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Liebe Leserinnen und Leser,
was wäre eine Welt ohne Überlieferungen, ohne Märchen und Legenden, ohne Sagen? Auch die Bewohner meiner magischen Welt Art-Arien finden sich dann und wann zusammen, um Erinnerungen an alte Zeiten und uralte Geschichten wieder aufleben zu lassen. Beim Durchforsten alter Folianten und beim Lauschen auf das Flüstern des Windes, der über das westliche Meer herüberweht, beim Betrachten alter Skizzen und Artefakte fand ich den einen oder anderen Hinweis auf diese Legenden. In diesem kleinen Büchlein, das mitnichten der großartigen Bibliothek in Arien gerecht wird, habe ich begonnen, meine Schätze für euch aufzuschreiben.
Noch ist die Sammlung nicht vollständig und ab und zu muss ich pausieren, da meinen herbstkalten Fingern die Schreibfeder entgleitet. Dennoch seid herzlich eingeladen, mir in die Märchenwelt Art-Ariens zu folgen. Und vielleicht ... vielleicht entdeckt ihr sie ja, jene geheimnisvolle Spur, die zu unseren eigenen Überlieferungen führt.
Eure Sophie
Eine großformatige Darstellung der Karte und weitere Skizzen zum Buch finden Sie auf meiner Home page unter
http://www.sophie-andrae.de/intro.html
Tief im Winter, wenn der Schnee sich hoch vor den Langhäusern der Inokté türmte und nur die rotgelben, züngelnden, knisternden Flammen der Feuer vor der eisigen Kälte des Frostes schützten, fand sich das ganze Dorf an den Abenden im großen Versammlungshaus des Stammes zusammen. Bis spät in die Nacht hinein sangen, trommelten und tanzten die Bewohner Tsiigehtchics, als wollten sie die Dunkelheit und die Kälte allein durch ihre Freude vertreiben.
Bei all dem waren die Kinder immer mit dabei und es spielte keine Rolle, ob ihre Eltern Menschen oder magische Wesen waren. Bei den Reifen- und Stockballspielen, bei den Liedern und Tänzen gab es keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Spezies. Am schönsten aber war es für alle, wenn sich der Minági Nashoba zu ihnen gesellte. Schon wenn der großgewachsene Magier zusammen mit seiner Gefährtin den Raum betrat, verstummten die anfeuernden Rufe der Spieler und die Kinder versammelten sich erwartungsvoll um das Feuer.
Nahm dann der Wolfsmagier in ihrem Kreis ebenfalls Platz und brachte aus den Falten seiner Büffelfellrobe nicht nur das heilige Chanunpa wakan zum Vorschein, sondern auch eine große Kalebasse voller gerösteter Zirbelnüsse oder getrockneter Kaktusfrüchte, dann ließen sich auch die Erwachsenen mit einem stillen Lächeln hinter den Jüngeren nieder und schenkten ihrem Anführer ihre Aufmerksamkeit. Würde er ihnen doch erneut eine der spannenden Legenden in Erinnerung bringen, die die Seele ihres Stammes und seine Geschichte ausmachten. Der Beginn dieser Mythenabende war immer derselbe. Dennoch beobachteten die Kinder mit Spannung den Minági, der darauf wartete, dass sich die Stille um ihn herum ausbreitete, um dann sein Kalumet zu stopfen und zu entzünden. Während er bald darauf zufrieden einen ersten Zug aus der Heiligen Pfeife nahm und den Rauch in die vier Himmelsrichtungen blies, reichte seine Gefährtin Solinacea die von ihr vorbereiteten Süßigkeiten in die erwartungsvolle Kinderrunde. Dann gab der Minági das Kalumet weiter, zog das weiße Büffelfell zurecht, mit dem er sich vor der Kälte schützte und richtete seine fast schwarzen Augen forschend auf eines der Kinder.
»Kennst du die Geschichte, wie Iktomi den Traumfänger webte?«, fragte er mit ernster Stimme, während die Fältchen um seine Augen bereits sein Vergnügen verrieten. Ahnte er doch, wie alle Erwachsenen, die Reaktion der Kinder schon im Voraus.
Und auch dieses Mal war es wie immer. Während das kleine Mädchen aufgeregt nickte, kreischten und lachten die anderen wild durcheinander, bis die erhobene Hand des Minági ihnen Ruhe gebot. Er lächelte der kleinen, dunkelhaarigen Schönheit zu, die vor Begeisterung die winzige Faust zwischen die Zähne gepresst hatte, und begann.
»Vor langen Zeiten, als die Inokté noch ganz allein über die weiten Graslande zogen und noch niemand von anderen Völkern oder anderen Magiern gehört hatte, lebte ein großer Anführer unseres Volkes. Sein Name war Mato, der Bär. Niemand weiß, ob er ein Mensch oder ein Magier war, doch in jenen vergangenen, friedlichen Zeiten spielte die Abstammung eines Mannes auch keine so große Rolle. Von Bedeutung waren nur sein Wesen und sein Können.
