Wir erwarten, das Leben möge sich von seiner besten Seite zeigen.
Denken die anderen etwa, auch ich soll mich von meiner besten Seite zeigen? . Wie hätten sies denn gern? Rechtes oder linkes Profil? --- Gleichgültig... auf jeden Fall immer recht freundlich, harmlos, lautlos.
Ich habe viele Fragen und doch schicken sie einmal in der Woche einen Mann zu mir, einen Doktor, der statt Antworten zugeben nur noch mehr Fragen stellt. Er meint, er wäre Arzt. Ich zweifle. Ärzte sind dazu da, den Kranken zu helfen. So wäre ich also der Kranke? Und er - wie könnte er mir helfen? Auch Ärzte müssen ihr Handwerk irgendwo gelernt haben. Wo aber kann man lernen, Menschen für´s Leben stark zu machen? Die
Schule würde ich gern mal sehen!
Ich sitze ihm gegenüber, halte seinem Blick stand, Mehr brauche ich zunächst nicht zu tun. Das Weitere wird er mir sagen. Er sagt nicht "tu dies oder das". Nein, er geht wissenschaftlich vor. Zumindest glaubt er das von sich.
Das Wetter und mein Wohlbefinden haben wir heute kurz abgehandelt. Jetzt spricht er von seinem Gespräch mit meinen Eltern. Es ist unfair. Er braucht mir das nicht zu sagen. Ich sehe sie deutlich vor mir, ihre Gesichter, und ich weiss jedes Wort auswendig, das meine Mutter mir schrieb:
"... mich kennst du ja, ich rede. Es muss alles ´raus, dann fühle ich mich wohler, Versuch das doch auch einmal. Man kann nicht alle smit sich selbst abmachen..."
Wie soll ich ihnen klar machen, dass ich es versucht habe, den Mund öffnete und wieder schloss, ohne etwas gesagt haben zu können? Den Hilferuf in mir behielt, ohne es zu wollen.
Er sitzt und fragt. Es ist wie in der Schule. Nach zehn Jahren kennt man die Art, in der Fragen gestellt werden. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es besser ist zu schweigen. Wenn man Glück hat, gilt man nur als schüchtern oder höchstens verstockt. Also schweige ich.
Aber dafür haben sie nicht studiert, die Herren und Damen Psychiater! Oh,nein! Sie bestehen auf Antworten für ihre wohl überlegten Fragen.
Auf diese Weise hat er mich schon heulend gesehen. Ich weiss nicht, wie es dazu gekommen ist. Man kann mit so einem Weissbekittelten in einem Zimmer ziemlich einsam sein. So ist das wahrscheinlich, wenn sie einem das Leben wieder geben, das man schon auf den Müll geworfen hatte.
Jetzt bin ich klüger geworden, habe gelernt, dass die Erfahrungen von draussen hier drinnen ihre Gültigkeit verlieren. Sie sind ein eigenes Volk, die Psychiater. Ihr Beruf besteht zu einem guten Teil daraus, Schlüsse zu ziehen. Um Schlüsse ziehen zu können. müssen sie wissen. Um zu erfahren, müssen sie fragen.
Es ist mühsam. Hernach war alles umsonst, dann, wenn sie die falschen Fragen gestellt haben.
Manche von den Gesunden, die draussen vorbei gehen, verrenken die Hälse, um etwas vom Geschehen hier drinnen zu erhaschen. Mitunter haben sie Glück und einer von drinnen tut Dinge, die sie nicht verstehen. Dann schütteln sie die Köpfe und sind froh, normal zu sein.
Ich sitze drinnen am Fenster, das ich nicht öffnen kann. Ich sehe nach draussen. Die Leute eilen vorbei. Seltsam, würde ich die Welt nur durch dieses Fenster kennen, müsste ich glauben, das Leben bestünde nur aus Eile und Geschäftigkeit. Nie sah ich jemanden hier vorüber schlendern. Ich glaube, sie haben Angst. Angst davor, hier Dinge zu sehen, die sie nicht vergessen können. Und wenn sie trotzdem darauf warten, etwas zu sehen, so weil sie am Geschehenen ermessen wollen, wie fehl sie hier drinnen am Platz wäre. Denn sie haben auch, ohne sich Rechenschaft über solche Gefühle abzulegen, Angst davor, selbst in diese Tretmühle hinein zu geraten. Einfach nur dadurch, dass sie eines Tages begreifen, was in meinem Kopf oder dem eines anderen von uns hier drinnen vor sich geht. Und wider eigenen Willen zu uns kommen. Hinter Gitter und verschlossene Türen.
