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Der Schädelmacher

»Du verlangst von uns, dass wir morgen Abend in Mautern filmen?« Ungläubig erkundigte sich Marie ein letztes Mal, dass sie den Auftrag richtig verstanden hatte. »Wir sollen gute zweihundert Kilometer fahren, um über WAS zu berichten? Einen Trachtenumzug?«

Wilhelm, der Chefredakteur des Wiener Frühstücksfernsehens seufzte. »Kein Trachtenumzug, Marie, ein Krampuslauf! Du wirst sehen, das ist etwas völlig anderes. Es wird euch Spaß machen.«

Maries Partner Fritz stimmte seinem Chef zu. »Das Liesingtal im Winter wird dir bestimmt gefallen«, versicherte er. »Die Krampusbräuche haben eine lange Tradition und sind überhaupt nicht langweilig. Wenn du dich morgen Abend nach dem Lauf nicht richtig gegruselt hast, bist du gegen Schreckgespenster und böse Geister immun.«

Wilhelm lachte. »Genau! Und ein paar Schneeflocken haben noch keinem geschadet. Schließlich ist Winter. Ihr könnt nach dem Dreh auf meine Kosten in der Hex´ einkehren. Dort gibt es den besten Jagertee im Ort.«

Der Chefredakteur ließ sich nicht umstimmen und so machten sich Fritz und Marie am kommenden Morgen auf den Weg. Die ersten einhundert Kilometer schwieg die Kamerafrau noch verstimmt oder brummte einsilbige Antworten, wenn Fritz sie in ein Gespräch verwickeln wollte.

Je weiter sie sich von Wien entfernten, desto mehr Schnee türmte sich an den Straßenrändern und die Sonne ließ das eisige Weiß glänzen. Selbst Marie ließ sich von der Helle ermuntern und fand ihre gute Laune zurück. Als sie ins Liesingtal abbogen, war ihr Groll auf den Auftrag verflogen.

»Dieser Krampuslauf …« Marie runzelte die Stirn und überlegte. »So wie du gestern geschwärmt hast, warst du schon bei einem dabei, oder?«

Fritz nickte. »Klar doch! Bei uns in Salzburg findet jedes Jahr einer statt. Als Kind habe ich mich vor dem Krampusabend regelrecht gefürchtet, Inzwischen sehe ich es eher als ein amüsantes Spektakel mit etwas zu viel Testosteron.«

Fritz beobachtete den forschenden Blick, der ihm nach dieser Erklärung zugeworfen wurde. »Der Krampus ist der Begleiter vom Nikolaus«, ließ er Marie wissen. »Aber er ist alles andere als ein freundlicher alter Mann. Man kann sagen, er ist ein Winterdämon, ein Bösewicht, der ungezogene und vorlaute Kinder bestraft.«

Marie dachte ein wenig über das Gehörte nach. »Dann kann euer Nikolaus wohl auf die Rute verzichten, wenn er sogar einen Helfer mitbringt, um die Bösen zu bestrafen. Schlimme Kinder müsst ihr Österreicher haben, wenn ihr solche Bräuche pflegt.« Sie lachte. »jetzt bin ich wirklich sehr gespannt, wie der Abend ablaufen wird. Bei uns bekommen die unartigen Kinder die Rute vom Nikolaus oder Weihnachtsmann persönlich. Er bringt keine Helfer mit, wenn er seine Gaben verteilt.«

Fritz nickte. »Ich weiß. Solche Bräuche sind überall anders. Aber es wird dir gefallen.«

Gefallen fand Marie schon nachmittags an den tief verschneiten Gassen des Ortes, an den weihnachtlich beleuchteten Häusern und den geschmückten Fenstern. Hier und da spürte man schon die vorfreudige Erwartung der Einwohner und Gäste, die dem abendlichen Spektakel entgegenfieberten.

Mit Beginn der Dämmerung wurde der Hauptplatz abgesperrt und eine Gruppe Ordnungskräfte fand sich plaudernd und lachend am Rand der Klostergasse ein und inspizierte den Ort des späteren Treibens.

»Ich werde ein bisschen durchs Viertel spazieren und die verschneite Wallfahrtskirche für ein Intro filmen«, legte Maria fest. »Wir brauchen auf jeden Fall einen ersten Eindruck des Ortes für die Eröffnungsbeschreibung. Danach können dann die Dämonen antreten.« Sie grinste erwartungsvoll und Fritz ließ sie ziehen.

»Ich sichere uns einen Platz vor dem Café. Von dort aus sollte die Ankunft der Passen gut zu sehen sein.«

Marie nickte und zog los. Auch wenn sie Fritz gern noch über die einzelnen Krampusriegen oder Passen ausgequetscht hätte, überwog ihr Wunsch, ein paar erste Filmsequenzen einzufangen. Sie schulterte ihre Kamera und wandte sich der Kirchgasse zu. Schon nach wenigen Metern kam die kleine Wallfahrtskirche in Sicht und die Kamerafrau bewunderte den eleganten, schneegedeckten Kirchturm, der sich vom Dämmerungshimmel dank künstlicher Beleuchtung gut abhob.

›Ein schönes Intro‹, fand Marie und begann einen Dreh. Sie konzentrierte sich auf einen perfekten Schwenk über den Kirchplatz, sodass sie fürchterlich erschrak, als hinter ihr eine einzelne dumpfe Glocke anschlug. Ihr Zusammenzucken wurde mit einem lauten Gelächter mehrerer Männer beantwortet.

Ohne nachzudenken, hob Marie ihre Kamera von der Schulter. Welche Idioten versauten ihr hier ihre erste Sequenz? Wütend fuhr sie herum und wollte den Deppen ihre Wut über die Störung entgegenschleudern. Doch aus der Schimpftirade wurde nichts. Lediglich ein entsetztes Keuchen kam ihr über die Lippen. Knapp einen Meter vor ihr stand eine überlebensgroße, gehörnte Gestalt mit heraushängender Zunge und grellrot leuchtenden Augen. Überlange Hörner wuchsen ihr zu beiden Seiten aus dem Kopf. Ihre Schultern waren fellbedeckt.

»Wennstned brav bist, huid di da Krampus«, verkündete das Wesen mit dunkler Stimme.

Marie brauchte mehr als nur einen Atemzug, um sich von dem Schrecken zu erholen. Wenn alle Krampusse so aussahen wie dieser, dann hatte Fritz recht, sie würde sich den ganzen Abend lang unglaublich gruseln. Mit einem Mal musste die Kamerafrau lachen.

»Und wenn du brav bist, kommst du ins Frühstücksfernsehen«, konterte sie und schwenkte die Sony. »Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken? Fast hätte ich die hier fallen gelassen. Dann wären zehntausend Euro hinüber gewesen und der ORF müsste auf sein Frühstücksfernsehen am kommenden Wochenende verzichten.«

Die Maske – nichts anderes war die Dämonenfratze – wackelte nachdenklich hin und her. »Frühstücksfernsehen sagst du?«, brummte es hinter der Schnitzerei. »Frühstücksfernsehen? Das passt GAR NICHT zu unserer Pass! Wir sind schließlich Dämonen der Dunkelheit!«

Die Gruppe hinter dem Sprecher lachte. »Wirst du schon noch sehen!« rief einer der anderen Vermummten. Mit Gelächter und Glockendröhnen zog die Pass weiter.