Mato aber war ein weiser Mann, der sich fortwährend Sorgen um die Zukunft unseres Stammes machte. Ganz am Anfang mochte es richtig gewesen sein, über die Probleme des Volkes nachzusinnen, doch als seine Gedanken immer dunkler wurden, raubten sie ihm seine Konzentration und seinen Schlaf. Mato sah ein, dass es so nicht mehr weiter ging. Lange dachte er nach, was er tun könne. Schließlich entschloss er sich, ins Gebirge zu ziehen und nach den Göttern zu suchen. Einer von ihnen konnte ihm bestimmt sagen, wie die Zukunft der Inokté aussähe, auf dass er sich nie mehr darüber Sorgen machen müsse.«
Nashoba sah in die Runde. Wie gebannt waren sämtliche Kinderaugen auf ihn gerichtet. Ein wenig links von ihm saß der Junge Ciqala. Diesem nickte er nun zu.
»Mato gelangte nach einigen Tagen an unsere heißen Quellen. Und dort traf er tatsächlich auf einen Trickstergott. Wer aber ist dem Bären damals über den Weg gelaufen?«
Noch während der Minági seine Frage stellte, war der kleine Ciqala ungeduldig auf und nieder gehopst. »Iktomi! Iktomi!«, rief er nun ungestüm aus. Viele der lächelnden Erwachsenen nickten. So auch Nashoba, der Ciqalas Antwort bestätigte.
»Richtig! Er traf den Trickster, der die Gestalt einer Spinne angenommen hatte. Iktomi war an diesem Tag freundlich gestimmt«, berichtete dann der Minági weiter. »Das ist nicht immer so und ihr wisst, dass der Trickster auch böse und verschlagen sein kann. Damals aber hörte er sich Matos Probleme geduldig an. Und während unser Ahne noch redete, schnitt Iktomi Weidenzweige von einem Baum und sammelte einige heruntergefallene Federn auf.
›Es würde dir nichts helfen, die Zukunft zu kennen‹, erklärte er dann dem enttäuschten Mato. ›Sie zu kennen, bedeutet noch nicht, die Zeit ändern zu können. Was kommt, kommt. Egal, wie viel du heute davon ahnst oder weißt.‹ Während er Mato lehrte, tat er, was eine Spinne am besten kann. Er spann ein Netz in den Weidenreifen. Danach hielt er das Gebilde in die Höhe. ›Sieh auf diesen Reifen‹, sprach Iktomi.«
Hier verstummte Nashoba und sah die Kinder erwartungsvoll an. Und nun zeigte sich, wie oft und aufmerksam sie dieser Geschichte schon gelauscht hatten. Ein Chor von Kinderstimmen führte die Erzählung fort.
»Der Weidenreifen ist wie unser Leben«, riefen die Kleinen aufgeregt.
Wieder nickte der Minági. Wie von Zauberhand zog auch er nun einen kleinen, noch ungeschmückten Traumfänger unter dem Büffelfell hervor und hielt ihn in die Höhe.
»Der Zyklus des Lebens hat weder Anfang noch Ende. So lehrte es uns der Trickster Iktomi. Alles findet im Kreis seinen Platz, der Säugling, der neu auf der Erde ankommt ...«
Nashoba hielt einen Moment in seiner Erzählung inne, um seiner Gefährtin ein liebevolles Lächeln zu schenken und mit sanfter Hand über deren vorgewölbten, schwangeren Bauch zu streichen.
» … die Kinder und jungen Männer und Frauen …«, hier schenkte er der aufgeregten Runde vor sich ein Grinsen. »… und die Alten und Weisen.«
Hier blickte er ehrerbietig zu der alten Schamanin Onatah, die er wie eine Mutter verehrte.
»Sie alle haben einen Platz im Kreis des Lebens und er schließt sich von Generation zu Generation. Doch nicht nur der Traumfänger symbolisiert den Lebenszyklus«, wandte er sich dann erneut an seine jungen Zuhörer. »Wo seht ihr noch das Symbol des Kreises?«
Und nun riefen sie durcheinander.
