn die Drecksarbeit machte, um sich selbst nicht die Hände schmutzig machen zu müssen. Im Falle eines Auffliegens, wie es schon oft in seiner Karriere vorkam, bot diese Methode den Vorteil, unerkannt zu bleiben. Bei Fehlern jedoch machte er in der regel kurzen Prozess.
Unwirsch scheuchte er sie wieder in ihr Loch zurück. „Es tut mir leid, Señor. Ich konnte und kann nichts dafür. Er hat unprofessionell gearbeitet.“, verteidigte sich Ibi abermals. Solche Situationen hasste er.
„Und wieder bist du über Leichen gegangen. Doch da gibt es noch etwas, was ich nicht verstehe.“ Ibi drehte den Kopf in seine Richtung. „Und das wäre?“
„Kalli brachtest du um, das verstehe ich. Er war ein hohes Risiko, das verstehe ich. Aber was war mit dem Mädchen?“
Im bleichen Gesicht stand ein Fragezeichen geschrieben. Señor Karpone schüttelte den Kopf. „Sie wissen von wem ich rede.“
„Cem hat mir alles erzählt. Ich meine das Mädchen, dass Probleme gemacht hatte.“ Karpone verbarg seinen ärger nicht.
„ich erinnere mich. Was soll mit ihr sein?“, erwiderte Ibi trocken.
„warum haben sie sie nicht umgebracht?“
„ich habe sie umgebracht. Durch Cem.“, erwiderte Ibi.
„Nein Ibi! Sie lebt!“
„was soll das heißen, sie lebt!?“, fragte Ibi bissig.
„Die Kugel war nicht tödlich. Zumindest fast. Ein kleiner Zentimeter hätte gereicht, ihr Herz zum Stillstand zu bringen.“
Seine Augen waren zwar durch die dunkle Sonnenbrille versteckt, doch Karpone konnte die finstere Miene seines Nachbarn spüren. Eine Situation, die Ibi hasste, da sie unnötige Flecken der Schmach auf seinem schwarzen Anzug hinterließen. „Aus welchem Grund haben sie sie nicht schon früher getötet?“
Ibi zögerte mit seiner Antwort, auch wenn er wusste, dass es vor dieser Frage kein Entkommen gab. Cem hat mir ebenfalls alles erzählt. Das Mädchen hatte, wie auch ihre Freunde, nachgeforscht. Sie drohte zum Problem zu werden. Cem und Kalli ließen insbesondere sie nicht aus den Augen. Besonders nach dem treffen in der Bibliothek. Ich weis nicht was Kalli danach unternommen hat, aber es hat wohl funktioniert-bis sie entkommen ist!“
„das beantwortet aber nicht meine Frage.“, stellte Karpone klar.
„Ihre Freunde haben nach ihr gesucht. Kalli wollte wohl kein Risiko eingehen.“
„Sie hätten sie in den Rhein werfen können, wie sie es mit Kalli gemacht haben.“
„Zu hohes Risiko.“
„Warum?“, bohrte Karpone nach. Ibi kannte dieses Spiel seines Vorgesetzten. Dennoch antwortete er.
„Kalli war Einzelgänger. Es hätte einige Wochen gebraucht, bis man nach ihm gesucht hätte. Bei dem Mädchen war das Gegenteil der Fall.“
Der andere nickte kaum merklich.
„In Ordnung Ibi. Hören sie mir zu. Vergessen sie den Auftrag ich habe etwas Neues für sie.“
Ibi entging die ernste Miene Karpones nicht. Er glaubte nicht recht verstanden zu haben. Wieso sollte Karpone seinen Auftrag wiederrufen? Er kannte seinen etwas faltigen Vorgesetzten schon lange. Karpone brach nie etwas Begonnenes ab. Nie! „Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.“ Ibi machte ein irritiertes Gesicht.
„Nein, Sie haben mich verstanden!“, Karpones Stimme war streng, wie die Stimme eines Offiziers, der seinen Soldaten einen Befehl gibt. „Aus welchem Grund lassen sie den Auftrag fallen?“ Unsicherheit schwang in Ibis Stimme mit, der mit diesem Ernst seines Vorgesetzten nicht gerechnet hatte.
„Mein Onkel ist gestorben, Ibi. Wissen sie was das bedeutet?“, fragte Karpone tonlos.
„Einen untragbaren Verlust?“, erwiderte Ibi mit einem Hauch Mitleid in der Stimme.
„Ja, das natürlich.“, Der Anflug eines Lächelns streifte die sonst steinernen und trockenen Gesichtszüge. „es war ein rabenschwarzer Tag, als wir ihm seine letzte Ehre erwiesen.“, begann Karpone zu erzählen. „Nur wenige Stunden vor seinem Tod bat er mich zu sich. `Fernandezt! röchelte er. `Du bist der Einzige, dem ich gut genug vertraue. Höre mir zu, mein Junge:
Du musst einen Auftrag für mich erledigen. In Mannheim wird in Kürze ein Diamant ausgestellt: Du wirst einen Einbruch ins „Ele Dininjo“ vorbereiten und den Stein klauen. Anschließend wirst du eine von mir Erwählte Person kontaktieren. Du wist dieser den Stein geben, welcher ihn zu seinem eigentlichen Platz zurück bringen wird. Sicher fragst du dich jetzt, warum mir das so wichtig erscheint?“
Ich nickte und bekam vor lauter Rührung Tränen in die Augen. Es war auf beiden Seiten ein emotionaler Moment. Seine sterbenden Augen hatten ihren Rubinglanz nicht verloren. Sein Gesicht bleich und tief gefurcht, an seiner linken Wange zog sich eine lange Narbe. Er war stämmig, muskulös. Seine Hände auf dem Sterbebett Klauen ähnlich, von dicken Venen durchzogen. `Ich werde es dir sagen. Der Stein trägt einen Fluch in sich. Der Fluch ist gefährlich, tödlich um genau zu sein. Vor sehr langer Zeit brachte ein Vorfahre eine goldene Statue aus Ägypten mit. Sie war sehr alt und wertvoll und sie trug eine Inschrift:
Wer diesen Stein unrechtmäßig besitzt, wird ihn haben, bis sich der Schatten des Todes über ihn legt. Nur, wer reinen Herzens ist, braucht keine Furcht vor ihm zu haben. Doch ohne diese Statue kann Arsankhiniekollov nicht in den Tod gehen und wer ihn nicht zurückgibt, wird dem Pharao in den Tod folgen. Erst wenn alles seinen Platz hat, kann der Fluch schweigen!
Für die Ewigkeit, in Ewigkeit.
Unser Vorfahre hatte nie auf diesen Fluch gesetzt, was auch die nachkommen nicht taten, obwohl es immer wieder zu mysteriösen Todesfällen und anderen Unfällen kam und fast immer waren die Opfer die derzeitigen Besitzer des Steins. Er wurde immer weiter gegeben, forderte immer mehr Opfer bis zu meinem Onkel. Er war der festen Überzeugung, dass der Fluch für den Tod seiner Schwester verantwortlich war, und weil er ihr versprochen hatte, den Fluch zum schweigen zu bringen, sah er es als seine Plicht, das Erbe zu erfüllen.“
„Wie lautet mein Auftrag?“, wollte Ibi entschlossen wissen.
„ich will nicht, dass der Stein noch mehr Unheil anrichtet. Er ist ein Teil der Statue. Ihr auftrag besteht darin, ihn und die Statue wieder nach Ägypten zurück zu bringen. Und für den Fall, das ihnen jemand in die Quere kommt, exekutieren sie ihn einfach!“ Karpone griff auf die Rückbank und ein großer Lederkoffer kam zum Vorschein. „200.000 Euro. Wollen sie noch einmal schauen?“, fragte Karpone spöttisch.
„Sie bezahlen mich für einen Freundschaftsdienst?“, erwiderte Ibi höhnisch.
„Nein, das ist für den verpassten Auftrag.“
„ich werde sie nicht enttäuschen!“, versprach Ibi.
„das hoffe ich für sie. Dieser Auftrag ist sehr wichtig. Wenn sie versagen sollten, hätte das weitreichende Folgen!“ Der ernste, fast schon drohende Ton schuf eine unbehagliche Atmosphäre zwischen dem luxuriösen Armaturenbrett und den weichen Ledersitzen.
„ich weis.“
„Und denken sie dran: Ich will Ergebnisse!“


Hoch das Bein!




„Nein Annika! Nicht so hastig! Du musst da mehr Gefühl reinbringen!“, rief mir der Tanzlehrer. Ich sah ihn auf mich zu eilen. Als er bei mir war, fasste er mir vorsichtig um die Taille und ließ meine Hüften kreisen. Es war ein verrücktes Bild, das sich der Klasse bot. Alle Blicke waren auf uns gerichtet, während Harry, unser Tanzlehrer, seine Hüften schwang und durch seinen geübten Griff meine in seinen Takt einfügte. Ich konnte es mich nicht verkneifen, laut los zu lachen. Harry stieg in das Gelächter ein. Heute war unsere erste Tanzstunde. Die ganze Schule war in verschiedene Tanzschulen eingeteilt worden. Unsere Klasse wurde zusammen mit drei anderen in die Schule „Harry`s“ eingeteilt, die etwas außerhalb von Ludwigshafen war. Unser Lehrer hieß Harry. 1,90 m groß, breitschultrig, dünn und schwarze, zurück gegelte Haare.
Wir befanden uns im Kellergeschoss des Hauses und während draußen die heiße Mittagssonne ungehindert den Asphalt heiß werden ließ, tanzten wir hier angenehm bei 20 Grad. Die Stoffvorhänge ließen gedämpftes, warmes Licht in den Raum fallen. Doch selbst die leistungsfähige Klimaanlage konnte nicht verhindern, dass wir ordentlich schwitzten.
Nach den Übungsstunden Walzer kam Polka. Glücklicherweise war Roberts Klasse zu unserer verlegt worden, aus irgendwelchen organisatorischen Gründen. Doch mich kümmerte das herzlich wenig, da ich nur Augen für Robert hatte, der mir jetzt gegenüber stand. In unseren beiden Augen leuchtete ein wildes Feuer, unersättliche, freudig sprühende Feuer!
Die Wanduhr zeigte 12 Uhr an, als Harry in die Hände klatschte und eine halbe Stunde Pause ausrief. Wir waren alle erschöpft von einer Stunde durchtanzen und in der mittlerweile etwas stickigen Luft lag der Geruch von frischem Schweiß. Ich nahm mir die klebrigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und rannte nach oben und stieß dort die Tür der Mädchentoilette auf. Zu meiner Überraschung war außer Lea niemand hier. Sie war von oben bis unten durchgeschwitzt und hatte ein rotes Gesicht. „Hey Annika!“
„Hey Lea.“ Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken.
„Und wie findest du es bis jetzt?“
„Gar nicht übel. Aber Felix ist kein wirklich guter Tänzer.“
Ich lachte leise. „Was man von Robert nicht sagen kann.“
Was stinkt hier eigentlich so?“ ich rümpfte mir argwöhnisch die Nase. Lea deutete mit dem Kopf auf die gekippten Milchglasfenster. „Ein paar rauchen da draußen.“ Ich nickte und starrte auf die nackten kleinen weißen Kacheln.
Ich sah Lea dabei zu, wie sie ihre Wimperntusche aus ihrer Tasche nahm. „Du willst jetzt Wimperntusche nehmen?“, ich sah sie ungläubig an. Sie bemerkte das und sah mich über den Spiegel an. „Ja. Warum nicht.“
„Wir werden ordentlich ins Schwitzen kommen. Was ist, wenn es läuft?“
Lea zuckte die Schultern und wandte sich wieder dem Schmickapparat zu. Ich stand auf. „Wie du meinst. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“, sagte ich, als die Tür öffnete und sie hinter mir ins Schloss fiel.
Ich lief auf die Treppe zu und blieb direkt davor abrupt stehen und sah entgeistert hinauf. Am anderen Ende stand Robert vor ihm Paulina. Sie hatte ihre Arme um ihn geschlungen und redete auf ihn ein. Ich blieb wie angewurzelt stehen, Wut schäumte in mir auf! Ich konnte nicht glauben, was ich da sah! Ich ballte meine Hände zu Fäusten! Ich räusperte mich hörbar. Robert war der erste, der den Kopf in meine Richtung drehte und ein erschrockenes Gesicht machte. Natürlich bemerkte mich auch Paulina.
Paulina war eine der reichsten Mädchen der Schule, sie war am Anfang des Schuljahres neu in die Klasse gekommen. Offenbar hielten sie viele Mädchen für eine Diva. Sie wurde bewundert, aber auch wegen ihrer Barbie- Erscheinung abgestoßen. Und so benahm sie sich auch. Die pechschwarzen Haare passten mit ihrer Erscheinung wie die Faust aufs Auge. Sie war hochnäsig, aufmüpfig, ekelhaft freizügig, frech, vorlaut, forsch… Ihr merkt es sicher schon, aber für alle anderen die Kurzfassung. Ich hasste sie wie Pest und sie hasste mich wie die Pest. Ich versuchte zwar ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen, weil sie die Gabe hatte, innerhalb von 5 Minuten einen Zickenkrieg zu verursachen, in dem ich natürlich das schwarze Schaf war! Und das aus Lust und Laune. Wie es ihr gerade passte! Einfach eine behinderte Tussi, das kann ich euch sagen!
„Is was?!“, fragte sie bissig. In ihrer Stimme der gewohnte Ton, wenn ihr etwas nicht passte, oder wenn sie sich gestört fühlte. Doch da schon oft Erfahrungen damit gemacht hatte, wusste ich inzwischen, damit umzugehen.
„Könntest du mal bitte meinen Freund in Ruhe lassen?“
„Wieso sollte ich?“, fuhr sie mich an. „Außerdem ist er doch dein Freund, oder?“
Ich blickte sie wütend an, während die Wut in mir die Macht über meinen Körper erlang. Doch Paulina ließ sich nicht von meinem Blick beeindrucken. Stattdessen sah sie von oben auf mich herab, im wahrsten Sinne des Wortes! Das war Paulina, wie leibt und lebt! Einfach arrogant! „Außerdem hast du so was wie ihn doch überhaupt gar nicht verdient!“, höhnte sie. Jetzt reichte es mir! Ich stampfte die Stufen bis zu ihr empor. „ich weis, was du dir gleich verdienst!“, fauchte ich und verzog meine Augen zu drohenden Schlitzen! Demonstrativ zeigte ich die nackte Faust und ich wusste aus Erfahrung, dass in dem scheinbaren Dinosaurier eine kleine, ängstlich kauernde Maus steckte.
Es war offensichtlich nicht nötig, meiner Drohung Nachdruck zu verleihen. „Das wird dir noch leid tun!“, zischte sie und machte mit beleidigter Miene einen Abgang! Sie wusste, dass es meistens sinnlos war, sich mit mir anzulegen, besonders wenn ich sauer war. Es wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen, dass mir die Hand ausgerutscht wäre. Das kam zwar glücklicherweise nur selten vor…, aber das ist jetzt unwichtig. Das war also meine Erzfeindin. Ich machte mir nicht die Mühe, ihr nachzusehen, wandte mich lieber Robert zu. „Sorry, dass ich das jetzt so lösen musste.“ Ich war noch immer extrem sauer, was man mir auch deutlich anmerkte. Doch Roberts lieblicher Blick ließ die Donner sofort zu unbedeutenden Wolken werden und küsste mich auf die Stirn. Aller Ärger schien jetzt wieder unbedeutende Zeitverschwendung.

Was ich aber leider nicht wissen konnte war, dass Paulina jetzt nur noch eins im Sinn hatte: Rache!
Rache dafür, dass ich ihr nahm, was sie haben wollte!

Ich bekam es in der nächsten Tanzstunde zu spüren.
Am Anfang schrie sie Daniel, ihren Tanzpartner, dass er ein Übels grottiger Tänzer sei, die beiden stritten sich heftig und Harry ging nach einer Zeit dazwischen. Irgendwann schmiss Daniel das Handtuch und verließ wütend den Raum. Harry musste dann Trostarbeit leisten und weil er wusste, dass es länger dauern würde, sehr viel länger, gab er uns frei.
Als er uns nach über einer Stunde wieder in den Saal rief, war die Stimmung auf dem Tiefpunkt, was durch einige letzte Rettungsversuche durch Witze und anderen Blödsinn nicht rückgängig gemacht werden konnte. Harry hatte offensichtlich alles getan, was er konnte. Paulina und Daniel waren zwar auch wieder vereint, aber die Spannung zwischen den beiden war deutlich zu spüren. Ständig keiften sie sich gegenseitig an! Harry war bemüht zu verhindern, dass die beiden sie gegenseitig umbrachten. Bei jedem falschen Schritt keiften sie sich gegenseitig an und immer wieder musste Harry die Musik stoppen und dafür sorgen, dass sich das Tanzpaar nicht trennte.
Dann passierte es!
Es geschah mitten in einer Tanzübung. Robert und ich harmonierten perfekt miteinander. Dann kam der Moment. Das „Halbfinale“ wie Harry es nannte. Robert ließ mich los, ich nahm Schwung und war mitten in einer wunderbaren 360 Grad- Drehung, als mir irgendein Vollidiot das Bein stellte! Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel ich hart auf den Boden. Mein umgeknickter Fuß tat höllisch weh! Mir schossen Tränen in die Augen. Paulina stand direkt neben mir. „Oh! War ich das? Das tut mir aber leid!“ Ich brauchte den schadenfreudigen Blick nicht genau zu deuten, ich wusste auch so, dass ihre Miene nur Show war. Gigantische Wut brodelte in mir auf und jetzt hätte ich ihr am liebsten die höhnisch grinsende Fresse poliert, aber zu ihrem Glück hatte ich zu große Schmerzen! Das Bild vor meinen Augen wurde verschwommener, der Schmerz in meinem Knöchel dafür immer intensiver!
Eine Menschentraube um mich herum. Wo war Paulina? Wo war Robert? Ich verlor zunehmend die Kontrolle über meinen Körper, meine Hand, die nach Robert suchte, fühlte sich taub an.
Viele die meinen Namen riefen. Undeutliche Stimmen? Ein Schatten, der sich über mich beugte. Harry?
Ich spürte immer weniger, die Masse vor meinen Augen wich undeutlichen, bunten Punkten auf meiner Netzhaut.
Und dann sah ich langsam gar nichts mehr.

Es war das zarte Streicheln an meiner Wange. Eine liebevolle, warme, weiche Bewegung. Langsam erwachte ich wieder. Meine Hände kribbelten. Ich lag auf einem bequemen Sofa und war zugedeckt. Das, was ich am stärksten spürte, war mein pochender, noch immer schmerzender Knöchel. Ich öffnete langsam die Augen, musste sie aber gleich wieder schließen, da mir das grell, gelbliche Licht auf der Netzhaut brannte. Erst einige Sekunden später öffnete ich sie wieder, hielt mir schützend die Hand davor. Langsam erlangte ich mein Bewusstsein wieder. Ich sah einen undeutlichen Schatten neben mir. Die Umrisse wurden schärfer und anhand der vertrauten Stimme erkannte ich Robert.
„Wie geht es dir?“, flüsterte er.
Ich wollte mich aufsetzten, wurde aber von meinem Bein heran gehindert. Ein ordentlicher Schmerz durchzuckte meinen Fuß. „Ah!“
Sitzen war nicht drin, also musste ich wohl liegen. „Bin ich ohnmächtig geworden?“
Robert nickte.
Ich ließ meinen Kopf tief ins Kissen sinken. Wie peinlich, auch wenn ich nichts dafür konnte!
„Was ist mit Paulina?“
„Was soll mit ihr sein?“
„Ich weiß, dass diese Schlampe mir das Bein gestellt hat! Ich würde ihr am liebsten so in ihre Fresse schlagen.“
„Nun mal langsam.“, beruhigte er mich.
„Ich mit ihr geredet. Es tut ihr leid.“
Wie kann man nur so naiv sein?
„Du verstehst das nicht. Die hat sich übel an mir gerächt, bloß weil ich sie verjagt habe.“
„Und jetzt musst du dich wieder zurück rächen, oder was?“
Ich schüttelte den Kopf. Doch so sehr ich Paulina die Attacke unter allen Umständen heimzahlen wollte, musste ich Robert recht geben. Es hatte keinen Sinn ihr noch mehr ihr noch mehr Gründe für Angriffe zu geben. Schließlich wollte ich ihr aus dem Weg gehen und allein das war schon schwieriger als schwer.
Robert beugte sich vor, ganz dicht an mich heran. „Doch jetzt zählen nur noch wir.“, flüsterte er lieblich in mein Ohr. Ich spürte es plötzlich! Mir wurde angenehm warm ums Herz, das anfing wie wild zu schlagen! Mein Puls raste! In unseren beiden Augen entbrannten wieder die wundervoll leuchtenden Feuer von Liebe und Leidenschaft!
Ich konnte seinen warmen Atem spüren, als wir uns immer näher kamen und urplötzlich überkam mich ein riesiger Tsunami aus Gefühlen, als mich Roberts weiche Lippen küssten!
Der wahrscheinlich schönste Augenblick meines Lebens!
Ein wundervolles, riesiges Feuerwerk, das nie hätte aufhören sollte. Die Zeit schien komplett still zu stehen und für einen winzigen Augenblick schien es, als wären Robert und ich die einzigen Menschen auf der Welt!
Ein Moment für die Ewigkeit.
Nichts existierte mehr, bis auf uns. Die Welt hätte untergehen können, wir wären mit ihr untergegangen, eng umschlungen, ohne das wir das Geschehene bemerkt hätten!
Langsam, ganz langsam trennten wir uns wieder. Von mir aus hätte dieser Moment eine ganze Ewigkeit sein können. Ein wahres, unbeschreibliches Feuerwerk aus Emotionen!
„Annika?“
Ich lächelte ihn glücksselig an. „Ja?“
„Ich liebe dich!“


Attacke aus dem Netz




Ich schwebte auf Wolke 7! Es waren die schönsten fünf Minuten meines Lebens. Nichts war schöner auf der Welt! Ein Moment für die Ewigkeit, der von den Worten „Ich liebe dich!“ gekrönt wurde. Es ist nicht beschreibbar, wie schön es war!
Ihr denkt jetzt vielleicht, die hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Viele werden mich für verrückt erklären, doch viele wiederum kennen dieses Gefühl sehr gut.
Nach dem perfekten Ende klopfte es an der Tür. Es war Harry. Neben ihm standen zwei Sanitäter. Ich wusste, was kommen würde und versuchte Harry klar zu machen, dass Ärzte nicht nötig wären. Alles sei ok. Doch Harry blieb konsequent. „Es tut mir leid, Annika. Aber ich muss das nun mal tun als Aufsichtsperson. Du bist übel umgeknickt und hast dann auch noch das Bewusstsein verloren! Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen!“
Er klang wie eine Mutter, die ihr Kind zur Einsicht bringen wollte! Da half kein Murren oder Knurren und zähneknirschend musste ich eine Kurzbehandlung über mich ergehen lassen. Nicht das ich Angst vor Spritzen oder allgemein Ärzten hatte, aber ich lag schon zu oft im Krankenhaus, zu oft im Krankenwägen und noch öfter mit Ärzten zusammen, sodass es mir irgendwann gereicht hat! In Krankenhäusern war ich sowieso noch nie gerne.
Die Diagnose war dann keine Überraschung: Verstauchter Knöchel! Subba! Was will man da schon mehr?
„Du hattest Glück. Es hätte schlimmer kommen können.“
Ich hörte dem Gelaber gar nicht richtig zu.
Missmutig sah ich dem weißen Verband zu, wie er sich gleichmäßig um meinen dick geschwollenen Knöchel legte. Tanzen konnte ich erst mal vergessen.
Harry stellte mir frei, ob ich nach Hause wollte, oder dableiben wollte.
Ich wählte letzteres.
Mein Blick war an die Uhr gefesselt. Viertel nach drei. Ungeduldig wackelte ich mit meinen Krücken hin und her, mein Blick wanderte abwechselnd von der Uhr, dessen Zeiger sich nicht rührten, zum gläsernen Eingang und dem dahinter liegenden Flur. Ich wurde immer nervöser, die Mittagssonne brannte unentwegt auf mein Gesicht, ich stand zwar im Schatten des Gebäudes, doch dieser bot nur wenig Schutz.
Paulina hatte nach ihrer Aktion keine weiteren Anschläge mehr gegen mich unternommen, vielleicht hatte sie das Resultat selbst erschreckt?
Wieder sah ich auf den Flur. Keine Spur von Domme und Lea. Ich wartete. 20 nach drei. Ich hatte keine Lust mehr zu warten und mit Langeweile die Zeit tot zu schlagen. Nach kurzem Umsehen entdeckte ich die willkommene Abwechslung: eine Hi-Fi Galerie. Es war direkt gegenüber. Mit einem kurzen Blick ging ich sicher, dass der Gang leer war, dann schwang ich mich los. Am nächstbesten Fernseher blieb ich stehen und lauschte den stummen Worten des Nachrichtensprechers. Normalerweise interessierten mich Nachrichten nicht besonders, weil es mir meistens so vorkam, als würde dort Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche eine ständig gleiche Kassette immer wieder neu abgespielt werden.
Immer war es dasselbe: Politik, Sport, Wirtschaft, aus aller Welt und dann noch hin und wieder Klatschpresse. Immer gleich. Manchmal vorwärts und manchmal rückwärts. Gerade wechselte das Bild und der Fernseher zeigte den frisch gewählten Präsident Barack Obama. Unter dem Blitzlichtgewitter der Presse schritt er gemächlich und mit einem zuversichtlichen Grinsen im Gesicht zum Rednerpult. Ich wandte meinen Blick ab, denn was Obama seinem Volk und der Welt zu sagen hatte, konnte ich jetzt ohnehin nicht mehr verstehen. Auf allen anderen Geräten, die in dem Laden aufgestellt worden waren, lief das gleiche.
Ich blickte zurück auf den Flur, der auch von hier aus noch gut erkennbar war. Da sah ich die beiden. Ich humpelte auf die andere Straßenseite. Domme war der Erste, der mich sah. Die gläserne Tür ging auf. „Hallo Annika!“, begrüßte Domme mich freudestrahlend. „Wie geht’s dir?“
Ich deute auf meine Krücken. „Wie soll es mir damit schon gehen?“ Ich schenkte ihm ein schiefes Grinsen.
„Null Plan.“
„Tut dein Fuß immer noch weh?“, erkundigte sich Lea mitleidig.
Langsam setzten wir uns in Bewegung. „Nein nicht mehr so stark.“
Geht noch einer mit mir zum Megges?“, fragte Domme in die Runde. Lea zuckte die Schulter und setzte sic h ihre Sonnenbrille auf. „Warum nicht.“
Ihre Blicke wanderten zu mir. „Und du?“, wollte Domme wissen. Jetzt war eine gute Antwort gefordert.
„Nein ich muss noch mal in die Zentrale.“
„Wieso?“, fragte Lea. An ihrem Blick konnte ich lesen, dass sie ahnte, dass ich dort etwas bestimmt vorhatte. Doch ich hatte schon ein Argument parat. „Ich muss da noch mal was am PC machen.“ Obwohl es die Wahrheit war, klang meine Stimme plötzlich unsicher. Domme und Lea sahen mich skeptisch an, als ob sie etwas ahnten. Ihre Blicke verunsicherten mich, obwohl es keinen Grund dafür gab. Ich war den beiden doch keine Rechenschaft schuldig, außerdem war das, was ich in der Zentrale vorhatte ja nicht verboten. Oder?
„Tatsächlich? Du hast doch einen eigenen PC bei dir stehen und außerdem ist der Weg in die Zentrale doch eh länger.“
Mist! Das hatte ich mir eigentlich einfacher vorgestellt! Er hatte aber leider recht. Egal! „Mein PC ist kaputt.“, log ich. Schon jetzt bekam ein schlechtes Gewissen. Ich log in der Regel nie und daher auch nicht gerne, zumal ich das auch nicht gut konnte. Man merkte es mir nun mal immer an, wenn ich es gerade tat. Ich hasste dieses Gefühl! Doch wenn ich es tat, hatte es meistens einen tieferen Grund. Jetzt hoffte ich, dass es diesmal klappen würde.
„Gestern Abend hat er doch noch tadellos funktioniert.“ Jetzt wurde auch noch Lea misstrauisch und wenn Lea misstrauisch wurde, hatte man es schwer, sich daraus wieder zu lösen. Wäre es doch besser gewesen, die Wahrheit zu sagen? „Ich hab mir gestern versehentlich einen Virus drauf geladen.“ Und schon war es wieder passiert. Eine unüberlegte Lüge. Ich konnte jetzt nur noch hoffen, dass ich überzeugt genug rüberkam. „Muss ich hier eigentlich ne Rechtfertigung ablegen?“
Zu meiner Überraschung fing Domme plötzlich an zu lachen. „Schon gut. Aber mach nicht zu lange.“, mahnte er. Yes! Ich strahlte übers ganze Gesicht, ich hätte nie gedacht, dass ich damit wirklich durchkäme!
Ich konnte den beiden nicht sagen, was ich eigentlich vorhatte, weil ich damit wahrscheinlich nur für unnötige Aufregung sorgen würde.
Als es an der Tür der Zentrale klopfte, grinste ich breit. Ich wusste sofort, wer da stand. „Is offen!“, rief ich. Wenige Sekunden später steckte ein braunhaariges, schmales Gesicht den Kopf durch die Tür, dann kam der mittelgroße, hagere Körper zum Vorschein und schließlich die langen, durchtrainierten Beine, die zu seinem Äußerlichen Erscheinungsbild nicht so gut passten. Ich machte noch einige letzte Handgriffe am PC. Tom stellte die mitgebrachte Umhängetasche auf den Boden. Ich gab noch einige letzte Befehle in das Tastenfeld. „Bist du bereit?“
„Ja.“, antwortete ich knapp.
„Du gefällst mir.“, er lächelte mich an, während ich mich aus dem Sessel erhob, um ihm Platz für seine Arbeit zu machen. Er öffnete seine Tasche und holte einen großen Laptop heraus, der sehr teuer aussah. Als er ihn auf dem Holztisch abstellte, strich er darüber, als ob es sein liebstes Gut wäre. „Nagelneu. Mein neues Baby. Technisch auf dem neuesten Stand.“, pries er den Laptop und wieder lächelte er mich. Ich wusste was er wollte. „Erstens: Versuchs erst gar nicht. Zweitens: Nur das du es weist, ich hab schon einen Freund. Also hör auf mich anzubaggern!“, fuhr ich ihn an. Schon seit Wochen lief er hinter mir her. Und immer wieder hatte ich ihm eine Abfuhr erteilt. Doch er gab einfach nicht auf und machte mir sogar Geschenke. Das war schon ziemlich süß aber ich wusste, dass wir nie zusammen kommen würden, vor allem, weil ich schon Robert hatte und außerdem fand ich Tom auch ein bisschen verrückt. Er war ein Technikfreak. Das war zwar nichts Schlimmes, aber ich konnte ihn trotzdem nicht so ganz leiden.
Er schien meine Abfuhr verstanden zu haben und machte sich an die Arbeit, die daraus bestand, seinen Laptop an den PC anzuschließen und im Internet etwas zu tun. Ich konnte nur breit grinsen, als er sich über den technischen Zustand des alten Computers beschwerte, mir viele Ratschläge zur Aufrüstung gab und sich selbst bemitleidete, wie er bloß darauf gekommen sei, sich auf dieses dämliche einzulassen. Das Grinsen auf meinem Gesicht wurde immer größer. Ach ja, die Wette. Wir hatten sie geschlossen, nachdem Domme, Lea und ich unsere erste Besprechung zum Fall „Silbermond“ abgelegt hatten. Ich war damals fest davon überzeugt, dass Kovalksi etwas mit dem Diebstahl des Silbermondes zu tun hatte, was sich bis heute nicht geändert hat. Zwei Tage nach dieser Besprechung mussten wir in ECDL eine Powerpoint Präsentation halten. Thema: Die Geschichte der Erde. Durch Zufall, und ich gebe zu, dass ich auch nicht mehr so genau weiß wie, haben Tom, der Computerfreak der Klasse und ich eine Wette abgeschlossen: Wer von uns beiden am Ende die 1 bekommt. Tom war selbstsicher, denn er war fast immer der Klassenbeste in ECDL. Umso größere Augen machte er, als er eine 1- bekam und ich eine glatte 1! Ich gebe zu, ich habe nicht immer mit fairen Mitteln gespielt, manchmal habe ich einfach in der Schule die Daten auf einen Stick kopiert und zu Hause weiter gearbeitet oder habe mich einiges aus dem Netz runtergeladen. Aber erzählt das bitte keinem! Erst recht nicht Tom! Der Verlierer der Wette musste dem Sieger vom PC aus einen Gefallen tun und ich wusste schon damals, was für ein Gefallen das bei mir sein würde.
Tom war im Anschließen sehr schnell und schon nach wenigen Minuten war er Einsatzbereit. Er hatte ein Dutzend Kabel miteinander verbunden. Ich konnte über diese Elektronikbeherrschung nur staunen, er hatte das super im Griff. Ich dagegen würde wahrscheinlich schon bei sechs Kabeln die Übersicht verlieren. Er hatte außer seinem Laptop noch ein anderes, kleines Gerät dabei. Für mich sah das aus, wie N- und W LAN Verbindung in einem, doch als ich ihn darauf ansprach, sagte er nur, dass es ein Gerät sei, mit dem er die allgemeine Prozessorgeschwindigkeit erhöhen könnte. Ich hatte keinen Schimmer, wovon er da redete, aber es war mir auch irgendwie egal.
„Und was soll ich jetzt noch mal machen?“, fragte er und gab dabei einige Zahlen und Buchstabenkombinationen in den Editor ein. Während ich von all dem keine Ahnung hatte, schien er sich seiner Sache sicher zu sein.
Ich seufzte. „Du sollt dich auf Kowalksi´s PC einhacken.“
„Und worüber?“, wollte er wissen.
„Wie `worüber`?“
„Annika, wir leben nicht mehr in den 90ern, in denen das Internet schon hoch entwickelt und es Millionen von Nutzern gab.“
„Und was brauchst du?“
„Irgendetwas, von dem ich mich in den PC einhacken kann. Einen Account irgendwo! “
„Ein Account…” Ich überlegte scharf. Wo könnte ein Mann wie Kowalksi einen Account haben. Vor meinem geistigen Auge spulte ich die Stunden zurück, in denen wir uns bei Kowalksi aufgehalten hatten. Doch es war schon zu lange her, die verschwommenen Bilder in ihrem Kopf halfen ihr nicht mehr weiter. Doch! Plötzlich schoss ihr das Bild einer komplett blauen Taskleiste in den Kopf und unten ein Balken, auf dem ständig neue Worte erschienen. Das Bild war nur für den Bruchteil einer Sekunde da, doch es reichte, um etwas damit anfangen zu können.
„Geh mal auf Facebook!“
Mit dem Drücken einiger Tasten war Facebook schnell geladen. Tom loggte sich ein. „Du hast Facebook??“, fragte ich überrascht. Tom sah mich an, als ob diese Frage gerade gegen die Menschenrechte verstoßen hätte. „Natürlich!“
„Sorry, aber ich wusste das nicht, dass du…“
Tom winkte ab. „Is nicht schlimm, aber wer Facebook kennt, hat es auch. Zumindest meistens.“ Er sah mich zuversichtlich an. „Und jetzt suchen wir nach deinem Kowalksi.“
Von ihm gab es nicht viele und sein Profil war eines der ersten, die auf dem Bildschirm erschienen. Tom öffnete das Profil. „Super! Der Mensch ist auch noch on. Mal sehen, was sich da machen lässt.“, flüsterte er. Er klickte den Button „Als Freund hinzufügen“ und in die Kommentarspalte fügte er eine merkwürde Kombination ein, die er aus dem Editor kopiert hatte. Dann schickte er das ganze ab.
„Und jetzt?“, wollte ich wissen.
Tom lehnte sich im bequemen Sessel zurück und reckte sich. Draußen war es noch hell und die Sonne warf den Schatten der Balkontür durch den ganzen Raum. „Warten, warten, warten.“, war seine Antwort.
„Was hast du ihm da eigentlich noch geschickt?“
„Ganz einfach. Einen Link. Auf dem Laptop ist ein von mir hochentwickelter Trojaner. Sobald er den Link anklickt, erscheint auf unserem Schirm ein Fenster. Mein Virenprogramm aktiviert sich ab hier von selbst und ist startklar. Ab hier habe ich dreißig Sekunden um mich über den Editor auf seinem PC einzuloggen. Ein Prozess, den ich bei anderen schon tausendmal gemacht habe und ein Prozess, der bei einigen gescheitert ist.“
„Was passiert denn, wenn er scheitert?“ Jetzt fing selbst ich an, mich für diesen Kram zu interessieren, wenngleich ich etwas beunruhigt war. Ich stand kurz davor, mich für verrückt zu erklären!
„Ab dann gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste und häufigste ist, dass auf den betroffenen Monitoren erscheint, dass ein Virus drauf ist, oder drauf gehen will. Auf den betroffenen Computer. Möglichkeit zwei und die seltenste Möglichkeit ist, dass wenn der Betroffene einen hervorragenden Virenscanner hat, oder den Computer von der Polizei untersuchen lässt, oder es ein Polizeicomputer oder ähnliches ist, dass man deine IP Adresse ausfindig machen kann und dann hast du ein Problem. Ein großes Problem.“
Ich schluckte hörbar. „Und, und wie hoch ist die Chance, dass es…“
Wir schauten gebannt auf den Bildschirm, als plötzlich das Fenster erschien, von dem Tom geredet hatte. „Also los!“ Sofort begann er über den Editor Befehle einzutippen, während die Zeit unaufhaltsam hinunterlief! 25, 24, 23… Plötzlich stockte Tom und strich einige Zeilen wieder heraus. 18, 17, 16… Ich wurde immer nervöser, immer ängstlicher, meine Augen starrten immer sorgenvoller auf die Zeit! Tom fluchte immer lauter, er hatte offensichtlich Schwierigkeiten! Auch in ihm kam so langsam Nervosität auf, die sich rasch in Angst umwandelte. Angst, die ihn bei der Arbeit behinderte, Angst, die ihm den notwendigen, klaren Kopf raubten. Seine Bewegungen wurden immer hektischer, immer öfter vertippte er sich! Meine Augen weiteten sich immer mehr, je näher wir uns der Zahl null näherten. 7, 6, 5, 4… Ich schloss die Augen, ich wollte nicht mehr sehen was passierte. Plötzlich schoss mir eine ungeheure Vorstellung durch den Kopf. Ich kauerte auf einem Stuhl in einem Verhörraum der Polizei, neben mir Tom, der schweigend auf den Boden starrte und zwischen uns ein Polizist, der uns Fragen stellte und am Ende des Raumes stand Herr Kowalksi, die Arme vor der Brust verschränkt, uns mit missbilligender Miene ansehend. Eine schreckliche Vorstellung! Die Angst umklammerte mich mit immer festerem Griff, breitete sich die Angst in ihr aus, wie eiskaltes Wasser, das in eine Badewanne gelassen wurde. So durfte es nicht enden! Niemals! Diese Aktion war eine Schnapsidee, diese Wette war eine irre Schnapsidee! Meine Hände, mein ganzer Körper war schweißnass. Ware es Angstschweiß? Angst die gleich in Panik übergehen würde?
In ihrem Unterbewusstsein stellte sich alles auf ein Desaster ein, Tom würde resigniert scheitern, wir würden beide nach Hause gehen, verängstigt, ohne zu wissen, was der nächste Tag brachte, was passieren würde! Sie ertrug diese absurde Vorstellung nicht mehr, aber sie war…
„Annika! Annika!“, hörte ich Toms Stimme rufen. War da etwa Freude in seiner Stimme? Wie konnte er sich über so etwas nur freuen?
„Annika! Ich hab´s geschafft!“
WAS???? Ich konnte es nicht glauben. In der nächsten Sekunde sah ich wieder den Monitor vor meinen Augen. Auf dem Editor erschienen von selbst… DATEIEN! Ich sah Tom freudestrahlend an und er lächelte zufrieden zurück. „Die Verbindung ist sicher und steht. Und wenn er nicht gerade ein Profi ist, wird er es nie bemerken, dass mal irgendjemand in seinem Rechner rumgeschnüffelt hat.“ „Ich hab schon einen Stick angeschlossen.“
„Ich… ich, ich weis nicht was ich dazu sagen soll.“, stammelte ich vor Erleichterung.
Tom lächelte mich zuversichtlich an. Gleichzeitig wollte er mir Mut machen.
„Ich mein, ich, ich hab schon gedacht, das war´s jetzt, wir fliegen auf und kommen in den Knast.“, brabbelte ich.
„Annika, ich mach doch so was nicht zum ersten mal. Denkst du wirklich, ich wäre in einem solchen Fall nicht vorbereitet gewesen und hätte alles unkenntlich gemacht?“, seine Worte wirkten in meinen Ohren wie ein entspannendes Beruhigungsmittel. Er wusste, dass ich wahnsinnige Angst davor gehabt hatte, mit diesen einfühlsam gesprochenen Worten wollte er mir diese Angst wieder nehmen. Das gelang ihm. Ich war noch immer ziemlich mitgenommen, das entging ihm nicht und er nahm behutsam meine Hand, um diese Angst endgültig verschwinden zu lassen. Plötzlich schaute er mich besorgt an. „Du bist ja ganz nass!“
Ich wurde rot. „Ja. Angstschweiß.“, meine Worte waren etwas kleinlaut. Mir war diese Situation peinlich. Aber nicht die Tatsache, dass er meine Hand hielt, sondern viel mehr, dass mir plötzlich ganz warm und ich noch roter wurde. Ich wandte mein Gesicht bewusst ab. Ich wollte nicht, dass er mich so sah.
„Keine Panik auf der Titanic.“ Er streichelte mir sanftüber den Rücken. Ich wehrte mich nicht gegen diese Geste, weil sie eine zu entspannende Wirkung hinterließ.
Meine Verlegenheit war deutlich zu spüren. Als ich merkte, dass mein Körper sich wieder abgekühlt hatte, schenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem PC. „Was macht der gerade?“, wollte ich wissen.
Tom zögerte mit seiner Antwort, als müsste er mir das, was er eigentlich sagen wollte erst aus dem Fachchinesisch für Computer übersetzten. „Ich drück´s mal einfach aus: Er kopiert gerade den PC von Kowalksi auf den Stick.“
„Und wie hast du das jetzt trotzdem noch geschafft?“ Meine Verwunderung war keineswegs verflogen. Im Gegenteil. Jetzt, wo ich wieder klar denken konnte, wollte ich erst recht wissen, wie er das angestellt hatte. Seine Antwort war einfach aber plausibel. „Ich hab´s zu kompliziert gemacht. Ich hatte eigentlich mit einem schweren Passwort gerechnet. Ich hab alles Mögliche eingegeben, aber ohne Erfolg. Als ich nur noch 5 Sekunden hatte, hatte ich noch einen letzten Versuch: ich gab „Kowalksi“ ein. Ich war von den Socken, als das plötzlich richtig war!“, er lachte.
„Wie naiv kann man nur sein, ein so einfaches Passwort zu haben!“, er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, er konnte so viel Dummheit einfach nicht fassen! Ich konnte darüber zwar auch nur verständnislos den Kopf schütteln, aber nur mal so unter uns: Für unsere ideale Voraussetzungen für erfolgreiches Hacking.
„Wie lange bracht der noch?“ Er sah kurz auf den Bildschirm. „Noch ca. 20 Minuten.“ Ich nickte. Plötzlich kam mir eine weitere Frage.
„Wo lernt man sowas eigentlich?“
„Interessierst du dich dafür?“, fragte er zurück.
„Schon. Warum?“
„Ist IT denn nicht etwas Langweiliges? Etwas für Nerds?“
Ich geriet in Erklärungsnot. Ich hatte das zwar tatsächlich gesagt, mehr oder weniger, aber das war doch etwas anderes, oder?
„Sorry, dass ich das gesagt habe. Aber das war ja auch, bevor du diese Kunst des Hackens mir vorgeführt hast. Das ist etwas ganz Neues für mich.“
Tom sah mich mit einem prüfenden Blick an. Er seufzte. „Hacken ist keine Kunst, es ist nichts weiter als pure Übungssache. Macht man es regelmäßig, wird man besser und macht weniger von Glück abhängig. Macht man es nie, wird man es nie gut können. Aber gut. Was willst du wissen?“ Er erinnerte einen an einen Professor, der nur wenige bestimmte Personen in sein Können einweihte. Wie ein großer, dürrer Professor mit Nickelbrille. Und eitel noch dazu, da er wusste, was er konnte.
„Wo hast du das gelernt?“
„Von meinem Bruder. Wir sind mit Computern groß geworden. Er hat sich exzellentes Wissen über einen Freund erlangt und das hat er an mich weiter gegeben. Er ist ein Profi. Er hat ein EDV Unternehmen gegründet. Die Computer hat er selbst programmiert.“
Je mehr er mir erzählte, desto mehr wurde mein Interesse und Eifer geweckt. „Kannst du mir das beibringen?“ Er sah mich wieder prüfend und zugleich abschätzend an. Der eitle Professor machte sich ein genaues Bild von seinem Lehrling, las in seinen Augen und sah so in ihn hinein, als wäre er ein Buch, ein Buch, in dem geschrieben stünde, welche Absichten der zukünftige Lehrling mit seinem Wissen hätte. Wenn er wusste, was er wissen wollte und das Seelenbuch ausgelesen hatte, beurteilte er, ob er es gut fand oder nicht, ob er es nahm oder nicht. „Nur Hacking oder alles andere auch?“, fragte er und sein weiterhin abschätzender Blick wirkte auf mich, als würde er tatsächlich versuchen aus meinen Augen zu lesen, wie aus einem Buch. Als ob er lesen wollte, wie ernst es mir wirklich war.
„Alles.“
„Ok. Hast du einen Laptop?“
„Ja.“
Plötzlich änderte er die Sprache seines Blickes und der genau prüfende, augenlesende Professor war aus seinem Blick verschwunden und nun saß wieder der 14 jährige Tom vor mir. Ein Junge, der wegen seiner Leidenschaft gegenüber von Computern oftmals nicht beachtet wurde, der aber sonst ganz lässig war. Der Junge, der jetzt bequem im abgewetzten Sessel saß. „Super! Kann ich dann morgen Abend um 21 Uhr mit dir rechnen?“
„So früh schon?“, fragte ich überrascht.
„Natürlich. Es sei denn, du hast da schon was vor.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein.“ Ich war etwas überrumpelt, weil ich solch kurzfristige Termine eigentlich nicht gewohnt war. Aber immerhin war es eine lukrative Sache.
Nach etwa 10 Minuten hatte der Computer alle Dateien von Kowalksi´s PC kopiert. Vor allem jetzt wurde mir klar, dass ich mir das Ganze zu einfach vorgestellt hatte. Ich war sogar extrem dämlich.
Ich hatte nicht bedacht, dass wenn der ganze Computer synchronisiert würde, dass dann auch wirklich alle Dateien dazugehörten. Ich sah in einer Mischung aus Verzweiflung, Fassungslosigkeit und „Das kann doch nicht wahr sein“ auf den Monitor. Tom konnte sich nur schwer einen Lachanfall verkneifen, als mir vor lauter Fassungslosigkeit der Mund offen stehen blieb. Ich wurde fast hysterisch, was bei 135.773 Dateien sicherlich kein Wunder war!
„Kannst du das Ganze nicht noch ein bisschen komprimieren?“ ich sah ihn verzweifelt an, während ich nur ein breites Grinsen erntete. Ich gab mir keine Mühe das zu verbergen. Er konnte mich doch mit so vielen Dateien nicht einfach so sitzen lassen! Doch schon gleich darauf musste ich feststellen, dass er es doch konnte, als er seine Sachen abbaute und schnell aus der Wohnung huschte.
Bei der Fülle von Dateien bekam ich einen Kloß im Hals und missmutig wandte ich mich wieder dem Bildschirm zu.