Kopfschüttelnd sah Marie der Gruppe hinterher. Wenn sie jetzt noch eine ruhige Hand hatte,war das ein Wunder.

Eine halbe Stunde später waren ihr ein paar brauchbare Filmminuten gelungen. Trotz der Aufregung war Marie zufrieden. Jetzt konnte das Spektakel beginnen. Sie war motiviert, eine ordentliche Dokumentation zu drehen.

Fritz hatte indes Wort gehalten und ihnen einen guten Platz am Straßenrand vor dem Café des Ortes reserviert. Hier wurde die Gasse etwas weiter und bog in den Hauptplatz von Mautern ein. Am Rand dieses Platzes – Marie und Fritz direkt gegenüber – war eine kleine Bühne aufgebaut, auf der ein goldbelehnter Sessel auf rotem Teppich die Blicke auf sich zog. Hier, so erklärte der Journalist seiner Kamerafrau, würde sich später der Nikolaus niederlassen und ein paar besonders mutige Kinder überzeugen, Gedichte und Lieder vorzutragen.

Langsam wurde es dunkel und die Straßenlampen reflektierten ihr Licht im Weiß des festgetretenen oder aufgetürmten Schnees. Pünktlich um achtzehn Uhr begannen die Glocken der Wallfahrtskirche zu läuten. Zum Klang der örtlichen Blaskapelle hielt der Nikolaus mit seinen beiden Engeln Einzug auf dem Marktplatz. Der offensichtlich schon ältere Mann trug zu Kunstbart und -haar eine nachgemachte Bischofsrobe und eine violette Kappe. Mühsam erklomm er die Bühne und man hörte ihn deutlich ins Mikrophon schnaufen, als er sich auf dem Sessel niederließ. Nun begann der Auftritt der Mauterner Kinderschar und Marie filmte halbherzig ein paar Sänger und Gedichtesprecher.

Dann jedoch, als die Körbe der Engel geleert waren und der Nikolaus seines Weges ging, wurde sie schlagartig munter, als ein Donnerschlag über den Marktplatz dröhnte. An den umliegenden Häusern wurden mehrere Fenster geöffnet, hinter denen Scheinwerfer verborgen gewesen waren, die Straßenbeleuchtung erlosch und der Krampuslauf begann mit einer gespenstischen Pyroshow, deren Farbenspiel Maries Filmlust anstachelte. Begeistert hob sie ihre Kamera.

»Ein wahnsinniger Lichteffekt!«, rief sie Fritz zu und begann zu drehen.

Doch die Feuershow war nur der Beginn des eigentlichen Spektakels. Mit einem lauten Klingen ihrer Kuhglocken sprang die erste Pass auf den Marktplatz. Inmitten des flackernden Lichts der Pyrotechnik erschienen Masken, Felle und die schwingenden Glocken auf den Rücken der Darsteller noch echter, noch gruseliger. Viele der Zuschauerinnen kreischten erschrocken oder begeistert auf.

Die Krampusläufer zeigten allerlei Schabernack, erschreckten die Kinder, neckten die jungen Frauen und sprangen hier und da auf die Absperrungen, die die Zuschauer vor allzu rebellischen Darstellern schützen sollten. Mit ihren langen Ruten schlugen sie spielerisch auf die Schaulustigen ein, um ihnen, wie sie riefen, ihre Sünden auszutreiben. Maries Kamera wurde zu einem Anziehungspunkt der Darsteller. Fast schien es so, als wollten sich die Passen gegenseitig darin übertrumpfen, sie zu erschrecken.

Ein Bündel Birkenzweige klatschte gegen ihre Waden. »Na, Frau Frühstücksfernsehen – amüsierst du dich?«, brüllte ihr ein Maskenträger zu. Fast hätte sie den vorlauten Krampus an der Wallfahrtskirche nicht wiedererkannt.

Von dessen guter Laune angesteckt, zoomte sie nah an die spektakuläre Maske heran. Der Krampus senkte die langen Steinbockhörner und spielte das Spiel mit.

»Dafür gibst mir nachher in der Hex´ einen aus, oder?«, lachte er, bevor er weiterzog.

Marie ließ sich von der Stimmung mitreißen. Kreischend begrüßte sie die Passen, sprang zurück, wenn einer der Maskenträger versuchte, gegen ihre Beine zu schlagen und pfiff den Davontanzenden hinterher.Unermüdlich richtete sie die Kamera auf immer neue Krampusläufer.Der Bericht für das Frühstücksfernsehen des ORF versprach großartig zu werden. Die Kamerafrau unterhielt sich prima.

Der Abend zog an den beiden Fernsehmoderatoren vorbei. Marie hatte bereits umfangreiches Filmmaterial gesammelt. Fritz was hatte einen Teil seines Berichts imStillen formuliert und war mit der Show und dem Wochenende insgesamt zufrieden. Er war bereit, den Tag bei einem Weißbier fröhlich ausklingen zu lassen.

Unter dem Publikum begann sich Aufbruchstimmung auszubreiten. Väternahmen ihre Kinder auf die Schultern, Pärchen machten sich Hand in Hand auf die Suche nach der besten Kneipe, in der sie weiterfeiern konnten.Die letzte Pyrotechnik schien bereits erloschen zu sein. Auch Marie hatte ihre Kamera von der Schulter genommen. Doch wie sich herausstellte, war sie damit ein bisschen zu voreilig gewesen.

Am Ende der Straße zeigte sich ein feiner Nebel und ein dumpfes Grollen lockte noch einmal die Aufmerksamkeit der Zuschauer an. Mehr und mehr trüber Dunst breitete sich über den Platz aus.Das Grollen wurde lauterund schließlich betraten zwei weitere Krampusläuferdie Straße.Anders als ihre Vorgänger, die johlend und kreischend auf die Zuschauer losgegangen waren, schritten diese beiden an den Absperrungenentlang und blickten die Besucher schweigendan. Dennoch wichen die Neugierigen aus der ersten Reihe angstvoll vor ihnen zurück.

Zunächst ließ sich für Fritz und Marie nicht erkennen, was die Besucher derart erschreckte. Dann, als die Maskenträger näherkamen, konnten die beiden Reporter einem von ihnen aus der Nähe ins Gesicht sehen.Und das, was sie sahen, war wirklich furchterregend. Die Maske dieses Krampusläufers wirkte beinahe lebendig. Marie hatte den Eindruck,dass er aus seinen hölzernen Augen grimmig auf sie herabsah. Er schien die hölzerne Stirn zu runzeln.Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Als dieses furchterregende Monster näherkam,wich auch Marie unwillkürlich zwei Schritte zurück.Ihre Angst schien den Krampusläufer noch herauszufordern,denn er verzog seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln.