Ich erinnere mich, da draussen einstmals sehr viel Zeit gehabt zu haben. Ich habe ihre Eile nie gekannt. Ich lebte versunken im Trott der Notwendigkeiten eines jeden Tages und verzweifelte in den Stunden, die mich, unausgefüllt, zum Nachdenken zwangen. Zum Nachdenken darüber, ob das alles sein konnte, wozu ich geboren wurde. Da fehlte jeglicher Sinn. Nur jenseits dieser Öde konnte das wirkliche Leben sein.
Sie entliessen mich ins Leben mit einem an Zensuren ablesbaren Wissen, aber als sie darüber sprachen, muss ich wohl krank gewesen sein. Durchforsche ich mein Gehirn nach Erkenntnissen bezüglich meines eigenen Nutzens finde ich nichts, gähnende Leere.
Es stimmt, sie sprachen darüber, doch offenbar nicht über mich. Meinen Sinn kann ich nicht finden.
In meiner Hilflosigkeit schien mir, besser sei das Ende. Es war folgerichtig, denn des Endes Anfang ist Sinnlosigkeit.
Die Tabletten waren bitter. Und ich dachte: Besser das als diese ewige Sinnlosigkeit. Und ich dachte auch: Es ist ja bald vorbei.
Jetzt weiss ich, dass es so schnell nicht vorbei ist. Sie wollen einen immer retten. Meistens schaffen sie es. Sie haben Routine mit solchen wie mir.
Ich sitze am Fenster. Die Station schläft. Die Station schläft meistens, wenn nicht gerade jemand neu eingeliefert wurde, der das Treiben noch nicht begreifen kann. Sie begreifen es meistens nicht.
Ich habe die einen gesehen, die stundenlang schrien, um ihrem Unverständnis keinen Platz zu lassen. Man stelle sich das vor: Im Nachbarbett liegt jemand, der schreit und schreit, scheinbar ohne Atem zu schöpfen.
Da habe ich erfahren, wie wenig ich mich selber kannte. Ich bin hin gegangen, haben den Jungen geschlagen, wütend, hemmungslos, wo ich ihn treffen konnte.
Es war leicht. Sie hatten ihn mit Ledergurten am Bett fest gebunden. Ich sah ihm an, wie das Unverständnis über sein Hierseinder Fassungslosigkeit Platz machte: Draussen hätte es das nicht gegeben. Da ist immer jemand, der helfend und schützend eingreift.
Die anderen standen daneben, verschlafen oder schadenfroh. Sie sahen, was ich tat, und wendeten sich ab, als sei nichts geschehen. So ändert man hier seine Massstäbe!
Danach habe ich mich geschämt. Es half nichts, dass ich mir sagte, der Junge sei wahrscheinlich hysterisch und meine Schläge nur von Nutzen. Er wurde ruhiger, wimmerte nur noch vor sich hin.
Und ich habe solche gesehen, die stundenlang vor sich hin starrten. Es sind dies die Verträglicheren. Sie stören nicht und nötigen einem Behutsamkeit ab. Irgendwann fangen sie an zu reden. Es sind Selbstgespräche. Sie sind erstaunt, wenn man sie in solchen Momenten anspricht. Sie verstehen nicht, dass es ausserhalb ihres verworrenenen Inneren noch anderes gibt. Sie sind enttäuscht von irgendwas oder irgendwem.
Ich sitze am Fenster, von dem ich nun weiss, wie man es ohne Hilfe der Schwestern öffnen kann. Ich sehe die Eiligen da draussen. Manchmal erhasche ich einen Blick, der ist mitleidig und sagt: Noch so jung!
Sie haben vergessen, dass das Leben gerade mit sechzehn sehr kompliziert sein kann.
Man kommt aus der Schule. Bis dahin war die Welt heil. Sie mochten uns, je mehr wir Kind und unreif waren, es ist geruhsamer. Und plötzlich nennen sie uns Erwachsene.
Ich sehe an mir herunter: ordentliche Hose, Hemd, schwarze Schuhe. Sehr anständig. Ausweis, Schlüssel, Geld - alles da. Ich bin vollständig, aber vollkommen?
Ich tröste mich schwach_ Wer wäre schon vollkommen?
Vollkommenheit: allen Anforderungen und Erwartungen gerecht werden.
Was erwartet man von mir? Wer erwartet was von mir? Was erwarte ich
von den anderen?