Ich rieb mir müde die Augen. Die Digitalanzeige der Uhr zeigte 22 Uhr an. Seit nunmehr 4 Stunden saß ich am PC. Pausenlos. Ich blickte kurz in die blaue Tasse neben der Tastatur. Noch vor etwa 30 Minuten war die Tasse mit heißem Kaffee gefüllt gewesen. Jetzt war die Tasse kalt und der Inhalt? Fast leer. Mit einem Zug trank ich die Tasse aus. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Müde und ächzend erhob ich mich. Der Stuhl unter mir knarrte laut, was er immer machte, wenn er lange Zeit ein Gewicht zu tragen hatte. Mein Rücken steif und kaum beweglich, meine Gelenke konnten auch nicht besser reden. Ich trottete in die Küche, um mir einen Kaffe aufzubrühen. Ich fühlte mich wie erschlagen, ich fror, meine Hände waren blau und so fühlte ich mich auch. Ich suchte den Lichtschalter, fand ihn und drückte. Sekundenspäter flammte eine Neonröhre an der Decke auf, die grellen. Kaltes Licht in den kleinen Raum warf. Es gab nur ein kleines Fenster, das 3 Meter weiter an der Wand war. Mittlerweile hatte ich starke Zweifel. Ich hatte bis jetzt gerade mal 150 Dateien durchsucht. Artikel aus zahlreichen Zeitungen, Geschäftsunterlegen, durch Passwörter geschützte Dokumente. Allerlei Sachen, von denen ich keine Ahnung hatte. An der Kaffemaschine drückte ich den gleichen blauen Knopf, den ich zwei Stunden zuvor schon einmal gedrückt hatte. Ich seufzte ich ließ mich auf den kalten Küchenboden sinken. Geistesabwesend spulte ich die Erinnerungen an unseren ersten Fall zurück. Es war fiel passiert. An der Schule wurden wir als Helden gefeiert. Es war ein tolles Gefühl! Ich hatte es noch vor Augen. Unser Schulleiter in Festtagsgewand. Im Spätwinter. Bei 5 Grad minus wurde das Winterfest gefeiert. Bei Glühwein, Tee, Crêpes, heißen Waffeln, Würstchen und Musik. Eine angenehm weihnachtliche Atmosphäre. Man wollte die letzten Spuren des schweren Sturms fröhlich beseitigen und das Fest als eine Art Neuanfang gelten lassen. Der Schatten sollte vergessen werden, das Hier und Jetzt zählte. Auf der gebauten Bühne hielt der Direktor seine Rede: „Und nun lasst uns die feiern, ohne die ein Ende des Terrors wahrscheinlich nicht so bald möglich gewesen wäre und ohne dessen Gespür wir hier jetzt nicht stünden und feiern würden, dass wir diesen Schatten besiegt hatten.“ Domme, ich und Lea. Wir standen ganz vorne und wurden auf die Bühne geholt. Tosender Applaus folgte. Wir genossen jeden Augenblick dieses Events und des Triumphes. Wir waren sprachlos, suchten dennoch nach Worten, die unserem Empfinden Sprache verleihen würde, aber das nur selten. In der nächsten Sekunde waren wir unter den Partygästen verstreut. Ich stand mit einer heißen Waffel und einem Glühwein an einem der zahlreichen Stehtische, dessen rote Plastiküberzüge mir sehr gut gefielen. Heißer, nach Himbeere schmeckender Kinderpunsch und dazu die weiche Waffel und süße Geruch von Puderzucker. Ein absoluter Traum. An diesem tag schien die Zeit generell still zu stehen. An diesem Tag lernte ich Robert kennen. Eine verrückte Begegnung, über die ich heute noch lachen konnte.
Ich hatte meinen Punsch ausgetrunken und wollte mir gerade einen neuen holen, als ich plötzlich im Gedränge mit einem Jungen zusammenstieß, der davor durch die Menge gerannt war. Vor Schreck ließ er seine Tasse fallen, die bis zum Rand mit Punsch gefüllt war. Die Hälfte des Punsches landete auf meiner Jacke, meinem Pulli und meiner Hose! Der Rest verteilte sich auf dem Boden, als die dort Tasse zerbarst.
„Verdammt! Sorry, tut mir echt leid.“, er lächelte entschuldigend. Danach passierte alles relativ schnell. Als ich drei Tage später meine Sachen aus der Reinigung holen wollte, fand ich dort Robert vor. Er war sichtlich überrascht mich hier anzutreffen, aber das konnte ich bei ihm auch nicht anders sagen. „Ich, ich bin hier um meine Sachen abzuholen.“, hatte ich gesagt.
Robert lachte. „Was für ein Zufall! Ich wollte sie abholen und sie bei dir zu Hause anschließend abliefern.“
Ich wurde rot, denn mit so etwas hätte ich nun gar nicht gerechnet. „Danke.“
„Die Sachen sind noch nicht ganz fertig. Wie wäre es wenn wir hier gemeinsam warten. Kommt schließlich nicht gerade oft vor, dass man auf ein so attraktives Mädchen wie du trifft, wenn ich das so sagen darf?“ Er deutete eine Verbeugung an und bot mir mit einer Handbewegung den Platz neben sich an. Mir wurde auf einmal ganz warm ums Herz und ich wurde noch roter. Zuerst war ich mir nicht ganz schlüssig, ob es das richtige sei, zugleich war ich etwas unsicher, aber schließlich dauerte es ja nicht sehr lang und etwas unsicher setzte ich mich neben ihn. Aus den paar Minuten wurde letztlich fast eine Stunde. Doch das fiel niemandem auf. Ich war am Anfang ziemlich unsicher, doch Tom, so hieß der Junge, konnte das verstehen und verhielt sich auch dem entsprechend. Doch je mehr wir redeten, desto mehr verließ mich diese Unsicherheit. Wir plauderten über alles Mögliche: Schule, das Leben, internationales, Politik usw. Die Chemie zwischen uns beiden stimmte sofort. Wir verabredeten uns immer öfter, immer länger, wir gingen essen und dann der Höhepunkt: unser erster Kuss! Danach sahen wir uns immer öfter, hin und wieder hatte ich den Eindruck, dass er mit anderen Mädchen flirten würde, weil ich ihn hin wieder mit anderen sah und auch andere Mädchen sagten mir, dass er mit anderen Mädchen flirtete, mich sogar betrügen würde. Doch diese Gedanken verwarf ich sofort, genauso die Gedanken, nachzuforschen, ob da was dran war, oder überhaupt nachzufragen. Das ist jetzt schon fast 1 Jahr her, und so wie es war, war es gut.
Viele fragten, was wir aus dem Geschehenen gelernt hätten. Was wir gelernt hatten? Detektivarbeit ist gewiss kein Kindergarten. Es ist nicht wie in einem Krimi. Man beginnt mit dem Auftrag, spannende Ermittlungen folgen und dann das Happy End. So konnte es enden. Aber eben auch nicht. In unserem Fall war das happy End nicht so passiert. Wir erlebten Detektivarbeit ganz real. Es doch ein gewaltiger Unterschied wenn man ein Buch aufschlägt und anfängt zu lesen, man erlebt vor dem geistigen Auge das Abenteuer, oder wenn man selbst mittendrin steckt. Die Hauptperson ist. Vieles erinnert an Kriminalromane und manchmal helfen diese Romane sogar bei den Ermittlungen. Doch der Unterschied ist spürbar.
Ich habe damals jedenfalls eines gelernt: In der Welt des Verbrechens ticken die goldenen Uhren anders. Es gilt kein Gesetz. Nur das des Stärkeren. Auch hier wurde wieder eines bewiesen: In den vielen Krimis fällt auf, dass die Autoren die Spannung meistens heben und anhalten. Und das solange, bis in letzter Minute oder schon früher die rettende Hilfe eintrifft. Gerade wenn kleine Hausdetektive solche Krimis lesen, wird ihre Fantasie beflügelt, man macht sich die Romanhelden zum Vorbild und will später einmal genauso werden wie sie! Man gründet mit Freunden ein Detektivbüro und träumt von einer großartigen Detektivkarriere! Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut. Die Einsicht kommt, wenn man älter wird. Meistens zumindest. Man konzentriert sich mehr auf Schule und andere Hobbys, der Detektivclub gerät in den Hintergrund, bis er eines Tages ganz weg ist. Die Träume von spannenden Abenteuern verfliegen mit der Zeit und man sieht ein, dass der Beruf des Detektivs doch nicht so schillernd ist, vor allem dann, wenn die Fantasie einen dazu ermuntert, zu glauben, dass die Fälle schon kommen werden. Man muss nur Geduld haben. Die Einsicht kommt hier dann, wenn einfach keine Fälle kommen.
Und wir hatten wohl einfach nur Glück.
Ich sah am Küchenfenster einen dunklen Schatten vorbei huschen. Was war das? Eine Katze? Ein Vogel Angestrengt blickte ich in die Lauwarme Dunkelheit, ohne etwas erkennen zu können. Wie konnte das bloß sein? Das leben als Vogel? Es musste toll sein! Man war frei, konnte fliegen, die Welt entdecken, hatte keine Verpflichtungen, zwar auch keine Rechte, aber immerhin keine Verpflichtungen. Der Nachteil: Keinerlei Rechte, ein langweiliges Leben und keine Chance, mehr aus dem Leben zu machen. Andererseits konnten diese Vögel nichts dafür. Niedrige Intelligenz, geringe Lebensdauer und ein einfältiges Leben. Also gut. Doch nicht so der Burner.
Tief versunken war ich in meinen Gedanken, als ich ein lautes Zischen vernahm und aufschreckte.
Der Kaffee war fertig!
Als ich die Kanne aus der Maschine nahm, streifte mein Blick die Kaffeepackung. Auf der Rückseite stand groß geschrieben: Kaffee besonders stark. Die Art von Kaffee, die ich am meisten mochte, und die Art von Kaffee, ohne die ich aufgeschmissen wäre, die einzige Art, die meinen Kreislauf richtig in Schwung brachte. Alle anderen erzielten in mir keine Wirkung.
Ich zog ungläubig eine Augenbraue hoch. Das sollte starker Kaffee sein? Am liebsten hätte ich den Kaffee wegeschüttet und die halbleere Packung weg geworfen, doch noch war ich auf den seine Wirkung zu stark angewiesen, auch wenn ich feststellen musste, dass die Wirkung bei mir gleich null war. Ich konnte es nicht leiden, wenn auf einer Verpackung eine Garantie ausgeschrieben war, die letztlich nicht erfüllt wurde. Bei diesem Kaffee war das der Fall! Super! Gerade dann, wenn ich ihn brauchte, ließ er mich hängen! Dennoch goss ich die schwarze Flüssigkeit in die Tasse und schlürfte wieder an den Schreibtisch. Der einzige Grund, warum ich ihn trotz allem noch trank, war wahrscheinlich, dass er sehr gut schmeckte. Es war 11 Uhr 30. Mein Körper sehnte sich nach Schlaf, in mir wehrte sich alles gegen die Nachtarbeit, doch ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich die Dateien so früh wie möglich durchsuchen wollte, war Nachtarbeit ein Muss. Dennoch wunderte mich meine plötzliche Müdigkeit, schließlich war es nicht das erste Mal, dass ich nachts durcharbeitete.
Also setzte ich mich widerwillig den PC, ohne zu wissen, was mich erwarten oder wie lange es noch dauern würde.

Mein Gesicht wurde von der Neonröhre angestrahlt. Ich blickte in die versteinerte Miene des dunkelhäutigen Polizisten mir gegenüber. Unsicher sah ich mich im Raum um. Und da war diese eine Frage in meinem Kopf. Was machte ich hier? Neben mir nahm ich einen Schatten war und versuchte, einen Blick nach hinten zu erhaschen, doch es gelang mir nicht. „Du hast die Frage verstanden!“, sagte der dunkle Stein plötzlich. Ich fast so aus, als könne er nicht reden, so versteinert, wie er da saß. Der Ton des Mannes war befehlshaberisch, als wolle er mir unmissverständlich klar machen, dass er keine Lust auf Spielchen hatte. Erwartete er das etwa von mir? Ängstlich kauerte ich auf dem unbequemen Stuhl. Dass der Stuhl unbequem war, war wohl beabsichtigt, um die Haftlinge zum Sprechen zu bringen, damit sie wieder schnell hier raus kamen. Ein sehr gutes Druckmittel, das Sinn machte. Die Statistik stellte den Staat zufrieden, was wiederum die Mitarbeiter zufrieden stellte. Ich tat so, als hätte ich die Frage nicht verstanden. „Wie war die Frage nochmal?“ Meine Stimme klang ängstlich. Wie eine Maus, die sich ängstlich in ihr Loch verkroch. Ich war die Maus und der Polizist mir gegenüber die schwarze Katze, die Jagd auf Mäuse wie mich machte. Eine große schwarze Katze mit scharfen Zähnen und scharfen Krallen. Die scharfe Antwort kam nicht vom Polizist, sondern von dem Schatten hinter mir, dessen forsche Stimme das Blut in meinen Adern gefrieren ließ!
„Tu doch nicht so, als wüstest du nicht, von was wir reden! Wieso hast du dich bei mir eingehackt?“
Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken und bekam eine Gänsehaut. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen! Der Polizist verschränkte die Arme vor der Brust. „Also?“
„Ich habe mich nicht eingehackt, nur ein bisschen rumgeschnüffelt.“, erwiderte ich kleinlaut. Doch ich wusste auch ohne den Blick des Polizisten, dass die Antwort idiotisch war. „Das macht aber keinen Unterschied.“, kommentierte der Mann in gespielt ironischen Mitleid.
Ich versuchte Worte zu finden, der Polizist behielt mich im Auge, als wäre ich ein Mensch, wie er ihn schon oft vor sich hatte. Menschen, die man immer im Auge behalten musste, weil davon auszugehen war, dass sie irgendetwas anstellen oder Flucht begehen konnten. Erwartete er das etwa von mir? Hielt er mich für so einen Menschen?
Sein Blick war nichtssagend, weder gelangweilt noch aufmerksam. Weder interessiert noch abwesend. Der Blick verunsicherte mich, da ich nicht wusste, ob er eine Antwort, oder sonst etwas von mir erwartete. Doch zu fragen, was genau er nun hören wollte, war sinnlos.
„Ich war felsenfest davon überzeugt, dass Kowalksi etwas mit dem Diebstahl des Silbermondes zu tun hatte!“, kam es mir über die Lippen. Es war eigentlich leicht. Doch die Worte waren zu leicht für Argumente. Der Blick des Polizisten bestätigte das. Mein Versuch, mich zu verteidigen, war gescheitert. Doch plötzlich weckte etwas anderes meine Angst: Mit einer Handbewegung holte er einen dunklen Schatten aus der Ecke hinter ihm hervor. Doch diesmal war es eine Frau, die sich neben ihm aufbaute. Es war eine große Frau, breitschultrig, ebenso kräftige Arme und Hände, die offenbar gut zupacken konnten. Ein Kampfapparat von Frau. Obwohl ich auch kräftig war, mit ihr konnte ich es nicht aufnehmen. Die Augensprache verriet, dass sie darauf programmiert war, zu gehorchen. Ihre Augen starrten ins Leere. Ein menschlicher Kampfroboter.
„Du wirst es mir doch sowieso nie nachweisen können, egal was du noch tust oder sagst!“ Die Worte klangen spöttisch, machten mich lächerlich. Ich sah die beiden Polizisten fassungslos an. Doch diese gingen nicht auf diese klaren Worte, auf dieses Geständnis ein. Ihre Mienen blieben weiterhin wie in Stein gemeißelt. Jetzt drehte ich mich wütend zu Kowalksi um und ich hätte ihm am liebsten die höhnisch grinsende Fresse poliert, doch etwas hinderte mich daran, hielt mich fest! Ich stand etwas auf, um mich zu vergewissern, dass ich nicht auf dem Stuhl festsaß, doch das war nicht der Fall. Plötzlich presste mich eine kräftige Hand auf den Stuhl. Sie hinderte mich zwar daran, aufzustehen, aber nicht, mich umzudrehen. Ich sah Kowalksi, dann den Polizisten fassungslos an. Ich begriff es einfach nicht! „Das ist doch ein 1a Geständnis!“, hallten meine Worte durch den Raum. Doch meine verzweifelten Worte stießen auf einen bewegungslosen Stein. Die Polizisten verzogen keine Mienen. Doch plötzlich machte das Nichtssagende etwas anderem Platz.
„Hör zu Mädchen! Wir dulden hier keine Nebenkriegsschauplätze!“, knurrte er.
Das konnte doch nicht sein Ernst sein! „Aber das ist doch…“
„Schluss jetzt!“, brüllte er und schlug laut mit der Hand auf den Tisch. Ich zuckte zusammen und machte mich auf meinem Stuhl ganz klein.
„Hast du das verstanden?“, bellte er.
Ich spürte etwas Kaltes in meiner Kehle, das mir die Sprache nahm. Ich nickte nur. Plötzlich hatte ich nicht mehr den Mut, irgendetwas entgegen zusetzen. Aber irgendwie wollte ich das auch gar nicht mehr.
„Ist das alles, was du zu sagen hast?“ Seine forsche Stimme durchschnitt die Luft wie eine unsichtbare Schere. Der Kampfhund zeigte keine Regung. Ich rag nach Worten, doch wenn ich sie hatte, entwischten sie mir sofort wieder. Schließlich schüttelte ich den Kopf mit gesenktem Blick.
Die Frau blickte den Polizisten stumm an. Der nickte. Was das bedeuten sollte bekam ich sofort zu spüren, als mich der kräftige Arm abermals packte, mich hochzog und mir grob die Arme auf den Rücken presste, obwohl ich keinen Widerstand leistete. Ich spürte kalte Handschellen, die sich um meine Knöchel legten.
Jemand öffnete die Tür und die Polizistin schob mich regelrecht aus dem Raum. Als wir schon fast draußen waren und ich Kowalksi zum letzten Mal in die Augen sehen wollte, traute ich meinen Augen nicht! Ich rüttelte, versuchte freizukommen, irgendwie! Irgendwie wollte ich den Polizisten, der sich genervt umdrehte, auf Kowalksi aufmerksam machen, der plötzlich den Silbermond in der rechten Hand hielt, ihn auf der Handfläche kreisen ließ. Sein dröhnendes, lautes Lachen war deutlich zu hören! Ich brüllte, versuchte mich zu wehren, während der Griff um meinen Arm immer fester wurde! Kowalksi lachte höhnisch, lachte mich aus, mich, Annika, die an den Handschellen daran gehindert wurde Kowalksi zu Hackfleisch zu machen! Der Türspalt wurde immer kleiner, ich sah Kowalksi, der den Stein in seinem Jackett verschwinden ließ, bevor die Tür laut ins Schloss fiel! Der feste Griff der Polizistin zwang mich in die Knie, wurde verstärkt, doch ich spürte die Schmerzen in meinem Arm nicht. Als ich am Boden kniete, war da plötzlich nicht mehr ein Kowalksi! Urplötzlich waren sie überall! Panisch sah ich mich um! Sie waren einfach überall! Überall war das Gelächter, das höhnische, unerträgliche Gelächter zu hören, das mit mir spielte! Ich wollte mir die Ohren zu halten, doch meine Hände waren taub, immer noch in Handschellen! Es sollte aufhören, es musste aufhören“ „Aufhören! Aufhören!“, brüllte ich in das Gelächter, das immer lauter wurde, obwohl kein Ton aus meiner Kehle kam! Ich pfetzte meine Augen zu, krümmte mich auf dem grauen Teppichboden zusammen. Ich wurde wahnsinnig, ich musste wahnsinnig werden! Jetzt war ich da!
Langsam hob ich meinen knallroten, von Schweißperlen übersäten Kopf.
Und ich begann zu Schreien!

Zickenkrieg




Ich schreckte aus dem Schlaf. Ich war hellwach. Ich begriff nicht ganz. Ich blickte mich kurz um, doch ich war nicht auf einer Polizeistation, ich war in der Zentrale. Weit und breit keine Polizisten und weit und breit kein Kowalksi. Ich atmete tief. Es war nur ein Traum, auch wenn er verdammt realistisch wirkte. Fast hätte ich meinen Kopf wieder auf den Tisch fallen lassen, als plötzlich aus den Lautsprechern des Computers ein schrilles Geräusch drang, das den letzten Anflug Müdigkeit aus meinem Körper vertrieb. Ich hatte durch meine Bewegung die Maus bewegt, was den Computer wieder aus dem Stand-by zurück holte. Der Bildschirm leuchtete auf. Ich erkannte die Arbeit von heute Nacht. Ich musste am PC eingeschlafen sein. Leicht benebelt warf ich aus den Augenwinkeln einen Blick in die Kaffeetasse, doch diese war leer, am Rand hatten sich einige Reste abgesetzt. Ächzend erhob ich mich. Mein Rücken und mein Nacken waren steif und kaum bewegbar, ein beunruhigendes Knackendes Geräusch war zu hören, wenn ich sie dennoch bewegte. Draußen war es bereits hell, ich hatte die Rollladen nicht runter gelassen, die aufgehende Sonne blendete mich. Ein warmes, orangenes Licht wurde in die kleine Wohnung geworfen, die Möbel warfen lange Schatten auf den Boden. Ich sah auf die Uhr. 20 vor 8! Schock! In nicht einmal 20 Minuten begann der Unterricht! Das hieß im Klartext: Beeilung Annika, Beeilung!
Ich fuhr den PC herunter, zog mich rasch an. Ich hatte Hunger. Großen Hunger. In der Küche brühte ich mir einen neuen Kaffee auf, dann machte ich Frühstück. Der Kühlschrank war prall gefüllt und bot einfach alles! Vom Schnellimbiss über ein gutes Mahl, bis hin zum Schlemmerfrühstück. Und das war keineswegs Zufall. Domme und ich hatten hier schon oft übernachtet, manchmal tagelang. Logischerweise musste da natürlich auch eine gewisse Verpflegung her. Obwohl wir nie regelmäßig einkaufen gingen, sondern nur hin und wieder etwas einkauften, hatten wir es noch nie erlebt, dass er leer war. Der Kühlschrank surrte leise vor sich hin, während ich mir nahm, was ich brauchte. Brot, Nutella, Käse, ein Ei und noch ein zweites.
Fünf Minuten später saß ich an dem kleinen Tisch neben der Wohnungstür und kaute auf meinem Käse- Nutellabrot herum. Zwischendurch nahm ich einen Schluck Kaffee, der irgendwie besser zu schmecken schien, als gestern. Als kein Brot mehr da war, bearbeitete ich mein weich gekochtes Ei und zum krönenden Abschluss Rührei.
Ich konnte zeitlich zwar sowieso nichts mehr essen, doch ich war satt mit meinem Schnellfrühstück und zufrieden. Übernachtungen während der Schulzeit waren eigentlich eher selten, obwohl die Bahnverbindungen ideal waren und man kein Problem hatte, rechtzeitig in die Schule zu kommen. Dennoch übernachtete man hier in solchen Situationen in der Regel in Ausnahmefällen. Doch hier war nicht nur der Platz für Detektivarbeit. Hier wurden auch Referate und Hausaufgaben gemacht. Nur für Freunde blieb der Zugang zu diesem mehr oder weniger geheimen Ort versperrt, es sei denn, sie hatten einen guten Grund für ihr Auftauchen, zum Beispiel wenn sie für die Lösung eines Falles gebraucht wurden oder für Ähnliches gebraucht wurden. Eine Regel, die Domme und ich vor zwei Jahren, als wir unser Unternehmen gründeten, festgelegt hatten. Der einzige, der bisher von diesem Besuchsrecht Gebrauch machen durfte, war Tom. Er war gestern zum zweiten Mal hier. Als er das erste Mal hier war, staunte er nicht schlecht. „Von außen sieht man, dass das Haus alt ist und unbewohnt ist, aber diese Wohnung macht einen ganz passablen Eindruck.“
Ich hatte ihm stolz zugelächelt. Es war in der Tat eine hübsche Wohnung geworden. Als wir auf der Suche nach einer geeigneten Zentrale waren, und durch Zufall auf diese Wohnung stießen, war sie alt und herunter gekommen. Doch mit Hilfe meines Vaters und uns selbst, hatten wir innerhalb von wenigen Monaten eine richtig gute Zentrale gebaut. Die Einrichtungsgegenstände hatten uns fast keinen Cent gekostet. Darunter waren noch drei andere Wohnungen, doch diese waren nicht mehr bewohnbar gewesen und somit ließen wir sie auch in Ruhe. Die Tür, sowie das Schlosssystem mit der Glasmurmel, kamen von Dommes Schwester. Sie hatte mit jeder Art von Mechanik zu tun, und entwickelte für uns eine Tür mit passendem Schloss, das kein Einbrecher knacken konnte. Sie hatte alles in mühevoller Feinarbeit eingebaut und funktionstüchtig gemacht. Das System hatte sich bis heute bewährt und war kein einziges Mal defekt gewesen.
Ich musste mich beeilen, wenn ich die Bahn um 45 noch kriegen wollte!

Ich kam gerade noch rechtzeitig. In den ersten beiden Stunden hatten wir Frau Londorf. Die ganze Klasse konnte sie nicht leiden, besonders dann nicht, wenn sie Tests schrieb oder Arbeiten schrieb, denn die waren meist so schwer, dass selbst Tom, der Klassenbeste manchmal mit einem Fragezeichen im Gesicht auf das Blatt starrte. Er hatte wohl noch nie Probleme mit schlechten Noten gehabt, weshalb es ihm immer ziemlich peinlich war, wenn er dann doch eine 3 schrieb.

Frau Londorfs eher kleiner Körper huschte durch die Klasse. Ihre wasserblauen Augen suchten die Abschreiber, die Zettel unter den Mäppchen, unter den Bänken. Sie scheute sich nicht, unter die Bank eines Schülers zu sehen, wenn ihr etwas Verdächtiges vorkam. Es sah schon fast lustig aus, wenn ihr schmales Gesicht, die Bank absuchte und ihr anschließend die Strohblonden Haare im Gesicht waren. Eine zierliche und hübsche Frau. Zugegeben, sie war sexy. Und das sage ich. Und ich bin ein Mädchen! Mit ihrem Äußeren stieß sie bei vielen Jungs auf Zustimmung.
Doch ihr Inneres war anders, als dass was sie zeigte. Ganz anders. Ihr Charakter und ihr Erscheinungsbild wirkten wie zwei Welten, die Lichtjahre von einander entfernt waren. Zwei Welten, die sich zwar kannten, die aber sonst nichts miteinander zu tun haben wollten. Wie zwei Hunde, die neben einander saßen, so taten, als ob, sich jedoch nicht ansahen, sondern nur steif dasaßen und sofort gegeneinander kämpften, wenn sie niemand beobachtete.
Ratlos starrte ich auf den EWG Test. In schnörkeliger, aber gut lesbarer Schrift standen dort vier Fragen:
Was sind Ebbe und Flut und wie entstehen sie?

Wie funktioniert die Landgewinnung an den Küsten?

Beschrifte den Deich!

Beschrifte die Küstenregion!

Normalerweise hatte ich damit nie ein Problem, mit solch einfachem Stoff schon gar nicht. Ich brauchte ihn mir nur ein Mal durchzulesen und Tests wie diesen hatte ich schon nach wenigen Minuten fertig. Aber irgendwie war das diesmal nicht so. Ich starrte noch immer auf das Blatt auf dem noch immer Nichts geschrieben stand.
„Noch zwei Minuten!“, rauschte Frau Londorfs Stimme in meinen Ohren. Ihre Stimme erinnerte mich immer wieder an Meeresrauschen. Man verfiel jedes Mal in einen schönen Traum. Ich schielte zu Lea hinüber, die neben mir saß. Auch so starrte unbeholfen auf ihren Zettel, auf dem ach nichts stand. Ich wollte es erst gar nicht versuchen, von irgendwem abzuspicken, denn bei dieser Lehrerin war spicken ein Ding der Unmöglichkeit. Schon am Anfach des Schuljahres hatte sie uns gesagt, dass sie selbst in ihrer Schulzeit fast nur abgeschrieben hätte, da sie das Glück hatte, neben einem Streber zu sitzen, der nur Einsen und zweien schrieb. Doch irgendwann war das vorbei und sie fing an selbst Spicker zu schreiben und sie überall zu verstecken. Dadurch wurde sie zu einem unerwischbaren Profi. Doch Schüler fielen ihr in Ungnade. Leider.
„Noch eine Minute!“
Ich schrieb eilig das Verlangte nieder, ohne zu wissen, was genau ich da gerade niederschrieb, dann gab ich ab. Ich lehnte mich erleichtert zurück, als Frau Londorfs lange, zarte Finger noch das kleine Papier griffen. Ohne es mit einem kurzen Blick zu streifen, legte sie auf den kleinen Stapel auf ihrer Hand.
„Zählt der Test?“, kam plötzlich eine Frage aus der ersten Reihe auf, die sofort für ein starkes Raunen in der Klasse sorgte. Frau Londorf schüttelte nur verständnislos den Kopf. Die Frage kam von Michel. Er war nicht besonders beliebt in der Klasse, wurde zwar weitgehend in Ruhe gelassen, aber seine Fragen sorgten oft für Unruhe und Spot in der Klasse. Die Meisten ersparten sich jegliche Kommentare. Doch es gab eine Person, die sich immer einen erlaubte. „Alter, Michel, durch dich kann man Dummheit definieren!“, beschwerte sich Pauline eine Reihe vor mir.
„War doch nur ne Frage!“, versuchte er sich gegen das Missfallen der Klasse zu verteidigen.
„Ne sau dumme Frage!“, kommentierte Pauline.
„Wenn Dummheit ein Verbrechen wäre, dann stündest du auf der internationalen Fahndungsliste auf Nummer eins!“, platzte es aus mir heraus. Erschrocken von mir selbst hielt ich mir den Mund zu. Doch es war zu spät!
„UUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!“, ging es durch die Klasse wie eine Laolawelle. Und alle wussten, wer mit diesen Worten gemeint war. Sofort drehte sich Paulina zu mir um und starrte mich giftig an. Wenn kein Lehrer da gewesen wäre, hätte sie mich sicher am liebsten verprügelt, das war sicher. Ich war im ersten Moment nur erschrocken und rot. Es war still in der Klasse und alle Blicke waren auf mich gerichtet. Unter dem Tisch ballte Paulina ihre Hände zu Fäusten, während mich ihre grünlichen Augen giftig und wütend an sahen. Doch schon nach wenigen Sekunden löste sich mein Unbehagen, denn plötzlich erkannte ich, dass ich Paulina gerade einen richtig guten Gegenschlag geleifert hatte. Eine Art Rache, um mich für meinen verstauchten Fuß zu bedanken! Mein Kopf wurde klarer und meine ängstliche Miene machte einem beinahe schadenfreudigem Lächeln Platz. Dieser erkannte Triumph schien Paulina noch viel wütender zu machen, doch mich machte das nur glücklicher. Ihr bitterböser Blick ließ mich nicht einfach nur kalt, er machte mich stärker und sie wurde nach einigen Minuten merklich schwächer. Jetzt lächelte ich einfach nur zufrieden, was sie noch schwächer machte.
„Wollt ihr eure Differenzen draußen besprechen, oder kann ich meinen Unterricht fortsetzten, ohne das ihr euch an die Gurgel geht?“ Die Lehrerin hatte offensichtlich keine Lust sich mit diesem Problem zu beschäftigen und diese Gelegenheit kam mir wie gerufen. „Nein Frau Londorf. Wir sind Quitt, sie können weiter machen.“, sagte ich schnell, noch bevor Paulina dagegen halten konnte. Sie verzog die Augen zu Schlitzen, doch das machte mir nichts mehr. Ich hatte diese Runde klar gewonnen.
„Also gut. Paulina dreh dich um! Du liest bitte den Text auf Seite 129!“
Paulina zeigte mit zwei gespreizten Fingern auf ihre, dann auf meine Augen, um zu sagen, dass sie mit mir noch lange nicht fertig sei.
Unter der Bank klatschte ich über diesen Sieg mit Lea in die Hände. Noch nie zuvor in meinem Leben war so zufrieden damit, jemanden runterzumachen. Noch nie.
Doch während sie las, schöpfte meine Erzfeindin neuen Hass gegen mich und plante bereits Gegenschläge, von denen ich nichts ahnen konnte!

Der erste Schlag ereignete sich im Speisesaal.
Mitten in der Schlange schupste sie mich auf den Vordermann! Effekt war sichtbar. Alles was sich vor mir befand wurde auf den Boden geschupst. Ein Teller zerbrach! Laute Flüche waren zu hören!
Ich blickte Paulina wütend an, ich wusste, dass es Absicht gewesen war! Sie sah gespielt vorwurfsvoll zu mir auf den Boden. Doch sie hatte die Rechnung nicht ohne einen Lehrer gemacht, doch auch ohne sein Beisein gingen viele zornige Blicke an mir vorbei auf sie. Sie schaute sich in gespielter Unschuld um. Doch der Lehrer, der alles gesehen hatte, stand nun vor ihr und sah sie wütend an. „Raus hier und zwar schnell!!“, brüllte er sie an, dass sogar ich davon zusammenzuckte. Eilig und mit hochrotem Kopf huschte sie aus dem Saal. „Wenn ich so etwas noch mal sehe, hole ich den Rektor!“, brüllte er ihr an der Tür hinterher, die es wohl ziemlich eilig hatte, schnell zu verschwinden. Ich war längst wieder aufgestanden, genauso wie alle anderen am Boden gelegenen auch. Es war still im Saal. Keine Messer und Keine gabel klapperte! Langsam kam er wieder zurück. „Lasst euch das eine Lehre sein.“ Wutschnaubend setzte er sich wieder an seinen Platz. Es dauerte ein paar Sekunden, bis wieder die gewohnte Lautstärke zu hören war. Ich hatte daraus jedenfalls eines gelernt: Wenn Paulina Rache wollte, ließ sie sich diese nicht nehmen und offenbar war ihr jedes Mittel recht!
Während ich langsam meine Pommes kaute, überlegte ich, wie ich zukünftigen Angriffen aus dem Weg gehen konnte.
Ich bemerkte Domme und Lea erst, als sie mir gegenüber Platz nahmen.
„Du schaust so merkwürdig aus.“, meinte Domme.
„Ist was passiert?“
Ich schüttelte nachdenklich den Kopf.
Ich erzählte nichts von dem was passiert war, immerhin gab es keinen Grund dazu.
Paulina ließ sich nicht mehr im Saal blicken.

Angriff Nummer zwei passierte im TA Unterricht. Ein Makkaroni Turm war zu bauen. Ich war in meine Arbeit vertieft. Der Vorfall im Speisesaal war für mich erst einmal vergessen. Als wir uns auf dem Flur wieder begegneten, um auf den Lehrer zu warten, würdigte sie mich keines Blickes. Sie ignorierte mich total und eigentlich hatte ich damit kein Problem. Im Gegenteil. Es schien für mich, als ob Paulina aufgegeben hätte, doch ich schüttelte den Kopf und verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Nein. Nach dieser Aktion im Speisesaal war es für mich unglaubwürdig, dass sich an Paulinas Haltung irgendetwas verändert hätte. Sie hätte sich zumindest entschuldigen können. Aber auch das war ausgeblieben. Keine Reaktion. Und wenn sie tatsächlich ihre Meinung geändert hätte, dann hätte ich das erst geglaubt, wenn ich es gesehen hätte. Doch was sich nach einer viertel Stunde ereignete, schlug dem Fass den Boden aus!
Wir arbeiteten in Gruppen gerade an unserem Turm, der noch ziemlich wackelig aussah, als ich plötzlich einen großen Druck in meiner Blase spürte.
„Kann ich auf Toilette. Der etwas desinteressierte Lehrer nickte mir zu. Nichtsahnend verließ ich den TA Saal. Erleichtert kam ich wieder zurück. Die anderen waren erstaunlich weit gekommen, obwohl ich nur 3 Minuten weg war. Ich hatte fast wieder auf meinem Stuhl Platz genommen, als mich Lea wieder hochzog. Sie in einer von drei anderen Gruppen. Doch ihre schien so ziemlich die zu sein, die am weitesten gekommen war. Sie hielt mir ihre Heißklebepistole hin. „Kannst du die bitte auffüllen, wir haben gerade ein großes Problem. Ich lugte auf ihren Gruppentisch und stellte fest, dass dort nur noch eine Ruine war, von dem dünnen, aber stattlichen Turm, der er mal werden sollte. Sie mich hilfesuchend an, ich nickte. Ich verabschiedete mich von meiner Gruppe für wenige Minuten. Irgendwie kam es mir plötzlich so vor, als würde Paulina im Stillen besorgte Blicke zwischen mir und meinem Stuhl austauschen. Doch ich hatte keine Zeit und keine Lust, näher darauf einzugehen.
Tatsächlich wurde aus den Minuten eine halbe Stunde. Das lag hauptsächlich daran, dass plötzlich kein Heißkleber mehr da war. Ich wurde durch das ganze Schulhaus gejagt und nach einer halben Stunde war ich endlich wieder da! Keuch!

Später klärte mich Lea darüber auf, dass Paulina heimlich eine Portion Heißkleber auf meinem Stuhl verteilt hatte. Ich wurde blass. Ich verdrängte den Gedanken mir auszumalen, was passiert wäre, wenn ihr Versuch geglückt wäre! Ich schüttelte den Kopf um ihn los zu werden. Wut kam in mir hoch, Wut, die langsam durch meine adern Kroch und meinem Kopf pulsierte! Lea versuchte zwar mich davon abzuhalten, Paulina eine reinzuschlagen, doch das hatte ich nicht vor. Ich schluckte meine Wut hinunter, verbarg sie in einer Kammer, denn später würde ich so noch nutzen. Man herz fing an wie wild zu pochen, dennoch ging seelenruhig zu meinem Stuhl, stellte ihn an die Wand zu den anderen unbrauchbaren und nahm mir einen Neuen. Als an Paulina vorbei ging, widerstand ich der brennenden Lust, es doch noch zu tun, aber ich widerstand und war genauso schnell wieder an meinem Platz und arbeitete weiter. Niemand bemerkte das außer Paulina, die zuerst den Stuhl, dann mich entsetzt anstarrte, als hätte das ein reibungsloser Plan sein müssen. Doch ich ignorierte ihren verkrampften Blick.
„Paulina, würdest du dich bitte wieder deiner Arbeit zuwenden? Danke.“

In der großen Pause brach der wütende Vulkan schließlich aus! Die Klasse stand im Flur verstreut. Sie verursachte einen Höllenlärm, wie es üblich war. Einige lehnten auch bloß an der Wand und starrten ins Leere oder sprachen mit jemandem. Paulina lehnte sich gelangweilt an die Wand und als sie mich kommen sah, sah stellte sie mir das Bein. Doch ich hatte genau damit gerechnet. Als auch diese Attacke erfolglos geblieben war, stieß sie sich von der Wand ab und als sie direkt hinter mir war, war mein Moment gekommen! Ich drehte mich blitzschnell um die eigene Achse, packte sie blitzschnell und presste sie gegen die Wand. Ich spürte, wie die Wut die Kontrolle über meinen Körper übernahm. Ich hatte fest am Kragen. Ich sah zu ihr hinauf aus bedrohlichen Schlitzen, während ihre aufgerissenen Augen mich panisch anblickten.
„So Mädl!“, wenn du so nicht parierst, muss ich das wohl anders anstellen. Zum letzten Mal: Hör auf mich in irgendwie zu terrorisieren und lass mich und alle anderen in Ruhe!“ Die Kraft in meinem Arm ließ nicht nach. Mein Herz schlug so fest und so laut, dass ich glaubte, man hätte es aus Entfernung noch hören können. Mein Gesicht wurde glühend heiß. Doch wie grob das was ich machte auch immer war, es musste sein. Um mich herum totale Stille, keiner sagte etwas, alle Blicke waren auf mich und Pauline gerichtet. Das war etwas peinlich, aber mit egal!
„Wenn du nicht sofort aufhörst mit dem Scheiß, dann geh ich zum Rektor. Und was dir dort blühen wird, wird nichts sein, gegen das hier. Hast du mich verstanden?“, zischte ich bedrohlich.
Paulina kannte mich schon wenn ich wütend war, aber niemand kannte mich, wenn ich richtig wütend war! Mit so etwas war so überfordert. Ich hatte gewonnen. Ich hatte es beendet. Ich sah in ihr verängstigtes, eingeschüchtertes Gesicht, als sie deutlich nickte. Ich ließ sie wieder los, behielt sie weiterhin im Auge. Ich ließ sie auf den kalten, schmutzigen Boden fallen. Um mich herum immer noch Stille. Ich war hochrot und jetzt war mir die Situation auch ein wenig peinlich, doch ich ignorierte die gaffende Menge. Schweigend, ohne ein weiteres Wort verließ ich den Flur, lief langsam die Treppe hinunter, während die Wut in mir erlosch und langsam der Erleichterung wich. Ich atmete die etwas stickige Luft tief ein und wieder aus. Erst jetzt viel mir auf, dass ich komplett nass geschwitzt war und mir Schweiß über die Wangen rann.
Schweiß der Erleichterung.
Ich kostete jede Minute, jede Sekunde aus. Auch als ich draußen auf dem Hof stand, spürte ich die Schweißperlen auf meiner Stirn. Als die warme Mittagssonne mir ins Gesicht schien, kühlte der Schweiß angenehm meinen überhitzten Körper. Mein Puls raste immer noch. Ich spürte wie die Erleichterung aus mir heraus floss, wie ein Wasserfall. Ich fühlte mich befreit. Endlich hatte ich Paulina alles heimgezahlt, was sie verdient hatte.
Ich achtete nicht auf den Trubel, der auf dem Schulhof herrschte.
Ich hatte den Zickenkrieg gewonnen! Endlich.

In der nächsten Stunde beobachtete ich Paulina aus den Augenwinkeln heraus. Der Vertretungslehrer war erstaunt, dass es so still in der Klasse war. Viele nervöse Blicke trafen mich. Ich hatte offensichtlich für Schrecken in der Klasse gesorgt, ohne es zu wollen.
Als ich aus der Pause zurück kam, distanzierten sich alle von mir. Hinter mir wurde eifrig getuschelt. Der Vorfall vor ein paar Minuten hatte Spuren hinterlassen. Plötzlich fühlte ich mich fremd, ausgestoßen! Als hätte ich etwas unverzeihlich Schlimmes getan. Ich spürte wie mein Hals langsam trocken wurde und mir plötzlich etwas Großes und schweres im Magen lag. Die Trockenheit verdichtete sich zu einem Kloß.
Selten war ich so ausgerastet. Ich fühlte mich schlecht, schuldig!
Domme und Lea! Mit den beiden ließ sich sicher reden. Die standen nur wenige Schritte von mir entfernt. Unbeholfen lächelnd ging ich auf sie zu. Als er mich kommen sah, musterte Domme mich kritisch, stieß Lea leicht in die Seite und zu meinem Entsetzen verschwanden sie in der Menge! Verdammt. Jetzt nahmen sogar die beiden reiß aus vor mir! In kamen starke Zweifel auf. War der Ausraster übertrieben? War ich zu weit gegangen?
Ich wurde unsicher. Fühlte ich da etwa Reue?
Das schlechte Gewissen trampelte auf mir herum, jeder Versuch, es wegzukriegen war erfolglos.
Suchend blickte ich mich nach Paulina um. Doch sie war nicht da!
Ich konnte nicht verhindern, dass mein Gesicht, mein ganzer Körper schlagartig glühend heiß wurde. Ich spürte einen Schweißtropfen, der mir langsam über die Wange rann.


Jetzt schielte ich zu Paulina auf die andere Seite. Sie hatte den Platz gewechselt, wohl weil sie einen weiteren Angriff befürchtete, zumindest glaubte ich das. Dennoch hatte sich das Blatt mehr als gewendet. Ich hatte nicht nur meine Erzfeindin besiegt, sondern sie so sehr eingeschüchtert, dass sie wahrscheinlich nichts mehr gegen mich machen würde. Ich hätte ihr problemlos alles heimzahlen können, doch damit wäre ich auf Paulinas Nivea herabgesunken und das wollte ich nicht. Die Geschichte meines Wutausbruchs hatte sich wie ein Lauffeuer
Ich genoss jetzt unfreiwillig den Titel „Killerbraut“ in der Klasse, womit ich über mein Ziel hinausgeschossen war. Ich wollte diesen Namen nicht, weil er mich als einen Grobian beschrieb, als einen Schlägertyp, als einen Menschen, der ich eigentlich nicht war.
Ich wusste nicht ob Paulina merkte, dass ich sie beobachtete, vielleicht versuchte sie meine Blicke einfach zu ignorieren. Ihr versteinerter Blick war an die Tafel gerichtet. Ein steifer Blick, der keine Ablenkung zuließ.
Doch sie war gewiss nicht die Einzige, die heimlich beobachtet wurde. Ich spürte sie, die versteckten Blicke, die auf mir beharrten. Ich fühlte mich eingeengt, unbehaglich.
Die ganze Stunde lang ging das so und ich versuchte so gut es ging, mir meine Unbehaglichkeit nicht anmerken zu lassen, was mir leider nicht immer gelang.
Ich hielt es nicht mehr aus! Niemand redete freiwillig mit mir. Alle gingen mir aus dem Weg!
Ich bekam einen immer größeren Kloß im Hals. Meine Verzweiflung wuchs ständig. Ich wurde immer mehr zum Außenseiter.
In der nächsten Stunde steckte Domme mir unbemerkt einen Zettel zu. Unter dem Tisch las ich die etwas krakelige Schrift: Warum hast du das gemacht?
Ich blickte auf und blickte zu Domme, der zwei Plätze links neben mir sich auf den langweiligen Unterricht konzentrierte. Es hatte keinen Sinn auszuweichen und zu fragen, auf was er hinaus wollte. Ich würde mich nur noch mehr ins Feuer begeben. Ich fühlte mich ein Stück weit befreit. Wenigstens konnte ich noch mit jemandem reden.
Ich zückte meinen Füller.
Ich war wütend. Ich konnte nicht anders. Meine Wut auf sie hat die Macht über mich übernommen. Außerdem hatte sie eine Abreibung verdient.
Ich schnippte den zusammen gefalteten Zettel zu Dommes Tisch. Mit verstohlenem Blick sah ich ihm beim Lesen zu, wartete auf seine Reaktion. Ich kam mir selbst irgendwie eigenartig vor. Ich kauerte regungslos auf meinem Stuhl, wartete auf eine positive Reaktion. Ich fühlte mich wie ein Mensch, der von jeder Reaktion seiner Umwelt abhängig war. Wie ein Gefangener, der in einer engen, kargen Zelle saß, irgendwie die Zeit totschlug und nur selten Besuch bekam. Und egal wer dieser Besuch war, es war eine Wonne für ihn, da er sich nach einer Abwechslung sehnte, die er hier nicht bekam. Es weiß, es klingst verrückt, aber genau so ähnlich fühlte ich mich in diesem Moment.
Ich las seine Nachricht.
Aber musstest du dafür wirklich so weit?
Ich zögerte, dann kritzelte ich ein unsicheres „Ja“ auf den Zettel.
War sie das wirklich wert?
Ja!
Ich weis so gut wie du, dass der Zweifel an deinem guten Gewissen nagt.
Woher willst du das wissen?
Dein Verhalten ist aussage kräftig genug. Außerdem hast du in den letzten zwei Stunden kein Wort gesagt.
Ich musste ihm recht geben. Aber warum sollte ich es ihm auch verheimlichen, denn was hatte ich zu verlieren.
Du hast recht.
Wieso seid ihr mir in der Pause aus dem Weg gegangen?
Dein Ausfall schien nicht von ungefähr.
Hab ich euch so Angst gemacht?
Kann man so sagen.
Hast du es gesehen?
Nein. Ich habe es gehört.
Du hättest es nicht sehen wollen/sollen.
Glaub ich.
Der Zettel war voll, die Plauderei vorbei. Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen. Ich sah noch einmal kurz zu Paulina. Der Lehrer projektierte ein Bild an die Wand hinter mir, was zur Folge hatte, dass alle Blicke in meine Richtung gingen. Kein böser Blick traf mich. Ich saß direkt im Licht des Projektors, alle sahen durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist. Mein Blick traf auf Paulinas. Einen kurzen Moment lang sahen wir uns in die Augen. In ihren Augen las ich Entsetzen, Furcht. Doch da war noch etwas anderes. Etwas Hartes, nicht einschätzbares, etwas, was ich nicht deuten konnte. Rachegelüste? Konnte das sein? Vielleicht. Sie wirkte eingeschüchtert, doch tatsächlich konnte ich nicht wissen, ob das nur gespielt war, oder ob sie längst wieder Rachepläne schmiedete. Ich konnte nicht einfach in sie hineinsehen, aus ihr lesen, wie aus einem Buch.
Leider konnte ich das nicht…