»Die runde Trommel!«
»Unser Tipi.«
»Die Vogelnester.«
»Das Sonnenrad.«
Lachend unterbrach Nashoba den Redefluss. »Ihr habt mir wirklich immer gut zugehört! Doch nun lasst Iktomi weiter erzählen.«
Der Minági fuhr nach einer kurzen Pause in seiner Erzählung fort. »Während Iktomi sein Netz weiter spann, lehrte er Mato neues Wissen. ›Viele Gedanken und Ideen werden dir im Laufe des Lebenszyklus begegnen. Manche Kräfte um dich herum sind gut, andere sind dunkel und gefährlich. Folgst du den guten Kräften, wird auch die Zukunft deines Stammes hell und friedlich sein. Entscheidest du dich für die dunklen Mächte, wird dein Stamm eines Tages untergehen.‹ Während der ganzen Zeit, in der sie sprach, webte die Spinne Iktomi ihr Netz und flocht auch Federn und bunte Steine hinein. ›Die guten Kräfte werden euch zur Harmonie mit der Natur, dem Land und den anderen Völkern führen. Dieser Weg ist der richtige.‹
Als Iktomi alle seine Ratschläge ausgesprochen hatte, hielt er das Netz in die Höhe. ›Sieh genau hin!‹, verlangte er. ›Das Netz ist ein vollkommener Kreis, aber da ist eine Öffnung im Zentrum des Kreises. Du kannst dieses Netz für deinen Stamm und dich nutzen. Wenn du dich darauf verlässt, wird es die guten Gedanken, Träume und Visionen für dich einfangen und erhalten. Dunkle Gedanken und Wünsche aber werden dich durch das Loch im Zentrum des Kreises verlassen.‹ Noch einmal sah Iktomi Mato streng an. ›Du lebst nicht, um die Zukunft zu erkennen. Du lebst, um für euch alle eine gute Zukunft mit zu erschaffen. Dabei darfst du dich nicht auf deine Kraft allein verlassen. Die Zukunft braucht den guten Willen eines jeden von euch. Vergiss das nie!‹«
Der Inokté sah sich ein letztes Mal forschend die Runde seiner Zuhörer an, bevor er die Geschichte beendete. »Auf acht Beinen kann man schnell laufen und so verschwand Iktomi wie der Wind im Gebirge. Mato aber kehrte klüger und ruhiger nach Hause zurück. Er lehrte uns das Wissen Iktomis und gab uns den magischen Weidenkreis, unseren Traumfänger.«
Der Minági richtete sich auf und hielt sein kleines Weidennetz in die Höhe.
»Hat jeder von euch einen Traumfänger über seinem Lager?«
Ein zustimmendes Gemurmel antwortete ihm. Er nickte. »Gut! Auch ich habe den Nagwaagan in unserem Langhaus aufgehängt. Doch Akechetas Mitawin hat gestern ein kleines Mädchen geboren. Sie hat noch keinen Traumfänger. Der hier ist für sie bestimmt und ich möchte, dass ihr ihn schmückt, bevor ihr den Ring an Akecheta überreicht. Könnt ihr das für mich tun?«
Die Kinder lachten und nickten und als Nashoba seine Gaben – Perlen und bunte Federn – zu dem Traumfänger ans Feuer legte, machten sich fleißige kleine Hände ans Werk, um auch dem jüngsten Mitglied ihres Stammes Sicherheit vor dunklen Träumen zu schenken.
Pilamayaye wakan tanka nici un ake u wo, ahoe!
Unzählige Körbe, randvoll mit goldenen Maiskolben, füllten die Lager der Inokté, als sie sich am Abend nach der ersten Ernte zu einem Fest des Dankes und der Freude versammelten. Doch nicht nur Menschen und Magier aus dem Volk waren gekommen, um das Ende des Hungers zu feiern. Auch die Dämonenkrieger mit ihren Anführern Darius und Atreus, mit den Wasserdämonen und Seren, der jungen Sirene, ließen sich diesen Abend der Freude nicht entgehen. Lange Zeit sangen, tanzten und lachten die Gäste ob der gelungenen Ernte.
Dann, als sich im Osten schon ein feiner Saum neuen Lichts zeigte, erhob sich Cheveyo, der Medizinmann der Graslandmenschen, um eine letzte Geschichte zu erzählen - die Legende des Trickstergottes Kokopelli. Und wann, wenn nicht zur Zeit der Ernte, wäre ein besserer Moment gewesen, um dem Gott des Wassers und der Fruchtbarkeit die Ehre zu geben?
Vielleicht war die alte Sage nur eine harmlose Unterhaltung für die Kinder, vielleicht steckte viel mehr dahinter und Cheveyo berichtete von den längst untergegangenen Vorfahren der Inokté – wer wusste das schon so genau? Wahr ist, dass sie alle, Frauen, Männer, Kinder, dem Bericht des Schamanen aufmerksam folgten.
»Dies ist die Geschichte von Kokopelli, wie sie mir von meiner Mutter erzählt wurde«, begann der Weise.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin. Quelle: Trad. und Omnia "Harp of Death"
Bildmaterialien: Cover: Sophie André, ausführliche Angaben im Anhang
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2016
ISBN: 978-3-7487-6438-0
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