Die Zahnräder der Turmuhr knirschten ohne erkennbaren Takt, während das Ticken des schweren Pendels einem gleichmäßigen, geruhsamen Rhythmus folgte - stündlich, täglich, so wie in all den vergangenen Jahren auch.
Roderich hörte die ihm vertrauten Geräusche kaum noch. Sie gehörten ebenso zu der kleinen Stube hoch oben über den Dächern der Stadt wie der Geruch nach altem Holz und der matte Glanz, der von den roten Schiefern des Kirchendaches zum Fenster herein schimmerte.
Klack, tock, klack, tock … das Pendel zählte weiter die Minuten und Stunden der dahinschwindenden Zeit. Der dumpfe Klang vermischte sich mit dem immer schneller und flacher werdenden Keuchen, das von dem breiten Bett seines Ziehvaters an das Ohr des Türmergehilfen klang.
Gestern war die alte Sophia zu ihnen heraufgekommen. Keuchend unter der Last der Jahre und ihres Kräutertuches hatte sie die 124 ausgetretenen Stufen erklommen, um nach dem Türmer zu sehen.
»Du solltest ihm einen Huflattichtee kochen«, hatte sie Roderich geraten. »Und ich werde dir ein wenig Opium dalassen.« Ihre Stimme war so leise geworden, dass der alte Mann im Bett sie mit Sicherheit nicht gehört hatte. »Es geht dem Ende zu, mein Junge", hatte sie gemurmelt. "Quäle ihn nicht mit unnützer Anstrengung. Und wenn es soweit ist, dann lass ihn gehen und bete ein Ave Maria für ihn. Das ist das Beste, was du noch für ihn tun kannst.«
Roderich stand am Bett des schwer atmenden Alten und schaute hilflos dabei zu, wie dessen Lebenslicht kleiner und flackernder wurde. Es war gut, dass Albin die meiste Zeit verschlief. So auch jetzt. Am Morgen jedoch war er wach gewesen und das pfeifende Keuchen seine Atems bereitete sogar seinem einzigen Zuhörer Schmerzen.
»Du wirst ein guter Türmer sein«, hatte der Alte Roderich zwischen zwei Hustenanfällen versichert. »Du hast es im Blut … genauso wie ich.«
Und Roderich hatte dazu genickt. Albins Worte waren die reine Wahrheit, das wusste er inzwischen, auch wenn er sich einige Jahre gegen diese Erkenntnis gesträubt hatte.
Zu weit weg von der kleinen Türmerwohnung war das Leben dort unten für den achtzehnjährigen jungen Mann, der von mehr als durchwachten Nächten auf dem Umgang des Kirchturmes träumte, der sich eine Frau, Kinder, ein Haus inmitten anderer Häuser gewünscht hatte. Möglich wäre es ihm gewesen – damals, als er noch ein Kind war.
Doch dann war die Pest in die Stadt gekommen – der schwarze Tod, die Strafe Gottes, der unaussprechliche Fluch.
Roderich erinnerte sich nicht mehr genau. Ein kleiner Junge war er gewesen, ein winziges Kind an der Hand einer verunsicherten, ängstlichen Mutter.
»Nimm ihn zu dir in den Turm!«, hatte sie Albin angefleht. »Heb ihn hinauf zu dir. Lass ihn dem Himmel nahe sein!«
Und der Türmer hatte dem Handel schließlich zugestimmt. Zähneknirschend vielleicht, wie Roderich später überlegte, oder doch voller Stolz, einer solchen Bitte entsprechen zu können?
Die Mutter aber hatte ihr Versprechen gehalten und tagtäglich den Korb gefüllt, den der Türmer auf den kleinen Innenhof des Domes herabgelassen hatte. Man sollte Abstand von der Pest nehmen, wenn man konnte. Das wussten alle. Albin tat es auf seine Weise, indem er den Glockenturm des Domes nur für das Allernötigste verließ. Bis eines Tages das kleine Weidengeflecht leer geblieben war.
Lange hatten sie beide, der Türmer und der Junge, in den leeren Korb gestarrt.