Der Racheakt folgte in der darauffolgenden Stunde. Klassensprecherwahl.
Haysel, ich, Michel und zwei andere ließen sich zur Wahl aufstellen. Als ich mich aufstellte, wurde in der Klasse laut gekichert.
„Leute! Die Killerbraut lässt sich aufstellen!“
Dementsprechend standen auch meine Chancen. Aber das war egal. Einige schüttelten über meine Kandidatur den Kopf.
Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ich jede Zustimmung in der Klasse verloren, und das folgende Ergebnis nur die die Bestätigung für das war, was alle längst wussten. Nicht dass eine besonders starke Zustimmung gehabt hätte, aber ich ließ mir nicht den Mund verbieten, sagte fast immer meine Meinung. Mit Lehrern legte ich mich nur selten an, doch wenn, dann trug ich meistens den Sieg davon.
Durch diese Fähigkeit war ich schon einmal Klassensprecher geworden, doch leider war das Halbjahr ruhig geblieben.
Doch der Verlauf verschlug nicht nur mir die Sprache. Tom war erster, dann kam ich, dann Michi! Ein vollkommen unerwartetes Ergebnis.
„Die Killerbraut wird Vize!“, hörte ich vor mir jemanden in die Klasse rufen.
Toms ungläubiger Blick war an die Tafel gerichtet, als hätte er noch nie eine gesehen.
Er brauchte einige Minuten um zu kapieren, dass soeben mit 14 von 26 Stimmen zum neuen Klassensprecher gewählt worden war.
Ich lag mit 7 Stimmen dahinter. Ich war stark verwundert darüber, auch Michi konnte sich über das Ergebnis nur totlachen. Toms Hand schlenkerte nur herum, als ihm unsere Klassenlehrerin Frau Blanck zum Sieg gratulierte, die dieses Ergebnis genauso überrascht hatte, wie alle anderen auch. „Nimmst du die Wahl an?“ Die Frage war zwar überflüssig, warum sollte Tom die Wahl auch nicht annehmen, aber diese Frage war nun mal Norm. Wir glaubten alle die Antwort schon zu kennen. „Nein.“, sagte er plötzlich entschlossen. Die ganze Klasse sah ihn an, einschließlich Frau Blanck, die so aussah, als hätte sie nicht richtig gehört.
„Und du bist dir sicher, dass du das willst, ja?“ Tom nickte und drehte sich in meine Richtung. „Ich will, dass Annika es wird.“, sagte er klar und bestimmt. Plötzlich sahen mich alle an. Ich sah in Frau Blancks schmales, fragendendes Gesicht. Sie war mit ihren geschätzten 29 Jahren noch jung, zumindest sah sie wie 29 aus. Doch auch wenn sie einen erfahrenen Eindruck machte, so etwas schien ihr noch nie passiert zu sein.
Jetzt war eine Reaktion gefordert. Doch noch ehe ich etwas erwidern konnte, kam mir Paulina unerwartet in die Quere!
„Wollen sie wirklich diese Schlägerin zur Klassensprecherin machen?!“, protestierte sie plötzlich lauthals.
Ich spürte, wie ich rot wurde, während Frau Blanck mich irritiert ansah. „Schlägerin?“
Diese Worte lösten in der Klasse eine heiße Diskussion aus. Paulinas arroganter Blick traf auf meinen etwas verstörten Blick, der langsam wieder Sicherheit aufwies. Sie wusste wie ich, dass jetzt der perfekte Zeitpunkt war, mir ins reinzuwürgen und das Schlimme daran war, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte!
Der Blick der Lehrerin folgte dem langen, hageren Zeigefinger, der klar auf mich zeigte. „Dieses Miststück hat mich vorhin auf dem Flur zusammen geschlagen! Einfach so!“
Was behauptete sie da?!“
„Aber die ist immer so drauf! Scheint wohl Hoffnungslosigkeit und Dummheit zu sein!“, fügte sie noch provokativ hinzu. Aus ihrem versteckten höhnischen Lächeln war zu lesen, dass es ihr Spaß machte, mich vor der ganzen Klasse bloßzustellen und zu demütigen! Wutschnaubend sah ich ihr in die höhnisch lachenden Augen, die mit ihr spielten. Sie wusste, dass sie mich fast so weit hatte, dass ich ihr diesmal wirklich eine reinhauen, oder ihr zumindest einige Schimpfwörter entgegen schmeißen würde! Doch diesen Gefallen wollte ich ihr nicht tun.
Ich hätte nie damit gerechnet, dass sie so übel zurück schlagen würde, doch ihre Blitzattacke überraschte mich kein bisschen. „kannst du das irgendwie erklären, Annika?“, hörte ich Frau Blancks weiche Stimme sagen.
Jede Rechtfertigung war sinnlos, doch irgendetwas musste ich ja wohl antworten. „ich weis nicht, was sie meinen.“ Eine bescheuertere Antwort fällt dir aber auch nicht ein, oder!?
Frau Blanck kaufte mir diese Antwort natürlich nicht ab. Paulina aber kam das wie gerufen. Verständnislos genervt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte ihre Chance erkannt, ihre bittere Niederlage wieder auszugleichen. Entrüstet stand sie auf. „Jetzt tu doch nicht so, als ob du nicht wüsstest, was passiert ist!“, herrschte sie mich an.
Sie zerrte ihren linken Ärmel hoch und zeigte einen mit blauen Flecken übersäten Arm. Erschreckte Laute kamen von allen Seiten. Selbst ich schreckte von diesem schauderhaften Anblick zusammen. „Das hat mir diese dämliche Kuh verpasst!“ Frau Blanck erschrak und ihr verärgerter Blick traf mich. „Annika Kreid! Kannst du das irgendwie erklären?“
Jetzt war Frau Blanck zornig und es würde auch nichts bringen, dem irgendwie auszuweichen, denn sie wollte eine klare Antwort hören. „Also… ich gebe zu, ich habe ihr vorher… die Meinung gegeigt, aber das war ich ganz sicher nicht!“ ich versuchte überzeugend rüberzukommen, doch das gelang mir leider nicht ganz. „Lüg doch net!“, schrie mich an.
Wütend stand ich auf. Es reichte mir! Die Klasse stieg johlend in den Kampf ein. Als wäre es Unterhaltung pur einer Schlägerei zuzusehen. Doch ich ignorierte die Menge, während Paulina darin einen Vorteil für sich sah.
„Halt bloß deine Fresse!“
„Wer lügt denn hier bitte?! Du oder ich?“
„Du, du Schl…“
„Ruhe!!“, fuhr Frau Blanck dazwischen. Ich hatte während der paar Sekunden vergessen, dass sie überhaupt da war. Jedenfalls wurde es in der Klasse augenblicklich ruhig! Paulina, ich und sie standen als Einzige. Alle Blicke, auch unsere, waren an sie geheftet. Alle warteten ihre Reaktion ab. „Ihr beide geht morgen zum Streitschlichter und bis dahin werdet ihr versuchen, euch nicht gegenseitig umzubringen, und von anderen Lehrern will ich keine Klagen hören, ist das klar?“
Wir nickten stumm, warfen uns noch letzte, böse Blicke zu, ehe wir uns setzten.
Ein Stück Papier lag auf meiner Bank.
Wie fühlst du dich?
Gut. Habe ich eine sehenswerte Show abgeliefert? :)
Kann man so sagen. Du hast ihr gut die Stirn geboten. :)
Danke :)
Die dumme Schlampe meint auch echt alles übertreiben zu müssen!
Ist aber gut, dass sie den Streit vorzeitig beendet hat.
Wieso? Wie meinst du das?
So wie ich euch beide kenne, wäret ihr euch doch bald an die Gurgel gegangen. Und die Blanck hat das praktisch verhindert.
Mhm… Vielleicht hast du recht.
Ich weis :)
Vielleicht aber auch nicht…
Ich weis :)
… :)

In den nächsten Stunden versuchte ich Paulina so gut wie möglich nicht zu beachten, was gar nicht so einfach war. Nur im Unterricht duellierten wir uns in „Böse Blicke zuwerfen“, ein ewiges, eigentlich sinnloses Duell bei dem es kein Ziel und keinen Gewinner gab.
Dann waren wir endlich bei den Streitschlichtern, doch das Gespräch war für die Katz! Paulina wurde mal übertreiben hysterisch, mal schob sie eine Mitleidsnummer. Die Streitschlichter waren zwar zwei Mädchen, aber sie standen bei jedem Schlichtungsversuch vor einem Problem: Paulina! Sie sträubte sich gegen alles, weigerte sich Kompromisse einzugehen. Ich hingegen war einigermaßen kompromissbereit.
Die Verhandlungen zogen sich über eine Stunde, danach hatte keiner mehr Lust zum Reden. Die Mädchen gaben sich alle Mühe, doch noch alles zu einem vernünftigen Ende zu bringen.
Letztlich kamen wir zu dem Schluss, dass wir uns gegenseitig einfach ignorierten. Wir hatten eine Stunde verschwendet. Sie gaben uns Tipps, wie wir Auseinandersetzungen künftig verhindern konnten. Paulina nutzte das natürlich sofort, um mich anzuschwärzen. Ich hörte nicht zu. Alles was ich hörte war die Stimme der Schlichterin, die die Zankerei meiner Rivalin ziemlich nervte.
„Paulina, unser Abkommen gilt auch für dich! Und ich setze diesen Waffenstillstand für den Frieden zwischen euch voraus!“
Paulina wollte etwas dagegen erwidern, doch die Schlichterin kam ihr zuvor. „Ist das klar?“
Wiederwillig nickte Paulina.
„Also, was wirst du tun?“
Paulina setzte ein verkrampftes Lächeln auf. „ich werde Annika aus dem Weg gehen.“ Die Worte klangen etwas trotzig, doch entweder ignorierte die Schlichterin das, oder sie bemerkte es einfach nicht.
„Geht doch“, brachte sie freudig heraus. Als aus dem kleinen Raum in den Flur traten, verwunderte es mich stark, dass die Schlichterin sich damit zufrieden stellen ließ. Doch die Verwunderung löste sich schon bald in Luft auf, schließlich sie Paulina nicht, und daher konnte sie auch nicht wissen, wozu sie in allem fähig war.


Der Fehler im Plan




Mit verstohlenem Blick sah er der Taube zu, die versuchte, einen Brotkrümel zu teilen. Ihr Kopf zuckte immer wieder nach vorn, als sie den Krümel mit ihrem kleinen, stummen, aber scharfen Schnabel erneut in die Luft warf. Der Krümel landete im Flussbecken. Die Taube lief suchend im Kreis herum, suchend nach ihrem Happen, doch schon bald musste sie feststellen, dass wo immer der Krümel auch war, dass er jetzt weg war und flog davon. Ibi sah ihr nach, als sie sich in Lüfte erhob, wo sie auf Artgenossen traf. So frei würde Ibi manchmal am liebsten auch sein. Frei wie ein Vogel. Doch schon nach kurzer Zeit wurde er von der Realität wieder aus den Tagträumen herausgerissen, wie es immer war. Er atmete tief durch. Ibi wandte sich vom dunklen Rhein ab, wieder der belebten Straße zu. Immer noch keine Spur von dem Boten, der ihn den Silbermond übergeben sollte. Ich sah auf die große Uhr, die hinter ihm auf einem Betonpfeiler stand. 20 nach 3. Der Bote war schon fast eine Stunde überfällig!
Ibi hasste es zu warten! Pünktlichkeit zählte zwar auch nicht gerade zu seinen Stärken, aber bei Karpones Boten hatte in der Regel nie warten müssen. Er ließ seinen Blick noch einmal über die belebte Straße wandern. Frauen, die mit ihren Kindern durch die Straßen liefen, andere, die es in die Geschäfte zog, wieder andere, die sich plaudernd in die Cafés aufhielten und wieder andere, die durch die Straßen liefen. An der Reling andere Menschen. 5 Meter unter ihnen floss gemächlich der Rhein. Ein letzter, forschender Blick reichte ihm. Er hatte einen Sinn dafür, spezielle Personen aus einer Menschenmenge, wie einen Boten, herauszulesen. Er wirkte dort, wo er war völlig unscheinbar und unauffällig. „Seltsam, seltsam.“, murmelte Ibi in den schwarzen Mantel, als er sich in Bewegung setzte. Er hatte keine Lust mehr, zu warten. Er lief zügig die Straße entlang. Die dunkel getönte Sonnenbrille erwärmte die darunter bleiche Haut. Der Tag war extrem warm für diese Jahreszeit, dennoch hatte er sich den langen, dichten Mantel bis oben hin zugeknöpft. Nach einigen Minuten bog ein katzenstein gepflasterte Beethhofenstraße ein, und blieb einige Meter weiter vor einem modernen Haus stehen. Kein Mensch war hier zu sehen. Das war eine Tatsache, die er, seitdem er hierher gezogen war, nie verstanden hatte. Auf der Hauptstraße zogen Menschenmassen wie Karawanen vorbei, doch sobald man einen Blick in die Straßen warf, schien dort alles wie ausgestorben. Nur wenige verirrten sich hierher, obwohl es eine der besten Gegenden Mannheims war. Des Nachts waren gelegentlich einige Betrunkene zu hören, die durch die Straßen torkelten und lauthals ihre Lieder sangen. Ibi schloss die Haustür auf und betat das verglaste Treppenhaus. Mit dem Fahrstuhl fuhr er in den dritten Stock. Als er ausstieg, ging er den langen Flur entlang, an dessen Ende sich nur noch eine Tür befand. Auf diese ging Ibi zu, schloss sie auf und betrat die helle Penthousewohnung. Hierher wer er vor Jahren gezogen, als er nach Mannheim versetzt worden war. Seine Lederschuhe quietschten auf dem glänzenden, dunklen Parkett, als er den schwarzen Mantel auszog und an einen Kleiderhaken hängte. Ich wollte gerade in die Küche gehen, um sich einen Kaffee aufzubrühen, als er ruckartig stehen blieb und inne hielt. „Hallo? Ist hier jemand?“ Keine Antwort. Bedächtig tasteten seine Augen hinter der Sonnenbrille die Umgebung und die umliegenden Räume ab. Nichts rührte sich. Nur die Geräusche von draußen warenhier zu hören. Das Horn eines Schiffes, einige Martinshörner. Doch in der Wohnung selbst Stille. „Hallo!“, rief er forsch der Stille entgegen. Doch wieder war Nichts zu hören, was ihm verdächtig vorkam. Ibi machte einige Schritte rückwärts, öffnete die Schublade einer Kommode, die neben der Wohnungstür stand, griff hinein und zog eine Pistole hervor! Langsam suchte er die Zimmer ab.
Nichts rührte sich! Die luxuriöse Wohnung war aufgeräumt, alles schien an seinem Platz. Er schien Mutterseelen allein, doch Ibi hatte ein Gespür dafür, wenn er nicht allein war, oder irgendetwas Faules in der Luft lag! Etwas Unbehagliches. Eine Art 7. Sinn, den er schon sein ganzes Leben hatte, ein Sinn, der ihn schon aus einigen Schwierigkeiten heraus geholt hatte.
Angeregt zog er die Luft in seine Lungen. Diese war fruchtig. Er erinnerte Ibi an den ekelhaft süßen Geruch einer Mango. Er besah sich der Fenster, durch die helles Sonnenlicht in den Raum fiel, ob irgendwelche Spuren erkennbar waren. Doch diese wirkten völlig unversehrt, genauso wie die gläserne Tür, die auf die Dachterrasse führte. Da kam ihm plötzlich ein Gedanke! Langsam ging er wieder zurück zur Tür. Auch diese war unversehrt, doch das war keine Überraschung mehr für ihn.
Jetzt fiel es ihm auf. Der Mangogeruch war hier in der ganzen Wohnung verteilt, aber hier war er am intensivsten. Angeekelt rümpfte Ibi sich die die Nase. In der ganzen Wohnung folgte er jetzt der Duftfahne, wie ein Jäger, der im Wald die Spur eines Rehs verfolgte. Es war die Suche nach dem Unbekannten, der jetzt allerdings nicht mehr so unbekannt war, denn Ibi hatte bereits einen Verdacht. Ein Verdacht, der aber noch durch ein Auffliegen bestätigt werden musste. Denn er glaubte zu wissen, wer der Eindringling in seiner Wohnung war und bald würde seine Vermutung bestätigt.
Nachdem er die ganze Wohnung durchkämmt hatte, lag jetzt nur noch das Arbeitszimmer vor ihm. Alles hatte er schon abgesucht, alles ohne Erfolg. Langsam öffnete er die Tür des Arbeitszimmers und als er bereits den rechten Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, kam ihm der Geruch von Mango und Zigaretten wie eine Wand entgegen! Er hielt sich die Nase zu, lief gegenüber zum Fenster und öffnete es. Frische, warme Luft blies ins Zimmer. Gierig zog er die Luft in die Lungen. Als der abschreckende Geruch einigermaßen nachgelassen hatte, prüfte Ibi auch hier, ob alles in Ordnung war. Der große Edelholzschreibtisch, den er sich vor einigen Wochen zuliefern ließ, war sauber und aufgeräumt. So wie er ihn heute morgen verließ, als er zu einer Dienstbesprechung musste. Sein Aktenregal war unangetastet.
Ibi legte seine Waffe aufs Fensterbrett. „Was hast du hier zu suchen?“, fragte er in die Stille des Raumes, die nur durch den Lärm von draußen beeinflusst wurde. Keine Antwort.
„Was willst du?“
Von wem auch immer er eine Antwort erwartete, er erntete nur Schweigen.
„Ich habe dir eine Frage gestellt!“
„Hast du das tatsächlich?“
„Ja! Und du wirst sie beantworten!“
„Ach ja? Wer befiehlt mir das?“, die Stimme war aalglatt, allerdings auch Samtweich, so dass man am liebsten mit ihr gekuschelt hätte, wenn sie eine Form angenommen hätte. Ibi sah sich bestätigt. Er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich!“ ER sah den braunen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch an, der von ihm abgewendet war.
„Wie hast du mich erkannt?“, fragte die Stimme.
„Dein Rasierwasser hat dich verraten.“ Ich erhaschte einen Blick von dem Aschenbecher auf dem Schreibtisch, der prall gefüllt war. „Und nur damit du es weist: In meiner Wohnung wird nicht geraucht!“, meinte Ibi zornig.
„Entschuldige bitte.“, erwiderte die Stimme respektvoll. „Warum setzt du dich nicht?“
„Danke. Aber ich stehe lieber.“
„Warum bist du hier?“
„Was ist denn das für eine Begrüßung?“
„Was hast du erwartet?“, erwiderte Ibi barsch. „Ein Begrüßungskomitee?“
„Nein, nein. Aber vielleicht eine einfache Begrüßung. Wie wäre es mit: `Hallo Rico, wie geht es dir? Ich freue mich dich zu sehen! ´“
„Nenne mir nur einen guten Grund!“
„Sei doch nicht so nachtragend, Brüderchen.“
„Nenne mich nicht Brüderchen! Sage mir lieber, wie du hier reingekommen bist!“
„Ich habe da nun mal meine Tricks.“, antwortete Rico stolz. Ibi hätte ihn am Liebsten angebrüllt was ihm einfiel, dass er zuerst in seine Wohnung einbrach und dann ach noch meinte, mit ihm zu spielen! Doch Ibi wusste nur zu gut, dass er bei Rico so nichts erreichen konnte.
„Will ich es wissen?!“
Ich weis es nicht. Freust du dich denn gar nicht über meinen Besuch?“
„ich könnte mir besseres vorstellen! Wieso bist du zurück gekommen? Wo bist du all die Jahre gewesen?“ Ibi sprach mit seinem Bruder, als wäre dieser ein kleines Kind, das einfach lange auf einem Spielplatz herum getollt war, ohne sich von seinen Eltern abzumelden.
„Sei nicht so streng! Du bist nicht meine Mutter! Außerdem bezweifle ich, dass sich irgendjemand um mich Sorgen gemacht hat, während ich weg war.“
Ibi blieb nichts Anderes übrig, als zu nicken.
„Aber so war das auch nicht schon immer. Ich bin der Rumtreiber, der Abenteurer von uns beiden und du bist der Bodenständige. Vater bot nur dir eine Karriere an, mir nicht, aus welchem Grund auch immer.“
„Stattdessen wolltest du die Welt sehen.“, meinte Ibi spöttisch.
Im nächsten Moment sah Ibi das stolze Grinsen seines Bruders. In der fast zehn Jahren, die sie sich nicht gesehen hatte, hatte sich Rico nicht verändert. Gleiche Glatze, das gleiche schmale Gesicht, die leicht gebräunte Haut, die gleiche starke Statur. Rico hatte registriert, dass er von oben bis unten gemustert wurde und musterte Ibi genauso.
„Du hast dich kein bisschen verändert.“
„Was man zu dir eigentlich auch sagen kann.“ Rico lächelte seinen Bruder an.
„Wo warst du überhaupt? Kassandra hat dich überall gesucht!“, fragte Ibi seinen Bruder vorwurfsvoll.
„Ja, ich weis. Sie hat mich auch gefunden. Ich war in Brasilien. In der Drogenmafia. Ich viele Kontakte dort. Es war eine aufregende Zeit.“, schwärmte Rico, doch Ibi ließ das kalt.
„Du hast Geschmack. Eine luxuriöse Wohnung in der besten Gegend. Weißt du, während ich in Brasilien war, war ich allein. Es war eine wunderbare und eine hässliche Zeit zugleich. Um fünf Uhr morgens ging es los, bei Sonnenaufgang ging die Arbeit los. Meistens gab es viel zu tun. Bei 40 Grad sind mir schwitzend in den Gassen und Straßen unterwegs gewesen. Die Autos und Klimaanlagen, von denen es dort viel zu viele gab, verstärkten die Hitze. Dann als es Abend und schließlich Nacht war, erst dann kam Leben auf die Straßen und die müden Leiber strömten Massenweise in die Kaffes und Discos. Och war mit meinen Jungs in einem winzigen, beschaulichen Kuhdorf. Des Tags war dort nur jeder mit sich selbst beschäftigt, doch sobald der Abend anbrach, strömten die 300 Seelen in das einzige Lokal der Stadt. Es war eine baufällige Hütte, mit verfaulten Dachbalken, wenn es regnete, platschten die Tropfen auf die Köpfe der Leute. Ein Europäer hätte das haus abgerissen und etwas Neues dorthin gebaut, doch anders waren die Dorfbewohner. Sie liebten es, wenn es ihnen auf den Kopf regnete. Sobald sie in der Kneipe waren, waren sie ausgewechselt, statt dass jeder stumm auf einem Hocker kauerte, und sein Bier anstarrte, als würde es etwas erzählen, waren diese Menschen fröhlich, tanzten, lachten, machten laut Musik, lachten über die kapitalistische Welt und dessen Politiker. Unter den verfaulten Holzbanken tanzten wir, prügelten wir, spielten wir, tranken Schnaps, Whisky, Ouzo und so weiter und rauchten dazu große brasilianische Zigarren. Hast du schon mal eine geraucht?“
Ibi schüttelte den Kopf.
„Schade. Aber so viel kann ich dir dazu sagen: Die europäischen Zigaretten sind ein Dreck gegen diesen Genuss. Sie sind sehr teuer, aber die Menschen dort nehmen das auf sich, sitzen abends auf den Bänken oder Stühlen und rauchen meist gemeinsam genüsslich einmal die Woche genüsslich eine davon, so zu sagen, als eine Art der Selbstbelohnung. Im Schein einer einzigen großen Öllampe sitzen sie da, ziehen den Rauch in die Lungen und reden über die unterschiedlichsten Dinge. Mich hat vor allem fasziniert, dass diese Menschen zwar viel trinken, aber nie zu viel. Wahrscheinlich liegt das daran, dass sie sich den nächsten Tag nicht Alkoholkonsum versauen wollten. Alles haben diese Leute auf den Arm genommen. Ein Jude hat sogar Witze über Hitler und Holocaust gerissen und obwohl beide Dinge sehr heikel sind, haben alle darüber gelacht, sogar ich.“, Rico kicherte. Ibi hörte seinem Bruder aufmerksam zu. Eigentlich interessierte es ihn nicht, was sein Bruder zu erzählen hatte, doch er war jahrelang weg gewesen und daher wollte Ibi natürlich erfahren, was bei seinem Bruder alles geschehen ist, obwohl er sich sein Interesse nicht anmerken lassen wollte.
„Ich habe vieles gelernt und vieles gesehen, von den Plantagen, den ungemein großen Reichtum ihrer Besitzer und andere, die breite Mittelschicht in ihren engen Wohnblöcken in den Großstädten, in denen es nach Schweiß und Smog riecht, bis hin zu den von Hunger und Krankheit zerfressenen, ständig hustenden Menschen in den Slums.
Ich war sogar im Regenwald und als ich diese Vielfalt erblickte, schämte ich mich, dass ich so viele Tropenholzmöbel in meinem Haus habe. Wenn man einmal in dieser beeindruckenden Welt ist, vergisst man schnell, dass es noch eine Zivilisation gibt. Eine schandhafte Zivilisation, die es eigentlich gar nicht wert ist, etwas so einzigartiges zu zerstören!“, Ricos Stimme klang, zornig, wütend. Ibi hätte am liebsten zugenickt, doch er zog es vor, lieber keine Miene zu zeigen.
„Wenn man erst einmal dort ist, wird einem schnell klar, welch beeindruckende und unerforschte Kulturen der Mensch zerstört, wenn er all diese Bäume fällt. Die klimatischen Folgen sind bis jetzt schon verheerend, aber wenn wir mit unserer Heimat weiterhin so umgehen, dann wird das was noch kommt viel grausamer sein und die Menschheit wird an ihrer Gier an Geld und Reichtum schon bald sterben, wenn sich nicht bald etwas ändert.“
„Hältst du mir hier einen Vortrag über die Klimaerwärmung?“
„Vielleicht. Immerhin geht uns dieses Thema doch alle an, weil wir alle daran schuld sind. Doch die Politiker können viel erzählen, denn was das Ganze wirklich zu bedeuten hat, wird erst dann klar, wenn man selbst dort war.“
Ibi schüttelte leicht genervt den Kopf. „Du lenkst wie immer vom Thema ab!“
„Welches Thema?“
„Was dich plötzlich dazu geritten hat, wieder zurück zu kommen!?“
„Ach ja, natürlich. Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Der Tod von Señor Karpone war der Auslöser.
„Du hast also auch davon gehört?“
„Der alte Karpone hat zwar nie großen Rummel um sich gemacht, doch er war international anerkannt. Er hat sich durch kluge Strategien und Züge ein weltweites Imperium aufgebaut. Er war ein kluger Mann. Als ich hörte, dass er nicht mehr sei, reiste ich wieder zurück in meine alte Heimat. Um seinen Platz einzunehmen.“
Ibi konnte es nicht verkneifen von dieser Äußerung laut los zu lachen. Rico machte ein Gesicht, als hätte er mit dieser Reaktion seines Bruders gerechnet.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass gerade du für diesen Job auserwählt wirst.“, spottete Ibi in seinem Lachanfall.
Rico machte ein ernstes Gesicht. „Warum denn nicht?“
„Rico, das ist albern und das weist du so gut wie ich! Vielleicht magst du als Ausführer von irgendwelchen Aufträgen ja ganz gut sein, aber ein Streuner, ein Rumtreiber! Niemand weis, wo du dich jetzt oder als nächstes rumtreibst! Wenn du heute hier bist, bist du morgen schon wieder weit, weit weg, ohne dass es irgendjemand mitbekommt.“
„Na und?“
Nenne mir nur einen Grund warum du sein Nachfolger werden solltest! Du erfüllst keinerlei Kriterien, die notwendig sind!“
„Nun, ich erfülle zwar nicht alle Erwartungen, aber ich habe eine einmalige Trumpfkarte, die ich mir garantiert nicht wegnehmen lassen werde.“, widersprach Rico gelassen.
Diese Worte, diese klaren Worte machten Ibi Sorge. Was meinte Rico damit?
„worauf willst du hinaus?“, fragte er ohne seinen Bruder anzusehen.
„Der Silbermond ist meine Trumpfkarte.“ Ibi erschrak. Was zum Teufel meinst du damit?“
„Karpones Neffe legt größten Wert darauf, dass er den Silbermond bekommt. Zufällig weis ich, dass er dem Überbringer als Belohnung den Posten seines Onkels anbietet.“
Für Ibi war das nichts Neues was da von seinem Bruder hörte, doch vor seinem Bruder zog er es lieber vor so zu tun, als höre das zum ersten Mal.
„Ach wirklich?“, spielte Ibi überrascht, doch seine schauspielerischen Fähigkeiten waren lange nicht so ausgeprägt wie bei seinem Bruder.
„Aber du wirst nicht an den Silbermond kommen! Schon bald wird der Bote da sein und dann werde ich ihn Karpones Neffe übergeben. Du wirst mich nicht daran hindern können!“ Innerlich grinste Ibi zufrieden, da er überzeugt war seinen Bruder ausgebremst zu haben.
„Doch! Ich habe es sogar schon getan!“, widersprach Rico plötzlich unerwartet. Das Grinsen in Ibi verschwand augenblicklich und wich Unsicherheit.
Plötzlich traute Ibi seinen Augen nicht, löste sich entrüstet aus seiner Starre und musste zweimal auf Ricos rechte Hand sehen, um festzustellen, dass das was er da sah kein Traum war! Das kann doch nicht wahr sein! Nein! Das darf doch nicht wahr sein!
Doch es war kein Traum! Er konnte nicht glauben, was er da sah! Rico, der gelassen den Silbermond in der Handfläche kreisen ließ, der im Licht der warmen Mittagssonne in allen Farben aufblitzte, grinste breit.
Das war er also, der Silbermond. Bisher hatte er nur über Erzählungen von ihm gehört, doch jetzt sah er den Silbermond leibhaftig. Er war wirklich ein wunderschöner Edelstein, schöner als alles was Ibi ja zuvor gesehen hatte. Er war noch viel schöner, als es ihm nachgesagt wurde.
Für einen Moment verfiel er dem Silbermond, als hätte dieser eine magische Anziehungskraft auf ihn, fand jedoch schnell wieder in die Realität zurück und wandte sich wieder an seinen Bruder. „Wo hast du den her?“, fragte er mit einem drohenden Unterton.
„Spielt das denn eine Rolle?“, fragte Rico wie gewohnt gelassen, eine Art, die Ibi schon immer oft zu Weißglut brachte.
„Woher hast du den Stein? Etwa von dem Boten?“, diesmal schwang sehr Zorn in Ibis Stimme mit und Rico wusste aus Erfahrung, dass es keine gute Idee war, jetzt mit seinem Bruder Spielchen zu spielen. „Ja, ich habe ihn von dem Boten.“
„Wieso zum Teufel hat er dir den Silbermond ausgehändigt?“ Ibi wurde immer wütender.
„Nun, er hat ihn mir nicht einfach so ausgehändigt.“
„Was hast du mit ihm gemacht?“, bellte Ibi. Rico zuckte zusammen, meistens behielt er die Fassung, doch wenn er sie einmal verloren hatte, dauerte es eine Weile, bis er seine Fassung, seine Gelassenheit wieder hatte.
„Wenn Karpone Wind davon bekommt, wird er mich dafür verantwortlich machen!“, bellte Ibi seinen Bruder an.
„Du übertreibst.“, winkte Rico ab, der seine gelassene Haltung wieder hatte.
„Woher willst du das wissen?“ Ibi wurde lauter.
„Rico! Ich rede mit dir! Würdest du dich also bitte umdrehen?!“
Rico folgte der Aufforderung ohne zu zögern und drehte sich langsam um.
Ibi sah seinem Bruder ins gebräunte Gesicht. Die beiden sahen sich sehr ähnlich. Das war schon seit ihrer Kindheit so. Beide hatten sie die gleichen, angsteinflößenden Augen, von denen man leicht weiche Knie bekommen konnte, die an einen kalten Wintertag erinnerten. Beide hatten sie den gleichen großen, schlanken Körper. Das einzige, was sie von einander unterschied, war Ricos Lockenpracht und Ibis Glatze und Ricos Schnurrbart. Obwohl die zwei nur Geschwister waren, hatten sie schon viele als Zwillinge verwechselt. Und das obwohl ansonsten nicht viele Gemeinsamkeiten hatten.
„was ist damals eigentlich zwischen uns schief gelaufen?“
„Seit wann interessierst du dich für die Beziehung zwischen uns?“
„Keine schlechte Frage.“, murmelte Rico. „Lass sie mich dir so beantworten:
Als der alte Karpone gestorben war, habe ich begriffen, dass das Leben doch viel zu kurz sei, um sich aus dem Weg zu gehen, findest du nicht auch?“
Ibi schwieg. Er wusste nicht was er von dieser Äußerung halten sollte.
„Was ist eigentlich immer zwischen uns schief gelaufen?“, stellte Rico seine Frage noch einmal.
Doch Ibi hatte keine Lust, jetzt mit seinem Bruder über die Vergangenheit zu reden.
„Wieso stellst du mir eine Frage, dessen Antwort du selbst kennst?“
Insgeheim hatte Ibi die Hoffnung die Hoffnung in Ruhe gelassen zu werden. Doch Rico hatte den Ausweichversuch seines Bruders erkannt, wollte hartnäckig bleiben.
„Bist du dir da sicher?“
Ibi fühlte sich ertappt, war in einer Sackgasse, war gezwungen zu antworten, wie immer, wenn sein Bruder hartnäckig blieb.
„Sagen wir es einfach mal so: Wir sind von grundauf verschieden.“
„Ach ja. Ich erinnere mich an die alten neuen Differenzen.“, murmelte Rico verträumt, als Träume er gerade einen schönen Tagtraum. „Früher warst du immer der von uns beiden, der unglaublich viel auf Reichtum setzte. Ich hingegen war der Bescheidene von uns. Und jetzt ist es umgekehrt. Schon erstaunlich, was die Zeit aus uns macht.“ Rico grinste und kicherte leise.
Ibi nickte. „Du hast recht.“
In diesem Moment kamen ihm viele Erinnerungen hoch, darunter ein Photo.
Darauf war er zu sehen, wie er sich stolz in seinem Smoking gegen einen Mercedes lehnte, ein wunderschönes, teures Auto. Edle, hellbraune Sitzbezüge. Ein Armaturenbrett aus edlem lackiertem Holz. Es war ein pechschwarzer Wagen. Ibi war damals 13 Jahre alt. Irgendwann hatte er den Wagen auf den Namen „Der schwarze Panther getauft. Ibi sah ihn vor sich, wie er durch die Straßen glitt. Seine geschmeidigen, majestätischen, beeindruckenden Bewegungen.
In der Schule hatte er überall rum erzählt, dass dieser Wagen seiner Familie und schon bald ihm gehören würde. Voller Stolz hatte er das Photo herum gezeigt, es hinaus posaunt. Und das was er damals erzählte, stimmte. Mehr oder weniger. Rico lag damals im Krankenhaus und bekam von dem Treiben seines Bruders Nichts mit. Ibi hatte sich nie Sorgen darum gemacht, dass sein Bruder den Spuk beenden würde. Auch als Rico dann wieder in der Schule war, änderte sich Nichts.
Irgendwann aber musste e Rico ausgeplaudert haben. Von einem Tag auf den anderen wurde Ibi zum Außenseiter, seine Anwesenheit wurde verschmäht. Manchmal hatte er sogar das Gefühl, dass selbst die Lehrer sich gegen ihn gestellt hatten. Es waren die schlimmsten, drei zähnesten Wochen seines Lebens.
„Früher warst du immer der korrekte von uns.“, meinte Ibi.
„Wenn irgendjemand in deinem Umfeld gelogen oder etwas Unwahres erzählt hat, dann warst du es immer, der es hat auffliegen lassen.“, Ibi lachte.
„Ist das noch immer so?“
„Ich weis es nicht.“
Eine ganze Weile schwiegen die Brüder, dessen Verhältnis zwar schon immer angespannt war, sich aber dennoch mochten.
Rico betrachtete abermals den Silbermond. „Es ist ein wunderschöner Stein. Schöner als alles, was ich ja gesehen habe.“, schwärmte er. Das Sonnenlicht, das den Silbermond anstrahlte, ließ diesen in idyllischem Meeresblau aufleuchten, warf übereinander greifende, Wellenartige Lichtspiele an die schneeweißen Wände.
Wie hypnotisiert verfolgten beide dieses Lichtschauspiel mit. Rico war zwar seit geschätzten 20 Minuten in diesem Raum, doch diese Zeit hatte gereicht, dem Zauber des Steins zu verfallen.
„Darf ich ihn auch mal halten?“, entfuhr es Ibi.
Rico blickte ihn verwundert an. „Du bist seinem Zauber also auch verfallen, ja? Dachte ich mir schon. Ich gebe zu, es ist äußerst schwierig ihn anzusehen, ohne ihm zu verfallen. Ich hörte viele Gerüchte, der Stein sei gefährlich. Ist man ihm einmal verfallen, kommt man nicht mehr los. Und dann ergreift er still, leise und schleichend dein Schicksal, dein Leben und wenn er die macht über dich ergriffen hat, bringt er dich um. Der alte Karpone ist das perfekte Beispiel dafür. Irgendein Fluch lastete auf ihm.
Ich glaube grundsätzlich nicht an Flüche oder der dergleichen.“
„Solltest du aber. Er ist wirklich gefährlich!“
„Versuche mich nicht von meinem Plan abzubringen!“
Ibi wollte gegenüber seinem Bruder möglichst seriös wirken, wollte auf keinen Fall seine Maske fallen lassen. Doch sein Blick war an den Edelstein gefesselt, ließ keine Abweichung zu. Genauso wie sein Bruder hatte er viele Gerüchte um den Silbermond gehört.
In seinem Beruf gab es eine große Regel: „Du hast dafür zu sorgen, dass die Ware ihren Empfänger erreicht, um welche Ware es sich handelt, hat dich nicht zu interessieren!“
Immer hatte er sich an die Regeln gehalten und offen gestanden, wenn er der Bote für irgendetwas war, dann hatte die Ware noch nie besonders seine Aufmerksamkeit erregt. Aber dieses eine Mal war selbst ihm die regeln egal! Diesmal wollte er wissen, ob an dem, was erzählt wurde, auch tatsächlich etwas dran war. Er wollte selbst den Silbermond sehen, wollte einmal nicht auf die Regeln achten. Schließlich war ja niemand da, der ihn hätte verpetzen können. Oder?
„Bist du immer noch der gleiche Rico wie früher?“
„Wie meinst du das?“
„Ob du immer noch die gleiche Petze von früher bist?“
Rico lachte. „Früher ja. Jetzt nicht mehr. Lass mich raten.“, Rico lächelte belustigt und beugte nach vorne. „ Du verstößt jetzt gegen die Botenregel Nr. 1. Du jetzt, dass ich dich verraten werde. Ist es nicht so?“
„Ja, so ist es.“
„Vertraust du mir nicht?“
Ibi sah in Ricos Gesicht ernstes Gesicht. Er wusste nicht wie er auf diese Frage antworten sollte.
„Wenn ich mir die Schönheit dieses Steins ansehen würde, würdest du mich verpfeifen?“
„Sollte ich das?“
Ibis Blick war wieder auf den Silbermond gerichtet. Der auf dem Schreibtisch lag. Zwischen ihm und Rico. Langsam machte er drei Schritte voraus, ließ die Hand vorschnellen und griff blitzartig nach dem Stein, als könne er jeden Augenblick wieder verschwinden. Rico zeigte keine Regung, sah seinem Bruder zu, wie er sich den Silbermond schnell griff und ihn bestaunte. Als Ibi den geduldigen Blick seines Bruders registrierte, war es ihm peinlich so hastig zu reagieren, kam sich lächerlich vor. Er war nicht entspannt genug, sah seine Autorität in Frage gestellt. Seine unantastbare Autorität. Sein Markenzeichen und der Grund, warum sich niemand mit ihm anlegte.
Ibi bestaunte den Stein, ließ ihn in seiner Handfläche kreisen. Er hatte viele Gerüchte um diesen Stein gehört, von seiner Macht, von seinem Fluch. Er wurde von Vielen bewundert, doch Viele wiederum fürchteten seine Macht.
Er hatte nie etwas von „dem Fluch“ gehalten, hatte den Gerüchten nie Aufmerksamkeit geschenkt, hatte sie ignoriert. Dennoch waren sie in seinem Gedächtnis gespeichert, ganz tief im Unterbewusstsein hatte er sie abgelegt. Ohne es zu wissen. Und jetzt hörte er die Stimmen im Kopf, die von dem Stein sprachen.
„Der Silbermond ist einer der wunderschönsten seiner Art.“
„288 Karat. Gigantisch! Er muss von unschätzbarem Wert sein!“
„ Die Macht dieses Steins ist unkontrollierbar. Mit ihm kann man die Welt beherrschen!“
„Rede doch keinen Unsinn!“