»Ihr habt doch keine Ahnung, wer der Krampus wirklich ist«, fauchte eine dumpfe Stimme aus der Maske. »Feiern, saufen und euch künstlich gruseln, das könnt ihr.Doch wiegt euch nicht in Sicherheit. Die Winterdämonen schlafen nicht.«

Marie fühlte die Gänsehaut auf ihren Unterarmen und verspürte Übelkeit.Sie konnte Hass erkennen, wenn er ihr entgegenschlug.Was für ein seltsamer Mensch mochte hinter dieser Maske verbogen sein,dass er den Gästen nicht ihren harmlosen Spaß gönnen konnte?

Unwillkürlich trat sie näher an Fritz heran. Ihr Blick folgte dem Krampusläufer und ihr fiel auf, dass sich der Maskenträger mit einem stark hinkenden Gang entfernte. Hinter ihm verdichteten sich die Nebelschwaden,als würde er sie mit seinem Körper anziehen.Marie sog tief die Luft ein, um ihre Angst zu überwinden. Was für ein fürchterlicher Mensch!

Ein merkwürdiger Geruch fiel ihr auf, der ihre Nase reizte.Sie schnupperte. Merkwürdig. Irgendwie erinnerte sie der Duft an Talkum oder Puder. Und an den Moder, der in Herbstabenden über den Mooren lag. Der Schreck hatte wohl ihre Sinne vernebelt. Hier im Neuschnee von Mautern roch alles sauber und frisch.

»Puh!«, murmelte Marie. »Was für ein gruseliges Ende dieses Abends. Noch nie habe ich mich von einer Maske so einschüchtern lassen. Das war unglaublich. Gute Schauspielkunst.«

Fritz sah sie nachdenklich an. » Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Schauspiel sein sollte. Heutzutage weiß man nie, an welche seltsamen Dinge Menschen glauben. Vielleicht war das einer dieser Neuheiden, die zu Odin, Wotan oder Saturn beten. Mag sein, dass sie auch an Dämonen glauben.«

Ein Grinsen trat auf Maries Gesicht, von solchen verrückten Leuten hatte sie auch schon gehört.

»Die meisten Neopaganisten sind eigentlich ganz harmlos. Sie tanzen an Beltane mit Blumenkränzen im Haar um ein Lagerfeuer, haben eine Nacht lang wilden Sexund kehren danach an ihre langweiligen Bürotische zurück.Im Herbst opfern sie für Frau Holleund nach Weihnachten fürchten sie sich vor der Wilden Jagd. Diese Verrückten konnte ich noch nie ernst nehmen.Dass einer von ihnen ein solches Spektakel abziehen könnte, glaube ich nicht.«

Fritz war sich da nicht so sicher, doch er wollte Marie auch nicht noch mehr verängstigen. Er stimmte ihr zu, dass es die Begegnung mit zwei Irren gewesen sein konnte. Die Menschen waren verschieden und wenn ihnen hier zwei außergewöhnliche Exemplare begegnet waren, dann sollten sie dem nicht zu viel Bedeutung beimessen.Trotzdem nahm er sich vor, während des weiteren Abends auf Marie aufzupassen.

Dieser hatte sich inzwischen von dem Schreck erholt und packte ihre Kamera ein.

»Wenn wir nicht bald ein warmes Plätzchen finden, werden meine Füße zu Eis«, verkündete sie.

»Ich glaube, ich habe einem der Krampusläufer ein Bier versprochen. Wir sollten in die Hex´ gehen.«

Auch Fritz fand die Vorstellung einer warmen, heimeligen Kneipe verlockend. Er legte Marie einen Arm um die Schulter und sie zogen los.Wilhelm hatte versprochen, die Kosten für die Einkehr zu übernehmen. Es gab also nichts, was die beiden abhalten konnte, einen fröhlichen Abend zu verbringen.

Die Hex´war ein kleines verwinkeltes Fachwerkhaus. Durch die beschlagenen Fenster fiel ein warmes Licht auf die Straße.Volksmusik drang nach draußen und das Lachen und Scherzen der Gäste.Als sie eintraten, schlug ihnen warme, von Bierduft geschwängerte Luft entgegen. Die Menschen drängten sich um die Theke und um eine Gruppe junger Männer, die eindeutig im Mittelpunkt des Abends stand.

Marie drängte sich ein wenig näher heran und sah, dass bei einigen der Burschen die Krampusmasken zwischen deren Füßen klemmten.Hier hatten sich also die Passen zusammengefunden, um gemeinsam zu feiern.

»Du glaubst nicht, wie sehr ich unter diesem Kunstfell geschwitzt habe!«, beschwerte sich eine Stimme.

»Musstest dir aber auch gleich fünf Glocken auf den Rücken binden«, konterte lachend eine andere.

» Wenn du die Hanna beeindrucken willst, musst du schon etwas Echtes leisten«, lästerte ein anderer junger Mann. »Der reicht es nicht, wenn du als Krampus durchs Dorf springst. Wenn du die Hanna überzeugen willst, dich auf ihren Hof zu holen, musst du auch so ein harter Kerl sein.«

Der Angesprochene murmelte etwas Unverständliches,das die jungen Männer um ihn herum zum Lachen brachte.

»Schau an, Miss Frühstücksfernsehen ist eingetroffen!«

Eine Hand schlug Marie kräftig auf den Rücken. Als sie sich umwandte, blickte sie in ein fröhlich lachendes Gesicht.Die grauen Augen des Mannes strahlten und sein verstrubbeltes Haar zeigte noch Spuren des anstrengenden Krampuslaufs. Wie seine Gefährten war er gründlich verschwitzt.

»Erkennst mich nicht?«, forschte er nach. »Wennstned brav bist, huid di da Krampus«,wiederholte er seinen Spruch vom Kirchenvorplatz.

»Klar, der Steinbockkrampus, der ins Frühstücksfernsehen will.« Marie lachte. » Du siehst aus, als könntest du dein Bier wirklich gut gebrauchen. So ein Krampuslauf scheint anstrengend zu sein.«

Der Krampusläufer nickte. »Auf ein frisches Bier freue ich mich schon lange.Und was die Anstrengung angeht…« Er strich sich durch das nasse Haar. »Schlepp du mal die Maske und die Schellen einen ganzen Abend lang durch die Straßen. Danach weißt du, was du gemacht hast. Ein Tag Holzfällen im Wald ist weniger anstrengend.«

Marie nickte. »Das glaube ich dir sofort. Diese Masken sehen unheimlich schwer aus. Allein die Hörner müssen unglaublich viel Gewicht haben, oder?«

»Du kannst meine nachher mal aufsetzen«, versprach der Krampusläufer. »Aber vorher brauche ich ein Bier.«

»Ich bin Sebastian«, stellte sich der Krampusläufer ihnen vor, als sie vor ihrem Bier Platz nahmen. Er erzählte ihnen von den Krampusläufen der vergangenen Jahre. Dabei waren es hauptsächlich lustige Geschichten, die er zum besten gab. Der Einstieg in die Passen wurde den Neulingen nicht leicht gemacht. Im ersten Jahr, so erinnerte sich Sebastian, war er der erste, der das schwere Kostüm angelegt bekam. Stolz sei er gewesen und aufgeregt. Doch dann sei ihm schnell aufgegangen, dass hinter dem Vorrang, dem man ihn gegeben hatte, ein Test steckte. Noch bevor sie losgegangen waren, lief ihm der Schweiß in Strömen über den Rücken. Doch Sebastian hatte sich gut geschlagen und inzwischen war er in fester Bestandteil der Pass.