Die Station schläft. Sie schläft nicht von ungefähr. Dieser umfassende Schlaf ist Resultat einer wohldurchdachten Ordnung. Nach Regeln, die nur sie selber kennen, verteilen die Schwestern mundgerecht Pillen und Tabletten der verschiedensten Größen und Farben, über deren Einnahme sie wachen, als bekämen sie für den Verbrauch von Psychopharmaka Prozente. --- Die Station schläft der Gesundung entgegen.
Sie schicken mich da- und dorthin, um hinter des Leidens Ursache zu kommen. EKG, EEG, Blurbild, HNO-Arzt, Augenarzt.
Imgrunde ist es wenig, was sie von uns wissen.
Sie öffnen mit gewichtig klappernden Schlüsseln die Tür, das Bedeutendste in diesem Haus.
Ich schnuppere Frühlingsluft. Ich weiss es jetzt, wichtig war mir in letzter Zeit nur das: diese Tür hinter mir lassen und gehen, einfach gehen. Ich bin draussen. Das erste Mal seit Wochen.
Die Wochenenden zu Hause zählen nicht. Das war stets ein übler Vorgeschmack auf die Heimkehr. Mit schädlicher Fürsorge umfingen sie mich und übten ständige Aufsicht. Sie haben sich bemüht, es unauffällig zu machen. Immer waren sie hinter mir her, selbst auf dem Clo. ("Ach, du bist hier? Ich dachte du wärst in deinem Zimmer.") Und immer der unausgesprochene Vorwurf: Wie konntest du uns das nur antun?
Wir Selbstmörder sind Egoisten. Meine Mutter hat es mir geschrieben. Wir denken nie daran, was wir zurück lassen. Heulende Mütter, Väter, die sich mühsam beherrschen, Geschwister, denen bei dieser Gelegenheit auffällt, wie wenig sie einen kannten.
An all das denken wir nicht.
Wir haben nur ein Ziel: die ewigen Jagdgründe, ewiger Schlaf, ewige Ruhe, Flucht
!
Ich nehme mir Zeit, geniesse es, nicht erkannt zu werden. Man meine nur nicht, wir wären hier im Gelände anonym. Das Personal erkennt uns in der Regel am blöd-zufriedenen Pharmablick. Ich bekomme das Zeug ja nicht. Nach meiner Überdosis sind sie der Meinung, ich habe für längere Zeit genug.
Tatsächlich habe ich drei Tage lang fast nur geschlafen. Es hat gut getan, nicht zu wissen, was um einen herum vor sich geht. Es tut gut, nicht zu wissen.
Jetzt weiss ich, mehr als vorher, mehr als mir manchmal lieb ist.
Ich gehe zur Beschäftigungstherapie. Wir machen Osterhasen aus Ton. Sie meinen, es wäre gut, dass ich Spass daran finde.
Ich gehe zur Gesprächstherapie. Endlich wieder vernünftig reden. Reden über Sachen, die im MOment wichtig sind. Wir reden über uns, was wäre wichtiger? Die Psychologin hält sich im Hintergrund, greift hin und wieder lenkend ein. Sie fragt, die sich schweigend zurück halten. Mich braucht sie nicht zu fragen. Ich zerberste vor Beredsamkeit. Sie meine, es wäre gut, dass ich wieder rede.
Ich fühlte mich zuerst sehr allein. Dabei gibt es viele Selbstmörder auf der Station. Wir nennen uns so, obwohl wir leben. Irgendwie muss die Sache ja benannt werden. Wenn es gegen die anderen geht, rücken wir zusammen.
Kommt man hierher, dann hält man die Augen fest geschlossen. Immerzu dachte ich: Du gehörst doch nicht hier her!
Alle denken, dass sie nicht hierher gehören. Aber die uns hierher schickten, die wissen es besser. Sie haben das schliesslich studiert.
Ich langweilte mich. Das legte sich haargenau in dem Moment, als ich entdeckte, dass mein Aufenthat hier keineswegs nur den Entzug ansonsten normaler Freiheiten, sondern zugleich den Beginn eines Lernprozesses bedeutete.
Es gibt viel zu lernen. Vieles, draussen völlig normal, bedarf hier einger Winkelzüge. Man lernt sich zu hüten. Vor allzu eifrigen Schwestern, Indiskretion, Kleptomanen.
Wenn man sich wieder besinnen zu können glaubt, was das ist, LEBEN, dann beginnt man neu.