Viele bewunderten seine Macht, andere seine Schönheit und wieder andere beides. Er hatte sie alle für Fanatiker und Idioten gehalten. Doch sie halten. Doch sie hatten alle recht gehabt. Der Stein war wirklich eine Schönheit, vor allem seine Lichtspiele faszinierten ihn. Die blaue Farbe erinnerte an das Meer, der im Licht leuchtende Kern die Sonne. Hörte er da etwa Meeresrauschen und kreischende Möwen?
Es war ein bezaubernder Anblick, der jeden Edelsteinliebhaber von der ersten Sekunde an fesselte! Ibi selbst hatte noch nie besonders viel für Diamanten und Ähnliches übrig gehabt, doch dieser Stein hatte es ihm angetan.
„Die Gerüchte stimmen also doch.“, murmelte Ibi vertieft.
„Hast du etwa jemals daran gezweifelt?“, hörte er die helle Stimme seines Bruders fragen.
„Ehrlich gesagt habe ich die Gerüchte immer ignoriert.“, entgegnete Ibi.
„Ach wirklich? Na ja. Aber ist ja auch typisch für dich. Immerzu korrekt. Nur auf seine Aufgaben fixiert und das ohne jede Abweichung.“
„ich bin nun mal ordentlich.“, verteidigte sich Ibi und es war ihm peinlich, dass sein Bruder seine Arbeitsweise in Frage stellte und er sich auch noch rechtfertigen musste, fand es unverschämt!
Rico lächelte verschmitzt. „So warst du aber auch nie immer. Wenn ich an die zeit früher denke, dann fällt mir auf, dass du früher ungefähr genauso warst wie ich heute.“
„Und wenn ich mir dich heute so ansehe, schäme ich mich für dich. Wo du doch früher fast genauso warst wie ich heute.“
Jeder andere Mensch wäre jetzt nach dieser Äußerung ausgerastet, hätte Ibi angeschrien, was ihm einfiel, so etwas zu sagen! Jeder andere hätte ihn beschimpft, hätte ihm die Meinung gesagt!
Doch stattdessen lachte Rico nach kurzem Zögern. Eine Reaktion, wie sie nur von ihm kommen konnte. Ibi spürte keine Hemmungen mit zu lachen. Er tat es. Lachte mit. Bei jedem anderen wäre es ein ironisches Gelächter gewesen, doch bei Rico war es ein ernstes, belustigendes Gelächter.
Ibi hatte gewusst, dass er diesen Satz aussprechen konnte, ohne sich schlecht zu fühlen, da Rico nun mal glücklicherweise ein Mensch war, der von jeder Art von Gewalt nichts hielt, hatte diese Eigenschaft stets zum Ausdruck gebracht, hatte sich nie von ihr abbringen lassen.
Zumindest hoffte Ibi, das sich an dieser Eigenschaft nichts verändert hatte.
Auf einmal verstummte Ricos Gelächter! Ibi erschrak. War er auf ein ironisches Gelächter seines Bruders reingefallen? Rico blickte ihn ernst an, als hätte er nie gelacht. Der stumme, ernste Blick seines Bruders schuf in ihm ein unbehagliches Gefühl und er spürte wie sein Hals trocken wurde und sich etwas Hartes in seinen Magen legte, das sich rasch ausbreitete. Er spürte Unsicherheit, ein Gefühl, das er noch nie leiden konnte, besonders weil es seine Autorität als der ewig eiskalten Señor Ibi in Frage stellte. Die Unsicherheit verbreitete sich langsam, kroch wie die Morgenkälte in seine Glieder, in seinen Kopf, ohne das er etwas dagegen tun konnte. War er in eine Falle getappt? War der generell umsichtige Fernandez Ibi, dem man nichts vormachen konnte, in Falle getappt?
Normaler weise gab es Nichts und Niemanden, der ihn aus der Ruhe bringen oder ihn verunsichern konnte. Es gab nur eine einzige Person auf der Welt, die das schaffen konnte: Rico.
„War das ein Test? Wollest du wissen, ob ich mich auch wirklich nicht verändert habe?“, brach Rico das drückende Schweigen. Ibi war heilfroh wie nie zuvor, dass Rico wieder eine Frage in den Raum stellte.
„Kann man so sagen.“, Ibi lachte aus Erleichterung, sein Bruder verzog den Mund zu einem Grinsen und Ibi spürte, wie Erleichterung von ihm abfiel, als wäre es ein schwerer Gegenstand auf seinen Schultern.
„Und war dein plötzliches Verstummen ein Test, ob mich wirklich Nichts aus der Ruhe bringen kann?“ Ibi betete, dass sein Bruder ihm die Nervosität nicht angemerkt hatte. Auf Ricos Schweigen wurde Ibi nervös.
„Ja. Und du hast bestanden.“
Ibi atmete erleichtert aus, ohne Emotionen zeigen zu wollen.
„Ich habe viel von dir gehört, Brüderchen. In deinen Kreisen bist du bekannt wie ein bunter Hund. Ich hörte, du seist gnadenlos, loyal, seriös, emotionslos, kalt und herzlos, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Aber ich weis, dass man dich leicht aus Fassung bringen kann, wenn man nur weis, wie. Deine Unsicherheit habe ich gespürt, als wäre es meine Eigene. Was soll eigentlich dieses Sonnenbrille. Ich hörte, du nimmst sie nie ab. Ist das eine Art Markenzeichen von dir, willst du furchteinflößend aussehen?“
„Spielt das eine Rolle?“ Ibi wollte dieser Fragerei aus dem Weg gehen, auch wenn ihm klar war, dass ihm das nichts nützte.
Nimm sie doch einmal ab. Nur für einen Augenblick, damit ich meinem Bruder nach mehr als 5 Jahren wieder in die Augen sehen kann. Bitte. Tu es für mich.“
Ibi hatte keine Lust dieser Aufforderung zu folgen, doch er tat es trotzdem. Seine unkontrollierte Hand nahm ihm langsam und vorsichtig die Sonnenbrille von der Nase, als könnte sie zerbrechen.
Ibi sah seinem Bruder mit offenen Augen ins Gesicht, doch er musste seine Augen sofort wieder, schließen, hielt sich schützend die Hand davor. Die Sonne wurde gerade verdeckt, es war also nicht sehr hell im Zimmer, doch für Ibis Augen war es grelles, schmerzendes Licht.
Er konnte nicht sehen, dass sein Bruder ihn erschrocken ansah. „Du trägst die aber auch nicht erst seit ein paar Monaten, nicht wahr?“
Doch Ibi antwortete nicht. Seine Netzhaut brannte wie Feuer und er hatte schon Angst, blind zu sein. Rico brauchte auf seine Frage keine Antwort, der Anblick seines Bruders reichte ihm aus, um sich eine Antwort zu denken.
Das kommt also davon, wenn man 3 lange Jahre lang Tag ein Tag aus immer eine Sonnenbrille trägt. Das Auge wird immer empfindlicher auf wirklich helles Licht, dachte Ibi verärgert.
Schnell setzte er die Sonnenbrille wieder auf, öffnete die Augen aber vorerst noch nicht.
„Lass deine Brille lieber auf, wir wollen doch nicht, dass du blind wirst.“, sagte Rico rücksichtsvoll.
Ich werde sie sowieso nicht mehr abnehmen!“, erwiderte der angeschlagene Ibi.
„Ich habe übrigens auch etwas gehört, was mich sehr verwundert hat.“, begann Rico wieder das Gespräch.
„Und was soll das sein?“ Ibis Ton wurde allmählich wieder der alte, gelassene, emotionslose Ton.
„In jüngster Vergangenheit hast du versucht an das Diebesgut eines verstorbenen Verwandten heranzukommen. Und wer ist dir in Quere gekommen? Kinder. Kinder Fernandez!“, Rico lachte laut.
Ibis Miene verfinsterte sich.
„Als ich das gehört habe, musste ich lachen und konnte es nicht glauben, aber offensichtlich hast du es dann auch noch fertig gebracht, deinem Ruf als Killer nicht gerecht zu werden. Das Mädchen lebt.“
Ibis Miene verfinsterte sich immer mehr. Er hasste es, wenn irgendjemand seine Ehre, seinen Ruf beschmutzte, besonders dann, wenn er selbst nichts dafür konnte! Am liebsten hätte er sie damals alle umgebracht, doch das Mädchen stellte die größte Bedrohung von allen dar.
Bis heute gab er Kalli die Schuld für das was passiert war, weil nicht richtig gehandelt hat, als es drauf ankam. Dass Ibi Kalli am Ende tötete, machte letztlich nichts besser. Seine Arbeitsweise hatte versagt, was ihm jeder nachgetragen hatte. Nach dem gescheiterten Auftrag stand er vor einem Scherbenhaufen. Von allen Seiten kamen Buhrufe, dass er es nicht einmal schaffte, einen solch lächerlichen Auftrag zu erledigen und dann suchte ihn auch noch die Polizei! Zuvor war er stets zuverlässig gewesen und dann das! Um jeden neuen Auftrag musste er kämpfen wie nie zuvor. Um jeden Funken von Respekt Und Ehre. Er wurde plötzlich behandelt wie ein blutiger Anfänger. Ibi ließ sich in Türkei versetzen, wollte Gras über die ganze Sache wachsen lassen, um der Schikane seiner Kollegen zu entgehen. Nach zwei Jahren kehrte er wieder zurück und alles hatte sich gebessert.
„Es war nicht mein Versagen. Es war Kallis Versagen! Er hat nicht professionell genug gearbeitet und hat mich dadurch in Schwierigkeiten gebracht. Aber mir hat ja auch keiner geglaubt!“, erwiderte Ibi wütend.
„Letztlich war es doch dein Versagen. So lief es doch bisher schon immer. Für Arbeit, auf die du keine Lust hattest, hast du andere Leute bezahlt und wenn du Erfolg gestoßen warst, ließt du dich feiern und wenn es schief lief, was bis auf diese eine Ausnahme nie vorkam, dann warst du nicht mehr der Held. Wie sich ein Misserfolg anfühlt, hast du ja gemerkt.“
„Aber ich werde mich rächen!“
„Wie willst du das machen?“, wollte Rico wissen.
Jetzt kann ich glänzen, jetzt kann ich es, dachte Ibi.
„Ich habe mir schon einen Plan überlegt. Wann ich den umsetzen werde, weiß ich noch nicht.“, sagte Ibi selbstsicher. In Wahrheit jedoch hatte Ibi keinen Plan, noch nicht einmal einen blassen Schimmer davon, wie oder wann er sich rächen wollte. Doch so lange dies niemand wusste, bis er tatsächlich einen Plan hatte, erst recht solange Rico den Fisch schluckte, war ihm das egal.
Und Rico schien den Fisch geschluckt zu haben, jedenfalls nickte er und sah Ibi anerkennend an. „Hätte wirklich nicht damit gerechnet, dass du dich so ins Zeug legst.“
Ibi lächelte stolz. Jetzt konnte er endlich vor seinem Bruder eindruck machen!
„Vater wäre jetzt sicher stolz auf seinen Sohn.“, lobte Rico seinen Bruder. Für Ibi waren es mehr als nur lobende Worte, warme Worte. Solches hatte er in letzter Zeit sehr selten gehört, von Rico fast nie, was ihn auch eigentlich nie gestört hatte. Doch jetzt war er froh wieder Lob zu hören, auch wenn es von Rico kam.
„Ich glaube, wenn er wüsste was aus dir geworden ist, so würde er sich wahrscheinlich schämen!“
Wieder grinste Rico. „Du könntest du sogar recht haben. Überhaupt habe ich das bis heute nie kapiert. Früher war ich genau das, was du heute bist. Korrekt, aufrichtig, gradlinig. Bescheiden. Und du warst so wie ich heute. Ein Abenteurer, ein Mensch, der Regeln nicht so ernst nahm, ein wilder, ungezähmter „Schwarzer Panther“. Hast viel Wert auf Reichtum gelegt. Vater bot nur dir seine Nachfolge in der Mafia, obwohl ich damals eigentlich nach Mutter der geeignetere von uns beiden war. Doch Vater blieb bei seinem Wort. Du hast abgelehnt, er war sehr unglücklich deswegen, hat mich für deine Absage verantwortlich gemacht.
Ich konnte es damals nicht fassen, aber wenn ich ehrlich sein soll, bin ich heute froh, dass es doch anders doch anders gekommen ist. Ich kann in der Welt reisen, ohne jede Pflichten, kann tun und lassen, was immer ich auch will. Während du hier unbeweglich in der deiner Wohnung, in deinen festen Areal sitzt und dich nicht vom Fleck bewegen kannst.“
Ibi fühlte sich von diesen Worten gedemütigt, sie stellten ihn bloß! Vor seinem Bruder und vor sich selbst! Doch er sagte nichts dazu, denn so bitter es auch für ihn war, sein Bruder hatte recht. Er hatte sich selbst in einen Käfig gesperrt, dort saß er wie ein Vogel auf der Stange.
Ein Vogel, der zwar nur ein Bruchteil seines Lebens in Gefangenschaft verbrachte, sich aber nur selten nach Freiheit sehnte oder sich an die Zeit erinnerte, in der er frei war.
Er sah den Vogelkäfig mit der Stange im Innern auf dem Schreibtisch stehen. Auf der Stange ein gelber Sittich, das einzige Tier überhaupt, für das er etwas übrig hatte.
Als er noch klein war, hatte er genau so einen Sittich. In genau so einem großen, oben spitz zulaufenden Käfig. Wegen seines weichen gelben Federkleides hatte er ihn auf den Namen „Yellow“ getauft. Er hatte den Vogel geliebt, hatte sich rundum um ihn gesorgt. Die Beschwerden seiner Familie, der Vogel mache nur unnötig Lärm und Dreck, hatte er ignoriert.
Wenn Yellow unruhig umher flatterte und mit seinem kleinen scharfen Schnabel an den Gitterstäben nagte, wusste der junge Ibi, was das bedeutete: Der Vogel wollte raus!
Und er ließ ihn raus. Ließ ihn fliegen. Von seinem Vater erntete er eine Menge Ärger. „Vernandez! Dieser Vogel kommt nie wieder zurück!“
Doch auch das ließ ihn kalt, nickte es ab. Denn er wusste, Yellow würde immer wieder zurück kommen. Und er kam zurück.
Normalerweise hieß es: „Du kannst mit Tieren reden, aber sie verstehen sowieso nicht, was du sagst.“
Doch bei Yellow schien das anders zu sein. Meistens ließ er ihn fliegen, wenn seine Eltern nicht da waren. „In einer Stunde bist du wieder da.“, redete er sanft auf ihn ein und streichelte ihn dabei sachte, bevor er ihn fliegen ließ. Und eine Stunde später war er wieder da.
Oft hatte Ibi es sich vorgestellt, wie es wäre, durch die Luft zu gleiten, frei zu sein!
Doch wie es nun mal so war, starb Yellow nach einigen Jahren. Der Vogel lag in seinem Käfig. Regungslos. Der ängstlich dreinblickende Fernandez, der Stunden an seinem Vogelkäfig verbrachte, dachte anfangs, sein Vogel würde einfach nur lange, lange schlafen, war bereit zu warten. Bis seine Mutter ihm schließlich sagte, dass Yellow wirklich schlafen würde, nur eben… ewig. Dass es nur Zeitverschwendung wäre, auf ihn zu warten. Und dann waren Vogel und Käfig auf einmal weg und hinterließen ein großes Loch in Ibis Herz und dessen Zimmer. Er war so betrübt wie nie zuvor. Für ihn brach eine Welt zusammen. Rico schüttelte nur verständnislos den Kopf, verstand nicht, wie man einem Tier so sehr hinterher trauern konnte. Und Rico verstand es wirklich nicht.
8 Jahre war er damals und Ibi hatte bis heute den Eindruck, dass mit dem Tod von Yellow alles Böse in seinem Leben seinen Anfang nahm. Sein Vater riss ihn mehr und mehr aus seinem Leben heraus, nahm ihn mehr denn ja in die Pflichten eines Mafiabosses, gegen Ibis Willen!
Sein Bruder war entsetzt, als er feststellte, dass seine Träume wie eine Seifenblase platzten. Schon damals hatte es ihn gewundert, warum er, der Abenteurer, der, der das Leben genießen wollte, in die Mafia gehen sollte und nicht Rico, der praktisch nur auf die Anweisungen seines Vaters wartete, der bereit war für seinen Job. Doch eine jede erwünschte Reaktion blieb aus. Oft hatte Ibi seinen Vater gefragt, warum nicht Rico seinen Platz einnehmen konnte. Doch die rechthaberische, trotzige, harte Stimme antwortete er nur kalt, dass es seine Gründe hatte, Gründe, die er nicht verstehen konnte. „Wenn du erwachsen bist, wirst du es verstehen!“
Und jetzt war Ibi ein Erwachsener und er verstand es noch immer nicht. Auch wenn er sich mittlerweile mit seinem Schicksal abgefunden und sich an sein tristes Leben gewöhnt hatte, nagte diese Frage an ihm.
Spannungen waren vorprogrammiert. Aber was konnte Ibi schon machen? Was konnte er dafür? Der Vater hatte nie Interesse an den Streitigkeiten gehabt. Im Alltag waren sie sich fremd, doch sobald es drauf ankam, hielten die Brüder zusammen, waren nicht zu besiegen! Fast nie. Nur einmal waren sie frontal gegen den unnachgiebigen Eisberg geprallt. Als sie abermals durch Dick und Dünn gingen. Als Rico für Fernandez und Fernandez für Rico gekämpft hatte.
Dennoch hatte es sie stark gemacht.
Doch im Laufe der Zeit änderte sich Vieles. Der starre Rico wurde immer mehr zum Freigeist, zum Abenteurer, während aus Ibi immer mehr der Korrekte wurde. Ibi wusste nicht so ganz, woran das gelegen hatte. Er ging davon aus, dass er damals nach und nach feststellen musste, dass der Freigeist keinen Platz mehr bei Ibi fand. Für seine berufliche Laufbahn war das nur gut, so redete zumindest sein Vater. Nur manchmal erinnerte er sich an das alte Leben. Doch nie wollte er es wirklich wieder haben, war zufrieden wie es war, war es gewohnt.
Noch immer sah er den zwitschernden Vogel hinter den Gitterstäben. Er wirkte so echt, so real!
Fast hätte ihn Ibi gestreichelt, bis ihm wieder einfiel, dass dieser Vogel doch nicht echt war. Das Einzige, was er bis heute vermisste. Ibi malte sich aus, wenn er den Vogel, dieses Produkt seiner Phantasie wirklich gestreichelt hätte. Er hätte sich vor sich selbst und Rico lächerlich gemacht! Nein. Das wollte er sich nicht zumuten.
„Trauerst du noch immer deinem Vogel hinterher?“, fragte Rico mitleidig.
Doch Ibi wollte auf diese Frage nicht antworten.
„Vermisst du noch dein altes Leben?“ Rico machte ein überraschtes Gesicht über diesen großen Themensprung, wie er ihn von seinem Bruder nicht erwartet hätte. Aber sah keinen Grund, weshalb er mit seinem Bruder nicht über die alten Zeiten plaudern sollte.
„Ehrlich gesagt, nein. Aber noch vor Jahren erging es mir anders. Wie du weist wollte Vater mich nicht in die Mafia bringen, also musste ich darum kämpfen! Als ich dann endlich ein Paar alte Kontakte wieder hatte, arbeitete ich hart an mir.“, Rico grinste zufrieden. „Und es hat sich gelohnt. Ich war und bin sehr gut bezahlt.“
„Aber dennoch ein Wanderarbeiter.“, lenkte Ibi ein, dem die aus seiner Sicht schlampige Lebensführung nicht passte.
„Was spielt das denn für eine Rolle?“, entgegnete Rico gelassen. „Mag sein. Ich bin ein Nomade. Bin heute hier, morgen dort, aber wen stört das bitte?“
„Eigentlich niemanden.“, kam es Ibi über die Lippen, wunderte sich zugleich, warum er gegenüber seinem Bruder nicht deutlich Kritik äußerte.
„Außerdem bin ich das, was du nicht bist und auch wahrscheinlich nie sein wirst.“ Rico war offenbar an einer Diskussion interessiert, einer seiner Stärken, da er meistens die besseren Argumente hatte. Doch Ibi war gewiss kein Tollpatsch und wusste seine Gegner mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen.
„Woher willst du das wissen?“, Ibi war empört darüber, dass sein Bruder ihn mit Vorurteilen bewarf und das obwohl Rico nicht besonders viel über Ibis Leben wusste. Ibi konnte seine Empörung zum Ausdruck bringen, ohne dass ihm sein Auftritt peinlich war.
Doch Ricos Gesichtsausdruck bedeutete keinerlei Furcht oder Zurückhaltung. Er blieb beharrlich, ging keinen Schritt zurück. Auch wenn sie sich schon lange nicht mehr begegnet waren, wusste Rico noch aus alten Zeiten, wie weit er bei seinem Bruder gehen konnte und wann es besser war, den Rückzug anzutreten.
„Ich meine, sieh dich doch an! Du sperrst dich doch bloß ein in deiner popligen Wohnung. Du lebst hier völlig zurück gezogen in diesem Viertel und gehst nur dann raus, wenn du beruflich musst. Du lebst nicht richtig, du funktionierst doch nur!“
„So was ist auch nötig. Ich kann nichts dafür.“, verteidigte sich Ibi. „Du weist es selbst. Dein Ruf ist dein Schlüssel zu Erfolg.“
„Ich fürchte eben nicht.“, widersprach Rico. „Ich bin das nahezu perfekte Beispiel dafür, dass es nicht so ist. Ich habe es weit gebracht, ganz ohne die verdammte Emotionslosigkeit und Kaltblütigkeit. Außerdem ist die Parole vom kalten, unerschrockenen, skrupellosen schwarzen Mann längst nicht mehr aktuell. Heute zählt nur noch die Tatsache, dass du deine Hausaufgaben so perfekt wie nur möglich machst. Das ist meine Erfahrung.“
„Das mag sein. Aber das ist mir egal. Ich habe mich noch nie nach irgendwelchen Trends orientiert und das wird sich nicht ändern. Ich habe versucht, anders zu arbeiten, doch ich habe es nicht geschafft. Ich musste einen hohen Preis bezahlen! Du weist nicht wie es ist, sein Gesicht zu verlieren und in Spott der anderen zu versinken!“ Ibis Stimme klang zornig, rechthaberisch.
„Nein. Ich gebe zu ich kenne dieses Gefühl wirklich nicht.“
„Ich muss so arbeiten, verstehst du? Ich habe meinen Ruf wieder mühsam in Gang gebracht!“
Rico wusste, dass es besser war, seinen Bruder nicht weiter zu reizen. Er runzelte die Stirn. „ich verstehe.“, sagte er ruhig. Als er diese Worte aussprach kam er sich wie ein Psychologe vor. Ein Psychologe mit Hornbrille und zurück gekämmten Haaren. Ein Mann, der alles ab nickte, der zu allem „Ja, ich verstehe“ sagte… Nein! Hörte Rico seine Stimme rufen, verscheuchte diesen wirren, scheußlichen Gedanken.
Er war kein solcher Mensch und er konnte sie auch nicht sonderlich leiden.
„Nein, du verstehst nicht.“, erwiderte Ibi ohne seinen Bruder anzusehen.
„Rico schwieg, hoffte heimlich, dass sein Bruder keine Reaktion erwartete. Er wollte ohnehin weg von diesem Thema.
Erneut nahm Rico den Silbermond in die Hand, ließ di eckige, schillernde Gestalt in seiner Handfläche kreisen und wandte sich mit einer anderen Frage an seinen Bruder und Konkurrenten. „Wer wird ihn letztlich ausliefern?“
„Ich natürlich!“, antwortete Ibi ohne zu zögern, als es nur selbstverständlich, dass er den Boten spielte.
„Warum du?“, wollte Rico wissen.
„Erstens, weil das mein Auftrag ist, zweitens, weil ich damit meinen Ruf wieder endgültig zu Ruhm und Ehre verhelfe und drittens, weil das eine Chance für eine Beförderung ist, eine einmalige und leichte Chance. Eine, die nie wieder kommt!“
Rico nickte und sah ihn anerkennend an. Eine überzeugende Rede, dachte er. Eine wirklich überzeugende Rede. Normalerweise hielt er Menschen, die solche Reden schwangen für Idioten, ein riesen Wirbel und nichts dahinter! Besonders dann, wenn nach dem Reden keine solchen Taten folgten. Doch bei seinem Bruder war er sich sicher, dass das keine großes Gerede, sondern Ernst war.
„Beeindruckend.“, lobte Rico ihn für seine Rede.
„Ich weis.“, sagte Ibi, der genauso überzeugt von seiner Rede war und fest davon ausging, seinen Bruder in die Tasche gesteckt zu haben.
„Doch für mich wird es eine Chance sein, die ich mir nicht nehmen lassen werde. Du bist, was das betrifft, mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen. Du hattest Privilegien, ich musste praktisch nur kämpfen. Aber es hat sich gelohnt. Bis jetzt. Und daher werde auch ich mir diese Chance nicht nehmen lassen.“
Ibi fiel Nichts auf diese klare, provokative Herausforderung ein. Doch er hatte dennoch ein Wörtchen mit zu reden.
„Dann werden wir also abermals gegeneinander geraten.“, stellte Ibi mit fast traurigem Unterton fest. „Und das, als wir uns gerade wieder hatten.“
„Du hast mich also doch vermisst!“, rief Ibi fröhlich aus.
„Das habe ich nicht gesagt.“, versuchte Ibi ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
„Aber du hast es gemeint.“
„Keine Ahnung.“, sagte Ibi, weil ich nichts Anderes einfiel.
„Das ist übrigens mehr oder weniger auch ein Teil des Fluchs.“
„Mehr oder Weniger?“, hörte Ibi seine etwas irritierte Stimme fragen. Er wunderte sich selbst über seine Neugier, war er doch bloß an der Zulieferung des Silbermonds interessiert.
„Ja. Er soll die macht besitzen, selbst die dicksten Freunde auseinander zu reißen. Das wird zwar nur nachgesagt, aber ich glaube, da ist was dran.“
„Mit dem Unterschied, dass man das Alles selbst beeinflussen kann. Denn so etwas wie einen Fluch gibt es nicht.“, konterte Ibi mit seiner gewohnt skeptischen Art.
„Nun, ich denke darüber lässt sich streiten.“, meinte Rico.
„Wohl wahr.“, sprach Ibi ihm zu.
Wieder schwiegen die beiden. Rico lehnte sich entspannt in dem weichen Ledersessel zurück, schloss die Augen und lauschte den Geräuschen der Straße.
Ibi stand wie immer angespannt da, warf heimliche Blicke auf den Silbermond.
„Karpone ist normalerweise doch so umsichtig.“, unterbrach er unerwartet die Stille zwischen ihnen. „Aber ich frage mich dennoch, ob er mich einfach nur nicht mit einkalkuliert hat, oder, ob er mich auf die Probe stellen will? Ob er wissen will, was ich drauf habe?“
„Ihr kennt euch?“, fragte Ibi überrascht, obwohl es im nächsten Moment keine Überraschung mehr für ihn war. Es war irgendwie selbstverständlich, dass sie sich schon mal begegnet waren.
„Ja. Zwar noch nicht allzu lang, aber lange genug, um uns gegenseitig zu kennen. Gerade deshalb wundert es mich, dass er mich nicht einbezogen hat. Er weis, dass ich hartnäckig bin und außerdem von der Transaktion weis.“
„Von der Belohnung ganz zu schweigen.“, ergänzte Ibi.
„Doch mir hat er schon gesagt, dass ich nicht der Nachfolger seines Onkels sein würde. Und dich hat er wohl vergessen.“
„Richtig.“ Rico machte ein nachdenkliches Gesicht. „Es klingt zwar absurd, aber vielleicht hat er mich wirklich nicht mitgerechnet.“
„Genau.“, murmelte Ibi ebenfalls nachdenklich, fing fast an, wilde Theorien zu spinnen. „Dann warst du quasi… der Fehler im Plan.“
„So kann man es auch sagen. Der Fehler im Plan. Das klingt sogar richtig gut. Das hat etwas Geheimnisvolles an sich.
Doch wie wäre es, wenn wir uns was den Silbermond betrifft, zusammenschließen könnten. Gemeinsam könnten wir Vieles erreichen, könnten die Macht dieses Steins für unsere Zwecke nutzen. Was hältst du davon?“
„Nichts. Ich bevorzuge den Alleingang.“
„Auch wenn wir dann Rivalen wären?“
Ibi zögerte kurz mit seiner Antwort, als könne sie fatale Folgen nach sich ziehen. „Auch dann.“, sagte er schließlich in gewohnter Haltung.
Rico lachte. „Du hast dich wirklich nicht verändert.“
Er beließ es lieber dabei, seinem Bruder keine weiteren Fragen zu stellen, da er wusste, dass diese starre Haltung seines Bruders durch nichts gebrochen werden konnte. Auch das wusste er aus Erfahrung.
Rico besah sich kurz der Pistole, die Ibi auf der Fensterbank abgelegt hatte. „Wieso machst du es jetzt nicht so, wie du es sonst immer machst und schießt nicht auf mich? Denn ich bin nicht nur Gegner, sondern auch ein überflüssiger Zeuge, nicht wahr?“
Ibi verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Erstens: die bist kein „überflüssiger Zeuge“, wie ich sie nenne. Zweitens: Du bist mein Bruder und auf dich würde ich nie schießen. Und drittens – und das ist das Wichtigste- wette ich mit dir um den „Auftrag Silbermond“, dass du alle Kugeln aus dieser Waffe entfernt hast.“, spottete Ibi.
„Wette ist angenommen.“
Wie du meinst.“ Mit diesen Worten nahm Ibi die Pistole in die rechte Hand und zielte auf Ricos Kopf! Dieser verzog keinerlei Miene, in seinen Augen war keine Spur von Schrecken oder Angst. Als wüsste er, dass er nichts zu befürchten hätte. Ibi entsicherte und drückte ab!
Rico spürte, wie ein Reflex seinen Körper durchzuckte!
Doch statt einem Knall hörte er nur ein leises Klicken. Das Klicken, auf das er gewartet hatte. Hatte er etwa Angst vor etwas gehabt, was gar nicht passieren konnte? Oder hatte er tatsächlich gedacht, dass sich ein Schuss aus der Waffe löste, die er zuvor schon entladen hatte? Er wollte es nicht wissen.
„Du hast deine Wette verloren.“
Rico nickte.
Ibi runzelte irritiert die Stirn. „Du wusstest, du würdest die Wette verlieren und dennoch hast du sie angenommen. Warum?“
Rico zuckte mit den Schultern und lächelte sein typisches, breites Rico- Lächeln. „Keine Ahnung. Vielleicht will ich dir ein wenig bei der Arbeit zusehen.“
Ibi sah seinen Bruder an, als versuchte er seine Gedanken zu lesen. Er wusste, dass Rico so etwas nicht einfach aus reiner Gefälligkeit machte. Im Hintergrund musste Rico wieder seine Fäden ziehen, da war sich Ibi sicher. Wie er ihn bisher kannte, ging er Kompromisse nur ein, wenn sie entweder zu seinem eigenen Nutzen waren oder aber er sich bereits einen Plan zurechtgelegt hatte. Doch das war früher. Vor langer Zeit. Als jeder noch die Geheimnisse des anderen kannte. Ibi konnte daher nicht wissen, in wieweit sich sein Bruder verändert hatte, ob er sich verändert hatte. Eine Möglichkeit, das zu testen, hatte er allerdings auch nicht.
„Du hast gewonnen. Ich weis, wann ich mich geschlagen geben muss.“ Rico erhob sich langsam aus dem ächzenden Sessel. „Was hältst du davon, wenn wir mit einem Gin anstoßen?“ Er lächelte seinen Bruder an. Doch er wartete nicht auf seine Antwort. Ibi betrachtete seinen, auf eine edle Glasvitrine zugehenden Bruder misstrauisch. „Hast du irgendwas in den Gin gekippt?“ Ibi warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu.
Doch dieser verdrehte genervt die Augen. „Fernadez, nicht immer wenn ich irgendwas vorschlage, ist es gleich mit einem Hintergedanken verbunden.“
„Aber fast immer.“, entgegnete Ibi. Er sah jetzt die Chance gekommen, dass er abschätzen konnte, in wieweit sich Rico tatsächlich verändert hatte.
Rico machte sich nichts daraus, öffnete die Vitrine, nahm zwei kleine Gläser in die Linke und eine große runde Flasche in die Rechte, ging wieder zurück und stellte die Sachen auf dem Schreibtisch ab und goss die kostbare weißlich braune Flüssigkeit in die beiden Gläser.
„Du überlässt mir also einfach den Silbermond? Ganz ohne jeden Hintergedanken?“, fragte Ibi erstaunt mit einer Spur Misstrauen. Er war sich nicht ganz sicher, ob er einem solchen Angebot zustimmen sollte/konnte. Immerhin wollte er nicht in einen Hinterhalt geraten, jetzt, wo er seinen Ruf gerade wieder aufpoliert hatte und jetzt, wo er doch jetzt die Chance hatte, seinen Ruf auf ein Maximum aufzuputschen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er hinters Licht geführt wurde. Außerdem kannte er es von Rico nicht, dass er ihm einen Ball zuspielte, ohne eine Gegenleistung zu wollen. Ibi nahm das Glas nicht gleich in die Hand, sondern musterte Rico, als würde/müsste er Ricos Gedanken lesen können, um genauer zu erfahren, was bei diesem Vorgang ein Rico vorging. Als müsse er auf der Hut sein! Als könne er ihm, seinem Bruder nicht mehr vertrauen!
Rico spürte den misstrauischen Blick, der ihn versuchte zu durchbohren, durch ihn durch zu leuchten wie beim Röntgen. Der Blick schuf in Rico ein unbehagliches Gefühl, doch er hielt dem Blick problemlos stand, kannte ihn und das Gefühl, das er mit sich brachte. Er hatte gelernt, Bewährungsproben stand zu halten, einer von wenigen Dingen, die ihm sein Vater beigebracht hatte.
„Vater würde sich im Grab umdrehen.“, sagte Rico.
„Ja stimmt. Aber wo liegt der Haken?“, fragte Ibi noch immer misstrauisch.
„Es gibt keinen Haken.“, erwiderte Rico ärgerlich. Doch er konnte Ibis Blick nicht ausweichen, dem kritisch misstrauischem Blick.
Er hob das Glas in die Höhe. „Du kannst mir vertrauen. Du machst dir einfach zu viele Gedanken.“
Ibi atmete tief aus. „Du hast recht.“
„Auf die Tatsache, dass wir uns zu Grunde richten!“, Rico lachte, als wäre das ein besonders guter Witz gewesen, doch Ibi stieg nicht darauf ein. Stattdessen warf er einen kurzen Blick zum Silbermond, dann wandte er sich wieder Rico zu, der auf sein feierliches Wort wartete. Ibi hob das Glas. „Auf den Silbermond!“

Aufgeflogen




Es war Freitagmorgen. Ich hörte meinen extrem lauten Wecker klingeln. Doch ich schlug nicht die Augen auf. Der Wecker klingelte weiter. Das musste ein Traum sein! Doch es war kein Traum. Leider.
Ich konnte ihn nicht hören! Ich zog mir das Sofakissen über den Kopf, doch es war zwecklos. Den Wecker zu ignorieren war sinnlos. Immerhin hatte ich ihn nur zu diesem Zweck benutzt. Meine Finger tasteten den Couchtisch nach dem Wecker ab. Als sie ihn gefasst hatte, glitt sie ihm wieder aus der zittrigen Hand und krachte laut auf den Boden. Das Klingeln ging weiter. Ich fiel aus dem Bett, folgte dem Klingeln auf allen Vieren und haute so lange auf den Wecker, bis er von allein aus ging. Ich erhob mich ächzend. Mein Körper ein einziger, tauber, schmerzender Stein, der Mühe hatte sich fortzubewegen.
Ich schleppte mich ins Bad. Vor dem alten Spiegel erschrak ich von mir selbst. Ich sah genauso gruselig aus, wie ich mich fühlte! Meine Augen dunkel unterlaufen, große deutliche Augenringe, faltiges Gesicht, blasser Teint. Das Einzige was mich noch von einer alten Frau unterschied, war ein gerader Rücken und eine junge, leicht gebräunte Haut.
In der Schule hatten wir in Religion die Aufgabe, uns das Alt werden vorzustellen. Dazu sollten wir ein Bild zeichnen. Wie wir aussehen, wenn wir alt sind. Unsere Vorstellung. Natürlich hielten das alle für eine bescheuerte Idee, warum wir uns jetzt Gedanken übers Altwerden machen sollten. Wo für uns das Leben doch erst jetzt richtig anfing. Doch letztlich wurde es richtig lustig. Ich muss heute noch über die Vorstellung der alten Annika lachen! Ich hatte eine genaue Vorstellung von meinem 80 jährigen Ich: Groß, etwas bucklig, weißes langes Haar, etwas kantiges Gesicht und obwohl sie nicht so aussah, sollte mein 2D Ich wegstecken, aber auch gut austeilen können, so wie ich. Ich hatte auf diese Arbeit eine 1 bekommen, wie alle.
Ich nahm mir vor, mich bevor ich ging, zu schminken, damit mein Anblick nicht gar so entsetzlich war. Ich ließ mir etwas kaltes Wasser übers Gesicht laufen, um wenigstens ein bisschen wacher zu werden. Halb tot schlurfte ich in die Küche und machte Frühstück, bei dem ich nicht mal wusste, was ich machte. Blindlinks habe ich einfach nach den nächstbesten Dingen gegriffen. Dazu brühte ich mir Etwas von Leas Kaffee auf.
Lea flog mit ihrer Familie im Sommer immer nach Guatemala. Der Kaffee war dort wo sie ihn bekamen zwar teuer, aber besser als Supermarktware. Da ihrer Mutter dieser Kaffe sehr gut gefiel, ließ sie sich eine Jahresration nach Hause liefern. In Europa war der ohnehin nicht erhältlich. Denn er war extrem stark und damit meine ich nicht die Kaffeestärke, die ein europäischer Kaffee enthält, sondern richtig starker Kaffee. Ich las zum 100tsen Mal die Warnung auf der Verpackung:
„Dieser Kaffee soll auf keinen Fall von Herzkranken Menschen getrunken werden!“
Lea brachte den Kaffee Massenweise in die Zentrale, damit wir ihn alle genießen konnten. Doch sie blieb die Einzige, die ihn trinken konnte, ohne hinterher am Rad zu drehen. Doch wenn ich den Tag überstehen wollte, ohne einzuschlafen, musste ich ihn trinken. Ich brühte mir eine Kanne auf.
Als ob meine Übermüdung nicht schon schlimm genug wäre, wurde ich bereits in der Bahn bestraft, die ich um ein Haar verpasst hätte.
Ich hatte mir tatsächlich noch ordentlich Make-up aufgetragen, wenngleich ich sogar hier nicht wusste, was ich tat.
Doch wenn ich unsicheren, schrägen Blicke und Getuschel richtig deutete, dann war auf meiner Haut entweder zu viel oder zu wenig Make-up. Auf jeden Fall musste man deutlich sehen können, dass etwas nicht stimmte. Ich spürte die leicht angeekelten Blicke und versuchte, sie so gut wie möglich zu ignorieren.
In der Schule ging es dann weiter. Egal wo ich war, ich erntete irritierte, missbilligende Blicke. Ich kam mir plötzlich ungeheuer schlecht vor, obwohl ich nichts Böses hatte. Oder doch?
Doch mich zu verstecken, würde nichts bringen. Als wir dann in der ersten Stunde Mathe hatten, war Domme nicht da und Lea, sowie der Rest der Klasse beachtete mich nicht weiter. Ich war heilfroh. Unangenehme Fragen waren das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.
Lena, ein Mädchen, das vor mir saß, drehte sich zu mir um und blickte mich zunächst irritiert an. „Was hast du denn gemacht? Hast du dich mit Bleichmittel eingecremt?“

Doch ich wollte auf diese Frage nicht antworten. Außerdem war ich müde, zu müde. Mein übermüdeter Körper war ein einziger Schmerz, der nur von Erschöpfung betäubt wurde. Anscheinend verstand Lena meinen Blick, dass ich nicht in der Verfassung war, zu antworten.
„Hast du gelernt?“, fragte sie und stieß auf einen irritierten Blick. „Für was?“
„Na für den Mathe Test.“
Für den Mathetest?! Für welchen Mathetest?!
Doch ich kam nicht mehr dazu, sie genauer zu fragen, denn unsere Mathelehrerin Frau Streick betrat bereits mit eiligen Schritten das Klassenzimmer. „Alles zu! Alles weg!“, rief sie energisch. Sie fing gleich an, die Tests auszuteilen. „Viel Glück!“, hörte ich Lena sagen, doch ich achtete nicht darauf. Ich geriet in Panik, mir wurde auf einmal glühend heiß, kam ins Schwitzen, hörte, wie mein Herz wummerte!
Wie der Test am Ende lief ist denke ich eine logische Schlussfolgerung. Ich konnte mich beim besten Willen nicht konzentrieren, hatte viel zu stark mit schweren Augenlidern zu kämpfen, wodurch ich praktisch Nichts aufs Blatt brachte. Als die wahrscheinlich 10 längsten Minuten meines Lebens dann endlich vorbei waren, dachte ich: So Annika. Jetzt kann es zumindest nicht mehr schlimmer kommen.
Aber wie es nun mal so war, wurde ich schon bald wieder eines Besseren belehrt.
Domme kam in der zweiten Stunde. Ich packte gerade meine Sachen in den Ranzen. Ich kruschtelte entweder schon die ganze Zeit in meinem Ranzen, hielt den Kopf gesenkt oder verbarg mein Gesicht in den Händen. Nur um zu verhindern, dass meinem Zustand gefragt wurde. Doch ich vermied nichts, ich sorgte mehr für Aufmerksamkeit. Doch bis zum Ende der zweiten Stunde kam ich damit durch, ohne dass mich jemand auf mein katastrophales Aussehen ansprach. Doch ich wollte reden. Und es gab nur eine Person, der ich vertraute: Tom.
Ich rannte ins Nebengebäude, die Treppen hoch in den dritten Stock. Dort traf ich ihn. Er schien sich gerade von einem Freund zu verabschieden und als er mich sah, machte er ein entsetztes Gesicht. Ich viel ihm regelrecht in die Arme. „Was hast du denn gemacht?“, fragte er beunruhigt.
„Sehe ich so schlimm so?“, fragte ich zurück.
Tom betrachtete mich kritisch. „Naja. Du hast sehr viel Make-up drauf, aber das verbessert nichts.“
Er nahm mich in die Arme und küsste mich auf die blasse Stirn. „Du bist sehr erschöpft. Hast du die Nächte durchgemacht?“, wollte er besorgt wissen.
„Kann man so sagen. Ich hab in den letzten drei Tagen vielleicht 5 Stunden geschlafen.“ Ich gähnte.
Tom sah mich mitleidig und vorwurfsvoll an. „Annika, du brauchst deinen Schlaf. Warum machst du so was?“
„Wir haben grad einen Fall am Haken, in dem wir nicht recht weiter kommen und ich habe… ein wenig mehr geforscht.“ Meine Stimme klang unsicher, erschöpft, hatte keinen klaren Ausdrucksklang mehr. Doch das ich einen fremden PC gehackt hatte, wollte und konnte ich selbst ihm nicht erzählen. Er würde selbst hier kein Verständnis entgegen bringen, was ich sogar verstehen konnte.
Er sah mir in die Augen. „Versprichst du mir, dass du heute Nacht schläfst?“ Ich konnte bei seiner lieblichen Stimme einfach nicht Nein sagen.
„Ja. Ich verspreche es.“
Tom verzog den Mund zu einem Grinsen. „Wir sehn uns nach der Schule?“
Ich lächelte verliebt zurück. „Ja.“
Dann küsste er mich au den Mund. Es waren nicht mal 10 Sekunden, doch in dieser Zeit war meine Erschöpfung wie weg geblasen! Er küsste einfach himmlisch! Er streichelte mir zärtlich mit seinen weichen Fingern über die Wangen.
„Wir sehen uns dann?“
„Ja.“
Er küsste mich auf die Stirn und war dann wieder im Klassenzimmer verschwunden. Und ich stand da. Brauchte eine Weile, bis ich realisiert hatte, dass es längst zum Unterricht geklingelt hatte.
Als auch in der dritten Stunde nichts Außergewöhnliches passierte, war meine Angst vor unangenehmen Fragen fast verflogen. Dann war Pause. Ich stürmte aus dem Klassenzimmer und wollte gerade die Treppe hinuntereilen. Als ich eine Stimme hinter mir hörte. „Annika? Kann ich mal kurz mit dir reden?“ Dommes Stimme klang sehr streng. Selten hatte ich ihn so reden hören, doch wenn er so redete, mit einem tiefen Unterton, dann hatte es meistens nichts Gutes zu bedeuten. Aber was hätte er gegen mich haben können? Es sei denn…
Ich folgte ihm in eine Nische des langen Flurs. In der Hand hielt er ein in Klarsichtfolie zusammen gerolltes Papier. Ich blickte nur kurz in sein Gesicht, das ungewöhnlich hart wirkte. An der Nische angekommen hielt er mir das Blatt unter die Nase. „Was- ist- das?“ Seine Stimme war sehr streng, beinahe hart. Ich spürte plötzlich wie mir wieder heiß wurde und mein Gesicht feuerrot anlief!
Domme verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich wütend an. „Ich will eine Antwort!“
Meine Hände fingen an zu zittern, mein ganzer Körper zitterte, doch Domme ging nicht darauf ein.
„Das… das… das ist… eine Datei… aus… aus“, stammelte ich ängstlich. Nein Annika! Es hat keinen Sinn so zu tun, als ob es nicht das wäre, was es war. Domme wusste doch sowieso schon bescheid.
„Das… das ist eine Datei aus… Kowalskis Computer.“
„Richtig. Und wie bist du in die und an mindestens 100.000 weitere Dateien ran gekommen?“, seine Stimme verlor den wütenden Ton nicht.
Ich musste die Verantwortung allein übernehmen. Ich wusste, dass ich jetzt riesen Ärger am Hals hatte und ich wollte Tom da nicht auch noch mit rein ziehen. „Indem ich seinen Computer gehackt habe.“ Ich senkte den Kopf. Domme stand kurz vor einem Wutausbruch, was sogar verstehen konnte, hätte er so etwas gemacht, wäre ich auch stink sauer auf ihn gewesen.
„Annika! Sag mal ist dir eigentlich klar, was du da gemacht hast?“, schimpfte er. „Du hast den PC eines Klienten gehackt! Du weist hoffentlich, dass er dich dafür anzeigen kann! Und wenn das rauskommt, hast du dann auch mal an das Image unserer Detektei gedacht? Wenn das auffliegen würde, würden wir keinen Auftrag mehr kriegen! Unsere Detektei kann dicht machen! Und von uns will ich nicht erst anfangen zu reden!“ ich schüttelte den Kopf und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
„Keine Sorge. Ich… ich habe es so abgewickelt, dass er es nicht mal gemerkt hat, dass da jemand in seinem PC drin war.“ Auch wenn dieses Argument gegen die Anklage zu schwach war, war es besser als Nichts.
„Das hoffe ich für dich!“
„Weist du noch? Als wir beide, du und ich uns vor Jahren zusammenschlossen, zur Detektei A&D? Weist du das noch?“, seine Worte hörten sich traurig an, enttäuscht, aber immer noch wütend.
„Wir haben damals beide geschworen, dass wir niemals mit kriminellen Mitten arbeiten werden, du hast es damals sogar selbst vorgeschlagen. Und Alleingänge wollten wir auch nicht zulassen. Das Gleiche, als wir TTD gründeten.“
Zu gern hätte ich irgendwas erwidert, doch zum einen hatte er Recht und zum anderen wusste ich nicht, was ich erwidern sollte, konnte.
„Dass das nicht folgenlos bleiben kann, muss ich dir ja wohl nicht sagen, aber welche Folgen genau, das müssen wir noch sehen! Ich dachte eigentlich, wir wären ein gutes Team. Ein Team, in dem man dem anderen nichts verschweigt. Aber das war wohl ein Irrtum. Auf jeden Fall bist du- bis wir eine Lösung gefunden haben- bis auf weiteres nach Regel Nummer 10 unserer internen Regeln, bis auf weiteres aus den Ermittlungen und der Detektei raus!“
Als ich das hörte, schossen mir Tränen in die Augen.
Er wandte sich ab lief die Treppe runter und blieb kurz stehen. „Und übrigens! Das war auch eine Regel, die von dir kam.“ Dann war er weg.
Ich spürte meinen Körper nicht mehr. Nur noch Reue, Verzweiflung und den dinglichsten Wunsch, alles rückgängig zu machen.
Erst jetzt wurde mir die Tragweite meines Handelns bewusst. Ich hatte nicht gegen unsere Regeln und das Gesetz verstoßen, sondern meine Freunde belogen und war nun auch noch aus meiner Detektei ausgeschlossen. Aus der Detektei, die ich, Domme und Lea so mühevoll aufgebaut hatten, und ich machte durch mein Handeln alles zunichte!
Tränen liefen mir über die Wangen, ich wischte sie weg. Das Schlimmste, was passieren konnte, war eingetroffen! Wütend auf mich selbst trat ich gegen die Heizung an der Wand. Doch ich hatte vergessen, dass ich Sandalen trug und mein großer Zeh ungeschützt gegen das Metall krachte. Ich spürte einen höllischen Schmerz, der mein Gesicht verzerrte. Jammernd und verheult sank ich zu Boden und kauerte mich zusammen und hielt mir den schmerzenden Zeh, der zu bluten schien. Dommes Worte hallten och immer in meinen Ohren, als stünde er noch vor mir. Ich hatte nichts gewonnen, aber ich drohte alles zu verlieren!
Wieso hatte ich das getan? Wieso?


Einige Wochen später…


Annika Undercover




„Wie lautet das Zauberwort?“, die dürre Frau vor mir stemmte die Arme in die Hüften. Welche Antwort erwartete sie von mir? Ich musste raten. „Bitte?“, riet ich unsicher.
„Geht doch.“, sagte die dürre Frau. Frau Nörgel hieß sie. Ihr Name passte perfekt zu ihr. Sie war eine ältere, von Falten gezeichnete Frau, dürr, eisblaue Augen. Den spitzen Mund zu einem Ausdruck verzogen, den man nicht recht deuten konnte. Nur selten huschte ein Lächeln über ihr bleiches Gesicht, das schon fast unheimlich wirkte.
Als sie sich von mir abwandte um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen, schnitt ich hinter ihr eine Grimasse. Blöde Kuh!
Sie war die Betreuerin für Praktikanten. Laut ihrer Aussage war es ihre Aufgabe, uns zu motivieren. Doch in den bisherigen zwei Stunden hatte sie bei mir das genaue Gegenteil erreicht. Von Motivation war keine Rede. Vielmehr hatte ich den Eindruck, dass ihr die Arbeit mit Praktikanten egal war, strafte uns mehr mit Desinteresse.
Schon bei meiner Ankunft nörgelte sie, dass ich eine Minute zu spät war. Ich konnte es einfach nicht fassen, wie man sie kleinlich sein konnte. Doch ich blieb ruhig. Vielleicht hatte sie einfach einen schlechten Tag. Ich war nicht die Einzige Praktikantin. Außer mir gab es drei andere. Ihre Namen erfuhr ich, als wir im Keller, im Waschraum standen und auf die Wäsche warteten. Sie hießen- wie ich Annika- Kalotta, Lisa. Drei Freundinnen, die einen Ferienjob machten.
Zu gern hätte ich mehr Worte mit ihnen gewechselt, sie waren sehr nett und haben wir wenigstens Alles grob aber verständlich erklärt, was die Nörgel offenbar nicht für nötig hielt. Warum auch immer.
Doch frau Nörgel beschäftigte uns immer, sodass nur wenig Zeit für Unterhaltung blieb.
Wir waren nie nur in einem Teil des Hotels, sondern immer woanders. Wir waren ständig beschäftigt. Unterdessen lernte ich nicht nur die ziemlich stressige Arbeit in einem solchen Großbetrieb kennen, sondern auch, wie Frau Nörgel ihrem Namen gerecht wurde. Sie selbst nannte ihre Nörgeleien an kleinen Fehlern „Motivation“. Doch genau das machte die Zeit schwer erträglich.
Selbst als wir in einem der sechs großen Speisesäle waren und Silberbesteck Millimeter genau auf den langen Tischen ausrichteten, ließ sie uns nicht aus den Augen. Sie bemerkte meine Blicke, die sie irritiert trafen. Ich hatte den Eindruck, dass sie fürchtete, dass wir- wenn sie uns allein lassen würde- Teile des Silberbestecks einsacken könnten. Die Idee erschien zwar logisch, aber auch verrückt. Denn wie hätten wir den hier etwas stehlen können?
Zaghaft fragte Annika die streng dreinblickende Frau, wieso sie uns so misstrauisch beobachtete. Sie zögerte mit der Antwort, als müsste sie sich diese genau überlegen. „Wie man sicherlich erkennen kann, ist dies ein Nobelhotel. Hier steigt die hohe Gesellschaft ab.“, erklärte sie. Offenbar hatten die anderen den gleichen Eindruck wie ich, wussten auch so, dass diese Erklärung nur ein Vorwand war. Dennoch fragten wir nicht weiter.
Unmengen Zeit schwebten an uns vorbei, die Arbeit zog sich hin. Keiner sagte etwas. Die Stille drückte die Stimmung erheblich. 30 Tische gab es hier insgesamt, wir hatten inzwischen 12 fertig, doch ich hatte das Gefühl, dass die Zahl der noch zu bearbeitenden Tische größer wurde. Auch die Mädchen redeten untereinander nicht viel. Ein bisschen gute Musik wäre genau das Richtige gewesen, aber leider waren MP3 Playerwährend der Arbeit verboten. In meinem Kopf spielte ich Songs rauf und runter. Doch mit der Zeit wurde auch das langweilig.
Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich überhaupt hierher gekommen war. Und vor allem warum?

Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Während des Unterrichts strafte Domme mich mit Missachtung, als wäre ich nicht da. Ich schrieb ihm etwas auf einen Zettel und warf diesen gleich wieder weg. Ich fragte mich, ob Lea es auch schon wusste, zumindest hatte sie mich nicht darauf angesprochen. Am Ende war ich so erleichtert wie nie zuvor, die Klingel zu hören, die diesen grauenhaften Tag vorerst beendete.
Zu Hause setzte ich mich gleich an die Hausaufgaben. Meine Mutter kam in mein Zimmer und fragte, ob mit mir irgendwas nicht stimmte, ob ich etwas ausgefressen hatte, ob in der Schule irgendetwas passiert war. Ich machte normalerweise Hausaufgaben immer nachmittags oder abends, aber nie sofort. Kein Wunder also, warum plötzlich alle Welt verdutzt ansah, ob mit mir etwas nicht stimmte.
Doch ich redete mich heraus, erklärte ihr, dass wir sonst immer Arger miteinander hätten, wenn ich Hausaufgaben immer auf den letzten Drücker machte und das sie lieber froh sein sollte, dass ich es diesmal anders machte. Mehr brauchte es zum Glück nicht.
Am Abend kam dann ein Anruf, der mich nicht im Geringsten überraschte. Es war Lea.
„Hattest du mit Domme heute irgendwie Zoff oder so?“, wollte sie aufgeregt wissen.
Ich war etwas überrascht. „Hat er dir nichts erzählt?“
„Würde ich dann anrufen?“
Ich wunderte mich stark darüber, dass Domme Lea nicht eingeweiht hatte in das, was passiert war. Schließlich war es eigentlich normal, dass die übrigen Mitglieder der Detektei über solche Vorgänge informiert wurden. Ich überlegte einen kurzen Moment, ob es klug wäre, Lea davon zu berichten. Es war ja wie gesagt betriebsintern und daher wurde in der Regel jeder in Kenntnis gesetzt. Und wenn Domme das dieses Mal nicht tat, dann hatte das einen Grund. Aber auf der anderen Seite würde Lea es eh erfahren. Und lieber sagte ich es ihr jetzt, anstatt dass ich mir später noch mehr Ärger einhandelte. Vielleicht hatte Domme Lea auch nichts gesagt, weil er wollte, dass ich es ihr sage.
Ich seufzte. „Gut ich sag es dir. Ja wir hatten Zoff mit einander.“
„Aha.“, hörte ich Leas etwas kratzige Stimme aus dem Hörer schallen. „Und warum? Ich meine, ihr habt doch eigentlich nie Zoff mit einander, oder?“
„Nein, wir hatten noch nie Zoff.“ Ich überlegte kurz. Domme und ich kannten uns lange und gut und bei genauer Überlegung fiel mir auf, dass wir wirklich noch nie groß Zoff hatten, was nur gut war.
Wahrscheinlich der Grund, warum mich das heute so fertig gemacht hat, dachte ich.
„Ja dann sag doch mal, was los war!“, stocherte sie.
„Ich hab… den Computer von Kowalksi gehackt. Übers Internet. Mit einem speziellen Virus.“
Eine gedehnte Pause war zu hören. Keine Rückmeldung. Ich schloss die Augen und stellte mich aufs Schlimmste ein.
„Du hast was?!“, hörte ich Leas entsetzte Stimme sagen.
„Ja, mein Gott! Ich hab seinen PC gehackt!“, erwiderte ich leicht genervt.
„Okay. Aber, aber wie… und, und warum, wieso?“ Lea konnte offensichtlich nicht glauben, was sie da hörte, doch wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, dann wären meine Fragen auch nicht minder verdattert gewesen. Doch ich war ihr eine Antwort schuldig, spätestens jetzt.
„Ich hab´s mit einem Spezialvirus gemacht, habe seinen Computer gehackt, die Daten kopiert und auf den Rechner in der Zentrale gezogen.“
„Ach so! Das würde erklären, warum Domme heute ziemlich sauer war und die ganze Zeit über am PC gesessen ist und da irgendwas gemacht hat.“
„Hat er die Dateien denn gelöscht?“
„Musst du ihn fragen. Ich hab nicht darauf geachtet, aber es hat mich auch nicht interessiert. Er war heute in der Zentrale nur stink sauer und als ich ihn fragte, was denn los sei, hat er mir nicht geantwortet, also hatte ich gehofft, du könntest mir das sagen.“
„Jetzt weist du es ja.“
Aber warum hast du das gemacht?“ Lea war immer noch fassungslos, was ich verstehen konnte.
„Ich hatte doch schon die ganze Zeit so viele Zweifel, dass Kowalksi mit dem Diebstahl des Silbermonds nichts zu tun hatte, also dachte ich mir, dass ich da mal ein bisschen… schnüffle.“
„Du weist hoffentlich, dass du dir damit eine große Menge Ärger einfährst oder?“
Ich spürte mein schlechtes Gewissen in meinem Magen, das schlechte Gewissen, das immer größer und schwerer wurde. Das schlechte Gewissen, das sich langsam in Angst verwandelte. Angst vor dem, was kommen würde. Doch ich war mir der Schwere meines Handelns bewusst, begriff, was das ganze eigentlich für eine Tragweite hatte. Und ich war bereit, die Verantwortung zu tragen und mit den Folgen zu leben, die das Ganze hier nach sich ziehen würden.
„Ja ich weis. Es tut mir auch leid, aber, aber ich wusste wohl nicht ganz, was ich da getan habe.“ Eine Entschuldigung war Standard, obwohl ich wusste, dass ich mit diesem Satz keine Gemüter besänftigen konnte. Dass sich das, was ich da getan hatte, nicht recht entschuldigen ließ.
Lea war zu Recht entsetzt wegen meines Handelns, doch ich war es genauso. Ich war von mir selbst entsetzt, erkannte mich für einen Augenblick nicht wieder.
Und wieder war da nur eine Frage in meinem Kopf:
Warum hatte ich das nur getan?

Ich war beim Reiten. Als ich die SMS bekam und mich daraufhin sofort auf den Weg machte.
„13 Uhr Besprechung in der Zentrale!“
Als ich in der Bahn fuhr, zitterten meine Finger. Ich musste mit dem Schlimmsten rechnen, doch ich wagte es nicht, zu überlegen, was genau mich in der Zentrale erwarten würde.