Nachdem sie eine Weile gesessen hatten, wollte der Krampusläufer sein Versprechen einlösen. Er bat Marie und Fritz in einen Nebenraum, wo die Passen ihre Kostüme und Masken abgelegt hatten.

»Schau!«, sagte er mit einer Geste zu den hier aufgestellten Tischen, auf denen die Masken und Felle der Krampusläufer aufgehäuft waren. »Hier liegt das gute Stück. Wenn du es aufsetzt, hast du immerhin fast zehn Kilogramm auf dem Hals sitzen.«

»Zehn Kilogramm?« Marie schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie kannst du denn mit einer zehn Kilo schweren Maske so eine Show aufführen?«

Der Krampusläufer lachte herzlich. »Manche Masken sind noch deutlich schwerer«, erklärte er.

»Die da drüben«, er wies auf eine große Maske zwei Tische weiter entfernt,»wiegt fast vierzehn Kilo. Das liegt an den vier Hörnern, die sie hat. Nicht jeder hat genügend Nackenmuskeln, um so etwas herumzutragen. Krampusläufer zu sein, ist schon etwas ganz Besonderes.«

Ehrfürchtig strich Marie über die Windungen der langen Steinbockhörner, sah sich die Trageriemen der Maske an und fuhr mit dem Finger die hölzernen Falten der Stirn nach.

»Die Schnitzerei ist unglaublich detailliert«, murmelte sie leise. »Da steckt jede Menge Arbeit drin.«

Sebastian, jetzt ernster geworden, nickte zustimmend.»Das stimmt. Wir haben allein in unserem Ort drei Handwerker, die in ihrer Freizeit nichts anderes machen, als Krampusmasken zu schnitzen. Meist bestellt eine Pass alle ihre Masken bei einem der Künstler. So sind die Gesichter ähnlich und die Gruppe kann als Einheit auftreten.«

»Trotzdem waren die Masken der letzten Pass eures Laufes ganz anders als alle, die wir vorher gesehen haben.« Fritz sah sich suchend um.»Hier sind sie aber nicht dabei.«

Sebastian seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.»Die Pass vom Wald-Seidler.« Er nickte.»Das ist etwas, worüber wir hier in Mautern nicht besonders gerne sprechen. Aber du hast schon recht. Die Masken vom Seidler unterscheiden sich von allem, was ich bisher bei einem Krampuslauf gesehen habe. Und glaub mir, ich bin schon ziemlich lange dabei.«

»Du meinst also, dass sie dich auch erschrecken?« Marie lachte ungläubig.»Gewöhnt man sich in den Jahren nicht an den Grusel?«

»Das ist es nicht«, erwiderte Sebastian.»An die Masken könnte man sich sicher gewöhnen. Aber die Ausstrahlung, mit der die Pass vom Wald-Seidler zum Lauf kommt und ihre Art, sich besonders zornig zu geben, das macht mir jedes Jahr wieder Angst. Außerdem«, hier wurde seine Stimme unwillkürlich etwas leiser,»kursieren hier im Ort Geschichten, die du dir sicherlich nicht anhören möchtest.«

Fritz wurde hellhörig.»Was erzählt man sich denn so?«

Sebastians Miene wurde verschlossener.»Vor allem ist es ein Haufen Geschwätz. Vieles wurde erfunden, um den Touristen eine spannende Story zu bieten. Wahr ist aber, dass der Wald-Seidler viele Jahre lang wie die anderen Künstler normale Masken für die Passen geschnitzt hat. Dabei war er sogar besser als die meisten. Inzwischen muss er schon weit über achtzig Jahre alt sein. Seine Frau, die Gerda, ist vor ein paar Jahren verstorben. Seitdem lebt er sehr zurückgezogen. Es wird erzählt, dass er vor drei Jahren krank war. Man hat ihn lange nicht gesehen – erst als er im Winter wieder beim Krampuslauf dabei war. Von da an war er seltsam. Zornig und irgendwie verwirrt. Und seine Masken haben sich völlig verändert. Sie sehen aus, als seien sie von Hass erfüllt. Auch den Seidler selbst habe ich nie mehr freundlich erlebt.«

Fritz und Marie schwiegen. Diese Geschichte hatte nichts mit dem Grusel der Winterdämonen gemeinsam. Hier war etwas, was eine ganze Gemeinde in Unruhe versetzen konnte. Fritz´ Ermittlungslust war geweckt.

»Kann es nicht sein, dass der alte Mann vom Tod seiner Ehefrau einfach aus der Bahn geworfen wurde? Man erlebt oft, dass alte Menschen durch das Alleinsein ein wenig eigen werden. Vielleicht ist sein seltsames Verhalten auch ein Hinweis auf eine beginnende Demenz? Wäre es nicht möglich, dass euer Seidler nur einen Arzt braucht?«

Einen Moment lang herrschte nachdenkliches Schweigen.

»Daran habe ich, ehrlich gesagt, auch schon gedacht. Aber die meisten hier im Ort fürchten sich vor dem Wald-Seidler. Keiner möchte etwas mit ihm zu tun haben. Man sieht ihn auch kaum während des Jahres. Nur zum Krampuslauf… Manche glauben sogar, dass er sich nur zu dieser Zeit hier imLiesingtal aufhält.«

Sebastian wandte sich den beiden Redakteuren zu und versuchte, ein fröhliches Gesicht zu machen. »Wenn ihr meine ehrliche Meinung hören wollt: Das Ganze ist totaler Blödsinn! Bestimmt ist der Wald-Seidler nur ein alter verwirrter Mann, der keine Gesellschaft mehr um sich haben will. Ja, ich finde sein Auftreten auch zum Fürchten. Aber das liegt nur an der besonderen Situation. Würde ich ihn im Sommer auf der Alm treffen, hätte er sicher mehr Angst vor mir als ich vor ihm.«

Für den Krampusläufer war das Thema beendet, das spürten Fritz und Marie genau. Sie gaben dem Wunsch ihres Gastgebers nach und ließen sich Zeit, die anderen Masken und Kostüme zu bewundern. Hier und da gab Sebastian einige Erklärungen zu den Schnitzereien und Glocken ab.

In einer dunkleren Ecke des Raumes war eine Wanddekoration mit einem Tuch verhangen. Sebastian wies auf diesen verdeckten Gegenstand und runzelte die Stirn.