Am Abend warten wir sehnsuchtsvoll auf die Nachtschwester. Meta kennt das Leben, sie versteht uns. Sie hat ihre ganz eigenen Vorstellungen. Mit Meta habe ich so manche Nacht, als schon alles schlief, diskutiert. Meta ist die Erste auf der Station, aus deren Leben ich etwas weiss. Sie fragen sonst nur nach unserem Leben. Meta nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie findet es idiotisch, Tabeltten zu schlucken. Es ist keine Lösung. Es ist das erste Mal, dass ich von jemandem, der so etwas sagt, glaube dass er Recht hat. Ihre Argumente zählen.
Sie nimmt mich mit auf ihre abendliche Runde und sagt: "Sieh dir das an."
Was ich sehe, ist Sabine, vierzehn Jahre alt, Epileptikerin. Sabine muss gewendet werden. Sie ist wund, überall, wo man es nach langem Liegen nur sein kann. Aber was heisst wund? Sie ist durchlöchert! Kein Mensch glaubt daran, dass Sabine jemals wieder aufstehen kann.
Seither sitze ich an jedem Vormittag bei Sabine. Ich rede auf sie ein, bemühe mich, ihren starr aus dem Fenster gerichteten Blick nur einen Moment lang auf mich zu ziehen. Ich lese aus einem Buch vor, spreche von ihrer bevorstehenden Konfirmation und lerne so, wie es ist, an einem Krankenbett zu lügen.
Am Nachmittag habe ich eine Stunde Ausgang. Ich darf das Klinikgelände nicht verlassen. Aber es ist gross, nicht überschaubar, sonst wärs wie auf dem Gefängnishof. Beinahe täglich begleitet mich Gerd. Er ist doppelt so alt wie ich, verheiratet, hat zwei Kinder. Er erzählt von sich, seiner Familie, der Arbeit. Ich lernte ihn beim EKG kennen. So finde ich Zugang zu der Welt der Erwachsenen.
Ich gehe über die Station, längst nicht mehr der Kranke. Ich sehe. Ich lerne. Ich genisse ienen Sonderstatus: der Älteste auf der Kinderstation. Aber auch dieser Status versagt, wenn es auf der Station unruhig wird. Die Schwestern rennen hin und her. Türen werden geheimnisvoll geschlossen und die Patienten im Aufenthaltsraum gesammelt.
Diesmal ist es wegen Elke, Epileptikerin, sechzehn Jahre alt. Ein Anfall.
Ich habe das erlebt. Sie bekommt Visionne, angstverzerrtes Gesicht, möchte sich am liebsten irgend wo hin verkriechen. Das ist so ein Reflex, sich vor den Angstbildern verbergen wollen. Wenn es Nacht wird und die Schatten zu bösen Geistern werden, ziehen wir alle die Decke ein Stück höher. Wie aber soll man sich vor Bildern verkriechen, die in einem selber sind? Diesmal ist es besnders schimm. Elke hat Angst, furchtbare Angst. Die Scheibe in der Tür zu ihrem Zimmer muss verhängt werden, denn jeden, der hinein sieht, erlebt sie als Schreckensbild. Drei Schwestern sind nötig, um sie in die für die Beruhigungsspritze erforderliche Lage zu bringen.
Auf der Station ist Ruhe eingekehrt, nachdenkliche Ruhe. Auch die Kleinen haben Elke in ihrer schimmsten Stunde gesehen. Sie fragen nicht, was das Unverständliche zu bedeuten hat. Hellwach liegen sie in ihren Betten und lächeln flüchtig, wenn man sich bemüht, sie abzulenken. Mit weniger als sieben Jahren beherrschen sie schon jenes Erwachsenenlächeln, das zur Kenntis nimmt, was geschieht, gleichsam ein Eigenleben führt, und doch jedem deutlich sagt: Du kannst mich nicht ablenken.
Von den Erwachsenen unterscheidet sie im Moment nur eines: sie werden schneller vergessen, und das wird für ihren inneren Frieden zweifellos das Beste sein.
Auch wir, die Älteren, bemühen uns zu vergessen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten für und - vergessen oder damit fertig werden. Wie aber soll man damit
fertig werden?
Ich ziehe meine Schlüsse, nicht nur Psychiater können das. Ich gehe über die Station und tue, was in meiner Macht steht. Viel kann ich nicht tun, aber ich weiss am Abend zumindest, dass dieser Tag nicht vergeblich war.
Das Mitleid meiner Bekannten und Verwandten draussen drückt mich. Was so besonders Schlimmes wiederfährt mir denn?
Ich lebe und im Leben geht jeder seinen Weg. Ich musste einen Umweg nehmen. Wäre das ein Grund zum Mitleid?
Mit leeren Händen und leerem Kopf kam ich hierher. Mein Gepäck auf dem Heimweg wird schwerer sein.
Texte: -
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2008
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