Domme war zwar nicht mehr ganz so wütend wie die Tage zuvor, dennoch lag deutlich Ärger in der Luft.
Lea lag wie sonst auch auf der Couch, las ein Magazin und nippte manchmal an ihrem randvoll gefüllten Becher. Domme arbeitete am PC. Alles war wie sonst auch, nur mit dem Unterschied, dass die Atmosphäre eine Andere war. Eine gespannte Atmosphäre. Ich fühlte mich unwohl und setzte mich auf den neben der Couch stehenden Sessel. Geradezu gespenstische Stille herrschte. Stille, die meine Angst nur verschlimmerte. Ich sah zur Balkontür hinaus. Auf der Brüstung saß ein Vogel, der sich neugierig umsah. Vielleicht ein Rotkehlchen? Der Vogel sah zu mir und blickte mich schief an, als wäre ich etwas, was er noch nie zuvor gesehen hätte. Ich sah den Vogel genauso neugierig an, ein ulkiger Anblick. Der Vogel hatte offenbar bemerkt, dass ich ihn beobachtet hatte und in der nächsten Sekunde hatte er sich abgewandt und war davon geflogen. Tschüss Rotkehlchen!
„Hat sich eigentlich irgendwer an meinem Kaffee bedient?“, warf Lea ihre Frage in den Raum. Ich war noch nie zuvor so froh darüber, eine Frage aus ihrem Mund gehört zu haben, denn sie brach damit zumindest für kurze Zeit die unerträgliche Stille. Ob sie das wohl mit Absicht gemacht hatte? Egal. Mir sollte es recht sein.
„Ja, ich.“, brachte ich zaghaft heraus. „Ich hab was gebraucht, was meinen Kreislauf in Schwung brachte.“
Lea nickte.
Domme sagte nichts, zeigte keine Reaktion, keine Miene.
Konzentriert blickte er auf den Monitor. Ich wusste nicht welcher Arbeit er so viel Aufmerksamkeit widmete, aber irgendwie ahnte ich, was er da machte.
Nach einer Viertelstunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, erhob er sich dann endlich.
„So Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.“, verkündete er tonlos. Lea legte ihre Zeitschrift weg.
Etwas beunruhigt sah ich ihn an. Doch er würdigte mich keines Blickes.
„Doch bevor wir zum eigentlichen Grund dieser Besprechung kommen, kommen wir zunächst erst mal zu dir, Annika.“ In seiner Stimme schwang noch deutlich Ärger mit. Er scheute sich nicht davor, mich anzusehen. Mein Herz fing an zu wummern! Was würde jetzt kommen? Am liebsten hätte ich die Augen zusammengekniffen, wäre weggerannt, hätte alles Geschehene rückgängig gemacht! Doch dazu war es jetzt zu spät!
„Du fragst dich bestimmt, was ich da am PC die ganze Zeit gemacht habe. Ich habe gelöscht. Alles, was du illegal beschafft hast.“ In seiner Stimme lag der zu erwartende Zorn, Wut, Enttäuschung, doch da war noch etwas anderes. Etwas, was sich jedoch nicht klar deuten ließ.
In meinen Ohren rauschte es, seine Stimme hallte in meinen Ohren wider. Zusammen mit dem Rauschen ergab das einen Ton, der eine irgendwie entspannende Wirkung auf mich hatte.
„Dir ist hoffentlich klar, dass das nicht ohne Folgen bleiben kann! Ich habe lange mit Lea darüber beratschlagt und wir sind zu einem Ergebnis gekommen.“
Ich wollte fragen: Zu welchem Ergebnis? Doch ich bekam den Mund nicht auf. Mein ganzer Körper fühlte sich plötzlich taub an, als wäre ich von Kopf bis Fuß gelähmt gewesen. Das Rauschen in meinen Ohren wurde derweil immer lauter, wurde immer deutlicher und für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich, ob das Rauschen vielleicht von draußen oder so kommen könnte. Doch es war eine beruhigende Illusion.
„Du wirst eine Mission durchführen.“
Urplötzlich entspannte sich mein Körper wieder, ich konnte wieder klar denken und auch das Rauschen in meinen Ohren wurde immer leiser.
„Was wäre das für eine Mission?“, ich hörte mir selbst an, dass meine Sicherheit nun wieder da zu sein schien.
„Nun, es wäre die erste Undercovermission in der Geschichte unserer Detektei.“
„Und ich soll sie ausführen?“, rief ich freudestrahlend.
„Äh, ja. Die wirst sie ausführen. Das heißt folgendes: Du wirst als „Praktikantin“ für etwa eine Woche in das Ele Dininjo eingeschleust werden?“
Ich brannte jetzt geradezu darauf, mehr zu erfahren. „Und dann?“
„Du wirst herausfinden, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl des Silbermondes und des Hotels gibt.“
„Soll das heißen, ihr geht meinem Zweifel nach?“
Domme sah mich ertappt an. „Ja wir gehen deinem Verdacht nach. Möglich ist es ja immer.“
„Und außerdem haben wir ja sowieso nichts zu verlieren“, ergänzte Lea, die bisher nur still auf der Couch gesessen war.
„Wir haben bereits alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Du wirst nächste Woche anfangen! Denkst du, du bekommst das hin?“
Ich grinste breit. „Klar doch! Aber, Sekunde. Was ist daran eine Strafe. Das ist doch super. Ich meine, dass ist doch eine super Sache! Was ist daran eine Bestrafung?“ Bitte wundert euch nicht allzu sehr über diese Reaktion, aber ich hatte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit. Ich sah nicht den Sinn dieser „Strafe“ und wollte daher schon wissen, was dahinter steckte.
Domme kicherte leise. „ Das kommt jetzt. Also. Hör zu.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Du wirst die ganze Woche um 7 Uhr morgens anfangen und abends um 18 Uhr Feierabend machen.“ Er lachte mich belustigt an.
Ich sah ihn entsetzt an. Von Neugier war jetzt keine Spur mehr da.
Domme und Lea brachte mein schockierter Blick zum Lachen. Ich starrte aus dem Fenster. „Du willst mich jetzt verarschen oder?“
Domme lachte noch mehr. „Lass mich kurz nachdenken. Nein!“
Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. „Okay?! Na dann. Wars das? Oder habe ich noch mehr zu befürchten.“
„Nein, hast du nicht.“, antwortete Lea.
„Und außerdem denken wir, dass dein übertrieben langes Wachbleiben bis spät in die Nacht und der anschließende Anblick in der Schule sowohl für dich als auch für uns Strafe genug sind.“
Ich wurde rot. „Hat man mir das so stark angesehen?“
„Um es kurz zu sagen: ja.“, erwiderte Lea, die aufstand, mit der lehren Tasse in der rechten Hand und in die Küche ging.
„Aber es gibt da noch eine Sache, die du noch erklären musst.“, sagte Domme.
„Und das wäre?“
„Du wusstest doch, wie viele Dateien du durchforsten musstest. Du hättest doch wissen müssen, dass du bei deinem Tempo Wochen gebraucht hättest. Aber warum hast du trotzdem weiter gemacht?“
Ich verstand, warum er dass offensichtlich nicht begreifen konnte, zugegeben, ich begriff es selbst nicht ganz, wie ich tatsächlich glauben konnte, dass dieser Plan funktionieren würde. „Keine Ahnung.“
Domme nickte, als würde ihm diese Antwort ausreichen.
„War unter den Dateien eigentlich dann doch noch was verwertbares?“, wollte ich wissen.
Domme schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe auch nicht durchforstet, weil mich zu Dateien nicht interessierten.“
„Hast die Daten gelöscht?“ Domme nickte.


Und jetzt war ich da. Endlich waren es nur noch 4 Tische, die wir bearbeiten mussten. Wir redeten untereinander nicht viel, jeder konzentrierte sich auf seine Arbeit. Doch ich brauchte irgendeine Abwechslung, irgendetwas, womit ich die Berge von Zeit, die an uns vorbei schwebten, überbrücken und so gegen die Langweile ankämpfen konnte. Ich sah aus dem Fenster und blickte abermals auf den großen Vorhof. Es war ein wunderschöner und liebevoll gemachter Vorhof. Vor der Tür war ein kreisrunder Kiesplatz, in dessen Mitte ein großer Obelisk aus Marmor stand. Dieser stand wiederum auf einem kleinen Sockel. Ringherum war das Becken mit Wasser gefüllt. Zypressen und andere Pflanzen und Jugendstillaternen fanden auf der Einfahrt ihren Platz. Zum Teil war der ganze Platz inklusive Auffahrt wie eine Märchen- und Modernewelt zugleich gestaltet. Dort stiegen sie ab. Dort fuhren all die Nobelkarossen vor. Die Mädchen hatten mir gesagt, dass montags und freitags in der Regel der Verkehr hier am Größten war, dass man sich dann vor Arbeit nicht mehr retten konnte. In den Ferien war das wieder anders. Dann musste der Betrieb sich auf alles Mögliche einstellen. Das Ele Dininjo war schließlich ein 4 Sterne Luxushotel, das weltweit anerkannt war. Da kamen dann auch logischerweise die hohen Gäste.
Doch an diesem Tag, so sagten sie, war überraschend wenig los. Nur hin und wieder fuhr ein Rolls Royce oder ein anderer Wagen vor. Der der letzte war vor über zwei Stunden weg.
Mittlerweile wurde die Arbeit richtig langweilig. Das Metermaß, welches wir zum Ausrichten der Bestecke benötigten, hielt ich lose in der linken Hand.
Doch die Arbeit wurde dadurch nicht schneller, sondern mehr schleppend. Wenn der Sinn dieses Undercover- Einsatzes etwa der sein sollte, dass ich eine Woche eine so simple Arbeit vollrichtete, dann war diese Zeit ja wohl komplett für die Katz, dachte ich.
Als wir dann beim vorletzten Tisch angekommen waren, hatte sich der Himmel verdunkelt und erste Regentropfen klatschten auf das frisch geputzte Glas.
Den Wagen, der wenige Minuten später auf dem Platz vorfuhr bemerkten wir erst, als das leise, aber deutlich hörbare Quietschen auf dem Vorplatz vernahmen. Plötzlich schauten nicht nur wir, sondern auch Frau Nörgel interessiert auf die Ankunft der Neuankömmlinge.
Eilig stieg der Schofför aus dem pechschwarzen, edlen Gefährt, öffnete die hintere Tür und ein glatzköpfiger, alter Mann stieg aus. Doch er war nicht allein. Wir staunten nicht schlecht, als auf der anderen Seite der Schofför die Tür öffnete und eine junge, braunhaarige, dünne, chic angezogene Frau stieg. Sie wartete auf ihren Begleiter, während ihr ein Angestellter des Hotels den Schutz eines Regenschirms anbot. Wie alt mochte sie wohl sein? 20? Oder jünger. Nein. Nach ihren weichen Gesichtszügen zu urteilen, war sie vielleicht Ende 20, so schätzte ich. Sie sah sich noch einmal um, wohl um sicher zu gehen, dass sie auch nichts vergessen hatte. Unsere Blicke trafen sich! Doch sofort wechselte das Bild wieder. Der alte Mann redete kurz etwas mit ihr, dann verschwanden die beiden im Hotel. Wir sahen dem ganzen Geschehen zu, als gäbe es nichts Aufregenderes auf der Welt, als einem alten Opa und einer jungen Frau bei der Ankunft in ein Hotel zuzusehen. Ich kam mir plötzlich lächerlich vor, bemerkte meinen gaffenden Blick und wurde rot. Hatten diese Leute da gerade meinen gaffenden Blick bemerkt? Wenn ja, dann war es sicherlich kein Wunder, warum die beiden es so eilig hatten, im Hotel zu verschwinden! Wie peinlich! Ich wollte schon gar nicht mehr wissen, ob es auch wirklich so war, mir reichte mein Verhalten, um vor Charme im Erdboden versinken zu wollen! Ich arbeitete zügiger, um diesen schrecklichen Gedanken loszuwerden!
Ich atmete erleichtert durch, als ich die letzte Servierte des Tisches aufstellte. Endlich war ich fertig! Zufrieden ließ ich meinen Blick über den Tisch schweifen.
Die anderen waren auch fast fertig, waren nur noch mit ihren Servierten beschäftigt. Ich ging zum anderen Ende des Saals, um mich bei Frau Nörgel zu melden. Diese war in ihre Unterlagen vertieft und blickte über den Rand ihrer eckigen Lesebrille.
„Was ist?“ Offenbar erwartete sie irgendeine Frage von mir.
„Ich bin fertig.“, erwiderte ich.
„Was? Nein. Sieh noch mal nach, ob du auch alles richtig gemacht hast!“
Frau Nörgel wandte sich wieder ihren Unterlagen zu, doch ich ging nicht weg.
„Ist sonst noch was?“, fragte sie, in ihre Unterlagen vertieft und ohne mich anzusehen.
„Ich bin fertig.“, sagte ich ein zweites Mal.„Ich bin fertig.“, sagte ich ein zweites Mal. Frau Nörgel musterte mich abschätzend. Dann legte sie ihren Papierstapel zur Seite und lief zügig an mir vorbei, um die von mir bereit gestellten Tische zu begutachten. Ich sah ihr dabei zu, wie so minuziös, beinahe kleinlich alles überprüfte. Sie nahm ihr Lineal, maß etwas nach und steckte es wieder ein. Sie schien die gaffenden, erstaunten Blicke der anderen Mädchen nicht zu bemerken. Ich ignorierte sie einfach. Nur hin und wieder warf ich aus den Augenwickeln verstohlene Blicke zu den Mädchen. Sie waren sichtlich erstaunt, dass ich schon so früh fertig war. Doch gleichzeitig las ich in ihrer Miene und ihrem Gesichtsausdruck stilles Entsetzen, zwei von ihnen korrigierten immer wieder Einiges, woraus ich schloss, dass sie nicht so gründlich gearbeitet hatten.
Als Frau Nörgel mit ihrer Kontrolle fertig war, klopfte sie mir lobend auf die Schultern. „Sehr gut Annika! Sie verzog ihren steif wirkenden Mund zu einem Lächeln. Auch wenn ich wusste, dass es ernst gemeint war, sah es etwas unecht aus. Anscheinend tat sie das nicht oft. Dennoch war dieses Lächeln etwas, was an diesem trägen, trüben Tag gut tat.

Ich schlenderte gemütlich den langen Gang entlang, vorbei an Konferenzzimmern und anderen Büros, die sich in diesem Stockwerk befanden. Ich mochte diesen 3.Stock. Die Wände waren mit hübschen Mustern und Tieren bestickt. Die Luft war nicht wie im übrigen Gebäude etwas verbraucht, sondern frisch. Im dritten Stock gab es keine Holzdielen wie überall, sondern spiegelglatten Marmorboden, der- zusammen mit den samtweichen Wänden und den goldlackierten Ranken verzierten Lampen, die warmes, helles Licht in den raum warfen, das Bild perfekt abrundete. Ich stieß die Tür zum Gemeinschaftsraum auf. Zu meiner Überraschung war aber niemand hier. Merkwürdig. Dabei hatte ich doch gerade die Mädchen hierher verschwinden sehen!
Durch die große Balkontür fiel helles Sonnenlicht ins Zimmer. Ich sah mich um. Auf der braunen Ledercouch, die die ganze Wand links von mir einnahm, war leer. Rechts von mir war ein langer Tisch, der sich wie die Couch vom einen Ende des großen Raums zum anderen erstreckte. Auf diesem standen einige Monitore, die an unter dem Tisch stehende Computer angeschlossen waren, doch sie blieben dunkel. Auch die Kaffeemaschine, die rechts neben der Balkontür auf einem kleinen Holztisch stand, war unangetastet. Kein Geräusch war zu hören. Nur das leise Tick-Tack der Wanduhr. Hatte ich mich geirrt? Waren sie vielleicht ein Zimmer weiter? Nein. Das nächste Zimmer war ein Lagerraum und was sollten sie da schon wollen? Ich steckte meinen Kopf aus dem Türrahmen, blickte auf den Gang. Doch nichts war zu sehen oder zu hören. Ich wollte gerade gehen, als ich plötzlich ein leises Lachen hörte. Woher kam das? Ich horchte. Da war es wieder! Es war kaum zu hören. Doch laut genug, um ausmachen zu können, woher es kam. Ich blieb vor einer Wand stehen. Es war die kleine Lücke zwischen Couch und Kaffeetisch. Wieder hörte ich es. Es kam ohne Zweifel aus der Wand. Ich tastete die Wand ab, schließlich konnten Geräusche wie lautes Lachen doch nicht aus einer Wand kommen! Mit diesem Zimmer war dieser Teil des Hauses zu Ende, zumindest sah es so aus.
War es also vielleicht eine…
Auf Hüfthöhe entdeckte ich ein angeschnittenes Stück Tapete und als ich es hochklappte, kam eine Türklicke im Innern der Wand zum Vorschein. Es war also eine Geheimtür! Wie aufregend!
Schon als Kind habe ich spannende Detektivgeschichten wie „Die drei ???“ oder andere Geschichten leidenschaftlich gerne gelesen. Geheimtüren, die düstere Keller, Gänge, Gewölbe oder sonstige Räume verbargen. Ich war von solchen Geheimnissen hellauf begeistert, sie fesselten, faszinierten mich!
Ich stellte mir vor, dass ich eines Tages eine solche Tür fände. In einem alten, verlassenen Haus. Knarrende Holzböden, Spinnweben ohne Ende, dicke Schichten von Staub und Schmutz. Eine alte morsche Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Oben war es dunkel. Spärliches Licht fiel durch die kaputten Fensterladen. Es raschelte! Etwas kleines Dunkles huschte an mir vorbei. Ich schrie! Nur eine Maus, die wieder in der Dunkelheit verschwand!
Bei jedem meiner Schritte knisterte es unter meinen Füßen. Glas splitterte, morsches Holz und anderes knackte. Doch hier oben gab es Nichts zu sehen. Ich legte einen Zahn zu, als die Holzdielen unter meinen Füßen bedrohlich laut knackten und ich hatte Angst, sie könnten durchbrechen!
Im Erdgeschoss öffnete ich die morsche Holztür, durch die es zum Keller ging. In der Dunkelheit war sie kaum noch zu erkennen, nur der Messingknopf erinnerte an sie. Vorsichtig öffnete ich sie. Sie knarrte laut. Ich knipste meine Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über die feuchten Wände wandern. In jeder Ecke dicke Spinnweben, durch die fette Tiere staksten. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die Treppe, wich erschrocken zurück, als es laut knackte! Ich schluckte, atmete tief durch, während sich dicke Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten! Ich zwang meine zitternden Beine erneut die Treppe zu versuchen. Ich zitterte am ganzen Körper, während ich langsam die Treppe hinabstieg, hörte ich mit besorgter Miene das ächzende, knackende Holz! Unten angekommen war ich Schweiß gebadet, als hätte ich gerade einen 1000 Meter Lauf gemacht und ich zitterte immer noch am ganzen Leib! Ich leuchtete mit der Taschenlampe umher, in der Dunkelheit jedoch fest auf jede Bewegung, auf jedes Geräusch fixiert. Doch zwischen Fässern, Spinnweben, alten Möbeln und anderem Gerümpel, das hier nutzlos herum stand, gab es nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Doch!
Der Lichtkegel schoss blitzartig zurück auf etwas, das meine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Es war eine Wand, die im Gegensatz zu den anderen vollkommen rein war. Keine Spinnweben in den Ecken, kein Schimmel, keine Feuchtigkeit. Als wäre sie erst vor Kurzem eingelassen worden. Langsam ging ich auf sie zu. In der Mitte war eine Grimasse eingegossen. Die Augen und Mund weit aufgerissen. Eine entsetzt dreinblickendes Gesicht. Ich versuchte, ob etwas davon beweglich war. Die Augen waren es tatsächlich! Mit zittrigen Fingern versuchte ich sie zu bewegen. Ich drehte sie um die eigene Achse. Es klickte! Ich wich zurück, als die Wand zur Seite glitt. Aus der Dunkelheit stieß mir ein fauliger Geruch entgegen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in das dunkle Loch, doch ich konnte Nichts erkennen. Langsam, ganz langsam ging ich vorwärts in die Dunkelheit. Ich zitterte, mein Puls raste! Ich hatte das Gefühl, mein wummerndes Herz würde noch oben im Erdgeschoss zu hören sein! Meine schweißnassen Hände tasteten sich im Dunkel langsam voran. Und dann wanderte der Lichtkegel an die Decke. Ich erkannte einen langen dunklen Schatten, der auch direkt über mir war. Ich versuchte über das Licht einen Blick zu erhaschen. Plötzlich schien sich der Schatten an einigen Stellen zu bewegen, bis er sich plötzlich überall bewegte! Und dann löste er sich von der Decke und kam mit einem ohrenbetäubenden Geschrei direkt auf mich zu, dass mir das Blut in den Adern gefrieren ließ und mit unzähligen, weit aufgerissenen Augen!
Ich geriet in Panik, wollte wegrennen, doch stolperte, fiel zu Boden! Die Taschenlampe fiel mir aus der Hand, rollte einige Meter weiter, das Licht erlosch! Der riesige Schatten, war mir schon ganz nah, ich begann zu schreien und hielt mir schützend die Hände vor das Gesicht, als mich die monsterhafte Gestalt übermannte!

Zögerlich drückte ich die Klinke hinunter, doch nichts passierte. Die Tür schien zu klemmen! Ich rüttelte an der Tür. Das Gelächter von draußen hörte augenblicklich auf. Ich rammte meinen Ellbogen gegen die Tür und sie gab etwas nach. Abermals drückte ich mich gegen die Tür, bis sie aufsprang. Zwei kreidebleiche und ein feuerrot angelaufenes Mädchen sahen mich ertappt und entsetzt an, als wäre ich ein Polizist, der das Trio beim Diebstahl erwischt hätte. Ich blickte verdutzt zurück. Als sie mich erkannten, stöhnten sie erleichtert auf und strichen sich mit der Hand über die Stirn. „Man, hast du uns einen Schrecken eingejagt!“, fuhr mich das blonde Mädchen an, das mir sehr ähnlich sah. Ihren Namen hatte ich inzwischen vergessen. Ich hatte all ihre Namen vergessen. Die anderen warfen mir böse Blicke zu. Ich stand nur unbeholfen da, auf der Türschwelle und wusste immer noch nicht, was eigentlich los war! „Wen hattet ihr denn erwartet?“, wollte ich wissen.
Das Mädchen seufzte. „Die Nörgel! Wen denn sonst?!“, fauchte sie. Im Blumenkübel neben ihr entdeckte ich einen kleinen Zigarettenstummel, der dort notdürftig zerquetscht war. Ich entdeckte noch mehr davon. Alle frisch. Ich hatte sie also tatsächlich bei etwas erwischt. Doch ich schmunzelte nur, zog es vor, lieber nicht weiter zu fragen. Ich blickte mich um. Ich war auf einer kleinen Dachterrasse, die wie ein kleines Tal in Mitten des Dachgebirges des wirkte.
Ich brannte geradezu darauf, mehr über die Tür und ihren Zweck zu erfahren! Auch wenn ich wusste, dass es da kein Geheimnis oder sonst etwas gab.
„Ist das hier so was wie ein geheimer Ort, von dem keiner etwas weis?“
Die drei zündeten sich Zigaretten an. Das blonde Mädchen sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Nein! Wie kommst du denn auf so was?“, erwiderte sie, währen sie den Qualm in langen Zügen aus ihrem Mund blies.
„Ich dachte nur so…“ Ich ein wenig enttäuscht, fast traurig, dass mein alter Kindheitstraum wieder nicht in Erfüllung ging. Doch weder die Blondine noch die anderen stellten weitere Fragen, sondern rauchten genüsslich weiter.
„Willst du auch eine?“ Die Blonde bot mir eine Zigarette an und lächelte freundlich. Doch ich schüttelte den Kopf. „Auch gut. Ist halt nicht jedermanns Sache.“
Ich wandte mich von den Mädchen ab, aus deren Nasen und Mündern Qualm kam. Es sah aus wie bei einem Drachen. Sie schenkten mir keinerlei Beachtung. Mir war das nur recht. Ich blickte missmutig in den Himmel. Der Regen vor einer halben Stunde war stark, aber nur von kurzer Dauer. Innerhalb kürzester Zeit strahlte dann wieder die Sonne. Über Mannheim war ein wunderschöner Regenbogen zu sehen, der sich kilometerweit ins Nirgendwo erstreckte. Jetzt schien der Zyklus umgekehrt zu verlaufen. Noch schien die Sonne, doch der Himmel verfinsterte sich schnell, die dunklen Wolken, die bereits aufzogen, kündigten das nächste Unwetter an. Es sah wie zuvor auch nach Regen aus. Doch sie brachten noch etwas anderes mit, diese Wolken. Vielleicht Hagel oder Gewitter? Oder vielleicht etwas ganz anderes? Es war windig hier oben. Ich zog mir die Jacke fester, obwohl es nicht kalt war.
Die nächsten 30 Minuten Pause vergingen wie im Flug. Wir verließen die Dachterrasse und den Gemeinschaftsraum. Die Namen der drei Mädchen wollten mir noch immer nicht einfallen, doch so lange ich sie nicht brauchte, kümmerte mich das überhaupt nicht. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo wir hin mussten, also folgte ich den Mädchen.
Wir trafen Frau Nörgel in der Lobby, wo sie gerade einige Mitarbeiter herum kommandierte und durch das Haus scheuchte. Sie war wieder in ihrem Element und tat gestresst, doch ich wusste sofort, dass ihr Verhalten nur gespielt war, um sich wichtig zu machen. Leider schien das auch zu funktionieren, so sah es zumindest aus. Ich konnte es nicht leiden, wenn sich andere als Wichtigtuer aufspielten! Doch ich unterdrückte das Bedürfnis zu fragen, wieso sie sich so aufblies und warum sich alle ihre Nörgeleien gefallen ließen. Doch so wie ich sie einschätzte, würde sie sofort auf Konfrontationskurs gehen, würde mich zurechtweisen was mir einfiel, ihre Autorität in Frage zu stellen! Vorerst behielt ich es für mich. Aber nur vorerst.
Doch ich war nicht die Einzige, die Frau Nörgels wichtigtuerische Art nervte, das beruhigte mein Gemüt.
Die Frau schien ordentlich verpeilt zu sein. 5 Minuten standen wir direkt vor ihr, ohne dass sie uns zunächst bemerkte. Sie war in ihre Unterlagen vertieft, was sie praktisch immer war. Ich fragte mich, was es da so viel zu arbeiten gab, denn der Papierstapel, den sie sich auf ihr Board geklemmt hatte, war sehr klein, mehr als 4 Blätter konnten das nicht sein und einige Blicke reichten um zu wissen, dass auch nicht viel darin auszufüllen war, dennoch hatte Frau Nörgel damit die letzten 7 Stunden verbracht. Ununterbrochen. Ich schätzte auch das als wichtigtuerisches Verhalten ein. Als sie sich umdrehte und uns vor ihr stehen sah, fuhr sie erschrocken zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus! Hotelangestellte und Gäste blickten sich um. Frau Nörgel wurde rot, obwohl schon wieder alles vorbei war. Sie blickte uns aus böse funkelnden Augen an. „Müsst ihr mich so erschrecken?!“, fuhr sie uns wütend an. Ohne ein weiteres Wort ging sie an uns vorbei. Sie machte uns verantwortlich, denn wir hatten sie erschreckt und als hysterisch dargestellt, was sie doch irgendwie auch war. Aber was konnten wir dafür?
Sie blieb einige Meter weiter stehen und drehte sich zu uns um, die unvermittelt dastanden. „Braucht ihr eine Extraeinladung oder kommt ihr heute noch?“, klang ihre forsche Stimme in meinen Ohren.
Zwei Minuten später folgten wir ihren zügigen Schritten erneut quer durch das Haus. Das was mich an diesem Haus nach wie vor verblüffte und in Staunen versetzte war, dass das Hotel innen wirklich größer und komplexer war, als es von außen aussah. Ich weis, ich weis! Das habe ich schon so oft betont, aber es war wirklich so. Ein Gebäude, das für einen „Newcomer“ für einige Überraschungen sorgte. Frau Nörgel öffnete die große, schwer aussehende hölzerne Flügeltür, eines der Mädchen schloss sie hinter uns. Wir liefen jetzt durch den „Kreuzgang“. Eine steinerne Veranda, die wohl für alle Hotelgäste ein riesiger Balkon war. Links und rechts 50 Meter weiter machte der Gang einen Knick, es ging dann auf beiden Seiten noch etwa 100 Meter weiter, bevor der Gang endete. In jedem der 5 Etagen befand war ein solcher Gang. Das Hotel sah also von oben wie ein dickes fettes „U“ aus. Dänge in allen Etagen waren zur Innenseite des „U“ offen. Es gab keine Fenster.
Eine schwache Brise schwüler Nachmittagsluft streifte sanft meine Haut.
Bis auf uns war niemand zu sehen. Ich versuchte einen Blick nach unten zu erhaschen. Von dort drangen die Geräusche von fröhlichem Treiben zu uns. Ich traute meinen Augen nicht! Dort unten war ein großer Park. Verstreut saßen oder lagen Menschen, die sich auf der breiten Grünfläche sonnten, Musik hörten, oder sich anderweitig beschäftigten. Andere hatten sich auf der Wiese und den zahlreichen Bänken bequem gemacht, lasen Zeitung, Bücher, oder arbeiteten. Sogar ein kleiner Minigolfplatz war an den Park angeschlossen.
Hinter dem Park kam -durch eine hohe Mauer und ein darüber gespanntes netz abgetrennt- ein Volleyballfeld, ein Badmintonfeld, ein Basketballfeld und ein Bolzplatz waren dahinter. Auch an einen großen Spielplatz hatte man gedacht. Sogar ein Whirlpool war wie eine kleine Insel mit großen Palmen außen rum inmitten eines inmitten eines großen Schwimmbeckens gehalten. Der Außenbereich war mit Palmen und Strandgut einem Strand nachempfunden. Eine idyllische Atmosphäre. Liegestühle durften da natürlich nicht fehlen. In den kleinen Bars und Kaffees entlang der malerischen Promenade, entlang des Kreuzgangs im Erdgeschoss tummelte sich das Leben und die Masse ergötzte sich an riesigen Eisbechern und kalten Drinks. Ein verlockendes Gefühl. Doch ich war nicht zu meinem Vergnügen hier, sondern um zu arbeiten, genauer gesagt, um zu spionieren.
Wie drei Küken ihrer Mutter folgten, folgten wir Frau Nörgel bis ins Dachgeschoss über uns. „Verwaltung“ stand auf der eisernen Tür geschrieben. Die Tür sah aus, als würde sie für den Raum dahinter höchste Sicherheit gewährleisten, als wäre der zu bewachende raum ein Securityroom. Das Tastenfeld, auf dem Frau Nörgel eine Kombination eintippte, passte perfekt ins Bild.
Wie zu erwarten war, war die Verwaltung lediglich ein riesiger Raum, der sich über den ganzen Dachboden erstreckte. Etliche Leute in feinen Anzügen saßen in den Konferenzräumen oder an Computern. Ich verstand nicht, warum dieser Raum so viel Schutz bekam, obwohl es hier auf den ersten und zweiten Blick nichts gab, wofür es sich lohnen könnte, hier einen Einbruch zu begehen. Nicht einmal die Computer sahen besonders wertvoll aus. In der Mitte dieser Etage verlief ein breiter Gang, der von der eisernen Tür bis ans andere Ende der Etage verlief. Soweit ich erkennen konnte, war am anderen Ende ebenfalls eine Tür. Ich lief geradeaus und war umso verwirrter, als Frau Nörgel plötzlich einen Seitenweg einschlug. Jetzt zwängten wir vier uns durch ein dichtes Labyrinth aus Schreibtischen, Stühlen, Möbeln und Konferenzräumen. Wieso nahmen wir nicht einfach den schnelleren Weg?
Frau Nörgel führte uns, zeigte und erklärte underzählte. Doch ich hörte nicht zu, nickte nur und sagte ja, wenn es erwartet wurde. Ich war mit meinen Gedanken woanders. Ich war bei Tom. Ich dachte an ihn. Ich wollte seine sanfte Stimme in meinen Ohren hören, wollte seine zarte haut berühren, ihm in seine leuchtenden braunen Augen sehen und seine weichen Lippen spüren. Wo war er jetzt wohl? Was machte er? Wie ging es ihm? Zu gerne wäre ich jetzt bei ihm. Weg von diesem Hotel, weg von dieser Mission, weg von diesem Fall! An einen Ort, weit weit weg von Nörgeleien, Verbrechen, Fälle, Ärger! An einen Ort, an dem wir gemeinsam den Rest unseres Lebens verbringen würden. Ein Wunsch, ein verlangen, dass- zumindest jetzt- noch zu schön war, um wahr werden zu können.
Wir sahen Frau Nörgel, wie sie energisch mit zwei Männern redete. Ich konnte die leisen Worte nicht verstehen. Die Männer aus wie Zwillinge, einer glich dem anderen. Die beiden Männer blickten zu Frau Nörgel hinunter, die ihnen gerade bis zur Brust reichte. Wie ein befehlshaberischer Zwerg, der den wesentlich stärker aussehenden Riesen sagte, was sie zu tun hatten. Ein Anblick, bei dem ich schmunzeln musste. Für die Mädels war das wohl nichts Neues. Stumm und regungslos standen sie da wie Ölgötzen. Klare Sache, sie warteten auf Anweisungen.
Ich wartete eine Reaktion ab, aber auf was genau? Der eine Mann fuhr sich mit der Hand durchs braune Haar, während der andere nervöse Blicke in alle Richtungen warf.
Frau Nörgel kam zu uns zurück und die Mädchen lösten sich aus ihrer Starre. „ Mädels? Die Herren, mit denen ich gerade gesprochen habe, sind für die nächsten zwei Stunden eure Betreuer! Ihr werdet tun, was sie euch sagen! Okay?“, an ihrer befehlshaberischen Stimme hatte sich nichts verändert. Ihr strenger Ton wirkte bissig, als wäre unsere Aufgabe mehr eine Strafe. Doch nach dem was die Mädels mir gesagt hatten, war ein solcher Auftritt notwendig, um „ihre Autorität aufrecht zu erhalten“. Aus meiner Sicht unnötige Wichtigtuerei. Frau Nörgel ging an uns vorbei und verließ das Büro.
Die Arbeit, die wir als nächstes hatten, war ebenso langweilig wie sinnlos. Die erste halbe Stunde verbrachten wir damit, den beiden Männern beim Auswerten von Statistiken zuzusehen. Es waren Umsatzzahlen von Restaurants und Bars des Hotels. Während der eine Mann, Herr Kahlin sich still auf seine Arbeit konzentrierte, erklärte uns Herr Förb in aller Ruhe und ganz im Gegensatz zu Frau Nörgel uns das Ganze nicht mit Desinteresse. Nebenbei erklärte er uns seinen Beruf und was das mit der jetzigen Tätigkeit zu tun hatte. Er und sein Kollege waren für das Marketing von „Unterhaltungsangeboten“ zuständig. Im Klartext:
Die beiden werteten die Umsatzstatistiken der zahlreichen Bars, des Hotelrestaurants, des Schwimmbad und der sonstigen Angeboten aus. Falls die Geschäfte nicht gut liefen, suchten sie nach den Ursachen und trugen entsprechende Berichte zur Geschäftsleitung.
Ein eigentlich interessanter Beruf, in dem man weiter denken musste und in dem zudem Kreativität gefragt war. Dennoch kam er für mich vorerst nicht in Frage, denn Statistiken hatten mit Mathe zu tun und Mathe war ein Fach, mit dem ich mich noch nie anfreunden konnte. Auch wenn meine Noten darin eigentlich immer recht passabel waren.
Als wir dann selbst eine solche Statistik auswerten, was das blonde Mädchen uns abnahm, musste ich feststellen, dass diese Tätigkeit nicht annähernd so interessant war, wie ich dachte. Das blonde Mädchen dagegen schien ein Genie in Mathe zu sein, da sie uns praktisch die ganze Arbeit abnahm und sie in kürzester Zeit ausführte. Ich hatte eigentlich großes Erstaunen erwartet, immerhin hatten „wir“ fünf Statistiken in nur drei Minuten ausgewertet. Die Männer aber schienen schon größere Überraschungen erlebt zu haben, mehr als ein Lob ernteten wir nicht.
„Und jetzt?“, fragte das blonde Mädchen. Offen bar hatte sie Blut geleckt, wollte mehr! Herr Förb registrierte das sofort und lächelte gutmütig. „Tut mir leid, aber unsere Zeit ist abgelaufen. Wir müssen auf Frau Nörgel warten. Die müsste gleich kommen.“ In diesem Moment stand Enttäuschung im Gesicht des Mädchens geschrieben.
Wir warteten. 5 Minuten. Nach zehn Minuten wurden die Männer ungeduldig, unruhig. Herr Kahlin sah immer wieder auf seine Uhr, nuschelte etwas davon, dass es sehr ungewöhnlich war, dass sie sich verspätete. Unruhig trommelten die beiden im Takt mit den langen Fingern auf der Schreibtischplatte.
Nach 20 Minuten wurden die Männer allmählich ungehalten und begannen leise zu schimpfen, wieso man sie so lange warten ließ und uns ging es da auch nicht anders!
Weitere 10 Minuten verstrichen.
Jetzt warteten wir schon seit gut 30 Minuten und länger wollte niemand von uns warten!
„Alter ne! Da prangert dich diese Nörgeliese bei der kleinsten Verspätung an und selbst kommt die ne halbe Stunde zu spät!“, beschwerte sich das Mädchen, das neben dem Blonden saß und die beim Arbeitsgeschehen bisher eher schweigend teilnahm. Die glänzenden pechschwarzen Haare fielen in ihr hübsches Gesicht. Ihre zornig blickenden blauen Augen waren auf das ständige tick tack der Wanduhr über uns fixiert. Ich konnte mich ihr nur anschließen. Den Männern reichte es! Sie berieten sich kurz. Ich konnte nicht viel verstehen, nur dass sie doch irgendetwas tun mussten, anstatt auf Frau Nörgel zu warten.
„Ok Leute. Alle mal herschauen!“
Wir sahen sie gelangweilt an.
„Was habt ihr denn bis jetzt so alles gemacht?“
Ich kam dem blonden Mädchen mit der Antwort zuvor. „Bis jetzt nur Tische gedeckt und Statistiken ausgewertet.“
Der Mann nickte. „Seit wann seit ihr denn schon hier?“, fragte der stillere von beiden. Er hatte eine weiche Stimme, eine Stimme, der man gerne zuhörte und ich fragte mich, warum er sie so selten zum Ausdruck brachte.
„Wir seit einer Woche.“, antwortete die Blonde.
„Und du?
„Seit heute.“
„Und mehr habt ihr heute nicht gemacht?“, er machte ein ungläubiges Gesicht.
„Ja.“
Jetzt war eine Spur Ärgernis in seinen Augen. „Gut. Dann werden wir euch jetzt mal ein wenig herum führen.“
Ich überlegte kurz, ob ich Einwände dagegen erheben sollte oder den anderen folgen sollte, die gerade dabei waren, den Raum zu verlassen.
„Annika! Kommst du jetzt?“

Und ich kam mit. Schließlich wollte ich wissen, was das Hotel noch so alles zu bieten hatte.
Herr Förb und sein Kollege führte uns die Etage entlang und erklärte uns alles „was wir wissen müssen“. Normalerweise war ich nicht der Typ, der einfach nur zuhörte, wenn jemand etwas erzählte oder erklärte, wenn sich dies eine längere Zeit hinzog. Doch es war Herrn Förb ein Leichtes, mich nach kurzer in seinen Bann zu ziehen. Schon nach wenigen Minuten hing ich regelrecht an seinen Lippen, ohne zu wissen warum. Oh doch. Ich wusste warum. Er war einfach ganz anders als Frau Nörgel. Freundlich und offen. Er blickte einen nicht gleich dumm an, wenn man eine Frage stellte. Und er nörgelte nicht an jedem Fehler. Frau Nörgel vergaß ich mit der Zeit. Ich fing an, mich an die Männer als Betreuer zu gewöhnen. Ich wusste, wenn ich mich zwischen Nörgel und den Männern hätte entscheiden müssen, hatte ich mich für die Männer entschlossen. Und das ging nicht nur mir so.
Bei der Gelegenheit wurden wir nachträglich durch das ganze Hotel geführt. Dabei wurden wir auch in Räume geführt, in denen nicht einmal die Mädchen vorher gewesen waren. Sogar im riesigen Weinkeller, in dem fast 4000 Weinsorten gelagert wurden, versorgten uns die Männer mit Know- How. Wir durften sogar Wein trinken, was für Praktikanten eigentlich generell untersagt war. Nebenbei erzählte uns Förbs Kollege, woran man einen guten Wein erkennen konnte. Doch dabei beließen wir es nicht. Wir wurden durch Bars und Restaurants geführt. Mit der Zeit geriet alles in Vergessenheit, auch dass wir jetzt schon seit nunmehr 3 Stunden unterwegs waren. Niemand dachte mehr an Frau Nörgel. Die beiden Männer waren viel besser als sie. Die Mädchen hingen regelrecht an Förbs Lippen und die hörten sonst nie richtig zu, wenn ein anderer etwas erklärte, die meistens nur Desinteresse zeigten. Es waren sehr gute, aber leider kurze Stunden, doch es waren die lehrreichsten drei Stunden, seit meinem Praktikumsbeginn heute Morgen.
Doch das wir Frau Nörgel vergaßen, änderte leider nichts daran, dass Frau Nörgel schäumend vor Wut durch das Hotel stampfte. Sie suchte uns. Und leider fand se uns. Wir waren in ein Gespräch mit dem Barkeeper vertieft, als wir ihre laute, hysterische Stimme hörten und sich alle zu ihr umwandten.
„Dachte ich mir doch, dass ich euch hier finde!“
Wir sahen erschrocken, wie sie direkt auf uns zukam. Ihr Erscheinen hatte nichts Gutes zu bedeuten. Dass sie direkt vor uns stand, bemerkte ich erst, als sie die beiden Männer anmotzte. „Was fällt euch eigentlich ein, die Mädchen quer durch das Hotel zu schleppen? Ohne meine Erlaubnis! Wieso habt ihr nicht gewartet?“ Sie warf dem Barkeeper einen giftigen Blick zu, der alles mitbekommen hatte. Wenn ihre giftigen Blicke töten könnten, hätte sie wahrscheinlich schon zahlreiche Amokläufe begannen.
„Wir haben auf dich gewartet Christel, aber du hast uns eine halbe Stunde warten lassen. Und dann haben wir sie halt durchs Hotel geführt.“, erwiderte Förb zornig, seine Stimme zitterte leicht, als stünde er kurz davor die Fassung zu verlieren.
„Na und?!“, Frau Nörgel lächelte spöttisch. „Ist es denn verboten, wenn man einmal zu spät kommt?“
Ich sah das schwarzhaarige Mädchen hinter mir aus den Augenwickeln die Hände zu Fäusten ballen. Sie war die Einzige, die Regung zeigte. Nörgels wütender Auftritt schien Wirkung zu zeigen, leider. Dann blickte sie uns mit ihren giftgrünen Augen an. So wie sie uns anschaute, wirkte sie wie eine Kobra, die ihre gefangene Beute beobachtete. Ich versuchte mir sie als Giftschlange vorzustellen. Was ausgesprochen leicht war.
Doch niemand sagte etwas. Auch ich nicht. Sogar das blonde Mädchen, das sich sonst nie vor Meinungsäußerung scheute, schwieg.
„In Ordnung Mädels! Morgen um die gleiche Zeit am gleichen Ort. Ihr habt Feierabend!“


„Alter, du trinkst ja auch ganz schön was weg!“ Ich drehte mich kurz um. Das schwarzhaarige Mädchen hinter mir sah mich erstaunt an.
„Was ist denn daran so atemberaubend?“, fragte ich.
„Nunja. Der Kaffee hier ist sehr stark und das ist jetzt schon deine vierte Tasse! Wie kannst du soviel davon trinken? Ich meine, wenn Marie von dem Zeug auch nur eine Tasse trinkt, dreht sie ja schon am Rad. Und glaub mir, wenn sie dann richtig heavy drauf ist, dann ist ein mit Testosteron gespritzter Radler nichts gegen sie!“
Ich lachte und beinahe wäre mir der Kaffee aus dem Mund geschwappt.
„Und was mit Nörgel passiert, dass willst du gar nicht wissen.“
„Ist sie dann freundlich oder was?“
Das Mädchen lachte ironisch. „Oh nein. Wenn es das wäre würden wir darauf achten, dass sie das Zeug 24 Stunden intus hat. Nein. Dann wird sie richtig unerträglich. Und ein Tipp: Versuch nicht, dir das vorzustellen. Denn es ist echt grauenvoll!“
„Aber wieso trinkst du dieses Zeug so sehr?“
„Ich bin hundemüde. Deshalb trink ich hier Kaffee.“
„Hast du bei dir keinen Kaffee?“
„Doch. Aber das Zeug, das meine Mutter kauft ist ein reiner Weichspüler. Das Zeug macht nicht wach, sondern eher noch müder.“
„Scheinst aber trotzdem ziemlich abgehärtet.“, stellte das Mädchen fest.
„Jaja. Eine Freundin bringt immer starken Kaffee mit aus dem Urlaub mit in die Zentrale mit. Und dieses Zeug solltest du wirklich nur trinken, wenn erstens richtig müde und zweitens abgehärtet bist.“
Ich trank die Tasse in einem Zug aus und schenkte mir gleich die nächste ein. Die Augen des Mädchens wurden immer größer.
„In die Zentrale?“, hakte das Mädchen nach.
Ich zögerte mit meiner Antwort. Wäre es klug gewesen, ihr etwas von TTD und dieser Undercovermission zu sagen? Nein.
„Ich und ein paar Freunde haben einen… Briefmarkenclub.“ Etwas Idiotischeres konnte mir wohl nicht mehr einfallen!
Das Mädchen sah mich skeptisch an. „Briefmarkenclub, ja? Also Briefmarkensammler sind in der Regel Streber und wie so einer siehst du wohl nicht aus.“
„Ach das trügt ein wenig. Nicht alle sind so. Also Streber. In unserer Schule laufen jede Menge cooler Typen rum, die Briefmarkensammler sind.“
Das Mädchen wirkte neugierig. „Ach ja? Auf welche Schule gehst du denn?“
„Äh Mendel Realschule Mannheim.“
„Ach echt? Mein Bruder geht da auch hin. 5 Klasse. Der hat mir so was auch schon erzählt. Bei euch muss man aber wohl genauer hinschauen, wenn man Sammler finden will. Naja. Jedem das seine, nicht wahr?“
Ich nickte. Ich konnte nicht glauben, dass das was ich da gerade erzählt hatte, wirklich wahr war. Aber umso besser.
„Auf welche Schule gehst du?“ Ich fand, es konnte nicht schaden, wenn ich mir ein paar Freunde hier suchte, außerdem wirkte das Mädchen sehr nett.
„Oh. Ich geh aufs Mendel Gymnasium.“
„Das ist ja gleich neben der Realschule!“ Ich war überrascht.
„Sorry. Ich hab irgendwie deinen Namen vergessen. Wie heißt du gleich nochmal?“
Das Mädchen lachte. Ich wurde rot. Wie sollte diese Reaktion interpretieren?
„Kira. Und du? Ich hab deinen irgendwie auch vergessen.“, sie lachte verlegen.
„Annika.“
„Schön dich kennen zu lernen.“, sie lächelte.
Ich lachte zurück. „Gleichfalls.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr. Wir hatten noch eine viertel Stunde Zeit. „Was Frau Nörgel wohl heute für uns parat hat?“
„Ich will es ehrlich gesagt gar nicht wissen. Wahrscheinlich macht sie es wie immer und setzt uns einfach bei jemand anderem ab und macht sich aus dem Staub.“
Ich nickte. „Machst du auch ein Praktikum?“, fragte ich.
„Ich? Nein. Ich mach hier einen Ferienjob. Ist meine zweite Woche. Und ich frag mich bis jetzt, wie ich allein die ersten zwei Tage unter Nörgels Fittiche überleben konnte!“
„Wieso bist du dann bei den Praktikanten? Müsstest du da nicht woanders hin…?
„Jaa, eigentlich schon. Mich hat das auch gewundert. Ich weis auch nicht, warum ich hier gelandet bin, aber ganz ehrlich: Solang am Ende der zwei Wochen meine 400 Euro auf dem Konto sind und ich ein möglichst gutes Zeugnis ausgestellt bekomme, interessiert mich der Rest herzlich wenig.“
„Und du machst hier also ein Praktikum?“
Ich nickte.
„Ja gut. Die Betreuung hier ist zwar der pure Mist, aber wenn du dich irgendwo für eine solche Stelle als Hotelier bewirbst und hast ein perfektes Zeugnis vom Dininjo, dann kann da eigentlich nix schief gehen.“
„Wir sollten besser gehen. Sonnst macht Nörgel wieder Stress.“
„Jap. Da hast du recht.“
Ich blieb kurz stehen und sah nach der Geheimtür. „Sind die anderen da draußen?“
Kira schüttelte den Kopf. „Nein. Rauchpause ist nur um die Mittagszeit. Und jetzt komm, bevor wir noch unnötigen Ärger kriegen!“
Wir beeilten uns nicht zu spät zu kommen.
„Nicht so hastig, nur die Ruhe“, sagte Frau- Sekunde, nein. Das war nicht Frau Nörgel. Die Frau, die uns freundlich anlächelte, hatte langes dunkelbraunes Haar und smaragdgrüne Augen. „Guten Morgen.“, begrüßte die Frau uns. „Ich bin Frau Jansen, Petra Jansen. Ihr könnt Petra zu mir sagen. Ihr seid dann wohl Annika und Kira.“
Wir nickten.
„Frau Nörgel ist jetzt einige Tage nicht da. Ich bin in dieser Zeit eure Betreuerin.“
„Ok. Ok. Dann gehen wir mal los.“
Petra war sehr freundlich und es war von Anfang an klar, dass die Zeit mit ihr Spaß machen würde. Dennoch wären mir die Männer lieber gewesen.
„Ok Mädels, hört zu. Bei mir läuft das Ganze hier wesentlich gechillter ab, als bei anderen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Da ihr- bis auf eine- schon lange genug da seid, um das Alles hier zu kennen, lasse ich euch die freie Wahl, wohin ihr heute hier wollt.“
Petra war groß und schlank, sie sah noch jung aus, auch ihre Stimme klang so. Vor Allem war sie nicht so schrill und forsch wie die von Nörgel, sondern eine sanfte, muntere, aufgeweckte Stimme.
„Können wir ins Weinlager?“, fragte die Blonde.
Petra lachte. „Nein. Sorry. Ihr könnt überall hin, aber nicht dahin. Oder denkt ihr im Ernst, dass ihr die Ersten währt, die sich ein, zwei Gläser aus den Probierflaschen gönnen?“
Das Mädchen wurde rot.
Petra wandte sich mir zu. „Und du? Wohin willst du?“
„Ich, ich weis nicht wohin….“
„Du blickst die ganze Zeit schon zum Empfang. Wie wäre es damit?“ Ich überlegte noch immer unentschlossen. Dann nickte ich langsam.
Der Pförtner zog erstaunt eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. Natürlich hatte er mich sofort wieder erkannt. Das Mädchen, das kurz davor gestanden war, ihm eine reinzuhauen. Das zumindest glaubte er. Doch ich schien gewiss nicht die Erste jener Art zu sein, erst recht schienen seine klaren, wasserblauen Augen schon Schlimmeres gesehen zu haben.
„Du?“
„Ja, ich.“
„Höchst erstaunlich. Man sieht sich wohl immer zweimal im Leben.“ Eine Stimme, die an das leise Krächzen eines Raben erinnerte. Ein großer dürrer Rabe, der mich mit ausdruckslosem Gesicht ansah.
„Ich gehe nicht davon aus, dass du Gast hier im Hotel bist.“
„Nein. Ich bin Praktikantin.“
„Ach wirklich? Na dann. Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit.“
„Hoffe ich auch.“
Der Portier lief eilig und mit gerötetem Kopf durch das Office. Vereinzelt rannen ihm Schweißperlen über die Stirn. Es war sehr viel los. Ungewöhnlich viel für einen Dienstag. Normalerweise war montags und dienstags alles relativ ruhig. Das hatte den Vorteil, dass Praktikanten wie mir an diesen Tagen alles gemächlich erklärt wurde und am Ende der Ausführungen auch selbst mitarbeiten konnte. Doch bei den Menschenmassen, die ununterbrochen durch die großen Flügeltüren strömten und zum Empfang eilten, war es eine Unmöglichkeit mir etwas zu erklären, geschweige denn mich herum zu führen. Innerhalb weniger Minuten hatte sie eine große Traube um den Tresen gebildet. Das Team war sichtlich überfordert, zwei Mitarbeiter hatten sich überraschend krank gemeldet, was angesichts der Lage für viel Unmut sorgte.
So wie ich heraus hören konnte, war man auf einen Ansturm eingestellt, aber nicht auf so was.
Ich saß hinter den Tresen auf einem der vielen Stühle, die im Office dahinter scheinbar nutzlos herum standen und verfolgte das emsige Treiben der Angestellten.