»Hier könnt ihr euch anschauen, was der Wald-Seidler für ein Künstler war, bevor er verrückt wurde.«

Sebastian zog das Tuch von einer Maske, die an der Wand hing. Ein Krampus mit langen, gedrehten Hörnern starrte ihnen entgegen. Das Gesicht der Sagengestalt schien uralt. Tiefe Falten durchzogen seine Stirn, die Wangen waren eingefallen und der Mund schmal. Das eindrucksvollste aber waren die Augen der Maske. Sie waren nicht wie bei anderen Masken ausgespart, sondern sahen den Betrachter mit einem zutiefst traurigen Blick an.

Lange standen die drei vor dem Kunstwerk.

»Man könnte meinen«, sagte Marie,»dass der Wald-Seidler hier alle seine Gefühle zum Ausdruck gebracht hat, die er nach dem Tod seiner Frau empfunden haben muss. Es ist nicht irgendeine Schnitzerei. Das ist Kunst. Diese Maske könnte in jeder großen Galerie erfolgreich sein. Wirklich eindrucksvoll!«

Fritz nickte.»Du hast recht. Die Maske ist ausgesprochen kunstvoll. Trotzdem zeigt sie etwas ganz anderes als die Masken, die wir beim Krampuslauf gesehen haben. Ich möchte gern wissen, was für ein Mensch dieser Wald-Seidler ist.«

»Das solltest du dir aus dem Kopf schlagen!«

Schnellen Schrittes trat der Wirt der Hex´ in den Raum und zog das Tuch über die Maske des Wald-Seidlers. »Ihr solltet den alten Mann in Ruhe lassen und stattdessen einen anderen unserer Künstler hier im Ort besuchen«, befahl er Fritz und Marie. Dann wandte er sich an Sebastian: »Und du solltest unseren Gästen nicht solche Flausen in den Kopf setzen und diese alten Geschichten nicht wieder aufwärmen. Los! Kommt mit an die Bar auf ein Bier. Ich gebe einen aus. Und dann erzähle ich euch, wo ihr hier im Ort den besten Maskenschnitzer findet. Das ist der Rettenbacher, ein Tischler, der seine Werkstatt gleich hinter der Kirche hat.«

 

Der Rettenbacher, Mauterns bekanntester Maskenschnitzer, war am nächsten Vormittag schnell gefunden. Ein großes Firmenplakat wies den Weg zu dessen Werkstatt am Kirchplatz. Mit einem geschäftstüchtigen Lächeln begrüßte der Maskenmacher die Gäste. Sein Arbeitsplatz war hell, warm und roch nach Holz und Leim. Franz Rettenbacher, der Krampusschnitzer, war auch ein angesehener Tischler. Jetzt, in der Weihnachtszeit, legte er letzte Hand an seine besonderen Aufträge zum Fest.

Er zeigte seinen Gästen voller Stolz einem Tisch mit einer naturbelassenen, an den Rändern mit Rinde versehenen massiven Tischplatte, den er gerade poliert hatte. Daneben warteten ein filigraner Kaufmannsladen für Kinder und zwei Stühle auf ihre Auftraggeber.

Erst nachdem der Handwerker ihnen seine Produkte vorgestellt hatte, führte er sie in einen Hinterraum, den er für die Arbeit an seinen Masken reserviert hatte. Hier war es kalt. Die Saison sei vorüber, begründete Rettenbacher den halbleeren Raum.

»Ich schnitze für verschiedene Passen der Gegend«, erklärte er Fritz und Marie. »Dabei sind die Wünsche jeder Pass und jedes Maskenträgers etwas anders. Jede Krampusmaske ist ein Unikat.«

Einige seiner Arbeiten hingen an den Wänden und waren mit alten Tüchern vor Staub geschützt. Nach und nach zog der Rettenbacher die Abdeckungen von seinen Schätzen.

Fast zwei Stunden lang schilderte ihnen der Schnitzkünstler ausführlich seine Arbeit und lobte seine Masken. Genau so hatte es sich Marie vorgestellt­­– viel Gerede über das Handwerk und keine spannenden Details zu dem geheimnisvollen Waldseidler. Nicht, dass sie dazu bisher viel in Erfahrung gebracht hätten.

Auch Fritz erschien das Treffen mit dem Handwerker nicht außergewöhnlich. Dennoch ließ sich ein solcher Blick in eine nicht alltägliche Werkstatt gut an ihre Zuschauer verkaufen. Er stellte ein paar gezielte Fragen nach den alten Bräuchen der Vorweihnachtszeit im Liesingtal und war zufrieden, als der Rettenbacher ihm den Gefallen tat und launisch ein paar Geschichten früherer Krampusläufe zum Besten gab. Insgesamt, befand Fritz, konnten Marie und er einen soliden Bericht aus dem gesammelten Material zusammenstellen.

Wäre er nicht von Haus aus mit einer gesunden Neugier gesegnet gewesen, hätte er Maries Vorschlag sicher abgelehnt, als sie nach dem Besuch der Werkstadt vorschlug, zum Abschluss noch einen Blick auf den Hof vom Wald-Seidler zu werfen. Doch sie hatten noch genügend Zeit und auch er war gespannt, was sich hinter den wilden Geschichten um die seltsame Pass verbarg. Im schlimmsten Fall würde der alte Mann sie abweisen und die Haustür vor ihnen zuwerfen. Er glaubte keinen Moment, dass auf dem Hof des Alten Gefahr lauern könnte.

Sebastian hatte ihnen erklärt, dass der Wald-Seidler auf einem Hof oberhalb von Mautern lebte. Man könne im Winter nicht mit einem PKW bis sie zu ihm fahren, sondern müsse im letzten Teil der Strecke zu Fuß gehen. Dabei machte sich Fritz keine Sorgen. Marie und er hatten feste Winterschuhe dabei und die Schneehöhe war moderat.

Sie ließen das Auto am Ortsausgang auf dem Parkplatz stehen und begannen fröhlich ihre kleine Winterwanderung. So, wie es am Vorabend gehört hatten, zweigte am Ende nur ein kleiner Trampelpfad von dem Wanderweg ab und führte sie zu dem beschriebenen alten Bauernhof. Marie fiel zwar auf, dass kein Rauch aus dem Schornstein aufstieg, doch sie machte sich hierüber keine Gedanken. Der Trampelpfad endete nicht wie erwartet vor dem Eingang zum Wohnhaus. Er führte um das Haus herum und verschwand im Hof.

Obwohl niemand in der letzten Zeit das Wohnhaus über den Haupteingang betreten hatte, klopften Fritz und Marie mehrfach an der Haustür. Doch niemand öffnete ihnen. Marie begann sich Sorgen zu machen. War dem alten Mann etwas passiert? War der Krampuslauf für ihn zu anstrengend gewesen? Sie war sich sicher, dass sie nach dem Wald-Seidler suchen mussten.

Fritz war der gleichen Meinung. Jetzt, wo sie einmal auf dem Hof waren, konnten sie nicht einfach wieder verschwinden und den alten Mann zurücklassen, ohne sich versichert zu haben, dass es ihm gut ging.