Wenn ich einen Bericht mit anschließender Beurteilung hätte schreiben müssen, so hätte das dann wahrscheinlich so geklungen:
Abgesehen von einer keifenden Nörgeliese und ein wenig chaotischen Arbeitsabläufen, war dieses Praktikum bis heute- bis auf drei Stunden mit Herrn Förb und seinem Kollegen war es bis jetzt nicht besonders packend, eher langweilig und nervenaufreibend.
Mein Praktikum und auch das der Übrigen neigte sich langsam gen Ende zu. Heute am…
„Welcher Tag ist heute?“
„Donnerstang.“
Und welches Datum?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern und machte ein Gesicht, als ob sie diese Frage nerven würde. Ich wusste nicht, welche von den Dreien es war. Wenn die drei Mädchen mit ihrer Raucherpause beschäftigt waren, war es nicht ratsam sie dabei zu stören, oder sie mit Fragen zu löchern.
Ich schrieb unter die Aufzeichnungen der vorherigen Tage unter Donnerstang: Keine nennenswerten Ereignisse. Ich steckte Stift und Blog zurück in die Tasche.
„Was schreibst du da? Etwa Praktikumsbericht?“ Das blonde Mädchen blies den Qualm aus Mund und Nase. Der starke Wind hier oben wehte mir den beißenden Gestank in die Nase.
„So was in der Art.“
Das Mädchen nickte.
Ich hatte die Hoffnung, dass sich noch irgendetwas ereignen würde, schon fast verloren.
Doch das Beste/Unerwartete kommt bekanntlich immer zum Schluss.
Als ich ihn in der Lobby ins Haus kommen sah, fiel er mir sofort auf. Der braune Smoking, die eleganten Bewegungen, die lockigen braunen Haare. Eigentlich nichts, was hier besonders auffiel. Eigentlich. Ich sah wie er langsam in der Menge verschwand.
Als die Mädchen und ich dann wieder mit Tischdecken beschäftigt waren, sah ich ihn an uns vorbei gehen. Er warf einen kurzen Blick in den Raum, unsere Blicke kreuzten sich. Ganz kurz nur. Doch ich war mir noch nicht sicher…
30 Minuten später war ich allein. Der Portier hatte mich allein hinter den Tresen gelassen. Er hatte mir alles Notwendige erklärt.
Wenn man mich nach Ablauf des Tages gefragt hätte, wie er denn so war und ob ich etwas dazu gelernt hätte, so hätte ich Folgendes gesagt:
„Normalerweise kannte ich es, dass man überall sich beweisen musste und wenn das dann nicht so recht klappte, bekam man leicht eine zweite Chance. Doch hier und nicht nur hier sprach man eine andere Sprache. Hier musste man sich beweisen, um überhaupt anerkannt zu werden, um überhaupt eine Chance zu bekommen.“

Ich sah den irgendwie vertrauten Jungen immer wieder durch die Lobby ziehen. Unter dem eleganten braunen Anzug hatte er immer etwas Anderes unter dem Arm. Er weckte auf irgendwie magische Weise immer wieder meine Neugier. Mein Blick war an ihn gefesselt, ich konnte nicht aufhören, jeden seiner Schritte, seiner Züge zu beobachten.
Sein Gesicht kam mir vertraut vor, auch wenn ich es nur selten zu Gesicht bekam.
Das Gefühl, das ich in mir spürte, weckte meine Sehnsucht nach Robert. Ich spürte in meinem Magen ein schmerzhaftes Stechen und das Bedürfnis bei Robert zu sein und an ihn zu denken war fast unwiderstehlich.
Der vermeintlich Fremde wurde mir mit der Zeit immer vertrauter. Lag es daran, dass er mir einfach vertraut vorkam? Oder daran, dass er mir tatsächlich vertraut war?
Ich versuchte mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren, doch vergebens. Es wurde mehr und mehr schwieriger, ich konnte es mir nicht erklären, warum ich mit meinen Gedanken nur bei ihm war. Doch das Gefühl, das ich dabei empfand war nicht fremd. Und es gab nur einen Menschen auf der Welt, bei dem ich ein Solches empfand: Robert.

Der Empfang war inzwischen zu meinem Stamm- und Lieblingsplatz geworden. Schon nach wenigen Stunden war ich eingegliedert. In den Augen der Angestellten nicht mehr einfach nur Praktikantin, sondern ein fast vollwertiges Mitglied. Das Alles hatte eine solche Wirkung auf mich, dass eine Zeit lang völlig vergaß, wieso ich eigentlich hier war. Was mit den anderen, wusste ich nicht, Petra ließ mich in Ruhe, als sie feststellte, dass ich da wo ich war, gut aufgehoben war. Und dann war er wieder da. Am Empfang. Ich kam gerade von der Toilette, als ich ihn 20 m weiter am Tresen stehen sah. Er war mit dem Rücken zu mir gewandt, in ein Gespräch mit dem Portier vertieft, mit dem ich zu Anfang zu tun hatte, Herbert hieß er.
Das war meine Chance! Ich atmete tief durch, nahm all meinen Mut zusammen und ging vorwärts. Doch ich musste mich beeilen.
Ich tippte ihm zittrig auf die Schultern. Bitte lass es Robert sein! Bitte!
Der Portier sah mich noch, als er in den Büroräumen hinter den Tresen verschwand.
Der Junge drehte dich um, sah mich zunächst ernst an, doch dann wich sein einem überraschten erfreuten Blick als er mich wieder erkannte. „Annika! Was machst du denn hier?“
Ich lächelte glücksselig. Es war tatsächlich Robert!
„Ich, ich mach ein Praktikum.“
Er lachte. „Ist das jetzt Zufall oder Schicksal? Ich auch!“ Ich konnte mein Glück kaum fassen! Endlich mal ein Lichtblick in dieser bisher tristen Zeit.
„Kommt mir das nur so vor, oder ist die Nörgel schlecht drauf?“ Ich verdrehte die Augen.
„Ja. Gewöhn dich besser dran. Die ist ständig so drauf.“ Ich wollte gleich von diesem Thema weg, wollte mir diesen Moment nicht wieder durch Nörgel versauen lassen.
„Egal. Jetzt können wir ja auch hier zusammen sein.“ Er lächelte mich an und ich lächelte zurück. Jetzt konnte der Tag gar nicht mehr besser werden. Ich konnte die ganze Woche mit ihm verbringen, oder zumindest den Rest der Woche.
Ich hörte jemanden laut räuspern und als wir uns umdrehten, sah ich Herbert in der Tür stehen. „Leute? Ich möchte eure Begrüßung ja nicht unterbrechen, aber könnt ihr das bitte woanders fortsetzen?“
„Gehen wir in den Gemeinschaftsraum?“, fragte ich und Robert nickte.

Ich schloss die Tür hinter mir und drehte langsam den Schlüssel herum.
Wir umarmten uns, drückten uns fest aneinander. Dann küsste ich seine warmen weichen Lippen. Ein Gefühl, das süchtig machte. Neben uns hätte die Welt untergehen können, wir hätten es nicht mitbekommen.
2 Minuten standen wir da, eng umschlungen. Doch die Zeit stand still. Für uns. In mir ging das Gefühlsfeuerwerk weiter, als er mich lieblich ansah. „Ich liebe dich!“, flüsterte er mir sanft ins Ohr.
„Ich liebe dich auch!“, flüsterte ich liebevoll zurück.
Wenig später wurde plötzlich die Geheimtür von außen aufgerissen. Robert sah erstaunt dabei zu, wie drei Mädchen ins Zimmer traten, jede zog eine starke Tabakfahne hinter sich her. Sie liefen eilig an uns vorbei auf den Flur, die ein oder andere warf auch einen interessierten Blick auf Robert.
Wir schwuren einander, ab jetzt immer zusammen zu bleiben. Nichts und Niemand sollte uns voneinander trennen können!
Doch im Nachhinein mussten wir feststellen, dass wir nicht ununterbrochen zusammen bleiben konnten. Er erzählte mir, dass sein Vater in der Verwaltung arbeiten würde und er ihm ein wenig aushelfen würde, eine Art Ferienjob sozusagen.
Auch wenn wir uns nicht immer sehen konnten, würden die langen Pausen, die in regelmäßigen Abständen stattfanden, die mit Abstand schönste Zeit sein. Das war sicher.

„Kennst du den Typ?“, fragte mich Kira, als wir einige Kisten Wein nach oben schleppten. Ich hatte mit dieser Frage gerechnet. Aber am Liebsten wäre ich ihr aus dem Weg gegangen. Doch sie hatte uns gesehen. Alle drei hatten uns gesehen.
„Das war mein Freund. Er heißt im Übrigen Robert.“
„Da hast du dir ja einen echt coolen Typ geangelt.“
„Danke.“
Ich denke, es war keine gute Idee, ihr von Robert und mir zu erzählen, denn danach hatte ich den Eindruck, dass sie leicht eifersüchtig war, aber vielleicht kam mir das auch nur so vor. Doch unverkennbar hatte sie ein Auge auf ihn geworfen. Und sie war nicht die Einzige. Die anderen Mädchen taten das Gleiche. Es ist ein irgendwie merkwürdiges Gefühl, wenn jeder deinen Freund hinterher schaut. Diejenigen von euch, die das auch schon erlebt haben, werden es wahrscheinlich wissen, wie sich sowas anfühlt.
Doch Robert beachtete das scheinbar gar nicht. Das erleichterte.


Ich glaube, ja ich glaube, es war am Freitag. Ja. Es musste Freitag gewesen sein. Alles andere würde keinen Sinn ergeben.
Ich hatte mich schon voll und ganz in der Dininjo Gemeinschaft eingewöhnt, die Arbeit am Empfang machte sehr viel Spaß.
Doch den eigentlichen Grund warum ich hier war, konnte ich nicht erfüllen. Gelegenheiten, irgendwelche Informationen über den Diebstahl des Silbermondes zu erhaschen, waren ausgeblieben. Und statt einiger Ermittlungen war meine Praktikantenfassade zu meiner Hauptsache geworden, aus der Fassade Realität. Ich hatte mir erhofft, vielleicht sogar bis in die Direktionsräume vordringen zu können, doch selbst wenn mir das gelungen wäre, besonders die Praktikanten wurden immer im Auge behalten, es war also praktisch unmöglich, nachzuforschen. Mir war bewusst, dass ich Geduld haben wusste, doch ausgerechnet an Geduld war nicht mehr zu denken. Ich war nur noch 5 Stunden hier und ich wusste aus Erfahrung, dass Zeit wie im Fluge vergehen konnte.
Doch ausgerechnet an diesem Freitag war es anders!
„Diese Woche ist genau so, wie sie sonst nie verläuft.“, hörte ich hinter mir Herbert stöhnen. Unruhig trommelte er mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. Er war einer derjenigen, die es nicht fertig brachten, still dazusitzen und Nichts zu tun. Dabei war er kein Zappelphillip oder sowas. Sondern jemand, den man beschäftigen musste, wenn man nicht wollte, dass er einem auf die pelle rückte.
Doch auch ich langweilte mich. Herbert hatte mir einen Stapel umsortierter Briefe auf den Schreibtisch gelegt. Die Kollegin, der ihr eigentlich gehörte, war in Urlaub. Ihren Schreibtisch überhaupt nutzbar zu machen, bedurfte es einer Aufräumaktion, denn die Frau schien eine grundsätzlich andere Definition unter Ordnung zu haben, als der Rest der Welt.
Es waren gut 100 Briefe unterschiedlichster Art. Ich überflog die Zeilen ansatzweise, auch um meiner detektivischen Arbeit wenigstens ein wenig nachzukommen. Doch keiner der Briefe enthielt irgendetwas Aufschlussreiches. Die Meisten enthielten Zeilen von diversen Veranstaltungen, Worte aus dem Gästebuch, Vertretungs- und Entschuldigungsschreiben. Alles eigentlich uninteressant…
OHLALA! Ich hielt einen Brief in den Händen, es war nicht zu erkennen, ob er schon geöffnet war. Doch der auffällig rote „Top Secret“ Stempel auf dem hellen Umschlag weckte meine Neugier. Sonderbar war auch, dass weder ein Adressant noch ein Absender zu finden war.
Okay, dachte ich. Was auch immer in diesem Brief stand, es war sehr, sehr wichtig und sehr vertraulich. Ich überlegte kurz, was der Inhalt sein könnte. Es war ein leichter Brief. Ich hielt ihn unters Licht, doch ich konnte nichts erkennen. Ich rang eine Weile mit mir selbst, ob ich ihn lesen sollte, oder nicht. Er hätte schließlich auch etwas enthalten können, was neugierige Menschen wie ich nicht lesen sollten. Klar. Sonst würde ja schließlich nicht „Top Secret“ draufstehen.
Doch der Brief war in der normalen Post. Meine Finger öffneten das Papier wie von selbst. Ich überflog die Zeilen. Eigenartig war auch, dass nach wie vor kein Absender und kein Adressant oder sonst etwas zu finden war. Ein herrenloser Brief also.
Ich überflog den Brief.
Es ging um einen Auftrag, der erfolgreich ausgeführt worden war. Ein geheimer Auftrag… der Edelstein sei an einem sicheren Ort…
„Ich dachte mir schon, dass du den lesen würdest.“
Ich fuhr erschrocken zusammen und wurde rot. Erwischt!
Ich drehte mich nicht zu Herbert um, der mich mit prüfendem Blick musterte. Ertappt kauerte ich auf dem Stuhl. Reaktionsunfähig.
Er legte mir leicht die warme Hand auf die Schulter. „Kein Problem Annika. Du kannst nichts dafür.“
Ich fand langsam meine Sprache wieder. „Aber, aber… das war doch Top Secret.“
„Ja, da hast du recht. Hätte eigentlich nicht in den Stapel kommen dürfen. War wahrscheinlich ein unachtsamer Kollege vom Empfang.“, meinte er ärgerlich. „Wie gesagt. Du kannst nichts dafür.“
„Aber ich habe ihn geöffnet und gelesen!“
Ich sah ihn verwundert an. Doch er zuckte nur mit den Schultern. „Na und? Du bist deiner Arbeit nachgegangen.“
„Schon. Aber das war doch… vertraulich!“
Er lächelte mich beruhigend an. „Die meiste Post ist vertraulich.“ Seine Worte beruhigten mich, doch auf mein Schuldgefühl, das wie eine schwere Last auf meinen Schultern lag, hatte das leider keinen Einfluss.
„In dem Brief steht etwas von einem Auftrag, der ausgeführt wurde und der Edelstein sei an einem sicheren Ort. Weißt du, was damit gemeint sein könnte?“, wenn es schon nicht weiter schlimm war, dass ich ihn gelesen hatte, dann war es schließlich nicht falsch, genauer nachzufragen.
„Sorry Annika, aber ich kann dir da nicht weiterhelfen.“ Er ging in Richtung Ausgang.
„Könnte der Brief vielleicht auch etwas mit dem Diebstahl des Silbermondes zu tun haben?“
Er blieb in der Tür stehen. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, glaubte ich, dass er seinen schmalen Mund zu einem Grinsen verzog. Er zögerte einen Moment. „Du bist neugierig und hartnäckig zugleich. Das gefällt mir. Du würdest einen guten Detektiv abgeben.“
Ich grinste. Wenn er gewusst hätte…
„Sorry Annika, aber ich kann dir auch hier nicht weiterhelfen.“
Ich fragte mich später, was ich eigentlich als Antwort erwartet habe.


„Ach! Wen haben wir denn da?“, dröhnte die Stimme in mein Ohr. Doch ich drehte mich nicht um. Ich war ohnehin schon spät dran.
Kowalksi, der einige Meter hinter mir stand, lächelte überrascht.
Verdammt!
Ich tat möglichst erfreut. „Hallo, Herr Kowalksi!“ Ich setzte ein gespieltes Lächeln auf.
„Annika! Ich bin überrascht. Was tust du denn hier?“; seine dröhnend laute Stimme hallte im belebten Stockwerk von allen Wänden. Er machte so ungewollt die ganze Etage auf uns aufmerksam.
„Ich mache hier ein Praktikum.“, brachte ich lächerlich leise hervor. Wir gingen ein paar Schritte.
„Wie lange bist du noch hier?“, fragte er.
„Ist mein letzter Tag hier heute.“
Sein Organ war so laut, dass es mir schon fast in den Ohren wehtat. Kowalksi schien verstanden zu haben. „Und? Wie war es bis heute? Hast du etwas mitnehmen können?“
„Ja, Einiges.“
Er nickte. „Das ist gut. Hotelier ist ein spannender und aufregender Beruf. Ich hörte, du hast dich am Empfang positioniert. Ist das das Einzige, was du bis jetzt gemacht hast?“ Er lächelte mich freundlich an. Ich hatte einen hohen Piepton im Ohr. Wenn der noch länger so weiter redet, dann hab ich bald einen Hörsturz.
„Also bis jetzt hab ich Tische gedeckt, Statistiken ausgewertet und jetzt bin ich am Empfang.“
Kowalksi stutzte. „Das ist alles?“, fragte er etwas verwundert.
„Ja.“
Er schüttelte verärgert den Kopf. „Die Praktikantenbetreuung ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Alles muss man selber machen!“
„Was heißt das jetzt?“
„dass ich dich und die anderen Mädels jetzt durch das Hotel führen werde.“
„Aber eine macht hier einen Ferienjob und die ist auch bei uns.“
Er seufzte. „Ok. Ich kümmere mich darum.“

Doch Kowalksi war durchaus bewusst, dass vor allem ich nur noch drei Stunden hier hatte und in dieser Zeit konnte man nicht sehr viel machen. Die anschließende Führung war von Kowalksi nett gemeint, aber überflüssig. Alles, was er uns erklärte, hatte uns Herr Förb und sein Kollege schon erklärt. Wir lernten nichts Neues dazu.
Ich gähnte und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war 17 Uhr. In nicht mal 20 Minuten hatten sich am strahlend blauen Himmel dicke graue Regenwolken gebildet. Dicke Regentropfen platschten auf den Boden, auf die ungeschützten Köpfe und den Autodächern. Aus den kleinen Einbuchtungen und unscheinbaren Dellen des Kiesweges der Auffahrt zum Hotel waren schnell große Pfützen oder kleine Seen geworden. Wenn sich ein Wagen näherte. Peitschten die Reifen das schmutzige Nass an den Wegrand. Eine Auffahrt, die an eine Moorlandschaft erinnerte.
Ich sah den Regentropfen, die gegen das Fenster prasselten dabei zu, wie sie in langen Schlangen am Glas hinunter rannen. Draußen bildete sich ein verschwommenes Bild. Ein trüber Anblick, der ermüdende Wirkung hatte.
„Kommt ihr?“ Kowalksi lächelte uns an. Er war heute sichtlich gut gelaunt. Er trieb uns seit mehr als einer halben Stunde wie eine Viehherde durch das Hotel. Er wollte keine Zeit verlieren, was berechtigt war, denn vor allem ich war nur noch 2 Stunden da und Zeit war ein Gut, von dem auch ich nichts verlieren wollte.
Seine Schritte waren schnell, obwohl er relativ kurze Beine hatte. Wir hatten ein wenig Mühe mit ihm mitzuhalten. Kira war mit knapp 160 cm noch die kleinste unter uns, doch Kowalksi war ihr darin um zwei Köpfe unterlegen.
„Gibt es noch irgendeinen Ort, an dem ihr jetzt noch gern sein würdet?“
„Ja. Ich würde gerne in die Sauna.“, sagte Kira neben mir. Kowalksi lachte, als wäre dies ein guter Witz gewesen, doch Kira meinte es offenbar ernst. „Tut mir leid. Aber das geht leider nicht.“
„Ich würde gerne in die Direktion.“, kam es meine Lippen. Ich konnte nicht glauben, dass ich das tatsächlich aussprach! Die anderen sahen mich etwas verdutzt an. Auch Kowalksi war überrascht über diese Frage. Doch er zuckte mit den Schultern. „Wenn du möchtest? Können wir gerne machen, Annika.“
Ich starrte nur verwirrt geradeaus, ich ärgerte mich fast. Wenn ich gewusst hätte, dass das so einfach ist, hätte ich längst etwas unternommen.
„Kennst du den persönlich oder so?“, fragte Kira, als wir durch die riesige Lobby liefen, in der für diese zeit viel los war. Jetzt wollte ich nicht unbedingt am Empfang sein. In weiter Entfernung entdeckte ich Herbert, der mit schnellen Schritten von einem Auftrag zum nächsten sprang und sich die Schweißperlen aus dem hochroten Gesicht wusch.
Ich hatte Kira nicht zugehört, war in Gedanken schon wieder zu Hause in der Zentrale, überlegte, was ich morgen in der Zentrale präsentieren sollte. Wenn es überhaupt etwas zu präsentieren gäbe.
Er lieferte die anderen wieder bei Petra ab. Anschließend folgte ich Kowalksi quer durch das Gebäude. Vorbei an verschlossenen Räumen, Sälen, in denen Menschen in weichen Ledersesseln saßen, Drinks genossen, dicke Zigarren rauchten und sich leise unterhielten. Gegenüber ein riesiger Fitnessraum, in denen schwitzende Gestalten auf Laufbändern, Walkinganlagen ihre Runden abstrampelten. Ein weiterer Raum, aus dem lautes Gebrüll ertönte. Die Tür stand weit offen, die Männer, die es vom Sofa gerissen hatte, reckten jubelnd die Hände in die Luft. „Tor!! Tor für Deutschland!! Drittes Tor von Klose!! Der Wahnsinn!!!“, schrie der Kommentator vor Freude. Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Deutschland gegen Türkei. Ein Klassiker. Ich erinnerte mich. In der Zeitung, im Fernsehen und im Radio wurde dieses Spiel propagiert. Es stand 3 zu 0 für Deutschland. Normalerweise war ich für Sport überhaupt nur schwer zu begeister. Und das, obwohl ich 170 cm groß, dünn und durchtrainierte Beine hatte, von meinen Armen ganz zu schweigen. Also eigentlich gute Sportlervoraussetzungen. Und in Sport hatte ich eine 2. Dabei verabscheue ich körperlichen Sport nicht, ich bin einfach nur kein Fan davon. Die einen hatten sich über diesen krassen Gegensatz gewundert, wieder andere machten mir die Tatsache zum Vorwurf, dass ich meine körperlichen Ambitionen nie groß nutzte. Und wieder andere, die mich bewunderten, dafür, dass ich so muskulös war, ohne je dafür trainiert zu haben und beklagten ihrerseits, dass sie sich täglich stundenlang abstrampeln mussten und sie dennoch nicht die gewünschte körperliche Stärke erreicht hatten.
Geistige Arbeit sprach mich mehr an. Schach, Memory, nur zwei von vielen Spielen, in denen man mich nur schwer schlagen konnte. Üblich war es, dass Menschen, die geistige Arbeit vorziehen, mit Mathe gut zurechtkommen, doch auch hier war ich eine Ausnahme. Ich weis, ich bin ein Mensch voller Gegensätze. Na ja, wir Mädchen sind halt manchmal wirklich eigenartige Geschöpfe…
An Fußball konnte ich mich noch nie begeistern, ebenso wenig an Spielen. Ich kannte nicht einmal die Regeln, nur die wichtigsten Spieler konnte ich aufzählen. Fußballspiele verfolgte ich nicht oft mit, doch zu gern hätte ich mich zu der heiteren Gruppe dazu gesetzt.

Dass es hier sogar einen recht großen Konzertsaal gab, schien mir neu. Nur noch durch den schmalen Gang. Kowalksi tippte über ein durch ein Geheimfach verstecktes Tastenfeld einen Code ein, das Schloss surrte und klickte und er stieß die Tür zu seinem Büro auf.
Es sah noch genauso aus, wie beim letzten Mal. Bei jedem Schritt ächzte und knarrte der Fußboden. Die dicken, schweren Blicke, die Blicke nach draußen versperrten, warfen gedämpftes, helles Tageslicht in den großen Raum. Alles schien der Kulisse eines Mafiafilmes nachempfunden. Mit dem Unterschied, dass nicht ein berüchtigter Mafiaboss hinter dem lächerlich großen Schreibtisch Platz nahm, sondern Herr Kowalksi. Ich stand etwas unbeholfen in der Mitte der hohen 4 Wände. „Was machen wir hier?“, fragte ich.
„Sehr viel Zeit haben wir nicht mehr, aber in den verbleibenden 1 ½ Stunden möchte ich dir eine Kurzfassung von dem bieten, was ich hier mache.“
Ich nickte.
„Wie läuft es eigentlich im Fall Silbermond?“
Ich hatte gehofft, dass diese Frage nicht kommen würde, auch wenn mir gleichzeitig klar war, dass sie kommen musste. Ich zögerte. Sollte ich ihn in die Undercovermission einweihen? „Wir… äh… hoffen bald auf erste Ergebnisse.“ Nein. Es waren nicht ohne Grund verdeckte Ermittlungen und das sollte auch so bleiben.
„Hat sich irgendetwas Nennenswertes ereignet?“
„Nein“ „Das heißt, doch.“
„Was ist denn passiert?“, wollte ich aufgeregt wissen.
Er deutete erregt auf seinen Laptop. „Irgendjemand hat sich via… ach was weis ich! Auf jeden Fall hat sich auf meinen PC eingehackt!“
„Oh! Das ist ja… ungeheuerlich!“
„Nicht wahr?!“
„Wie haben sie das gemerkt?“, fragte ich in gespieltem Entsetzen.
„Nicht ich! Fritz. Fritz Meier. Er hat das gemerkt.“
„Und wie, wenn ich fragen darf?“
„Das weis ich nicht. Aber er sagte, er könne die Täter nicht mehr zurück verfolgen.“
„Ah okay.“ Mein gespieltes Entsetzen war mir nicht ganz gelungen, doch der erregte Hoteldirektor schien das nicht zu merken.
„Ob das was mit dem Silbermond zu tun hat?“, schnaufte er ratlos.
„Ich… weis es nicht. Aber… wir werden es herausfinden.“
Kowalksi ließ sich tief in den Ledersessel sinken. „Aber als ob das nicht schon schlimm genug wäre. Der Vorstand macht mir Vorwürfe, ich könne nicht auf fremdes Eigentum aufpassen. Als ob der Ruf des Hotels nicht schon genug Schaden hätte. Wo das hinführen soll… und so weiter… und so weiter. Und dann auch noch die Presse…“
„Wieso? Was ist denn mit der Presse?“
„Hast du nicht den Mannheimer Morgen gelesen? Letzte Woche?“
„Nein. Was war denn da drin?“
„Eine richtig große Schlagzeile:
Edelsteinraub gibt Rätsel auf. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Aufruhr hier war.“ Er seufzte. Er tat mir leid. An seiner Stelle wollte niemand sein und ich spürte mein schlechtes Gewissen, weil ich so stark an seiner Unschuld gezweifelt hatte. Es war mir peinlich, dass ich so unbeholfen im Raum stand.
„Ich verspreche, dass wir, TTD, alles tun werden, um diesen Fall aufzuklären und den Silbermond zurück zu bringen.“, sagte ich, um ihn wenigstens ein bisschen zu trösten. Dass ich aber nicht garantieren konnte, dass ich dieses Versprechen halten konnte, wurde mir erst später bewusst. Er sah mich kurz mit trüben braunen Augen an, ein Lächeln huschte ihm über die Mundwinkel.
Es klopfte und wenn Kowalksi nicht `Herein` gerufen hätte, so hätte ich es nicht bemerkt.
Dennoch traute ich meinen Augen nicht, als Robert den Kopf durch die Tür steckte.
„Annika?! Das ist ja ne Überraschung!“
Ich freute mich riesig ihn wieder zu sehen. „Und ich erst!“
„ich sehe ihr kennt euch. Seid ihr befreundet?“, erkundigte sich Kowalksi von vorne.
Robert trat in das Zimmer, schloss die Tür hinter sich und stellte sich neben mich. Wir lachten uns gegenseitig an. „Mehr als das.“
„Verstehe.“, sagte Kowalksi zögerlich. „Dann könnt ihr ja den Rest der Stunde zusammen bleiben. Mein Sprössling, dein Freund macht hier seinen Job.“ Er zwinkerte Robert zu.
„Sekunde.“ Ich sah Robert an, dann Kowalksi. Diese Erkenntnis verwirrte mich. „Das ist dein Vater?!“
Kowalksi grinste, Robert kicherte auf diese Frage leise.
„Okay“, ich grinste hilflos. Robert stellte sich neben seinen Vater und legte den Arm unter seine Schulter. Beide grinsten mich an. Es sah ein wenig gespenstisch aus. Mich, Annika, die wie angewurzelt im Raum stand, mit umwölbten Gesichtsausdruck. Ich konnte Vater und Sohn nur verwirrt anstarren, auch wenn mir klar war, dass das nicht nur lächerlich aussah, sondern zudem auch noch extrem peinlich war.
„Ist die Ähnlichkeit nicht verblüffend?“, meinte Robert.
Ja klar. Bei genauerer Betrachtung viel es natürlich auf. Die gleiche Statur, die in etwa gleiche Größe. Doch der entscheidende Faktor waren die braunen Augen, ohne die niemand auf die Idee einer Verwandtschaft gekommen wäre.
„Das ist jetzt irgendwie verrückt.“
„Nicht verrückt. Cool.“, lachte Robert.
Charakteristisch waren jedoch deutliche Unterschiede vorhanden. Robert, der bodenständige, ruhige und sein Vater, der fanatische, etwas rustikaler. Ich konnte nicht ganz verstehen, wie sich zwei Menschen, die doch so unterschiedlich waren, sich so sehr mögen konnten. Aber was soll´s.
„Ein wenig verwirrend, nicht wahr?“
„Ein wenig?“
„Kein Problem, Annika. Die Meisten denen wir das sagen, schauen hinterher dumm aus der Wäsche.“
„Na dann.“
„Ähm Dad. Der Grund warum ich hier bin. Frau Doresco will noch mal mit dir sprechen.“#
Kowalksi stöhnte und blickte seinen Sohn genervt an. „Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“
„Nichts!“, verteidigte sich Robert. „Aber die Frau kann mich einfach nicht leiden! Die ist schlimmer als Nörgel!“, er schnaufte wütend.
„Es gibt noch was Schlimmeres als Nörgel?“, fragte ich ungläubig.
Die schnellere Antwort kam von Kowalksi, noch ehe Robert antworten konnte. „Frau Nörgel, manchmal übertreibt sie es auch. Aber sie ist eine erfahrene und zuverlässige Kollegin.“
Robert trat hinter mich und legte seine geschmeidigen Arme um meine Taille. „Und das muss ich mir den ganzen Tag anhören.“, flüsterte er mir ins Ohr. Ich lachte.
Der Schreibtischstuhl ächzte, als sich Kowalksi erhob und mit kleinen Schritten die Tür ansteuerte. „Dann werde ich mal meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen.“ Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Ich schaute zu Robert auf. „Und was machen wir jetzt?“ Er gab mir einen Kuss auf den Mund. „Auf was hast du denn Lust?“
Der Computer fiel mir wieder ein. Ich löste mich aus der Umarmung und ging auf den Schreibtisch zu.
„Was hast du vor?“, fragte Robert. Doch anstatt zu antworten holte ich den Computer aus dem Stand-by- Modus. Als Robert sah, dass ich die Maus bewegte, erschrak er. „Annika! Was zum Teufel tust du da?! Wenn es was gibt was er hasst, dann ist es, wenn man ungefragt an seine Sachen geht! Wenn der das merkt, das jemand ohne zu fragen an seinem Rechner war, wird er mich dafür verantwortlich machen!“
Doch ich ignorierte seine Warnung. Plötzlich war er neben mir.
„Wenn du schon nicht auf mich hörst, will ich aber wissen, was du vorhast.“
„Detektivarbeit.“, murmelte ich, während der Computer hochfuhr.
„Detektivarbeit? Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Ich denke, du machst hier Praktikum?“
„Auch.“
„Auch? Sekunde… Was heißt auch?“
„Du weist ja, dass meine Kollegen und ich neben der Polizei den Fall Silbermond bearbeiten.“
„Ja.“
„Und wir kommen gerade nicht weiter. Deshalb bin ich hier so was wie… Undercover.“
Robert machte Augen, als könne er nicht glauben, was er da hörte.
„Undercover? Also ein verdeckter Ermittler?“
„Genau.“
„Wow.“
„Genau. Wow. Du siehst verblüfft und entsetzt zugleich aus.“
„Was soll ich dazu sagen. Das ist total durchgeknallt, verrückt und gewaltig und spannend und faszinierend und abenteuerlich zugleich.“
Ich grinste.
„Aber wieso willst du dann an den PC?“
„Naja, wir wollen doch alle beweisen, dass dein Vater unschuldig ist, oder?“
Robert nickte. Und was genau hast du vor?“
Ich zögerte mit meiner Antwort. „Ich… muss den PC absichern. Gegen… Hacker.“
„Okay.“ Ich tu jetzt einfach mal so, als ob ich das verstehen würde. Weist du denn wie es geht?“
„Klar doch. Ein Klassenkamerad hat mir ein paar Tricks gezeigt.“
„Ok. Warum nicht. Dann sehe ich dich auch mal in Aktion.“
Ich warf einen Blick auf den Monitor. „Aber zunächst brauchen wir ein Passwort.“ Ich überlegte. „Du kennst das nicht zufällig?“
„Melinda.“, antwortete er ohne zu zögern.
„Melinda?“
Melinda.“
„Das ist ja fast schon zu einfach!“, ich grinste spöttisch.
„Mein Dad kann sich komplizierte Kennwörter nicht merken.“, verteidigte Robert.
„Aber das ist trotzdem zu einfach. Ist Melinda ein Name für wen?“
„Ja. Sie war eine treue, verspielte Dogge. Ihr unerklärbarer Drang danach, allem hinterher zu jagen, was einigermaßen rund und bunt war, brachte sie schließlich vor ein Auto, dass sie überfuhr.“
Ich tippte das Kennwort ein. Ich rief den Editor auf und begann damit, Zahlen und Buchstabenkombinationen einzutippen. Dabei wusste ich nicht genau, was ich da schrieb. Auf dem Schirm erschienen zahlreiche Codes, die ich aus spärlichen Erinnerungen holte. Ich hoffte nebenbei, dass Robert keinen Schimmer von dem hatte, was ich da tat. Doch wenn ich seine Blicke richtig deutete, war er reichlich unbedarft, was mein Schaffen betraf. Zum Glück.
Auf das leise klick- Geräusch der Tastatur folgten immer mehr Zahlen und ich hatte viel Mühe, nicht den Überblick zu verlieren.
„Du hast mir nie erzählt, dass du dich so gut mit Computern auskennst.“
Ich lächelte dankbar abwesend. Mein Programm, das alles komprimierte, was mit „geheimer Auftrag“, „Silbermond“ zu tun hatte, forderte meine volle Aufmerksamkeit. „Danke. Aber bis jetzt war es ja auch noch nicht nötig.“ Ich drückte Enter. Der Laptop begann zu arbeiten. Plötzlich kam mir ein Gedanke. „Sekunde. Woher weist du eigentlich das Passwort?“
„Er verzog den Mund zu einem verschlagenen Lächeln. „Das willst du echt wissen?“
„Jap.“
„Die einfachste aller Möglichkeiten. Stell dich mit einem Spiegel hinter ihn.“
Ja, ja das war logisch.
„Hast du keinen Eigenen?“, wollte ich wissen.
„Doch, aber den benutze ich nur selten. Kein Plan warum. Ich bin die meiste Zeit hier und dieser Kasten ist nun mal der einzige Moderne hier im Haus. Arbeitet der Kasten jetzt?“
„Ja.“, ich lehnte mich zufrieden in dem sehr bequemen Sessel zurück. Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass das was ich da versuchte, auch funktionierte.
„Ich kenn mich damit nicht aus. Mir reicht das Know How für jedermann.“
Ich lächelte und blickte ihn einen Augenblick lang an. „Dafür hast du ja mich.“
„Was soll ich jetzt machen?“
„Du sagtest, dein Vater wird zum Mörder, wenn sich jemand an seinem PC vergreift?“, erwiderte ich.
Robert nickte.
„Dann wirst du jetzt an der Tür Wache schieben und mich warnen, wenn er kommt.“
„Wie viel macht er denn noch?“, erkundigte er sich, während er mit großen Schritten zur Tür lief.
„Er hat 76%. Wird nicht mehr lange dauern.“, antwortete ich.
Robert öffnete die Tür einen Spalt.
Ich ließ meinen Blick über den Tisch schweifen. Ein dutzend eingerahmter Bilder standen auf dem Tisch. Das Bild vor mir zeigte Robert. Er strahlte vor Freude, während er barfüßig in einem Fluss stand und die seine gelbe Angel in die Luft reckte. Ein Fisch zappelte an der Schnur. Das Bild daneben zeigte den Hund, ein wirklich schönes Tier. Das größte Foto weckte meine Neugier. Es war ein Familienfoto, aus dem Jahr 2000. Abgebildet waren Robert, rechts daneben der Vater und eine Frau. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, einige Strähnen hingen in ihrem Gesicht. Ihre tiefbraunen Augen lächelten in die Kamera. Anscheinend seine Mutter, der Hund fehlte. Ich nahm den Rahmen hinter dem Laptop hervor.
„Ist das auf dem Foto deine Mutter?“, fragte ich neugierig.
„Ah. Du hast es dir angesehen?“, erwiderte er.
„Ja.“
Einige Fotos zeigten Landschaften und Gebäude. Auf einem war der Grand Canyon zu sehen. Ein Anderes zeigte ein Kanu, aus dem Robert und sein Vater winkte. Der Eifelturm auf einem anderen, ein Kamel, das neugierig in die Kamera schaute. Doch Roberts Mutter war nur auf wenigen Fotos zu sehen. Auf vielen fehlte sie ganz.
„Ihr seid ja viel gereist.“, stellte ich fest.
„Oh ja. Früher regelmäßig. Heute nicht mehr so oft.“
„Wieso ist deine Mom auf den meisten Fotos hier nicht drauf? Oder ist das jemand anderes auf dem Familienfoto?“
„Ja, das ist meine Mom. Sie hat mich und meinen Vater verlassen, als ich zehn Jahre alt war. Seit dem sind mein Dad und ich nur noch selten weg gefahren.“, er seufzte tief. „Sie fehlt ihm sehr. Und mir auch.“
„Deine Eltern sind also getrennt?“
„Nein. Meine Mom ist tot.“
Ich wurde rot. „Oh. Das tut mir leid.“, sagte ich verlegen. Ich kam mir bescheuert vor, hätte mich dafür am Liebsten selbst geohrfeigt! Einige Minuten lang legte sich eine drückende Stille über das Zimmer. Die nächste Frage kostete mich viel Überwindung und Mut. „Wie… wie ist… ich meine wie ist sie gestorben?“
„Sie wurde eines der 3000 Opfer vom 11.September. Sie war auf Exkursion, ich glaube im 100sten Stock. Sie war offenbar einer derjenigen, die es nicht rechtzeitig nach unten geschafft hat. Sie war im Südturm.“ Die Antwort kostete ihn wohl genauso viel wie mich, denn er brachte sie nur mühsam heraus und seine Stimme zitterte leicht. Ich erinnerte mich an diesen Tag. Der Tag, an dem in nicht mal 12 Stunden fast 3000 Menschen umkamen. Ein schreckliches Ereignis, von dem klar war, dass es sich für immer ins Gedächtnis einprägen würde. Ich muss glaube ich, nicht erklären, was an jenem Tag in New York passierte.
„Und das Beste: Ich wäre an diesem Tag nach New York geflogen und in dem Flieger gesessen, der in den Nordturm raste.“, fügte er hinzu.
„Okay. Hast du ihn verpasst?“, fragte ich und meine Stimme klang noch immer etwas zaghaft.
„Ja. Dad wollte mich zum Flughafen bringen. Normalerweise hasse ich ihn für seine lockere Missachtung gegenüber Pünktlichkeit, aber als wir dann am Flughafen waren, war der Flieger schon weg. Du glaubst nicht, wie sauer ich war. Aber als dann das mit den Türmen war, war ich zum ersten Mal froh.“
„Klingt irgendwie schon fast witzig.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ja. Ist es auch irgendwie. Und auch nicht.“
„Ist der PC bald fertig?“, wechselte Robert abrupt das Thema.
Ich sah auf den Bildschirm. „Schon längst.“
„Dann tu uns beiden ein Gefallen und beeile dich!“, drängte er. „Ich hab das Gefühl, Dad kommt gleich wieder zurück.“
„Entspann dich! Bin gleich fertig.“, versuchte ich ihn zu beruhigen.
Das, was Tom in der Zentrale gemacht hatte, floss regelrecht durch meine Hände in die Tastatur. In diesem Moment entdeckte ich mein fotographisches Gedächtnis. Dennoch wunderte ich mich darüber, dass ich so viel behalten hatte, denn auf Toms Finger, die auf der Tastatur tanzten, hatte ich nicht geachtet und auf den Bildschirm hatte ich nur halbherzig geschaut. Obwohl ich streng genommen keine Ahnung von dem hatte, was ich tat, lief es ausgesprochen gut. Ich fühlte mich fast wie ein Profi. Innerhalb von einer Minute hatte ich sämtliche ausgesuchte Dateien via Internet an den PC in der Zentrale gesetzt. Robert wurde derweil immer unruhiger. „Hast du es endlich?“
Noch nicht!“ Ich tippte Befehle ein, um meine Spuren zu verwischen. Ich meiner Eile verschrieb ich mich, löschte einige Zeilen. Ich spürte wie mein Herz immer schnellere Schläge machte! Ich fühlte die ersten Schweißperlen auf meiner Stirn. Es vergingen fünf Minuten, bis ich fertig war. Robert warf mir immer wieder nervöse Blicke zu. Langsame Schritte näherten sich! In Windeseile löschte ich den Inhalt des Editors und schloss ihn. Plötzlich erstarrte ich, als ich mich vom Sessel erhob. Die Tür wurde mich einem Ruck aufgerissen! Robert war ihr gerade noch rechtzeitig ausgewichen.
Und dann hörte ich die Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ! „Was machst du denn da?!“


Eine heiße Spur, oder doch nicht?