Es irritierte sie nicht, dass inzwischen ein feiner Nebel um ihre Füße waberte. Das Wetter hier oben war sehr wechselhaft. Es konnte schnell umschlagen, auch wenn am Morgen die Sonne geschienen hatte. Sie folgten dem Trampelpfad um das Haus herum und kamen in den Hof, der von drei Seiten mit Gebäuden umgeben war. Trotz des immer dichter werdenden Nebels sahen sie, dass die Spur in einem Nebengebäude verschwand. Außerdem entdeckten sie eine offenstehende Tür. Der Wald-Seidler schien vergessen zu haben, seine Werkstatt zu verschließen.

Marie und Fritz teilten sich auf. Fritz wollte der Spur im Schnee folgen und schauen, wohin sie ihn führte. Marie hingegen zog es vor, einen Blick in die Werkstatt zu werfen. Vielleicht gab es dort Hinweise auf den Verbleib des Wald-Seidlers?

Beide hatten schon häufiger unabhängig voneinander Informationen für ihre Berichte gesammelt. Manchmal, so dachte Marie, war es wie ein freundschaftlicher Wettkampf, den sie um die spannenderen Beiträge austrugen. Heute wollte sie die erste sein, die den alten Maskenschnitzer fand.

Sie nahm die kleine Kamera auf die Schulter, fixierte die offenstehende Tür und ging langsam auf die Werkstatt zu. In Gedanken sah sie bereits den fertigen Bericht, hörte Fritz die Geschichte des Wald-Seidlers erzählen, während ihre Bilder abliefen.

Noch beim Betreten der Werkstatt filmte sie. Dann stoppte sie die Aufnahme und blickte sich aufmerksam in dem Raum um. Was sie sah, ähnelte dem Arbeitsplatz des Rettenbachers wenig. Hatte der Tischler hauptsächlich elektrische Werkzeuge verwendet und verfügte über eine große Drechselbank, so sah sie hier historisches Handwerk. Schnitzmesser ruhten sauber aufgereiht auf einer hölzernen Werkbank, daneben bei verschiedene Stechbeitel und Fäustel aus Holz.

Späne lagen auf dem Fußboden. Marie startete die Aufnahme und ließ die Kamera über den Arbeitsplatz schwenken. Dann pausierte sie erneut.

Eine andere Entdeckung nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. An der hinteren Wand der Werkstatt standen zwei Kisten mit offenen Deckeln. Aus einer der beiden ragte ein Steinbockhorn. Marie trat näher und später neugierig ins Innere. Die Krampusmasken der Wald-Seidlerpass starrten ihr entgegen. Obwohl die junge Frau damit gerechnet hatte, fuhr sie mit einem leisen Aufschrei zurück. Dann jedoch schüttelte sie über sich selber den Kopf. Das, was sie gefunden hatte, entsprach genau dem, wonach sie suchten. Sie befand sich in der Werkstatt eines berühmten Schnitzers. Es gab keinen Grund, über dessen Werk zu erschrecken.

Marie sammelte sich, startete die Kamera und filmte die Masken in den beiden Kisten. Dann stellte sie das Aufnahmegerät beiseite. Vorsichtig hob sie erst die eine, dann die andere Maske ans Licht und legte sie auf die Werkbank. Sie wollte die Kunstwerke in einem besseren Licht haben, um Details von ihnen zu filmen.

Gerade, als sie sich an die Arbeit machen wollte, hörte sie einen Schrei. Fritz brüllte in Todesangst über den Hof. Marie hörte Keuchen, Trampeln, einen dumpfen Fall. Dann war es still.

Die Kamerafrau stand einen Moment lang wie erstarrt. Das konnte sie doch nicht wirklich gehört haben! Ihre Nerven mussten ihr einen Streich spielen. Wie war es möglich, dass Fritz einen dermaßen wilden, panischen Schrei ausstieß?

Nach einem Moment der Besinnung kam Marie wieder zu sich. Fritz hatte geschrien! Seine Stimme hatte sich schrecklich angehört. Er brauchte Hilfe.

Marie dachte nicht lange nach. Sie griff nach einem Werkzeug, das direkt vor ihr lag und wandte sich zur Tür. Einen Holzfäustel in der Hand, wollte sie Fritz zu Hilfe eilen. Doch sie kam nicht weit. Noch bevor sie die Werkstatt verlassen konnte, verdunkelte eine große Gestalt den Eingang. Es war ein Krampus in einem kompletten Kostüm mit Mantel, Fellstiefeln und einer Maske, die zwei kräftige Hörner trug.

Instinktiv wich Marie zurück. Der kleine Holzhammer in ihrer Hand erschien ihr lächerlich und sie ließ ihn fallen. Der Krampus lachte. »Du hast recht«, stimmte ihr eine tiefe Stimme hinter der Maske zu. »Dieses Hämmerchen kann dir jetzt nicht mehr helfen.« Die riesige Gestalt wirkte im Gegenlicht noch größer als sie war. Jetzt kann der Mann näher und blieb drohend vor Marie stehen.

»Eure Neugier hat euch ins Verderben geführt«, stellte er fest. »Ihr hättet nicht hierherkommen dürfen. Auf diesem Hof habt ihr nichts zu suchen. Ihr hättet gehen müssen, als euch niemand öffnete.«

Marie versuchte, eine Entschuldigung zu stammeln. Der Krampus hat recht. Sie waren ohne Einladung in dieses Grundstück eingedrungen und hatten sogar die Häuser betreten, ohne um Erlaubnis zu fragen. Dennoch! Sie hatte nichts an sich genommen und nichts zerstört. Niemand war zu Schaden gekommen. All das versuchte sie dem Mann hinter der Maske zu erklären.

Doch dieser lachte nur. »Dein Gestammel wird dir nicht helfen. All diese Ausreden habe ich heute schon einmal gehört. Auch dem neugierigen Mann haben sie nicht geholfen.«

Fast schien es, als nehme die Maske des Krampus eine bedauernde Miene an. »Ein wenig schade ist es schon um dich«, gab der Mann zu und fuhr Marie mit dem Zeigefinger über die Wange. Der überlange Nagel des Fingers kratzte über ihre Haut und sie zuckte zusammen.

Ein Lachen kam zur Antwort. Erneut schien die Krampusmaske die Gefühle ihres Trägers wiederzugeben. Marie zitterte vor Angst. ›Das kann nicht sein!‹, dachte sie. › Das kann einfach nicht wahr sein.‹

»Alle glauben«, fuhr die Gestalt mit der Maske fort, »dass der Krampus nur eine alte Geschichte ist, ein Märchen, um Kinder zu erschrecken und zum Gehorchen zu bringen.« Er lachte. »Wie dumm ihr doch alle selbst! Wie wenig ihr seht! Wie wenig ihr glaubt, selbst wenn es vor euren Augen erscheint! Dabei war ich schon immer da und ich werde jedes Jahr zurückkommen. Ich bin Krampus! Ich bin kein Kinderschreck. Ich gehöre zu den Winterdämonen. Und nun, da du mein Geheimnis kennst, wirst auch du eine von uns werden.«

Marie konnte sich nicht bewegen. Die Angst hatte sie vollkommen in Besitz genommen. Sie stand still, als der Mann nähertrat und ihr seine großen Hände um den Hals legte. Erst als die sich schließenden Finger ihr die Luft nahmen, kam Bewegung in ihren Körper. Panisch riss sie die Hände nach oben und versuchte den Angreifer abzuwehren. Sie fuhr ihm an die Schultern, versuchte ihn zurückzudrücken und als ihr das nicht gelang, krallte sie ihre Fingernägel in sein Gesicht. Die Wangen des Mannes waren weich, warm und das letzte, was man dachte bevor er die Sinne schwanden, dass dieses Gefühl gar nicht zu einer Holzmaske passte.

 

 

Ein Jahr später: 

Der Winter war nach Österreich zurückgekehrt. Wilhelm hatte es am Morgen bemerkt, als er wie jeden Tag über den Parkplatz zum Büro gegangen war und die ersten matschigen Flocken auf den nassen Asphalt gefallen und geschmolzen waren.

Er hätte optimistisch sein können, denn in seinem Ressort lief derzeit alles zufriedenstellend. Doch das ungeklärte Verschwinden seiner beiden Mitarbeiter Marie und Fritz saß ihm nach wie vor in den Knochen. Lange, sehr lange hatte die Polizei in Mautern jeden Stein und jede Schneewehe umgedreht, um die beiden zu finden. Wilhelm war im vergangenen Sommer mehrmals selbst in den Ort gefahren. Er war sich nicht sicher gewesen, wonach er gesucht hatte. Doch auch er war erfolglos geblieben. Die Einwohner, und besonders die Krampusläufer zeigten sich verschlossen gegenüber allen Fragen, die ihm eingefallen waren. Er hatte mit dem Gastwirt der Hex` gesprochen und mit einem Maskenschnitzer namens Rettenbacher. Doch es war alles umsonst gewesen. Es gab keinen Hinweis darauf, warum Marie und Fritz verschwunden waren. Man hatte ihr Auto gefunden und dabei war es geblieben. Noch immer ermittelte die Polizei, doch Wilhelm glaubte nicht mehr an einen Erfolg.

Für den diesjährigen Krampuslauf hatte er sich mit einem jungen Mann verabredet, der seine Mitarbeiter als einer der letzten gesehen hatte.

Sebastian hatte ihm ein wenig von den Bräuchen um den Nikolaustag und die Rauhnächte erzählt und ihm seine Masken gezeigt. Er hatte von den verschiedenen Passen berichtet und auch davon, dass ein verrückter alter Mann namens Waldseidler in den letzten Jahren besonders gruselige Auftritte geboten hatte.

Das alles war für Wilhelm interessant gewesen, doch es hatte ihm bei der Suche nach Fritz und Marie nicht weitergeholfen.

Sebastian hatte im Herbst versucht, mit dem Waldseidler zu sprechen, doch er hatte ihn nicht angetroffen. Sein Hof und die Schnitzerwerkstatt waren verschlossen gewesen.

Wilhelm hatte sich vorgenommen, dass sein Besuch des Krampuslaufes der letzte in Mautern sein solle. Danach wollte auch er die Suche aufgeben.

Als der fünfte Dezember näher kam, wünschte er sich beinahe, er könne die Verabredung mit Sebastian absagen. Immer, wenn er an die Krampusse dachte, überkam ihn eine innere Unruhe und ein undefinierbares Gefühl von Angst. Es schien, als nähere er sich etwas Bösem, das er nicht genauer beschreiben konnte.

Dann war der Tag gekommen und nach einer ereignislosen Fahrt begrüßte ihn Sebastian vor der Hex´, wie sie es vereinbart hatten. Der junge Mann war in seiner normalen Winterkleidung gekommen. Nach den Ergebnissen des Vorjahres wollte er nicht mehr als Krampusläufer aktiv sein. Sie beide waren unruhig und darauf bedacht, das Ereignis so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Wilhelm verspürte eine gewisse Erleichterung, als ein lauter Böller den Beginn des Krampuslaufes bekannt gab. Er beobachtete die vorbeiziehenden Passen genau, versuchte irgendeinen Hinweis zu erhaschen, der ihm etwas zum Verbleib von Fritz und Marie verraten konnte. Doch alles schien demselben Ablauf zu folgen wie in jedem Jahr. Es war ein Spektakel zum Erhalt der alten Traditionen und zur Belustigung der Touristen.

Wilhelm wurde etwas ruhiger und er spürte, wie sie auch Sebastian entspannte.

»Ich bin froh, wenn das hier vorbei ist«, gab er zu. »Vielleicht trinken wir später noch ein Bier auf Fritz und Marie, egal wo sie jetzt sind.«

Sebastian nickte. »Das machen wir. Ein Abend in der Hex´ hätte ihnen bestimmt gefallen. «

Doch noch war es nicht zu weit. Wie im vergangenen Jahr war der Krampuslauf fast beendet, als ein düsteres Licht die Pass des Waldseidlers ankündigte. Erneut  trugen die Krampusläufer besonders aufwendig gefertigte, bedrohlich aussehende Masken und liefen schweigend an dem staunenden Publikum vorbei. Doch ihre Zahl war mehr geworden. Zwei neue Masken traten auf. Als sie näher kamen, spürte Sebastian, wie ihn eine eisige Kälte überkam. Einer der Krampusläufer war eindeutig weiblich. An der Maske diese Person fehlte der übliche Ziegenbart und hinter den Hörnern wehte ihrer Trägerin langes braunes Haar über die Schultern.

Es war das Haar, das Sebastian zuerst an Marie erinnerte. Doch je näher sie kam, umso mehr Gemeinsamkeiten fielen ihm auf. Die Größe und auch ihre schmale Figur kamen ihm bekannt vor. Er konzentrierte sich auf ihren Gang und irgendwann war er sich sicher, Marie vor sich zu haben. Oder was auch immer sie jetzt war.

Die erste Maske trat auf ihn zu. Sie gehörte zu einem großen Mann mit athletischen Schultern. Als er vor Sebastian stand, schien diesem, als würde sich die Maske bewegen und einen besonders bedrohlichen Ausdruck annehmen. Natürlich hatte Holz keine bewegliche Mimik, und dennoch…

»Du bist weiser geworden, mein Freund«, knurrte die Stimme hinter der Maske. »Doch auch du nimmst den Krampus noch immer nicht ernst genug. Sei auf der Hut! Es ist gefährlich, die Wintergeister herauszufordern.«

Sebastian wich einen Schritt zurück, doch der Mann mit der bedrohlichen Maske lachte nur und ging weiter.

Ein Stück nach ihm näherte sich der Krampusläufer, der ihn an Marie erinnert hatte. Je näher er kam, umso mehr verstärkte sich in Sebastian das Gefühl eines namenlosen Grauens.