Ich rieb mir müde die Augen, lehnte mich zurück, schloss die Augen und lauschte dem Surren der Straßenbahn, die sich langsam mit ständigem auf und ab, schnellen Drehungen und ruckartigem Stillstand durch den Mannheimer Mittagsverkehr schob, der in rasantem Tempo an ihr vorbei rauschte. Ich hatte an diesem Samstag bis 12 Uhr geschlafen, was für meine Verhältnisse sehr ungewöhnlich war. Trotzdem war ich tot müde, als hätte ich nur ein paar Stunden geschlafen. Mein ganzer Körper war steif und schmerzte, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mich gebracht. Es war halb zwei. Normalerweise war ich in dieser Zeit noch im Bett, döste oder hörte Musik. Ich hatte es versprochen, doch nach der derzeitigen Lage war es ein Fehler, Etwas zu versprechen.
Der Weg zur Zentrale war schwerfällig. Ich trat ins Treppenhaus, stapfte in den dritten Stock. Ich klopfte an die Tür.
„Is offen!“
Ich trat ein und schmiss meine Sachen in irgendeine Ecke. Domme saß am PC und lachte mich an. „Wie siehst du denn aus? Nicht geschlafen?“ Er richtig gut gelaunt, was man von mir eher nicht sagen konnte. Ich ließ mich mit einem kurzen Seufzer auf in auf einen Stuhl sinken. „Was hast du erwartet? Ich war gestern nur irre froh, als ich im Bett lag und ausschlafen konnte. Und dann hast du mich aus dem Bett geklingelt.“
„Brauchst du Kaffee?“, fragte er, doch ich brauchte nicht zu antworten, er reichte mir bereits eine warme Tasse. Ich nahm gierig einen Schluck. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal so sehr über eine Tasse Kaffee erfreuen könnte. Ich setzte mich neben Lea auf die Couch, die sich der Länge nach ausgestreckt hatte. Da fiel mir ein dicker weißer Gips auf, der um Leas linkes Bein gehüllt war. „Was hast du denn gemacht?“
Lea nahm die Zeitschrift runter. „Ich bin meiner Katze auf den Schwanz getreten!“, erwiderte sie ärgerlich.
„Wusste gar nicht, dass man sich bei so was das Bein brechen kann.“
„Wenn das Vieh auch auf der Treppe sitzt und es stockdunkel ist…“
Ich lachte.
„Das ist nicht witzig!“, protestierte sie und warf ein Kissen nach mir. Doch sie konnte sich zumindest ein Grinsen nicht verkneifen. Ich drehte mich zu Domme um, der am PC arbeitete. „Habt ihr meine Mail bekommen?“, fragte ich.
Er kicherte. „Ja, haben wir. Aber wärst du vielleicht beim nächsten Mal so nett und würdest uns das als Word Document schicken?“
„Äh wieso? Ist das nicht richtig ankommen oder war was geschädigt?“
Domme drehte den Monitor so, dass ich sehen konnte, was er zeigte. Zu sehen waren unendlich viele Kombinationen, besser gesagt das, was ich in den Editor eingetippt hatte.
Ich wurde rot Und schmunzelte verlegen. „Oh. Das ist jetzt blöd…“
Domme lachte. „Ja das ist es. Ich such im Web gerade nach einem Programm, mit dem ich das wieder zu recht machen kann.“
Ich ließ mich wieder auf die Couch sinken und trank die Tasse in einem Zug leer.
„Wie war es eigentlich?“, wollte Domme wissen.
„Nicht so wie ich es mir vorgestellt hatte, aber dennoch gut. Aber unsere Betreuerin, Frau Nörgel, ey, die war schlimm!“
„War sie so wie sie hieß?“, kam die Frage von Lea. Auf diese Frage hatte ich gewartet.
„Jaa! Genauso war sie.“ Ein Augenblick verstrich. „Aber gestern gab es dann doch noch was Gutes!“
„Und das war?“
„Ich habe meine detektivische Arbeit erledigt und ich habe eine gute halbe Stunde mit Robert verbracht.“
Domme lachte. „Welch Überraschung. War er auch Praktikant oder so?“
„Nein.“, erwiderte ich. „Ferienjob. Aber was noch viel wichtiger ist, er ist der Sohn vom Chef.“
„Der Sohn vom Chef?“, wiederholte Domme erstaunt. Bemerkenswert. Hat er dir irgendwas wegen dem Silbermond erzählt?“
„Nein.“, entgegnete ich nachdenklich. „Darüber hat keiner ein Wort verloren. Hat sich bei Herrn Maier was ergeben, während ich weg war?“
Domme stieß einen tiefen Seufzer aus. „Leider nein. Als du im Dininjo warst, hat er zahlreiche Verhöre mit den Schauspielern gemacht. Aber ohne Ergebnisse. Aber immerhin. Eines ist jetzt klar. Der Silbermond wurde nicht während der Vorstellung gestohlen, wie angenommen. Er war schon vorher weg.“
„Das heißt, der Stein in der Vitrine war eine Kopie?“
„So ist es.“
„Wer auch immer da am Werk war, er wusste wie und vor allem, wann er es tun musste.“, fügte Lea Dommes Schilderungen hinzu.
Die Arbeiter im Backstage Bereich wurden auch verhört, aber das war wohl nix.“, fuhr Domme fort. „Aber wie war es bei dir? Hattest wenigstens du mehr Erfolg?“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht recht, was ich auf diese Frage antworten sollte. „Diese ganze Silbermond Affäre scheint da sehr moderat behandelt zu werden, ich hab nicht mitbekommen, das irgendwer ein Wort über die Sache verloren hätte.“
„Verstehe.“, murmelte Domme. Es klang etwas enttäuscht.
„Aber…da war ein Brief in der Post.“
„Was für ein Brief?“, hörte ich Lea fragen, die immer noch in der ihrer Zeitschrift blätterte.
„So ein Brief, auf dem so ein Top Secret Stempel drauf war.“
An dem Blick, den Domme mir zuwarf war deutlich zu erkennen, dass seine Neugier geweckt war. „Hast du ihn gelesen?“
„Überflogen trifft es eher.“
„Aber du weist was drin stand?“
„Ja. So ungefähr. Um irgendeinen geheimen Auftrag, dass der Stein an einem sicheren Ort sei und dass der Auftrag erfolgreich ausgeführt worden sei.“
Domme machte ein nachdenkliches Gesicht. Wenn er das machte, sah er aus, wie ein Philosoph, der sich allerlei Gedanken machte, mit tiefen Falten, tief gefurchter Stirn und Nickelbrille. Doch ich ersparte mir dieses Bild, da er so sehr unheimlich wirkte. „Das hört sich interessant an.“
Ich zuckte mit den Schultern. Domme wusste damit offenbar etwas anzufangen, immerhin ließ diese Information Platz für Spekulationen, aber ob gerade Spekulationen uns jetzt weiter brachten, war mehr als fraglich.
Die Zeitschrift raschelte in der Luft, als Lea sie wütend gegen die Wand warf. Wir drehten uns zu ihr um. „Ich hab keinen Bock mehr! Dieses Kreuzworträtsel ist doch voll der Feak!“
„Welches Wort hast du diesmal gesucht?“, fragte ich.
„Ein anderes Wort für gehörlos mit vier Buchstaben.“, fauchte sie zornig.
Ich zögerte einen Moment. „Lea, du bist taub!“
„Was? Wieso bin ich jetzt… ahhh!“ Sie holte sich gleich ihre Zeitschrift wieder.
„Annika? Wir haben in einer halben Stunde ne Verabredung mit unserem Lieblingskommissar. Deswegen sollten wir jetzt besser aufbrechen.“
Ich stöhnte widerwillig. „Ey Leute. Mir tut alles weh!“
Domme und Lea sahen sich kurz an, bevor er sagte: „Wie du meinst. Nimm dir heute mal frei.“
Ich freute mich gerade, als die Erinnerung an mein Versprechen wieder auftauchte. Wenn ich nicht mitkommen würde, würde mich mein schlechtes Gewissen den restlichen Tag quälen. Nein.
„Wartet! Ich komme mit!“
Auf dem Polizeirevier, das in der Innenstadt lag und von der zentrale aus nicht schwer zu erreichen war, trafen wir auf einen mürrischen Herrn Maier. Wir kannten ihn inzwischen seit fast 2 Jahren. Damals hatten wir an unserer Schule einen spektakulären Fall gelöst. Seit dem verband uns eine gewisse Freundschaft. Wie viele hatte uns Herr Maier nicht zugetraut, dass wir „Kinder“ einen richtigen Fall übernehmen könnten, hielt uns für zu jung. Doch wir hatten ihn- zumindest in unserem Fall- vom Gegenteil überzeugen können. Seitdem hatte er uns als Detektivbüro akzeptiert und half uns in gegebenen bei Fällen oder wir griffen ihm so gut es ging unter die Arme.
Er sah unzufrieden aus. Und als wir ihn nach dem Grund fragten, reichte er uns eine Mappe. „Bisherige Ergebnisse“ stand darauf. Sie hatte nichts Gutes zu bedeuten. Domme blätterte ein wenig, doch selbst er wusste mit dem hochtrabenden Deutsch nichts anzufangen. „Was steht da drin?“, fragte er.
„Der bisherige Verlauf der Ermittlungen und das praktisch nicht vorhandene Ergebnis.“, entgegnete ich trocken.
„Das heißt?“, fragte ich.
„Mehrere dutzend Verhöre, zahllose Berichte und noch mehr Theorien.“
„Das sind ja tolle Nachrichten.“, meinte Domme.
„Ich und meine Ermittlungsgruppe haben das ganze Stück nochmals durchgemacht!“
„Und keine Lücke oder Hinweise?“, hakte Lea nach. Die Antwort lag auf der Hand. So niederschmetternd sie auch war. Einige Sekunden verstrichen. Es hätten aber auch Minuten sein können. „Es gab bloß eine Spur…“, Kommissar runzelte die Stirn. „Welche Spur?“, fragten wir im Chor.
„Jemand hat sich in seinem PC eingehackt und dort irgendwas gemacht.“, murmelte er nachdenklich. Ich kam den anderen zuvor oder es war Absicht. „Konnten sie zurück verfolgen wer es war?“, wollte ich aufgeregt wissen, doch eine Spur Sorge schwang noch immer mit. Doch der Kommissar schüttelte bedauernd den Kopf.
„Gibt es noch irgendwelche Ermittlungswege?“, warf Lea in die Debatte ein.
Nach einer kurzen Pause.
Habt ihr was Besseres herausgefunden?“ Ich wollte antworten, zögerte und tauschte mit Domme und Lea Blicke aus. Die nickten.
„Nun, wir haben eine Undercovermission gestartet.“ Ich versuchte so selbstbewusst wie möglich zu wirken, wenngleich ich nicht wusste, woher die plötzliche Unsicherheit kam.
Herr Maier lachte leise. „Okay. Na ja gut. Was habt ihr genau gemacht?“
Ich ignorierte sein Gelächter. „Ich hab mich als Praktikantin einschleusen lassen.“
„Interessant.“, meinte Herr Maier. Seinem anfänglichen Gelächter wich nun langsames Interesse. „Mit welchem Ergebnis?“
„Mit keinem.“
„Da kann man wohl nichts machen.“ Wieder konnte er sich das Grinsen nicht verkneifen. Doch es war nicht spöttisch, sondern amüsiert, anerkennend. Offenbar war es für ihn eine Überraschung, dass so junge Menschen wie wir schon eine solche Sache wagten. Gut. Ohne war das wirklich nicht. Doch es gehörte aus unserer Sicht zur professionellen Arbeit einfach dazu. Punkt.
„Ist das so ein Knaller?“, fragte Lea verwundert. Herr Maier spielte mit einem Kugelschreiber, während er nach einer geeigneten Antwort suchte. „Sagen wir es einfach so: Für ein so junges Detektivbüro arbeitet ihr ziemlich professionell.“ Ich lächelte uns lobend an.
Wir lächelten stolz. „Wir tun, was wir können.“, erwiderte Domme dankbar. Und er behielt Recht. In den vergangenen Monaten hatten wir es wirklich weit gebracht. Wieder legte sich Stille über den Raum. Ich blickte hinter Herrn Maier aus dem Fenster. Im Wetterbericht waren für die letzten Ferientage schwere Regenschauer gemeldet, doch die düsteren Wolken, die regelmäßig über Mannheim aufzogen, brachten nichts außer vereinzelten Tropfen. So würde es auch jetzt kommen. Ich sah Herrn Maier erwartungsvoll an, der gedankenversunken in seinem Sessel saß und geistesabwesend mit seinem Kugelschreiber spielte.
In mir rumorte es. Ich hatte Kowalksi ein Versprechen gegeben. Und jetzt sah es ganz so aus, als könne ich es nicht halten. Dieser Fall war noch zu undurchsichtig, schier unlösbar… Aber das konnte es doch trotz aller Sackgassen nicht gewesen sein!
„Gibt es denn gerade nichts, was wir tun können?“, ein wenig Verzweiflung schwang in meiner Stimme mit, doch angesichts der Situation fiel das nicht wirklich auf.
Herr Maier zuckte ratlos die Schultern. „Solange wir in diesem zwielichtigen Fall keine Fortschritte machen, leider nein.“
Die Enttäuschung war groß, wochenlange Ermittlungen waren letztlich umsonst. Doch während sich die anderen fragten, was sie nun in ihren Bericht schreiben sollten, stand ich vor dem Problem, was ich Kowalksi sagen sollte. Dass der Fall Silbermond im Sand verläuft? Ich spürte ein flaues Gefühl im Bauch.
„War es das dann?“ Domme war die Enttäuschung anzusehen. Und er war nicht allein.
„Aber das Schlimmste ist, dass der Staatsanwalt Thomas beschuldigt, dass er den Silbermond hat verschwinden lassen!“
„Was?!“, riefen wir bestürzt im Chor.
„Verschwinden lassen?“, wiederholte Domme ungläubig. „Wieso hätte er das tun sollen?“
„Naja.“, erwiderte Herr Maier. „Der Silbermond war versichert. Und die Summe, die im fall seines Verschwindens wird, ist hoch und…“
„Lassen sie mich raten.“, unterbrach ich ihn. „Die glauben, dass er den Stein hat verschwinden lassen.“
„So ist es.“
Unverständnis machte sich schnell breit. Doch eine Frage gab es noch. „Aber wo sind die Beweise?“, wandte Domme ein.
„Es gibt keine Beweise. Bis jetzt ist alles nur Theorie. In zwei Wochen findet vor Gericht eine Verhandlung statt. Bis dahin haben wir Zeit.“
„Dann dürfen wir keine zeit verlieren!“, stellte Domme klar. Er erhob sich und schüttelte dem Kommissar zum Abschied die Hand. Dieser lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten habe.“

Ein trockener, starker Wind blies uns entgegen, als die Haustür des Präsidiums hinter uns ins Schloss fiel. Die Wolken am Himmel wirkten bedrohlich. Und der milde Schauer, der schon bald auf die Asphaltstadt Mannheim niederprasseln würde und den die Autos an den Rand des Gehwegs peitschen würden, kündigte sich an, ja, man konnte ihn regelrecht spüren, ihn riechen. Und es war klar. Diesmal würde er kommen und die Stadt in ein graues Tuch einhüllen.
Schweigend gingen wir zur Bahnhaltestelle. „Was machen wir jetzt?“, warf Lea die Frage auf.
„Bis jetzt noch keinen Schimmer.“, entgegnete Domme, dessen trüber Blick unentwegt nach vorne gerichtet war.
„Ich hätte da ne Idee!“, meldete ich mich. Domme sah mich gleich erwartungsvoll an.
„Wie wäre es, wenn wir uns in der Vergangenheit umschauen. Vielleicht lässt sich in der Vergangenheit was Aufschlussreiches finden. Bei unserem letzten großen Fall hat das ja schließlich auch funktioniert!“
„In Ordnung. Du hast recht. Probieren wir es mal. In seiner Stimme schwang neue Zuversicht. „Das heißt für dich Lea: Suche alles heraus, was du über den Silbermond finden kannst. Konzentriere dich auf die Vergangenheit.“
„I I Käpt’n!“

Puh! Was für eine aufregende Sache. Da will man mal einen schönen Krimiabend genießen und wird gleich selbst ein Teil des Krimis! Eine verrückte Sache. Vor allem, wenn man eines bedenkt:
Manchmal kommt alles anders, als man denkt…


Der Ruf aus der Vergangenheit


Dies ist meine letzte Nachricht an die Welt, die nach mir und meinen Stamm existieren wird!
In schwärzester Nacht, in bittersten Zeiten, im blutigsten Krieg, in größten Nöten, und sei die Lage noch so ernst! Die Welt sagt ´Gewalt ist keine Lösung´. Doch jeder noch vernünftige Mensch weis, dass diese Weisheit längst keine Realität mehr ist, wenn sie es denn je war! Spätestens wenn alle Diplomatie versagt, tritt genau diese Erscheinung vor unser Aller Augen. Manche schaffen es glücklicherweise aus Gewalt doch noch Frieden herzustellen. Es sind die, die es tun, weil es ansonsten keine andere Möglichkeit gibt, Leid zu beenden. Dann gibt es noch die, die für das Erreichen ihrer Ziele einfach alles tun, wie der Skrupel- und Kompromisslose Diktator im Norden. Menschen, die mutwillig Leid über die Bevölkerung bringen.
Und dann gibt es noch die, die etwas mit guten Absichten tun, was aber unbewusst und ungewollt zu Gewalt führt, teilweise zu Kriegen, die ganze Zivilisationen auslöschen. Bedauerlicherweise gehöre ich selbst zu dieser Gruppe. Ich erschuf etwas, um zwei verfeindeten Stämmen, die sich uneingeschränkt bekriegten, Einhalt zu gebieten. Doch statt Frieden brachte er Leid, Kummer, die Vernichtung beider Stämme und letztlich auch noch die Amerikaner…
Wo ich bin, weis ich nicht, niemand meiner Art weis es und auf den „Aktionsplätzen“ will es uns auch niemand sagen. Doch das Meer ist in der Nähe! Das spüre ich.
Hernandez Ibi, ich schicke dir diese Zeilen nicht nur, weil du mein Freund bist und ich dich vermisse, sondern weil ich dringend deine Hilfe benötige! In der kleinen Schatulle wirst du einen Edelstein finden. Doch Vorsicht ist beim Öffnen geboten! Das ist nicht paranoid, sondern die Wahrheit! Die Hexe aus meinem Stamm hat ihn mir anvertraut, hat seine geheimnisvollen Kräfte angepriesen, fast schon vergöttert! Doch offenbar hat sie mir nur die halbe Wahrheit über seine Kräfte erzählt… Was ich eigentlich sagen will ist: Auf dem Stein lastet ein Fluch! Vielleicht ist es auch ein Dämon, der in ihm wohnt, das weis ich nicht mehr so genau, doch eines ist sicher, er zieht das Unheil nur so an, und tötet! Jeden, der ihm zu nahe kommt!
Ich bitte dich daher, den Stein todsicher aufzubewahren und ihn so gut es geht zu läutern, denn seine Macht ist zu groß, und zu gewaltig wären die Auswirkungen, die einträten, wenn die große, naive, leichtsinnige Welt ihn in die Finger bekäme…
Wie er zu läutern ist, weis ich nicht, aber bin mir sicher, dass du es rasch herausfinden wirst, ihn sicher versteckt hältst, bis er geläutert oder seine Macht kaum mehr spürbar, am Sterben ist und wenn sich die Wellen im stürmischen Ozean der Zeit wieder beruhigt haben.

Ich fürchte, dass dies das letzte Mal ist, dass ich Kontakt mit dir aufnehmen kann. Allein das hier kostet mich viel Überwindung…
Ich wünsche dir und deinen Kindern alles Gute, natürlich auch dir und deiner Frau. Und lass dich nicht vom rechten Weg abbringen!

Herzlichste Grüße aus „Amerika“.
Toughatheh

PS: Pass auf dich auf!!!


Drei Tage nachdem er zutiefst schockiert die Zeilen gelesen und den Stein versteckt hatte, kam er beim Brand seines Haues in Berlin ums Leben. Die Ursache für diese Katastrophe konnte nie geklärt werden.


Ein Mann namens Nimmrot


Er sah ihn schon Weitem. In gemächlichen Schritten auf ihn zu kommen. Es war ein junger Mann den seine eisblauen Augen hinter der Sonnenbrille erkannten. Jünger als er gedacht hätte, doch nicht zu jung. Im schwachen Licht der rostigen Straßenlaternen, die am Ende ihres Daseins nur noch so vor sich hin glühten. Er konnte nur sehr wenig erkennen, doch für ihn reichte es, doch für ihn reichte es, um sich ein erstes Bild machen zu können. Groß, breitschultrig, wohl gebaut. Auf den ersten Blick nichts was sonderlich auffiel. Doch innerlich atmete er erleichtert durch. Kein Hager! Sehr gut! Von der Sorte Mann, die geradewegs auf ihn zukam, wusste er, gab es viele. Manchmal sogar beunruhigend viele. Doch es änderte nichts daran, dass die Meisten, die er kannte, genau diese Sorte waren, die er am Liebsten um sich hatte. Sie waren wie er selbst. Aalglatt, kaltblütig, aber nicht blutrünstig, skrupellos. Gelegentlich durfte es auch es auch Kalkür oder Egoismus oder beides sein.
Hager(Hagere) oder Hungerhaken waren weniger sein Fall, denn meistens waren sie das Gegenstück, dazu verweichlicht, einfallslos, ohne den richtigen Dickkopf.
Er behielt seinen zukünftigen Schützling im Auge, beobachtete jeden seiner Schritte, seine Haltung, seine Mimik, seine Blicke. Er hatte ne Psychologie oder anderes studiert, ihm genügte Menschenkenntnis, um ein weiteres Bild entstehen zu lassen. Und dieses Bild war gut. Der junge Mann, er schätzte ihn auf 18 oder 19, hatte kurzes, leicht gewelltes Haar. Zielstrebig kam er auf ihn zu.
Es war eine rabenschwarze Nacht, jeder andere wäre hier verloren, in diesem Wald, in dieser Dunkelheit, die dazu im Stande war, dem ein oder anderen das Fürchten zu lehren. Doch für ihn war es perfekt. Die Nacht war seine Zeit, hier und jetzt war er in seinem Element. Er war durch und durch ein Nachtschwärmer gewesen, sie reizte ihn schon immer mehr, als der in seinen Augen zu belebte Tag. Und der Mann, der unbeirrt auf ihn zukam, war der Nacht wohl genauso zugeneigt, das verrieten zumindest seine Bewegungen. Die Scheinwerfer der Limousine blieben dunkel. Der Wagen schien unsichtbar. Doch der gut aussehende junge Mann fand seinen Weg trotzdem. Wenige Augenblicke verstrichen, bis die Beifahrertür aufging und der Mann sich neben ihn setzte. „Guten Morgen, Señor Ibi.“, begrüßte er ihn höflich.
„Sie sind zu spät!“, erwiderte Ibi schroff.
„Tut mir leid. Ich bin aufgehalten worden.“
Ibi lächelte spöttisch. „Wissen sie eigentlich, wie oft ich diesen Satz zu hören bekomme?“
„Ich weis nicht.“, antwortete der andere. „Ich tippe auf oft genug.“
„Viel zu oft!“, bestätigte Ibi.
„Okay.“
„Aber egal. Lassen wir uns keine Zeit verlieren.“
„Sehe ich genauso.“
„Sie sind also mein neuer Praktikant, ja?“ Ibi musterte seinen Schützling aus der Nähe kritisch.
„So ist es.“ Der Mann auf dem anderen Sitz bemerkt, dass er von oben bis unten gemustert wurde, mit einem abschätzenden, prüfenden Blick. Jeden anderen hätte dieser durchdringende Röntgenblick verunsichert, doch an den hatte er sich längst gewöhnt. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Karpone sie zu mir geschickt hat?“
„Ja, So ist es.“
Die beiden schwiegen einige Momente, ehe Ibi fortfuhr. „So wie ich Karpone kenne, wird er ihnen gesagt haben, was derzeit ansteht.
„Ja. Mein Onkel erzählt mir so Manches.“
Ibi runzelte die Stirn. Er ist ihr Onkel?“
„Ja! Hat er ihnen das nicht gesagt?“
Ibi spulte die Erinnerungen der letzten 48 Stunden zurück. Er erinnerte sich an Karpones Anruf. „Es ist dringend“, hatte er gesagt. Doch wann war es das nicht? Und wie immer bat er um ein solches kurzfristiges Treffen. Er sagte, er habe einen Praktikanten für ihn. Doch dass Dieser sein Neffe war, hatte er mit keiner Silbe erwähnt! Aber warum? An einen Zufall glaubte er nicht, ebenso so wenig, dass er einfach vergessen haben konnte, denn sein Vorgesetzter war kein vergesslicher Mensch, schon gar nicht, wenn es um eine derart wichtige Angelegenheit ging. Wollte er ihn testen? Hatte er seinen Neffen geschickt, um ihm auf den Zahn zu fühlen? Oder hatte er gehofft, dass er es gar nicht erst bemerken würde. Egal! Für lange Debatten und Ratespiele gab es keine Zeit! „Also gut. Hat er sie über die derzeitige Lage aufgeklärt?“
„So ziemlich.“
„Gut.“
„Aber da gibt es noch eine Sache, die ich noch nicht verstehe.“
„Und die wäre?“
„Wieso musste der Silbermond eigentlich auf so aufwendige Weiseentwendet werden? Gab es wirklich keinen einfacheren Weg?“
„Ich weis es nicht. Doch wenn sie im Geschäft bleiben wollen, sollten sie sich eines merken: Wir werden bezahlt, um Auftrage auszuführen, nicht um sie zu hinterfragen!“
„Wo ist der Stein jetzt eigentlich? Die Sache mit dem Boten scheint schief gelaufen zu sein.“
Ibi zögerte, Schließlich sagte er. „Das mit dem Boten war ein dummer Zwischenfall. Mein Bruder ist unerwartet aus dem Ausland zurück gekehrt und hat sich den Stein gleich genommen! Ich frage mich jetzt noch wie er das angestellt hat!“ Er konnte nicht verhindern, dass Zorn in seiner Stimme mitschwang.
„Das heißt, ihr Bruder hat ihnen den Stein vor der Nase weg geschnappt?“
„Im wahrsten Sinne des Wortes.“, antwortete Ibi, noch immer frustriert.
„Das ist ein Problem?“, stellte der andere fest. „Das heißt für uns, dass wir ihn zurück klauen werden?“
„So ist es.“, bestätigte Ibi in gewohnter Gelassenheit. Er blickte stur geradeaus. Sein starrer Blick verlor sich in der pechschwarzen Finsternis. Im Wagen war es ebenso finster. Der andere, blickte in dieselbe Richtung, wunderte sich, was sein Nachbar dort zu sehen vermochte. Doch da war Nichts. Nichts bis auf schwarze Nacht. Der Mond war längst verschluckt worden und die Sterne hatten sich dazu entschlossen, heute nur vereinzelt zu erscheinen. Nicht mal mehr die Silhouette des Waldes war zu erkennen. Bis auf die Ibis und der des Wagens konnte er absolut nichts erkennen. Doch Ibi sah durch die dunkle Sonnenbille alles. Ein Merkmal, das ihn zu einer mysteriösen Erscheinung machte.
„Haben sie schon einen Plan?“, fragte der andere in die Dunkelheit.
„Noch nicht.“, antwortete der längliche Schatten. „Aber bald. Rico ist clever. Er weis wie scharf ich auf den Stein bin, aber er wird nicht warten, bis ich ihn jage.“
„Ist sein Aufenthaltsort bekannt?“
„Nein. Aber es wird nicht schwer sein das heraus zu finden.“
„Ich habe viel über ihn gehört.“
„Achja? Was haben sie denn gehört?“
„Er scheint beliebt zu sein. Besonders bei den großen Bossen. Aber wen wundert das? Er ist viel gereist, gebildet und zuverlässig.“
„Ja, das ist er. Allerdings hat er auch viele Schattenseiten. Er ist ein Banause. Ein Rumtreiber. Wenn er heute in Speyer ist, kann er morgen in Dresden oder woanders sein.“
Der andere machte ein verwundertes Gesicht. „Wusste gar nicht, dass Geschwister so gegensätzlich sein können! Sie sind euch nicht sehr ähnlich.“
Ibi hatte diesen Satz in immer verschiedenen Formulierungen schon gehört, seit er denken konnte und er konnte ihn bereits auswendig. Doch es kränkte ihn nicht, er war weder beleidigt, noch hatte er je das Bedürfnis einer Änderung empfunden. Daher nahm er es mit Gelassenheit entgegen, kommentierte nur selten.
Da kam ihm ein Gedanke. „Wie ist Karpone eigentlich auf mich gekommen?“
„Da fragen sie den Falschen!“, erwiderte der andere.
„Er hat kein Wort über mich verloren?“, wollte Ibi verwundert wissen.
„Er hat erwähnt, dass sie in letzter Zeit nicht gerade erfolgreich waren und er hat einen Codenamen genannt: Nimrot!“
Ein flüchtiges, amüsiertes Lächeln huschte über das steinerne Gesicht des Señor Ibi. Schon lange hatte man ihn nicht mehr mit diesem Namen angesprochen, es gab sogar Zeiten, in denen er seinen Wegbegleiter fast vergessen hatte. Doch er kam immer wieder auf, er wurde immer wieder. Manchmal regelmäßig aufgegriffen, allerdings gab es noch nie einen Grund, wieso er sich vor ihm verstecken, oder ihn scheuen sollte, und wenn er Lust dazu hatte, gab er die nicht uninteressante Geschichte gerne Preis. Und heute hatte er dazu Lust. „Ja. Nimrot ist mein zweiter Name. Früher, vor zehn oder fünfzehn Jahren. Eine turbulente Zeit. Es war eine Zeit, in der jeder einen Spitznamen bekam, nicht irgendeinen Namen, sondern einen, der den Charakter und oder die Vorgehensweise der jeweiligen Person beschreibt. Jeder bekam einen solchen Namen, die schmückten sich mit ihm und die anderen verleugneten ihn. Anfangs wurden sie erschaffen, um vor allem im Ostblock unerkannt zu bleiben.“
Im Gesicht des Praktikanten stand eine Frage. „Wenn die Menschen damals solche Namen hatten, war das dann nicht ein bisschen auffällig? Ist das der Stasi nie aufgefallen?“
„Nein. Ist es nie. Die Menschen dort hatten ihre Leute eingeschleust, so lebten sie ohne Risiko. Und außerdem: Die Stasi war hart und unnachgiebig, aber nun mal korrupt.“
Der andere grinste. „Simpel, aber raffiniert.“
„Genau. Doch im Laufe der Zeit wurde aus Tarnung Trend, bald hatte jeder einen und so mancher schuf auf diese Weise einen eigenen Mythos. Bis sie alle einen hatten. Und meiner war ´Nimrot`.“
„Hat er eine Bedeutung?“
Ibi schielte zu seinem Schützling hinüber, den diese Geschichte offenbar fesselte. „Sie stellen viele Fragen.“
Der andere lächelte verlegen. „Ja, ich weis, ich bin schrecklich neugierig.“
Ja. Hat er.“, fuhr Ibi schließlich fort.
„Und welche?“
„Seitdem ich im Geschäft bin, habe ich, was Zeugen und andere angeht, die zu einer Bedrohung für mich werden könnten, eine Arbeitsweise: Ich bringe sie um. Das ist einfach und effektiv. Anschließend lasse ich die Leichen verschwinden oder lege falsche Fährten, um mir Zeit zu verschaffen. Aber das mache ich nur selten. Daher kommt dieser Deckname.“ Ich sprach das alles aus, als wäre diese Vorgehensweise fast alltäglich, normal. Als spreche über etwas, was nicht allzu viel Beachtung verdient hätte.
Der andere war leicht blass geworden, war schockiert über solche Kaltblütigkeit! Ich brachte diese geschockte Reaktion zum Schmunzeln, das Lachen konnte er gerade noch so unterdrücken. Diese Reaktion war für ihn nichts mehr Ungewöhnliches, sondern normal.
„Machen das alle so?“, keuchte der Praktikant, der noch blass um die Nase war.
„Nein. Und seien sie froh drum. Wenn es alle so machen würden wie ich, so wären Amokläufe an der Tagesordnung.“
Der andere schwieg. Er wusste nicht, was er von diesem Señor Ibi halten sollte. Bisher hielt er seinen Onkel für kalt und rücksichtslos, doch der Señor Ibi schlug alles bisher gekannte. Doch er hatte Menschenkenntnis und dessen Gesetz erlaubte nicht die Vermutung, dass ein Mensch 100% böse sein konnte. Auch wenn alles genau darauf hin deutete. Diese Feststellung hatte ihn noch nie im Stich gelassen.
Ihm wurde bewusst, wie wenig er über die Praktiken der Mafia Bescheid wusste, gleichzeitig, wie viel er noch lernen konnte und er war ehrgeizig und lernen war für ihn bisher noch nie ein Problem gewesen.
Dennoch wollte er so schnell wie möglich das Thema wechseln. „Sie sagen, unsere Aufgabe ist es, ihrem Bruder den Silbermond wieder zu nehmen. Aber wie stellen wir das an? Werden wir ihn überfallen oder werden wir bei ihm einbrechen oder werden wir ihm gleich die direkt die Pistole auf die Brust setzen?“
Ibi schüttelte nur den Kopf. „Haben sie Menschenkenntnis?“, fragte er unvermittelt. Den anderen verwirrte diese Frage, er verstand den Zusammenhang nicht mit dem Thema nicht. „Ja, natürlich.“
„Gut. Sie sind jung wahrscheinlich ehrgeizig und voller Tatendrang, aber noch zu sehr ein Draufgänger. In unserem Geschäft kommt es selten vor, dass man so erfolg feiert, umso besser ist es, wenn man etwas von Menschen versteht. Worauf ich hinaus will ist: Bei Rico werden wir sie meiner Auffassung nach auch brachen. Komplett. Er ist ein sehr lockerer, gelassener Mensch, der gelegentlich dazu neigt, manche Situationen zu unterschätzen. Das heißt, dass er sich zum Beispiel von nichts aus der Ruhe bringen lässt. Gewalt ist für ihn kein Anreiz, er verabscheut sie. Er löst Probleme daher meistens mit gewitzter und ausgeklügelter Diplomatie. Da müssen wir also anders ran gehen.“
„Das klingt so, als hätten sie einen Plan.“
„Den habe ich gewissermaßen.“
„Und wie sieht der aus?“, wollte Ibis Schützling neugierig wissen. Und Ibi zögerte keine Sekunde. „es ist ein Plan, wie ich ihn liebe! Simpel, unkompliziert und mit einer guten Erfolgschance.“
„Also?“, fragte der Neue gespannt.
„Wir werden dafür sorgen, dass er uns den Silbermond aus freien Stücken überlässt.“ Ibi sah aus den Augenwinkeln, dass der junge Mann neben ihm die Stirn runzelte. „Das verstehe ich jetzt nicht ganz.“
Ibi lächelte zuversichtlich, das einzige Lächeln, das bei ihm nicht weder künstelt noch gespenstisch aussah. „Warten sie ab. Warten sie es ab…“


Ein verhängnisvolles Versprechen


Die Augen wurden verdreht, wenn man den Jungen Leuten in die maulenden Gesichter blickte. Bei den Meisten spiegelte sich Angst oder Furcht in den Augen. Ein mürrisches, trotziges Raunen ging durch die Bänke. Frau von Bööse stolzierte wie ein Storch auf ihren 20cm hohen Absätzen. Und das sah- wie immer- nicht einmal besonders grazil aus. Ein Storch hätte seine Freude an ihrer auffälligen Gangart gehabt. Mehr sah sie sie aus, wie ein junger Storch, der gerade erst das Laufen gelernt hatte. Nicht zuletzt dadurch wurde sie von der ganzen Schule „böser Storch“ genannt.
Den deutlichen Protest der Klasse ignorierte sie eiskalt. Demonstrativ packte sie einen dünnen Papierstapel aus ihrem kleinen Rucksack, den sie sogleich aufs Pult legte. Bei diesen Blättern handelte es sich um einen Test, um einen ihrer berüchtigten Tests. Und berüchtigt ist dabei nicht übertrieben! Sogar Nico, der fast immer Klassenbeste hatte manchmal enorme Schwierigkeiten und wenn er bei einer Arbeit oder einem Test schlechter als 3 abschnitt, dann hatte das das was du bedeuten! Das ohnehin gemeine war, dass sie Tests generell nie ankündigte. Gut, das ist nicht verboten. Doch das Heikle war, dass sie ihre überdurchschnittlich schweren Tests immer dann schrieb, wenn es wirklich niemandem passte, immer im falschen Moment. Ihre messerscharfe Stimme durchschnitt den aufkommenden Tumult, wie eine Schwere, die durch ein Stück Papier glitt. „Alles zu! Alles weg!“
An allen ecken und Kanten wurde geflüstert, doch mit einem drohenden Blick der Frau wurde es wieder still. Missmutig packte ich mein NWA Buch wieder ein. Ich warf einen kurzen Blick zu Domme und Lea. Domme schien nicht minder überrascht zu sein, wirkte er aber dennoch sicher. So wie es aussah. Lea saß, erschrocken und ängstlich blickend wie ein Reh fast regungslos an ihrem Platz. Ihr ging es wie mir und 3/4tel der Klasse. Ich beobachtete sie, wie sie immer näher kam, sah, wie ihre faltige Hand mir ein Blatt auf den Tisch legte. Der Ring an ihrem Mittelfinger hatte schon vor Jahren seinen Glanz verloren.
„20 Minuten! Auf geht’s!“ Schlagartig wurde es still.
Normalerweise hatte ich für alles einen Spicker, selbst wenn ich gelernt hatte. Oft genug kam es vor, dass ich die Spicker mühevoll geschrieben und dann nicht benutzt hatte. Doch bei dieser Lehrerin hatte nicht mal ich bisher ins Schwarze getroffen. Denn dummerweise hatte ich meine Spicker dabei, wenn ich sie nicht brauchte und nicht dabei, wenn ich sie brauchte. Bei Arbeiten brachten sie mich meistens einfach nicht weiter.
So wie meine Nachbarn, Karo und Henry aus der Wäsche schauten, würde es sich nicht lohnen abzuschreiben. Der böse Storch setzte sich zurück hinters Pult und ließ ihren lauernden Blick durch die Reihen schweifen, wie ein Adler, der über ein Feld kreiste, auf der ständigen Suche nach Beute.
Ich versuchte einen Blick auf die fremden Blätter zu erhaschen. Doch in Aller Augen stand Ratlosigkeit. Hier war nichts zu holen. Auf Karos Papier stand viel, es sah vielversprechend aus. Dumm nur, dass ihre Schrift sehr unleserlich war….
Ich schreckte auf, als sich Frau Bööse vorne laut räusperte. Als ich zu ihr sah, blickte sie bereits aus böse funkelnden Augenschlitzen in meine Richtung. Mein Herz begann plötzlich zu rasen! Es ließ sich nicht genau beschreiben, ob sie mich meinte, oder jemand anderen. Abschreiben war jetzt sowieso viel zu riskant, wer wusste schon, ob sich mich nicht im Auge behielt…
Ich wandte mich wieder meinem Blatt zu, auf dem noch kein Wort geschrieben stand. Fieberhaft überlegte ich passende Antworten. Doch nicht mal die Fragen verstand ich. Dementsprechend brachte ich auch Ergebnisse aufs Blatt. Doch es war nicht Nichts, das Meiste von dem was ich niederschrieb waren Erinnerungen an den Unterricht. Ich konnte die auf mich konzentrierten Blicke spüren, sie verunsicherten mich. Doch nichts passierte.
Unmut regte sich in der Klasse, als die Lehrerin am Ende der Stunde auf wackeligen Füßen aus dem Raum stolperte und die Tür ins Schloss schnappte. Die Laune war komplett am Boden und als die Stimmen etwas lauter wurden, viel mir auf, dass Paulina gar nicht da war.
Danach 2 Stunden Englisch und damit 2 Stunden Langeweile. Ich hoffte, dass wenigstens die letzte Stunde Sport nicht für die Katz war.
Doch wütend zog der 24köpfige Mob wieder ab. Es war passiert, was zu erwarten war und auch so perfekt ins Bild passte. Wir waren 20 Minuten unterwegs, um am Carl Benz Stadion gesagt zu bekommen: Ihr habt frei. Ihr könnt gehen. Frau Larsko ist auf Fortbildung!“
Subba! Der Tag war so unnötig!
Und während die anderen sich auf den Nachhauseweg machten, fuhren Domme, ich und Lea zur Zentrale.
„Wie sieht es aus, Lea?“. Begann Domme das Gespräch. „hast du schon was über den Silbermond heraus gefunden?“
Lea schüttelte den Kopf. „Sorry, aber ich bin noch nicht dazu gekommen.“
Ein Augenblick verstrich. Wir bogen in die Straße ein, die zu unserer führte. In den letzten Monaten hatte sich in dieser Gegend einiges getan. Es war nie die Beste ihrer Art, die Häuser teilweise verfallen oder in schlechtem Zustand. Dafür waren die Mieten entsprechend niedrig. Hier lebten vor allem Ausländer. Doch vor Monaten kamen erhebliche Umbrüche. Irgendwer fing an, in das „Schattenviertel“ zu investieren. Einzelne Häuser wurden wieder in Schuss gebracht, es wurde viel saniert und renoviert. Nach gewisser Zeit entschloss man sich, mehr zu machen, ganze Straßenzüge wurden komplett in Stahlgerüste gewickelt. Und so wurde aus einer „Schattenseite“ Mannheims ein kleines Schmuckstück, über das in der Zeitung viel berichtet wurde. Noch waren von den Bewohnern her keinerlei Veränderungen aufgetreten, doch es war sicher, dass auch das nur noch eine Frage der Zeit sein würde.
„Habt ihr auch die Artikel in der Zeitung gelesen?“, fragte Lea in die Runde.
„Ansatzweise.“, antwortete Domme.
„Nein. Was schreiben die denn?“, kam die Antwort von mir. Domme sah mich ungläubig an. „Seit wann weist du nicht, was in der Zeitung steht? Du bist doch sonst so gut informiert.“
„Auch ich kann nicht alles wissen, aber im Ernst, was schrieben die?“
„Ziemlich abenteuerlich klingende Geschichten, die, wenn man sie mit dem Ermittlungsstand vergleicht, fast nur aus waghalsigen Vermutungen bestehen. Für uns weniger interessant.“
„Bist ja sehr gut informiert!“, lobte Domme. Lea lächelte verlegen und wurde rot. „Ihr hättet gestern meinen Vater sehen müssen. Ich sitze in der Küche und lese Mannheimer Morgen und er fragt mich `Lea? Ist alles okay mit dir? ` `Ja. Wieso?`
`Naja. Du liest doch sonst nie Zeitung. Oder musst du das für die Schule machen? ` `Nein.´
Ey Leute, der konnte gar nicht glauben, dass ich freiwillig Zeitung lese, und das anschließende Gesicht meiner Schwester war Gold wert!“ Sie lachte.
„Sonst noch was Aufschlussreiches?“
„Leider nein.“
Domme machte ein nachdenkliches Gesicht. „Dieser Fall ist bis jetzt mehr als rätselhaft. Wir müssen jeden Stein mehrfach umdrehen. Vor allem jetzt dürfen wir keine falschen Versprechen geben, bis wir etwas Verwertbares haben!“

Na ganz toll! Jetzt hat er, ohne es zu ahnen mein Versprechen wieder zurück gerufen. Das Versprechen, das ich Kowalksi gab, ein Versprechen, das ich nicht halten konnte. Ich nickte nur zustimmend. Wir brauchten so schnell wie möglich eine Spur! Denn erneut quälte mich mein schlechtes Gewissen und die Vorstellung vom niedergeschlagenen und eingefallenen Kowalksi verlieh diesem erheblich viel Kraft.

In einer kleinen Koditorei


In gemächlichem Tempo lief Ibi die Ludwigshafener Innenstadt entlang. Die malerische Promenade, in der Moderne und alte Kunst in einer perfekten Harmonie miteinander verschmolzen, tummelte sich das Leben wie in einem Bienenstock. Sie war voll und belebt, wie jeden Nachmittag. Lachende, tratschende Menschen, bis an die Zähne mit Taschen und Einkaufstüten vollgepackt. Alle leicht bekleidet. Er dagegen wirkte mit den versteinerten Gesichtszügen, dem pechschwarzen Smoking und der dunklen Sonnenbrille wie ein Fremder. Und dennoch fiel er nicht auf. Er fühlte sich nicht besonders wohl in solch belebten Gegenden. Warum konnte er sich selbst nicht erklären. Überhaupt war ihm nicht wohl bei der Tatsache, dass er hier, in aller Öffentlichkeit über ein diskretes Thema reden sollte. Zügig lief er die funkelnde Hauptstraße entlang. Vor der Konditorei Schilling blieb er stehen. Er sah auf die Uhr. 13.30 Uhr. Er war wie immer pünktlich. Er atmete tief durch, dann lief er mit gezielten Schritten darauf zu. Das Cafe war gut besucht und die angenehme Sommerliche Brise wehte Ibi den Geruch von heißem Kaffee und süßem Gebäck in die Nase. Er zwängte sich zwischen den schwitzenden Gestalten hindurch, wäre um ein Haar mit einer Kellnerin zusammengestoßen. Sein Blick suchte nach seinem Bruder.
Und er fand ihn. Am anderen Ende des Cafés. Er saß alleine dort, als er Ibi zuwinkte. Rico lächelte seinen erst dreinblickenden Bruder gut gelaunt an. Ein Bild, wie es gegensätzlicher nicht hätte sein können.
„Du bist pünktlich, Brüderchen! Wie immer. Einen guten Morgen, oder besser, guten Mittag.“, sagte Ricos eher zarte, leise Stimme in den Lärm der Gäste im großen Innenraum.
„Dir auch einen guten Morgen.“, sagte Ibi trocken und tonlos.
„Sind wir heute wieder wortkarg?“
Ibi erwiderte diese Frage nicht und setzte sich seinem Bruder gegenüber. Er beobachtete ihn genau, las aus jedem seiner Züge, während dieser gelassen in der Speisekarte blätterte. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte er, ohne über den Rand der Karte zu schauen. „Ich kann den Bordeaux 96´ empfehlen. Er ist für diese Jahreszeit sehr gut.“
„Nein.“, sagte Ibi. „Ich bleibe meinem Gin treu.“
Der Bruder sah ihn überrascht an. „Immer noch? Ich weis bis heute nicht, wie man dieses bittere Zeug runter bekommt. Aber wie sagt man so schön: Jedem das seine.“
„Ja.“, bestätigte Ibi. Er machte die Krawatte etwas weiter. Die Luft dort hinten war sehr warm und stickig, die Klimaanlage über ihren Köpfen surrte umsonst vor sich hin.
Ihm war nicht nach Small Talk zumute. „Wie bist du eigentlich auf dieses Lokal gekommen?“
„Ich komme oft hierher. So voll wie jetzt ist es zwar nur selten, aber der Service ist sehr gut und außerdem habe ich noch nie so gute Torten gegessen.“
„Aber findest du es nicht riskant, ein diskretes Thema in aller Öffentlichkeit zu verhandeln?“
„Wieso? Fürchtest du etwa, dass ein Spion hier ist oder sonst jemand, der uns aushorchen könnte? 1. Wir sind hier nicht in der DDR, zum Glück. Und 2. Weis ich nicht, was du hast!“
„Ich bin nun mal vorsichtig!“, verteidigte Ibi sich bissig.
„Verzeihe mir diese Bemerkung, aber das ist nicht vorsichtig, sondern paranoid!“
„Ein weiterer Beweis dafür, wie unterschiedlich wir doch sind.“, meinte Ibi trocken.
„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“, kommentierte Rico.
Eigentlich war er an diesem wundervollen Tag gut gelaunt, doch in dieser glühend heißen, feurigen, mitreißenden, ausgelassenen Stimmung des Cafés stand saß ein alles absorbierender Eisklotz. Bei fast allen wurde das Eis zum Schmelzen gebracht. Nur bei seinem Bruder schien ganztägig polare Eiszeit zu herrschen. Einen Augenblick lang dachte er sogar, die von ihm ausgehende Kälte zu spüren. Eigenartigerweise kamen die Wellen der Glücksgefühle selbst bei ihm nicht richtig an. Und er erschrak.
„Ich gehe nicht davon aus, dass du mich hierher bestellt hast, um meine Arbeitsweise zu kritisieren!“
„Nein. Es geht um etwas viel Wichtigeres. Um den Silbermond, um genau zu sein.“
Rico nippte in langsamen Zügen seinen Wein. Er kostete jeden Moment aus. „Das klingt interessant. Obwohl es streng genommen nichts Neues ist. Aber gut. Was ist mit ihm?“
„Ich muss ihn wieder haben! Unbedingt! Doch hast ihn doch noch, oder?“
„Natürlich.“
„Gut. Du musst ihn mir unbedingt wieder geben!“
„Möchtest du nicht erst etwas bestellen? Einen Gin würde ich allerdings nicht empfehlen, nicht zu der Karte.“ Ricos gemächliche Stimme klang, als redete er von etwas, das es nicht wert wäre, den Genuss und die Freude des Lebens zu überholen. Am liebsten hätte Ibi sich nicht darauf eingelassen, doch ausnahmsweise war es nicht er, der die Zügel in der Hand hielt, sondern ausgerechnet sein Bruder, bei dem man teilweise mehr als diplomatisches Geschick aufweisen musste, um sein Ziel zu erreichen. Vorher hatte es Ibi nie sehr schwer gehabt, seine Erscheinung allein ließ es so manchen eiskalt des Rücken runter laufen, bei den Meisten tat es seine übliche Arbeit. Doch Rico war, auch wenn er auf den ersten Blick nicht so wirkte, eine harte Nuss, die zu knacken sein musste. Ibi war klar, dass er schickt sein musste, um sein Ziel zu erreichen.
Widerwillig klappte er die Speisekarte auf. „Was empfiehlst du denn?“, fragte er grimmig.
„Die Bananentorte und einen doppelten Espresso.“, kam es unbeirrt von der anderen Seite. Ibi machte ein entsetztes Gesicht. „Willst du mich umbringen?!“
„Nein. Ich gebe zu, diese Mischung ist kräftig und schwungvoll. Aber dennoch ein echter Genuss.“
Ibi kam der Empfehlung nach und eine mit Schweißperlen übersäte Kellnerin nahm seine Bestellung entgegen.
„Also.“, versuchte es Ibi erneut. „Du musst mir den Silbermond wieder zurück geben!“
„Und das sagt wer?“
„Ich. Und Karpone.“
„Tatsächlich?“, Rico nippte wieder an seinem Wein, großzügig und geduldig. Doch seine schalkhaft funkelnden, braunen Augen blieben mit seinem Bruder in Kontakt. „hat er dir allein den Auftrag gegeben?“
„Nun… ja.“
„Also nein. Das dachte ich mir.“
„Er hat mir den Auftrag gegeben, das sollte eigentlich dann klar sein!“
„Seit wann hast du denn den Auftrag?“, wollte Rico verwundert wissen.
„Seit fast 2 Monaten.“
Rico runzelte die Stirn. „Eigenartig.“, murmelte er.
„Wieso?“
„Karpone hat mich vor zwei Monaten angerufen und mich angewiesen, dass ich den Silbermond von dir abholen sollte.
„Was soll das heißen?“, reif Ibi empört. „Er hat dich auch auf den Silbermond angesetzt?!“
„So sieht es wohl aus. Oder glaubst du es war ei Zufall, dass ich so unerwartet zurück bin, dass ich plötzlich in deiner Wohnung war und genauso plötzlich scharf auf den Silbermond war?“
Ibi verschlug es die Sprache. Er hatte sie jedoch schnell wieder. „ich dachte, du wärst auf den Chefposten scharf und hättest deswegen den Silbermond gewollt!“
Rico schüttelte energisch den Kopf. „Ich war nie auf den Posten scharf, viel lieber wäre ich jetzt wieder in Buenos Aires, Paris oder New York. Oder nein. Nicht New York. Zu staubig und zu lärmend. Doch stattdessen bin ich hier, in Ludwigshafen, eine Stadt, wie ich sie eher meide. Und statt einem einfachen Auftrag habe ich jetzt mit einem Edelstein, meinem unnachgiebigem Bruder und einem Boss zu kämpfen, der es mag, andere gegeneinander auszuspielen.“ Verärgert verdrehte er die Augen.
„Das Leben ist nun mal kein Ponyhof.“, meinte Ibi tonlos. Er bemerkte gar nicht, dass ihm seine Bestellung serviert wurde. Erst als ihm der starke Espresso in die Nase stieg drehte er den Kopf zur Seite. Doch die junge Kellnerin war längst im Menschendickicht verschwunden.
„Das musst du mir nicht sagen! Aber ich könnte jetzt trotzdem in einer Hängematte liegen und einen Cocktail schlürfen!“
„Wann arbeitest du eigentlich?“
„Bevorzugt nachts.“
„Werden wir ihn darauf ansprechen?“
„Karpone? Nein. Wir werden den Dingen ihren Lauf lassen.“
„Ist das nicht fahrlässig?“ Ibis Stimme klang gereizt, Er hasste es, wenn jemand hinter seinem Rücken Fäden spann, aus seiner Sicht wurde er hinters Licht geführt!
„Wieso? Ich hörte Karpone macht das gerne, allerdings nicht aus deinen Gründen, sondern weil er uns testen will.“
Ibi stand dem, was sein Bruder sagte noch immer misstrauisch gegenüber. „das macht er sonst doch auch nicht. Wieso also gerade jetzt?“
Rico wusste nicht recht, was er auf diese Frage antworten sollte. „Ich weis nicht recht. Doch keiner seiner Pläne ist ohne einen Hintergedanken. Er wird also seine Gründe haben. Es ist wie mit einem unangekündigten Test in der Schule!“ Ibis Blick folgte wie hypnotisiert dem zittrigen, hellen Schein der kleinen Kerze in der Mitte des Tischs. Die helle Flamme zuckte ständig hin und her, als wolle sie sich vom schwarzen Docht losreißen. „Vielleicht hast du recht.“, sagte er geistesabwesend.
„Nicht nur vielleicht.“ Rico verzog den Mund zu einem stolzen Grinsen. Er sah sich als Sieger dieser Debatte.
„Doch lass uns bitte beim Thema bleiben.“, bat Ibi.
„Entschuldige bitte.“, sagte Rico respektvoll und hob wieder das Weinglas. Von der rötlichen Flüssigkeit war nicht mehr allzu viel übrig. Er warf einen Blick auf Ibis Gedeck. „Du hast deine Speisen nicht angerührt. Der Espresso wird kalt und die Bienen holen sich den Kuchen. Alles zu schade, um es zu verpassen!“ Er warf seinem Bruder einen strafenden Blick zu, doch diesen ließ das unbeeindruckt. Um seinen Bruder zu besänftigen schob er sich ein Stück Torte in den Mund. Rico hat recht, dachte er. Diese Torte ist wirklich gut. Den lauwarmen Espresso kippte er hinterher. Von der anderen Seite linste Rico ihn an, als wolle er wissen, dass sein Bruder es auch wirklich genoss.
„Also, du musst mir den Silbermond zurück geben.“
„Das sagst du jetzt schon zum dritten Mal.“, drang Ricos eher leise Stimme durch den dichten Lärm.
„Und? Wirst du es tun?“
Rico antwortete nicht. Stattdessen aß er seelenruhig seine übergroße Portion Torte weiter, so als wäre nichts gewesen, als hätte Ibi seine Frage nicht gestellt. Einen kurzen Moment lang fühlte dieser sich sogar ignoriert. Er beobachtete seinen Bruder mit immer finsterer Miene, doch das ließ Rico unbeeindruckt. Und aus Spannung wurde Zorn, doch Ibi zog es vor, seinen Bruder nicht zurecht zu weisen, weil er wusste, dass er von Rico nur ein amüsantes Lächeln ernten würde und außerdem konnte er es sich nicht leisten, Zeit zu verlieren. So prallte auch der finstere Blick dem Ibi seinem Bruder zu warf von diesem ab, wenn er ihn überhaupt wahrnahm. Er fand es unverschämt, dass er ihn mit seiner Frage so dermaßen abstrafend ignorierte. Als Rico nach 10 Minuten endlich fertig war, nahm sein Bruder einen dritten Anlauf. „Hast du meine Frage verstanden?“
„Ja. Habe ich. Und? Was möchtest du von mir hören?“
„Wirst du ihn mir geben? Ich kann ihn dir auch abkaufen.“
Rico schüttelte ärgerlich den Kopf. „Brüderchen. Du versetzt mich immer wieder in Staunen. Du weist genau, dass ich nicht käuflich bin und versuchst es trotzdem.“, er lächelte verächtlich. „Sorry Baby. But this is the wrong way! “
Was willst du dann? “, wollte Ibi beharrlich wissen.
„Wie gesagt. Ich bin bereit ihn dir abzukaufen.“
„Ist das dein Reporteuar? Nur Geld? Das ist doch nicht dein Ernst!?“ Rico stieß einen verächtlichen Laut aus.
„Nun, doch. Es… es ist mein voller Ernst!“
„Du enttäuschst mich, Brüderchen. Du enttäuschst mich. Eine einfältige Masche, du hast!“
„Hast du was Besseres?“, brummte Ibi.
„Aus meiner Sicht ja. Nehme es mir bitte nicht übel, aber deine Ansicht und die meine sind wie zwei verschiedene Universen.“
„Wie recht du doch hast.“
„Ich will etwas anderes.“
„Und das ist?“
Rico gab keine Antwort, trank in Ruhe weiter. Wieder als wäre nichts gewesen. Doch diesmal konnte Ibi in den klaren Augen seines Bruders lesen. Es war kein Spott, kein Hohn in seinen Hohn in seinen Augen, in seinen Gesichtszügen. Offensichtlich hatte er auch nicht vor, ihn auflaufen zu lassen. Wieder saß er seelenruhig da.
Ibi wartete ungeduldig auf eine Antwort. Einige Minuten verstrichen, doch es hätten genauso gut Stunden sein können.
„Und? Hast du dich entschieden?“
„Ja.“
„Also?“
„Nenne mir einen Grund, wieso du den Silbermond haben solltest!“
Ibi stutzte. Diese Forderung verwirrte ihn etwas. „Das ist dein Ernst? Eine Antwort? Mehr willst du nicht?“
Rico lehnte sich auf dem Stuhl zurück und aß an seinem übermenschlich großen Tortenstück weiter. Seine ganze Aufmerksamkeit war dem Essen gewidmet, als wäre dies die letzte Gelegenheit, etwas zu großes zu essen. Doch seit sie es konnten war Rico schon ein Mensch gewesen, der gerne und viel aß. „Ich bin ganz Ohr.“
Ibi wurde misstrauisch. Unwillkürlich. Er wollte wissen, ob sein Bruder irgendetwas im Schilde führte. Doch sein scharfsinniger Röntgenblick, der sonst seinen Zweck erfüllte, prallte von Rico ab wie von einer Wand. Der wohl einzige Mensch auf der Welt, bei dem seine Technik fehlschlug. Auch hinter die pechschwarzen Gläser seiner Sonnenbrille, die er nur selten abnahm, vermochte niemand zu durchschauen. Niemand, außer seinem Bruder. Bei allen anderen konnte er sonst immer Spannung aufbauen. So wirkte seine Miene unerschütterlich, stahlhart. Doch er sah ihn, konnte hinter den pechschwarzen Gläsern den Ausdruck in seinen Augen erkennen. Ibi wusste das, doch es brachte ihn nicht ins Wanken. Dazu war er zu sicher. Außerdem war er schon zu lange im Geschäft, um nicht noch einen Plan B zu haben. Rico war unbeirrt am Essen, ignorierte den kritischen Blick seines Vaters gänzlich. Während er sich eine passende Antwort überlegte, ließ er ihn nicht aus den Augen, beobachtete jeden seiner Züge, als müsse er mit etwas Plötzlichem, etwas Unerwartetem rechnen. Auch wenn er nicht recht wusste, was dieses Plötzliche hätte sein können, wusste er, dass es nicht passieren würde.
„Nun.“, sagte er zögerlich. „Auf dem Stein lastet ein Fluch.“
Rico lachte. „Ich wusste, dass das kommen würde. Sie fangen alle damit an. Wahrscheinlich deswegen, weil man dann die darauffolgende Erklärung etwas dramatisch und unheilvoll umschreiben kann. Aber alles Gründe, die sich mit einem kurzen Windstoß um fegen lassen. Wundert mich, dass gerade du dich auf diesen Weg begibst. Komm schon, Brüderchen! Du bist doch sonst so originell!“
Tisch Nr.32 wurde in abermals in tiefes Schweigen, dass mit dem Redeschwall der übrigen Gäste verschmolz. Gebannt, wie hypnotisiert starrten seine Augen auf das grelle Licht der Flamme, als würden sie es einfangen wollen. Diese flackerte nicht wild hin und her, sondern stand still, fast regungslos, als hätte sie die ganze Zeit aufmerksam zugehört, jetzt selbst auf eine Antwort wartend. Schier endlos war die Stille. Ibi sah der Torte zu, wie sie immer kleiner wurde, bis sie ganz verschwunden war. Er sah ein wildes Feuer in seinen Augen. Er sah, wie Rico sich das Gleiche noch einmal bestellte, sah die riesige Portion und machte große Augen. „Warst du nicht mal zuckerkrank?“
Rico nickte, sein Gesicht war fast vollständig hinter dem Zuckerguss verschwunden. Wenn es überhaupt ein Nicken war. Schmatzend kam es von der anderen Seite: „Als ich in Indien war, traf ich einen Medizinmann. Ich habe keine Ahnung, was er gemacht und noch weniger wie er es gemacht hat, aber seitdem ich bei ihm war, ist alles wieder gut.“
„Tatsächlich?“
„Ja! Wirklich. Und es war nicht einmal teuer. Die Menschen dort machen sich nicht unglaublich viel aus Geld, zumindest nicht so viel wie wir Europäer.“
„Ist das denn gut?“
Ich denke schon. Es ist irgendwie befreiend, wenn man an Orten ist, in denen Geld keine riesige Rolle spielt. Es einfach ein ganz anderes Lebensgefühl, verstehst du?“
„Wieso bist du nicht dort geblieben, wenn du es dort so toll fandest?“, wollte Ibi wissen.
„Das hatte viele Gründe. Als Urlaubsziel ist Indien sehr gut. Aber für mich persönlich kein Ort an dem ich dauerhaft leben möchte. Alles dort ist teilweise so billig, dass du dich fragst, wovon diese Menschen eigentlich leben. Aber ich denke, mein Lebensstandard ist zu hoch. Das Nachtleben dort ist toll. Viele Bars und Klubs. Ich war sogar in einem deutschen. Es war klasse. Die Hits, die der DJ spielte, waren alles Songs, die heutzutage in keinem Radio mehr laufen. Es war einfach traumhaft. Das einzige, was mich komplett im Stich ließ, war das Internet. Es ist dort eine Katastrophe. Das einzige Internetcafé in der Gegend war ein recht ungemütlicher Bunker. Man hatte Glück, wenn der uralte Generator mindestens 20 Minuten Strom lieferte.“, er stöhnte. „Und die Computer erst… uralte 90er Windows PCs, ihr Alter hat man ihnen angesehen! Aber egal. Ich hatte mein Macbook und einen sehr guten Surfstick. Ich hatte das Glück, dass direkt vor meinem Zimmer eine WLan Box war. Sie hatte ihre besten Tage zwar schon hinter sich, aber es war besser als gar nichts. Warst du schon mal Korea, in Nordkorea?“
Ibi schüttelte den Kopf.
„Ein Land, wie es absurder nicht mehr sein könnte. Wenn ich mir die ganzen Neonazis hier ansehe, frage ich mich, was die eigentlich hier wollen, hier, in der Bundesrepublik Deutschland. In Nordkorea wären sie, zumindest was das derzeitige Regime betrifft, doch unter Ihresgleichen. Nicht das ich das Regime dort unterstütze, um Gottes Willen nein! Ich begegne dem mit tiefer Missachtung, vor allem wenn ich sehe, dass sie ihr eigenes Volk ausbluten lassen, für eine riesige Armee, die doch letztendlich nur dazu da ist, um aus Spaß Krieg zu führen. Naja… Ich schätze, es gibt Menschen, die man nicht verstehen muss, sondern denen man besser aus dem Weg geht.
Und auf der anderen Seite ist Südkorea, ein richtig schönes Land. Und- obwohl man es nicht oft nicht glaubt- eines der modernsten Länder der Welt, ein unglaublich breit gefächertes Technikangebot und ein tadelloses Internet. Die Menschen dort haben teilweise technische Standards, bei denen Deutschland geradezu noch ein Entwicklungsland ist… Aber wie steht es mit dir? Verreist du auch ab und zu?“
„Ich komme nicht oft dazu. Ich glaube, ich bin mehr ein Arbeitstyp, ich brauche nicht so oft Tapetenwechsel.“
„Davon war doch keine Rede. Die Rede war davon, wie viel du schon von der Welt gesehen hast.“
Ibi überlegte. Er war immer überzeugt davon gewesen, schon viel herum gekommen zu sein. Doch tatsächlich war er das nie wirklich. „Ich war schon in der Schweiz und in Italien… und auch in Spanien!“
„Aber nur der Arbeit wegen oder?“
Nun… ja. Aber das war auch schön an sich.“
„Hast du nie nach etwas ganz anderem gesehnt?“
„Nein.“ Ehrlich gesagt wusste er es nicht. Nicht genau.
Wieder schwiegen die beiden. Den Eindruck erweckend, als wären sie sich gegenseitig fremd. Und vielleicht waren sie das sogar…
Ibi war es unangenehm, so unbedarft weiter in seinem halbleeren Espresso zu rühren, zumal es ein recht eigenartiger Anblick war. Er hatte keine Idee, mit er das Gespräch hätte fortsetzen können. Er ließ seinen Blick über die Welt um ihn herum schweifen. Unweit von ihnen ein junges Liebespaar, im Schein der kleinen Kerze sich küssend. Gute alte Liebe, dachte Ibi. In diesem Alter ist die Welt noch in Ordnung. Direkt am benachbarten Tisch waren zwei Geschäftsleute, die in ihre Unterlagen vertieft waren und emsig diskutierten.
„Unfassbar, wie gegensätzlich die Welt doch ist, nicht wahr.“ Rico lächelte in Richtung des Paares. Ibi schätzte es nicht älter als 18. Sie vergaßen völlig die Welt um sich herum. Vergaßen den Lärm, die Luft, all die Probleme… Plötzlich spürte Ibi eine ungeheure Sehnsucht, die ihn derart überwältigte, dass er fast den Verstand verlor, ohne dass er es erklären konnte. Doch schnell hatte er sich wieder im Griff. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sein Bruder ihn die ganze Zeit über beobachtete.
„Ja. Wie zwei Welten in einem und doch unterschiedlichem Universum…“, sagte Ibi unwillkürlich.
Und plötzlich kam ein Bild des sterbenden Karpone. Die lange, blasse, eingefallene Gestalt des Alten, der in seinem Leben noch jeden Kampf gewann, bis auf diesen einen. Fast automatisch stellte er sich die Szene vor, als der Neffe über seinem Onkel war, dieser seine letzte Kraft nahm, um seinen wahrscheinlich letzten Willen auszusprechen. Und Karpone Jr., zu Tränen gerührt, nahm die sterbliche, schwache Hand und versprach, seinen Willen zu erfüllen, koste es was es wolle… Ibi scheuchte den entsetzlichen Gedanken dorthin zurück, wo er herkam.
Als hätte Rico seine Gedanken gelesen, sagte er unerwartet: „Karpones Onkel hat ihm noch auf dem Sterbebett aufgetragen, den Stein zu holen.“
„Kannst du mir auch etwas erzählen, was ich nicht weis?“, kam es trotzig von der anderen Seite. Er wollte das Thema wechseln, denn von der Vorstellung lief es ihn kalt den Rücken runter.
„Was hat Karpone eigentlich vor, wenn er den Stein hat?“
Rico belächelte seinen Bruder überrascht. „Ich habe keine Ahnung. Doch wieso interessiert es dich? Ist es nicht so, dass wir dafür bezahlt werden, Aufträge auszuführen und nicht, sie zu hinterfragen?“
Ertappt, dachte Ibi. Wieder spielte ein amüsiertes Lächeln auf Ricos Wangen.
„Schon.“, entgegnete Ibi leicht verlegen. „Aber wir sind doch hier unter uns, in einer kleinen Konditorei.“
„Oh mein Gott, Brüderchen! Du brichst die Regeln?“, rief Rico in gespieltem Entsetzen. Ibi konnte sich das Grinsen nur schwer verkneifen. „Ja. Und ich weis, dass du etwas gehört hast.“
Rico lachte. „Das ich das noch erleben darf! Mein sonst so disziplinierter Bruder bricht die Regeln.“, rief er in gespieltem Entsetzen. Ibi konnte sich das Grinsen nur schwer verkneifen. „Ja und ich weiß, dass du so einiges gehört hast!“
Rico lachte. „Stimmt, ich habe viel gehört. Das Meiste bezog sich allerdings auf den Fluch, den er angeblich beherbergt. Das ganze Getratsche…“, er seufzte. „Es ist genau das, was man erwartet. Wie ich hörte, will Karpone den Stein an irgendeinen Alchimisten der Läuterung ausliefern, aber dieser Plan ist wieder abgesagt worden, und frage mich nicht warum. Diese ganze Silbermond Affäre ist sollte eigentlich schnell über die Bühne gehen, aber stattdessen, wird die „Operation Phönixflug“ immer geheimnisvoller. Auch ich blicke nicht mehr durch.“
Ibi machte ein nachdenkliches Gesicht. „Woher kommt der Name ´Phönixflug´?“
„Ich habe keinen Schimmer.“
„War der Plan zu riskant?“
„Nach dem, was der Volksmund, nein.“
Ibi war stark verwundert. „Seit wann sagt Karpone einen wohl sicheren Plan ab, ohne einen guten Grund?“
Rico zuckte mit den Schultern, tat so, als würde ihn das weniger interessieren. „Eine berechtigte Frage. Aber ich weiß es nicht.“ In Wahrheit jedoch beschäftigte Rico die Frage seines Bruders. Denn es war wirklich merkwürdig. Sehr merkwürdig sogar.
„Was hat es mit dem Fluch eigentlich auf sich?“, wollte Ibi wissen.
Rico begegnete ihm wieder mit einem überraschten Blick. Denn er kannte es nicht, dass sein Bruder ihn über etwas ausfragte, besonders wenn es über Aufträge und sonstigen ging. „Nanu? Plötzlich so redselig? Seit wann interessierst du dich für Gerüchte?“
„Weil an den Gerüchten etwas Wahres dran ist.“
Sein Bruder betrachtete ihn prüfend. „Du glaubst doch nicht wirklich daran, oder?“
„Doch. Ich glaube daran. Doch das hat auch seine Gründe. Gute Gründe.“
Rico klatschte in die Hände. „Das ist ja ein Ding. Du glaubst daran! Welche Gründe hast du denn?“
„Ich nenne nur den Polizeibericht vom 27.1.1930. Der Mann hatte den Stein in seinem Besitz. Drei Tage später war er tot. Er wurde in seinem abgebrannten Haus gefunden.“
„Na und?“
„Fall wurde nie aufgeklärt!“
„Das stimmt zwar, aber alles ist rational erklärbar. Der Mann war sehr nachlässig, hatte veraltete Sicherungen. Ein Kurzschluss ist die Antwort. Übrigens auch jene Erklärung, die im späteren Bericht als wahrscheinliche Ursache erklärt wurde.“
„Als wahrscheinliche Antwort.“, wiederholte Ibi.
„Ja. Als wahrscheinliche Antwort. Einwandfrei konnte das nie geklärt werden, das stimmt schon. Aber aus meiner Sicht ist das noch lange kein Grund, einen Fluch zu belegen.“
Ibi beugte sich vor und senkte die Stimme. „Und dennoch wird ihm gefährliche Macht nachgesagt, di jeden treffen kann und jeden töten kann. Und das über Generationen. Beim alten Karpone soll er zugeschlagen haben.“
„Karpone war schon immer krank.“, kommentierte Rico.
„Aber als er den Stein hatte, soll es richtig schlimm geworden sein.“
„Die Leute erzählen viel.“
„Schon. Aber merkwürdig ist es dennoch.“
Aber egal.“, sagte Rico. „Du glaubst also wirklich daran. Was mich sehr wundert, schließlich warst du für solche Geschichten früher nie zu haben. Und nach dem was so über dich gehört hatte, nahm ich nicht an, dass sich das verändert hat.“
„Ich glaube nur daran, weil es stichhaltige Beweise für die Existenz dieses Fluches gibt!“, verteidigte sich Ibi.
Rico schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich werde nie verstehen, warum euch dieser Fluch so viel Kopfzerbrechen bereitet und ehrlich gesagt will ich das auch nicht verstehen. Aber wenn du seine Macht fürchtest, warum willst du sie dann unbedingt auf dich nehmen?“
Ibi antwortete nicht sofort. „Ich glaube an seine Macht, aber ich fürchte sie nicht. Außerdem ist die Story immer weiter überliefert worden und irgendein Fanatiker hat garantiert übertrieben. Somit gehe ich von einer gewissen Gefahr, aber nicht von einer ernsten Bedrohung aus.“
„Nachdem, was du vorher gesagt hast, klingt das etwas widersprüchlich.“
„Vielleicht, aber du weißt, was ich meine.“
„So ungefähr.“
„Fürchtest du nicht, dass dir irgendetwas zustoßen könnte?“, fragte Ibi mit einer Spur Sorge in der Stimme.
Rico lächelte. „Du machst dir Sorgen? Um mich? Brüderchen, du überraschst mich immer wieder aufs Neue.“
„Wie kommst du darauf, dass ich mir Sorgen um dich mache?!“ Er tat so, als wäre er fast empört über diese Feststellung, doch sein Bruder hatte längst begriffen. Er schmunzelte, gab keinen Kommentar ab. In seiner Verlegenheit griff Ibi zum silbernen Löffel und ließ abermals den Espresso um ihn kreisen. Und wieder schwiegen sie. Rico war wieder mit seinem Tagebau beschäftigt. Schier endlos schwiegen sie. Keinem viel ein, wie es weitergehen sollte.
Es vergingen zähe 20 Minuten, bis sich Rico zufrieden zurück lehnte. Und sah Ibi aufmerksam zu, wie dieser ins Nichts starrend immer noch seinen Espresso rührte. Sein Blick klebte schien an der Flamme festzukleben. Rico machte ein nachdenkliches Gesicht. „Weißt du was? Ich weiß, dass du mir das nicht glauben wirst, aber wieso sollten wir es nicht einfach machen?“
Ibi blickte löste sich aus seiner Starre und blickte seinen Bruder irritiert an. „Wie meinst du das?“
„Du willst so schnell wie möglich den Auftrag Silbermond erledigen und ich will zurück nach Buenos Aires.“
„Das heißt?“
Rico holte einen Gegenstand aus seiner Manteltasche hervor und warf ihn seinem Bruder zu, der ihn aus der Luft fing. Er konnte nicht glauben, was er da sah!
„Ist das dein Ernst? Du gibst ihn mir einfach so?“, drang seine raue, misstrauisch ungläubige Stimme durch die wabernde Suppe aus wildem Gelächter, dem Klirren vor Geschirr. Scheinbar weit weg schrie ein Baby.
„Du bist zu paranoid! Keine Ahnung warum, aber früher warst du nicht so.“ Rico stieß einen tiefen Seufzer aus. Ibi war auf der einen Seite erstaunt, unwillkürlich hätte er sich fast bedankt. Auch verspürte er Freude, die er jedoch nicht zum Ausdruck brachte. Nicht einmal im Traum hätte er so etwas für möglich gehalten. Obgleich er nicht wusste, ob es nur ein Trick war. Zwar wusste er nicht, was das für ein Trick hätte sein sollen, doch Rico war eine nur schwer zu behelligende Persönlichkeit, nicht zuletzt gegensätzlich. Aber welchen Grund sollte er schon haben, erst recht bei diesem Angebot? Und so fragte er nicht weiter. Langsam ließ seine Rechte den Silbermond kreisen, als wäre er ein Juwelier, der seinen genauen Wert schätzen müsse. Seine anfängliche Unsicherheit gegenüber Rico war verflogen. Dieser meckerte empört. „Du hast deine Sachen nicht angerührt!“ Er warf seinem Bruder einen bösen Blick zu. Doch Ibi ließ ihn abblitzen. Sein Blick war vollkommen an den Silbermond gefesselt, als gäbe es nichts Kostbareres auf dieser kleinen Welt.
„Hoffentlich hast du den Fluch nicht schon auf dich gezogen.“, sagte Ibi.
Rico schüttelte gewissenhaft den Kopf. Ibi sah ihn in seiner Unsicherheit an. „Woher willst du das wissen?“ wollte er mit leicht besorgter Miene wissen.
„Kennst du das Gesetz der Läuterung?“
„Nein.“
„Eben. Gerade weil du es nicht kennst. Denn ich habe mir sagen lassen, dass auch dieser Stein jenem Gesetz folgt. Das heißt, dass er generell gekauft oder geschenkt werden, aber nicht geraubt oder gestohlen werden darf.“
„Ja. Davon habe ich auch gehört. Aber warum hat ihn dann Karpone erwischt?“
„Dass gerade du eine solche Frage stellst, Brüderchen, gibt zu bedenken.“
Ibi war irritiert, aber seine undurchdringliche Miene schützte seine aalglatte Fassade scheinbar perfekt, auch wenn er wusste, dass sein Bruder hinter jene Fassade blicken konnte. Er hatte diese oft geheimnisvolle, unheimliche Eigenart seines Bruders nie in Frage gestellt, wahrscheinlich deswegen, weil er ihn im Stillen darum beneidete. Und das, auch wenn sein Bruder als Einziger wusste, dass das nur eine gute Fassade war. Doch auf die aufgeworfene Frage wusste er dennoch keine Antwort, also sagte er: „Alles eine Frage des Glaubens.“
Rico nickte.
„Aber du hast doch dann den Fluch schon längst auf dich genommen. Du hast dem Boten doch den Stein abgenommen.“
Rico lachte und seine Augen funkelten wild, als er den letzten Schluck Wein zu sich nahm.


Ein ungeheurer Verdacht


„Tor!!!“ Ich hielt freudestrahlend die Hände in die Höhe. Anna lag regungslos im gegnerischen Tor, den Ball fest umklammert. Verdattert blickte sie abwechselnd mir nach und ins leere Netz. Sie konnte offenbar, noch immer noch nicht glauben, dass der Ball im Tor war. Doch noch unglaublicher war, dass ich den Ball ins Netz befördert hatte. Wir spielten Fußball im Freien, der letzte Tag im Jahr, an dem wir Sport draußen machten. Schon seit einigen Wochen hatte sich der Herbst angekündigt, was für Ende Oktober eigentlich völlig normal war, doch es war schon zu Beginn ungewöhnlich kalt gewesen. Morgens zogen durch die Felder Nebelschwaden, wie man sie eigentlich erst im November erwartete. Es war bereits Mittag, die Sonne stand hoch über dem Carl- Benz Stadion. Der Himmel war klar und eine frische Brise ließ die schwitzenden Gestalten auf dem Sportplatz frösteln.
Wir spielten- wie gesagt- Fußball, das Übliche eben. Nur selten machten wir was anderes. Das lag hauptsächlich daran, dass unsere Sportlehrerin, Frau Schneier viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um sich um eine Beschäftigung für 16 Mädchen zu kümmern. Das konnte gähnend langweilig oder auch sehr aufregend sein. Meistens saß sie auf der Bank hinter dem Tor, vertieft in ihr Smartphone. Oft hatten wir uns überlegt, was sie wohl tun würde, wenn es keine Smartphones gegeben hätte. Hätte sie dann eine Taube gehabt? Egal. Fakt ist, dass sie den Rest der Welt vergaß, einschließlich uns. Wir lachten uns immer kaputt, wenn fliegende Bälle sie um Haaresbreite verfehlten.
Und immer wieder kam die gleiche Frage: „Warum sind sie eigentlich Sportlehrerin geworden?“
Und immer kam die gleiche Antwort: „Ich liebe diesen Beruf einfach.“
Klar, wenn man ihn so ausübte wie sie, der Klasse einfach einen Ball zuwarf, Mannschaften bildete und die Klasse dann bis Ende spielen ließ. Überhaupt fragten wir uns, wie sie so sicher sein konnte, dass sie niemand erwischte, schließlich trainierten direkt neben uns die Jungs. Aber mal unter uns: Die Tatsache, dass sie uns dafür eine 2 ins Zeugnis pinselte, war uns nur recht.
Wir spielten also Fußball und ich sollte einen Freistoß aus 10 Metern Distanz ausführen. Und ich machte es, wenn auch widerwillig. Immerhin lagen wir mit 0 zu 1 zurück. In Fußball war ich normalerweise nicht so der Bourner, dafür war ich in Hockey unschlagbar. Freistöße gingen bei mir prinzipiell daneben. Außerdem stand Anna im gegnerischen Tor, ein sehr sportliches Mädchen, das im Armdrücken niemand schlagen konnte. Vor allem bei Fußball entbrannten oft heikle Diskussionen um sie, denn der Mannschaft, die sie letztlich hatte, war der Sieg fast schon sicher. Denn Bälle hinter ihr ins Tor zu bringen, war sehr schwer. Aber diesmal pfiff der Ball über die Mauer und direkt ins obere Eck. Annas Fingerspitzen konnten das Tor nicht mehr verhindern. Fassungslos und frustriert stand sie auf und stellte die Hände in die Hüften. Sie warf mir einen bösen Blick nach. Hannah, die am Spielfeldrand stand, jubelte mir zu. Unsere Sportlehrerin hatte von alldem natürlich nichts mitgekriegt. Anna hatte sich wieder aufgerichtet und brüllte über das ganze Feld der Verteidigung unverständliche Anweisungen zu. Unverständlich deshalb, weil sie die Einzige war, die Fußball spielen konnte, bis auf Hannah, aber die hatte ein gebrochenes Bein.
Anna war also einzig gute Spielerin und schaffte es dennoch den übrigen Haufen mitzuziehen.
Und so schön mein Tor auch war, die 1: 4 Niederlage konnten wir letztlich nicht verhindern.
Ich strich mir eine Haarsträhne weg, die in meinem glühend roten Gesicht klebte. Eine erfrischende Brise wehte durch das Stadion.
„Das Tor war gut. Aber die anderen waren besser.“, sagte Lea neben mir. Ich grummelte. Leas Nörgeleien konnte ich gerade wirklich nicht gebrauchen. „Das sagt die, die die ganze Zeit, wie immer, auf der Bank verbracht hat!“
Lea grinste. „Hey, ich hab euch die ganze Zeit angefeuert!“, verteidigte sie sich. „Und ich hab euch Glück gebracht.“
„Das war aber eine merkwürdige Art von Glück, aber es würde so Einiges erklären…“


Das Geheimnis des Silbermonds


Um ein Haar wäre Lea die Straßenbahn davon gefahren. Sie war spät dran, sie musste rennen, in der Hoffnung, dass die Bahn wenigstens heute sich verspäten würde. Und wie es kommen musste, verspätete sie sich nicht. Fluchend war sie losgesprintet. Zu ihrem Glück funktionierte eine Tür nicht richtig. Keuchend stürzte sie in die die Bahn Nr. 5. Wie üblich war sie menschenleer. Nur vereinzelt waren andere, fremde Gesichter zu sehen. Doch keiner beachtete den anderen, auch Lea nicht.
Sie hatte mit Absicht die frühere Bahn genommen, denn schon zehn Minuten später wäre die Linie 5 brechend voll gewesen, die Luft wäre schnell verbraucht und Lea wäre noch müder geworden, als sie ohnehin schon war. Sie ließ sich auf einen der Sitze fallen. Sie war müde. Geschlafen hatte sie nur wenig. Fast die ganze Nacht hatte durchgearbeitet. Und über das Ergebnis konnte sie selbst nur staunen.
Nach dem Besuch in der Zentrale war sie noch am selben Tag in die Staatsbibliothek gefahren. Normalerweise mied sie solche Einrichtungen, nicht weil sie Bücher nicht mochte, sondern weil sie diesen Ort nicht mochte, denn in der Staatsbibliothek war es meistens nicht sehr leise, die Ausschilderungen wurden meistens mit Missachtung gestraft und somit war es insbesondere für sie schwierig sich zu konzentrieren. Doch für dieses eine Mal war sie über ihren sonst großen Schatten gesprungen. Doch entgegen ihren Erwartungen war es an diesem Samstag überraschend leer gewesen. Eigentlich war sie bereits davon ausgegangen, dass sie auf nicht viele Informationen stoßen würde. Es war ein Bauchgefühl. Und wie so oft war sie belehrt worden, besser nicht auf ihren Bauch zu hören. Denn die Informationslast war erdrückend. Der Computer hatte zu „Silbermond“ mehr als 45 Tausend Treffer. Die Selektion war noch zügig über die Bühne gegangen. 20 Tausend Treffer blieben übrig. 20 Tausend Treffer, die alle vielversprechend aussahen. Zunächst war sie geschockt. Wie sollte sie eine solche Fülle in so kurzer Zeit abarbeiten? Doch ihr wurde schnell bewusst, dass es noch andere Wege gab, die zum Ziel führten. Also gab sie „Geschichte des Silbermonds“ ein. Das eine Ergebnis verblüffte sie, doch sie war erfreut. Wenigstens wurde ihr so langes Suchen erspart. Laut der Beschreibung war der 300 Seiten Wälzer ein Stockwerk über ihr in der Abteilung „Mythen und Legenden“ zu finden.
Was sie dann am Sonntag gesammelt und in der vergangenen Nacht niedergeschrieben hatte, war ziemlich interessant, fast wie eine Zeitreise und sehr, sehr unheimlich. Teilweise schauderhaft.
Die Schule verging zu ihrer Freude schneller, als sie erwartet hatte, denn sie war gespannt, was Domme und ich von ihrem Material halten würden. Doch vorerst musste sie sich in Geduld üben. Der Grund dafür war, dass Domme und Lea noch etwas Zeit brauchten, weil in die Stadt gehen mussten, um sich Sachen für ein Referat zu besorgen, das sie kurzfristig hatten, was auf beiden Seiten auf Verärgerung stieß.
Ich bog in eine Nebenstraße ein und schlenderte den breiten Gehweg entlang. Ein klappriges Auto fuhr aus der von Löchern übersäten Straße vorbei, die an eine Mondlandschaft. In einem der alten Häuser stritten sich zwei lauthals, woanders schrie ein Baby, aus einem anderen dröhnte laute Musik. Auch wenn diese Gegend als unsicher und gefährlich galt, so hatte sie doch ihre gewissen Vorzüge. Langweilig würde es hier bestimmt nicht. Doch hier zu leben konnte ich mir dennoch nicht vorstellen. Die Gegend war mir einfach zu verlegen und verkommen, trotz des Umbruchs in dem sie sich nunmehr seit Monaten befand. Ansonsten gab es nur zwei Dinge, die mir überhaupt gefielen. Da waren die vielen Obdachlosen, die durch die Gassen strichen wie Katzen. Sie hatten die unheimliche, fast schauderhafte Eigenschaft, wie graue Gespenster urplötzlich an irgendeinem Ort aufzutauchen, fast lautlos über die Straßen zu humpeln und dann wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Dass mich letztes Jahr so einer überfallen hatte, war mir noch gut in Erinnerung geblieben. Doch es war offenbar keiner der üblichen "Lumpengespenster", denn wie ich später hörte, bettelten manche oder sie mieden jegliche Öffentlichkeit. Doch diesen Penner hatte ich seitdem nie mehr gesehen. Dennoch versuchte die Umgebung bei Dunkelheit zu meiden. Doch die Sorge blieb. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, schnell von hier zu verschwinden. Sie beeilte sich.
Domme warf wütend seine Sachen in die Ecke und fixierte mich mit einem finsteren Blick, der aber nicht mir galt. Annika war auch nicht gerade ein Sonnenschein. "Warum muss uns diese dumme Kuh solche Sachen immer auf den letzten Drücker ankündigen!?" Wütend stampfte sie ziellos durch die Wohnung. Und obwohl sie von niemandem eine Antwort erwartete, kam Dommes Antwort prompt. "Ich hab keine Ahnung. Aber nochmal mach ich das sicher nicht mit!"
Ich ließ mich langsam und missmutig auf die Couch sinken.
"Über was geht es in eurem Referat?", fragte Lea zögerlich.
"Tschernobyl.", erwiderte ich gereizt.
"Ist das denn nicht interessant genug?"
Ich lachte trocken. "Nein, aber Frau Kelling hat uns heute gesagt, dass wir übermorgen dieses blöde Referat halten müssen! Und das bei zwei Tests und einer Arbeit! Ich krieg en Ackress..." ich schoss hoch und begann abermals, auf und ab durch die Wohnung zu traben. Mit war bewusst, dass es ein wenig merkwürdig aussah, doch irgendwie musste ich mich abreagieren. Domme machten meine lauten, schnellen Schritte nervös, und um sich abzulenken setzte er sich in den großen Sessel.
"Sag mir bitte, dass du mehr Glück hattest in deinen Recherchen."
"Ja, hatte ich."
Er stieß einen erleichterten Seufzer aus. "Gut. Ist es viel?"
"Sehr viel. Ich hab gestern einen großen Mythologiewälzer durchgewühlt. Es ist wirklich abartig, wie viel es über solche Themen gibt, erst recht über den Silbermond. Ich hab die ganze Nacht gearbeitet, um das alles zusammenzufassen!"
Domme zog verblüfft eine Augenbraue hoch. "Dafür siehst du ziemlich wach aus."
"Ich hab mir heute Morgen zwei Tassen Lea- Spezial runtergekippt."
"Aus was besteht das eigentlich?"
"Halber Liter Kaffee made by me, fünf Esslöffel Zucker und ne halbe Dose Red Bull. Das Zeug haut voll rein. Von der Mischung darfste aber nicht zu viel trinken. Ist ungesund."
Domme lachte. "Seit wann interessiert es dich, in wieweit so Zeug gesund ist?"
"Seitdem mein kleiner Cousin gemeint hat, einen ganzen Liter auf einmal zu kippen. Meine Eltern waren nicht da und er hat fast zehn Minuten hyperventiliert. Ich hatte Angst, er kriegt einen Herzkasper. Seitdem weiß ich, dass wenn er bei einem Liter durchdreht, dass ich besser viel weniger trinken sollte."
Ich kam von meiner ziellosen Reise ins Wohnzimmer zurück und schenkte mir Kaffee in eine Tasse ein und nahm schnell ein paar Schlucke, als ich mich neben Lea auf die Couch warf. Ich bemerkte, dass sie mich musterte. „Ist was?“
„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“
„Meinst du den Kaffee?“
„Ja.“
„Warum denn nicht?“
„Du bist geladen und trinkst diesen Kaffee. Der wird dich durchdrehen lassen.“ Sie hörte sich an wie eine Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind machte. Sie wollte mich davon abbringen, dich zuckte die Schultern und nahm fast demonstrativ einen großen Schluck. Lea nickte und in ihren Augen lag Verwunderung.
„Ok. Können wir bitte wieder zur Tagesordnung kommen?“, meldete sich Domme. Offenbar wollte er die Angelegenheit so schnell wie möglich über die Bühne bringen, auch wenn eine solche Reaktion ungewöhnlich war.
Endlich wandte er sich an Lea, die die ganze Zeit darauf gewartet hatte, endlich das Ergebnis ihrer Arbeit präsentieren zu können. Sein Ausdruck war inzwischen nicht mehr so hart wie vorher und auch ich hatte mich wieder beruhigt. Leas Augen schienen regelrecht zu glühen und ihr Mund öffnet sich, als könnten die Wörter jeden Moment aus ihm heraus purzeln. Eine Regung, die ich so bei ihr noch nie gesehen hatte.
„Na dann zeig mal was du hast.“, sagte er nicht ohne Interesse.
Ohne zu zögern holte Lea einen Block aus ihrer Hosentasche und man konnte erkennen, dass dieser fast komplett vollgeschrieben war. Domme und ich staunten nicht schlecht.
„Ist das alles vom Silbermond?“
„Ja, ist es. Und es ist viel.“ Lea räusperte sich, während alle Aufmerksamkeit sich auf sie konzentrierte.
„Okay. Also ich fange mal besser da an, wo alles begann. Also:
Laut den meisten Berichten und Geschichten, die ich gelesen habe – und glaubt mir, das was viele – kommt der Silbermond aus Afrika. Dort ist er das erste Mal so gegen Ende des ersten Weltkriegs aufgetaucht, als, hoffentlich spreche ich das auch richtig aus… Elhoubnjakalkha. Das ist der eigentlich Name des Silbermonds. Eine kenianische Sprache, die schon seit Beginn der Kolonialzeit nicht mehr benutzt wurde. Aber übersetzt bedeutet das soviel wie „Friedensstifter“.“
„Friedensstifter“, murmelte Domme nachdenklich. „Hat der Name eine konkrete Bedeutung?“
„Allerdings. Er soll von einer Hexe erschaffen – oder – geweiht worden sein.“
„Was bedeutet das genau?“, fragte ich, obwohl ich bereits ahnte, was Lea meinte.
„Naja. Der Stein war schon da. Und diese ´Hexe` hat diesem Stein wohl magische Kräfte verliehen.“
„Verstehe.“, sagte ich, doch ich verstand gar nichts.
„Und wozu war das gut?“, fragte Domme zweifelnd.
„Der Friedensstifter sollte den Frieden zwischen zwei großen, verfeindeten Stämmen herstellen. Der Auftrag für diesen Stern und eben seiner Kräfte kam von einer Stammesangehörigen namens Thogathe. Die hat vorher schon ihr Bestes versucht, aber gebracht hat das nichts. Also hat sie wohl zu Magie gegriffen.“
„Welche Art von Magie war das denn?“, wollte Domme wissen, dessen Gesichtsausdruck darauf hin deutete, dass er an so was nicht glaubte.
„Es war ein Fluch.“, fuhr Lea unbeirrt fort. „Ein Fluch der besagte, dass er jeden tötet – oder töten lässt – der ihn besitzt, aber nicht reinen Herzens ist. Sie wollte ihn offenbar an die Stammesältesten weitergeben. Und der Stein sollte sie beseitigen. Sie waren die Auslöser für die Kämpfe gewesen. Daher kommt der Name `Friedensstifter`.“
Domme stieß einen verächtlichen Laut aus. „ Na ganz toll. Jetzt haben wir es auch noch mit Scharlatanen zu tun!“
„Ja, das habe ich anfangs auch gedacht. Aber nach dem, was ich noch gelesen habe, ist das nicht einfach frei erfunden.“
Meine Neugier wuchs in steigendem Tempo, denn unbegründet war Leas Aussage mit Sicherheit nicht. Natürlich entging es ihr nicht, dass ich an ihren Lippen hing und sah sich gewiss bestätigt.
„Hat sie es denn geschafft?“
„Den Stein unter die Leute zu bringen? Hat sie. Doch es traten schon bald darauf unerwartete Nebenwirkungen auf. Die Hexe hatte ihr wohl bloß die halbe Wahrheit erzählt.“
Jetzt interessierte es mich brennend.
„Und das heißt?“
„Er hat gemordet, nur nicht nur die, die er töten sollte, sondern auch so ziemlich die Hälfte beider Stämme.
„Das ist fail.“, kommentierte Domme. „Kann es denn noch schlimmer kommen?“
Lea nickte bedauernd. „Anschließend folgte eine große Dürre und ein unerwartetes Viehsterben. Die Stämme litten Hunger. Der einzige Vorteil: sie kamen sich näher, wenn man das überhaupt als einen Vorteil sehen kann. Ihr war jedenfalls klar: Der Stein musste weg. Denn erst als er bestand, kam all das Unglück. Ein Zufall kam ihr zu Hilfe: Ein entfernter Verwandter aus den USA war verstorben und hatte ihr einen Teil seines Vermögens vererbt. Sie fuhr nach Kalifornien. Doch ihr musste klar gewesen sein, dass der Stein dort nicht lange sicher war, also schickte sie ihn nach Deutschland zu einem Bekannten, anbei ein Brief, der nicht mehr existiert. Sie hatte wohl gehofft, dass der Stein bei ihm sicher sein würde. Das war ungefähr bei Beginn der Nazizeit. War er aber nicht. Nicht lange. Am 27.1.1930 brannte sein Haus komplett ab. Ursache bis heute ungeklärt.“
Mittlerweile lauschte selbst Domme Leas Worten, die mehr einem Roman glichen, als einer realen Geschichte. Bisher konnte sie ihn nur schwer begeistern, doch inzwischen war auch er hellhörig. Wohl doch nicht so uninteressant.
Ich grübelte, denn eines war mir noch immer unklar. „Woher kommt eigentlich der Name `Silbermond´?“
„Achja! Hätte ich fast vergessen. Es ist die letzte Spur des Silbermonds aus der Vergangenheit. Ein jüdischer Künstler hatte den Stein in einem seiner Gemälde gemalt – falls es sich um den Stein handelt – denn das ist nicht bewiesen und wird es auch bleiben. Denn er war einer jener, dessen Bilder in dieser Zeit vernichtet wurden. Auf jeden Fall hieß das Gemälde so. Danach verliert sich seine Spur, bis er im Februar 2000 nach Mannheim ins Schloss kam. Und dann ins `Ele Dininjo`, wo er, bis heute, spurlos verschwand. Laut einigen Artikeln, die ich noch gelesen habe wird vermutet, dass Fanatiker der schwarzen Magie hinter dem Diebstahl stecken und andere glauben an den schlichten Juwelenraub. Die Sache hat allerdings einen Haken.“
Ich stutzte. „Welchen Haken?“
„Es gibt ein so genanntes Gesetz der Läuterung. Ein Gesetz, das es gibt, seit es schwarze Magie und Ähnliches gibt. Das Gesetz besagt, dass jeder Gegenstand, der magische Kräfte enthält, etwa 50 Jahre braucht, bis er geläutert ist. Gilt insbesondere für Flüche. Die Voraussetzung: Der Gegenstand – in unserem Fall der Silbermond – muss 50 Jahre lang ungesehen und unberührt bleiben. Zum Abschluss jener Läuterung darf die Stein dann gekauft oder geschenkt, aber nicht geraubt oder gestohlen werden, da sich dann nämlich der schlafende Fluch wieder erweckt. Nur mit diesem Prozess kann er also „ewig schlafen“.“
„Und danach ist der Stein praktisch ungefährlich?“, fragte Domme.
„Genau.“, bestätigte Lea. „Du könnest dann zwar wieder den Stein mit einem neuen Fluch belegen, aber das geht dann in die schwarze Magie.“
Eine Sache brannte mir noch auf der Zunge. „Was ist Läuterung überhaupt.“
„Das ist, wenn etwas vom Übel oder Sünde oder einem Zauber gereinigt wird.“, erklärte Lea.
Domme machte ein nachdenkliches Gesicht. „Mal angenommen, auf dem Silbermond lastet tatsächlich ein Fluch.“, sagte er schließlich. „Ist er heute geläutert?“
Lea schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich nicht. Und wenn er sich gerade in Läuterungsphase befand, wurde diese spätestens nach seinem Diebstahl beendet.“
Domme lächelte Lea an, als sie den Satz beendete. „Ausgezeichnete Arbeit Lea.“, sagte er anerkennend.
„Was fangen wir jetzt damit an?“, wollte ich wissen.
„Gibt es noch Nachkommen von diesem Freund Thogathe?“, erkundigte sich Domme.
„Nein.“, sagte Lea. „Leider nicht.“
Plötzlich kam mir ein Gedanke. „Hat Kowalksi nicht in seinem Stück die Legende der Thogathe mit reingebracht?“
Domme nickte. „Ja, das hat er.“
„Das stimmt schon.“, sagte Lea. „Aber soweit ich zurück denken kann, hat er nur dran gebracht, was mit dem Fluch und dem anderen Zeug auf sich hatte. Außerdem gehe ich davon aus, dass er ziemlich viel dazu erfunden hat. Denn ich hab mehr durch Zufall sein Stück im Internet entdeckt. Allerdings in stark abgewandelter Form.“
Ich riss die Augen auf. „Soll das etwa heißen, dass Stück ist war nicht von ihm und ist es auch nie gewesen?!“
„Wenn meine Einschätzung richtig ist, dann hat er es… gecovert.“
„Was ich nicht kapiere ist, inwieweit das mit unserem letzten Fall zu tun hatte.“, meinte Domme. Doch niemand antwortete, weil niemand eine passende Antwort hatte.
„Wie sieht es jetzt aus? Wie geht es weiter?“, fragte Lea in die Runde.
Augenblicke verstrichen. Schnell wurden sie zu Minuten. In Dommes Augen spiegelte sich Missmut und selbst ich wusste keinen neuen Lösungsweg.
„Ich schlage vor wir warten ab, was die Gerichtssache bringt. Ich fürchte mehr können wir nicht tun.“ Er seufzte. Es war nicht nur für ihn deprimierend. Mir gingen unsere stetigen Durchhalteparolen durch den Kopf, dass ein TTD Mitglied niemals aufgeben würde. Doch plötzlich schien es, als würden wir unser eigenes Versprechen nicht einhalten können…
Da kam mir wieder ein Gedanke. „Vielleicht wurde der Stein ja von Anhängern von diversen Gruppen geklaut, die ihn dann… nun ja, läutern wollten. In Mannheim gibt es viele solcher Gruppen.“ Mein Einfall war plausibel. Domme wog den Kopf von einer zur anderen Seite, als würde er meine Idee abwiegen.
„Ja. Ja, das ist durchaus eine Möglichkeit und vielleicht könntest du auch Recht haben.“, sagte ich, nachdem ich mir die Idee durch den Kopf gehen ließ.
Doch Dommes Züge nahmen wieder skeptische Haltung an, noch bevor ihn Leas Einfall begeistern konnte. „Kein schlechter Gedanke, Lea. Aber… wenn, dann wurde der Stein mit Sicherheit schon weg geschafft und bis all diese zwielichtigen Gruppen durchleuchtet sind, vergeht einfach zu viel Zeit.“


Impressum

Texte: Copyrights by Dominik Merz
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner guten Freundin Annika, da sie mich erstens zu diesem Buch inspirierte und weil sie es war, die mich dazu anspornte, aus "TTD" eine Buchreihe zu machen. Danke Annika, für deine zahlreichen Tipps und Ratschläge und für deine Unterstützung, ohne die dieses Buch wahrscheinlich lange nicht so gut werden würde.

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