Das war Marie! Er war sich ganz sicher. Dann stand sie vor ihm und er starrte in ein Maskengesicht, das weder Grauen nur Grusel zeigte, sondern Furcht und einen Hauch Trauer.

»Du musst seine Drohung ernst nehmen, Sebastian« flüsterte eine weibliche Stimme leise. »Er ist, was er vorgibt, der Krampus. Der echte! Und er zürnt all jenen, die die alten Bräuche zu diesem Touristenspektakel gemacht haben. Die Menschen haben keinen Respekt mehr vor ihm. Damit haben wir ihn verärgert. Er ist mächtig - noch über den Tod hinaus. Sei vorsichtig!«

Sebastian ahnte, dass sie ihm noch mehr sagen wollte. Doch ein dumpfer Glockenton erklang und er sah, wie sie bei diesem Ruf zusammenfuhr.

»Ich muss weiter«, murmelte sie gehetzt und eilte davon.

Sebastian brauchte einen Moment, um sich aus der Starre der Angst zu lösen, die ihn befallen hatte.

»So wartet doch, Marie!«, rief er ihr nach. Doch die Krampusläuferin hörte nicht auf ihn.

»Marie, warte!« Auch Wilhelm hatte seine ehemalige Kamerafrau erkannt. Anders als Sebastian war ihm jedoch noch nicht klar, was genau er gesehen hatte.

Als die Maskenträgerin um eine Ecke verschwand, drängte er sich durch die Zuschauer und lief er hinterher. Er hörte, wie Sebastian ihm folgte.

Beide Männer verließen den Marktplatz und folgten der Krampusmaske in eine dunkle Gasse. Sie riefen die junge Frau beim Namen und tatsächlich drehte sie sich noch einmal um und betrachtete die beiden Männer.

»Es ist zu spät!«, verkündete die Stimme hinter der Maske. »Ihr könnt nichts mehr für uns tun. Bringt euch selbst in Sicherheit!«

An den Füßen der Krampusläuferin begann sich Nebel zu sammeln. Nach und nach verblasste sie wie ein Geist, der sich auflöste.

»Lebt wohl und lebt sicher!«, wünschte sie ihnen noch. Dann trug ein Windhauch den Nebel und die Erinnerung an Marie davon.

 

Sebastian hatte genug gesehen. Keine Minute länger konnte er daran glauben, dass er einem vorweihnachtlichen Scherz aufgesessen war. Dieser Krampus war kein Kinderschreck. Was er hier beobachtet hatte, war das bösartige Naturell eines Winterdämons, der viel stärker war als er. Einer solchen Macht konnte er nichts entgegenzusetzen.

Im nächsten Jahr, das ahnte der junge Mann, würde die Pass des Waldseidlers sich erneut vergrößert haben. Er aber, Sebastian, würde alles daransetzen, nicht zu den Opfern des Krampus zu gehören.

Nachdem er an diesem Abend eine gehörige Menge Bier getrunken hatte, stand für ihn fest, dass er das Liesingtal und am besten die gesamten Alpen so weit wie möglich hinter sich lassen wollte. Mit diesem gefassten Entschluss fühlte er sich besser. Auch das anbrechende Frühjahr konnte ihn von seinen Plänen nicht abbringen. Mit großer Geduld suchte er nach einem sicheren Ort, an dem er ohne Furcht vor den Geistern des Winters leben konnte. Schon bald wurde ihm klar, dass er den Bergen vollständig den Rücken kehren wollte. Es schien ihm am besten, Österreich zu verlassen.

Im Sommer verbrachte er seinen Urlaub an der Nordsee und im Herbst siedelte er nach Amrum um. Hier, wo die Wellen über das flache Land herrschten, fühlte er sich sicher vor dem Krampus und allen Wintergeistern.

Nach und nach fand er zur Ruhe. Die Weite des Landes und die Unendlichkeit des Meeres begannen ihn zu faszinieren. Sebastian bekam eine Stelle in einer Schreinerei und damit einen sicheren Unterhalt. Die anfängliche Zurückhaltung der Einheimischen wich und nach einem Jahr hatte der junge Mann das Gefühl, ein neues Zuhause gefunden zu haben.

Hin und wieder traf er sich mit seinen neuen friesischen Freunden in der Blauen Maus und bei ein paar Bier erzählten sie sich Geschichten. Irgendwann gelang es Sebastian, von den Bräuchen Österreichs und dem Krampus zu berichten. Er war sich sicher, weit genug von den Ereignissen in Mautern entfernt zu sein, um außerhalb der Reichweite des Winterdämons zu leben. Seine Kumpel würden die Geschichten als eigenwilliges Brauchtum abtun und keinen Moment daran zweifeln, dass es keine echten Geister des Winters gab.

So erzählte er und erzählte und irgendwann fiel ihm auf, dass die Männer am Tisch recht schweigsam blieben. Er brach ab und sah sie fragend an.

»Da soll noch einmal jemand sagen, dass es nicht Übernatürliches außerhalb unseres Verstandes gäbe!«, knurrte Hein und trank einen Schluck Bier. »Man kann gehen, so weit wie man will. Überall gibt es irgendwelche Geister.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass es zwischen den Geschichten von Sebastians Krampus und unserem Gonger irgendwelche Zusammenhänge gibt?«

Hein zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob sie ein verwandtschaftliches Verhältnis verbindet. Fakt ist, dass sie sehr gefährlich sind. Und ich würde niemals, ich sage niemals, in einer mondlosen, stürmischen Nacht hinaus an die Ostklippe gehen.«

Die Friesen in der Runde nickten nachdenklich. Einer klopfte Hein zustimmend auf die Schulter.

»Würden wir auch nicht! Viel zu gefährlich.«

Sebastian war irritiert. Wovon sprachen die Männer?

»Was gibt es denn in einer stürmischen, mondlosen Nacht an der Ostklippe, dass ihr euch darüber so große Sorgen macht?«

Die Männer schwiegen lange. Dann räusperte sich ein und antwortete halblaut: »Den Gonger.«

Und ein anderer ergänzte: »Die Geschichten behaupten, er sei ein Poltergeist, eine Art Wiedergänger, der sich zu Lebzeiten selbst verflucht hat, nun keine Ruhe findet und andere in den Wahnsinn treiben möchte.«

Sie wollten nichts darüber berichten. Das spürte Sebastian deutlich. Und er selbst? Er hatte anderes zu tun, als in einer mondlosen, stürmischen Nacht eine tückische Klippe zu besuchen. Im Gegenteil! Jetzt, da er wusste, dass er auch hier den Geistern nicht entkommen konnte, würde er alles daran setzen, dass ihn der Gonger nie zu Gesicht bekam.

 

ENDE

 

Impressum

Texte: Sophie André
Bildmaterialien: 2019-11-24_Sundays_Medal_Ceremony_at_2019-20_Luge_World_Cup_in_Igls_by_Sandro_Halank–045
Cover: Sophie André
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2022

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