»Es ist nun soweit, Roderich«, hatte Albin dann gesagt und ihm dabei tröstend eine unbeholfene Hand auf die Schulter gelegt. »Es ist soweit! Deine Mutter ist von uns gegangen und wir haben nun die Aufgabe, ihr die letzte Ehre zu erweisen.«
Gemeinsam waren sie die unzähligen Stufen des Turmes hinuntergestiegen und Albin hatte ihm zum ersten Mal gezeigt, wie man es anstellte, dass die Glocken hoch oben über den Dächern der Stadt erklangen. Und während die wundersamen Klänge über ihnen schwangen und dröhnten, liefen dem Jungen Roderich die Tränen über die Wangen. Auch wenn es der Türmer nicht ausgesprochen hatte, so wusste er, dass sie nun beide tot waren, der Vater, den er nie ›Vater‹ hatte nennen dürfen, weil sich das, wie seine Mutter ihm immer wieder eingebläut hatte, nicht schickte, und seine liebevolle, zärtliche Mama, die ihren Dienstherrn und seinen Vater, den Diakon, bis zu dessen Tod gepflegt hatte.
Das Wispern über seine Eltern war dem Jungen trotz aller Zurückhaltung der Leute um ihn herum nicht entgangen. Auch die Worte seiner Mutter, die jene mit Albin bei ihrem Abschied gewechselt hatte, waren in seinem Gedächtnis eingebrannt: »Er hat die schwarzen Beulen in der Achsel und in der Leiste.«
Der Tod seines Vaters war damit besiegelt, auch wenn seine Mutter das nicht wahrhaben wollte. »Ich muss für ihn da sein«, hatte sie den Türmer beschworen, der ein guter Freund des Erkrankten war, »so wie er für mich und unseren Sohn da gewesen ist.«
Doch als nun die größte aller Glocken oben im Turm ausschwang, verstand auch der kleine Roderich, dass sie sich geirrt hatte. Seine Mutter hatte viel mehr getan, als für seinen Vater da zu sein – sie war ihm gefolgt. Sie war ihm gefolgt und hatte ihren kleinen Jungen hoch oben über den Dächern der Stadt alleine zurückgelassen. Nun gab es nur noch ihn, ihn und Albin den Türmer.
Der kleine Junge hatte lange nicht verstanden, warum er dort hinauf gehen sollte – über die Dächer, weg vom Gedränge der Menschen, weg von der Mutter und dem hübschen kleinen Häuschen an der Außenmauer des Domes. War er böse gewesen? Hatte er etwas Schlechtes getan?
Heute ahnte Roderich, wie schwer es für den Türmer damals gewesen sein musste, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht seine Schuld war, dass er, das Kind, nicht im geringsten einen Einfluss auf die Pest haben konnte.
»Es ist etwas ganz Besonderes, dass du hier oben sein darfst«, hatte er dem verstörten Jungen vor Jahren gesagt. »Nicht jeder darf auf diesen Turm steigen. Und niemand außer dir und mir darf die Turmuhr ölen und die Mittagsglocke läuten. Es ist eine Auszeichnung, wenn du am Glockenseil ziehen darfst.«
Damals hatte der junge Roderich, das Kind, diese Rede geglaubt. Stolz war er gewesen, wenn er mit der verbeulten Ölkanne einzelne Tropfen des wertvollen Olivenöls über die Achsen der Zahnräder gießen durfte. Ein aufgeregtes Herzklopfen hatte seinen Brustkorb fast gesprengt, als er zum ersten Mal die Mittagsglocke läuten durfte – jene Glocke, die ein paar Wochen darauf auch den Weg seiner verstorbenen Mutter begleitete.
Erst viel später waren ihm die Schwielen aufgefallen, die das Glockenseil auf seinen Handflächen hinterließ, hatte er die derben, zum Teil vernarbten Hände des Türmers als das angesehen, was sie waren: Zeugen einer schweren, nie endenden Arbeit. Mochten sie auch nur vier Mal am Tag an den Seilen ziehen, da sie sich mit den Mönchen diese Aufgabe teilten - den Glockenklang zu erzeugen, war Schwerarbeit.
Noch länger hatte es gedauert, bis der Junge an jenen Stunden teilhatte, die das Herz der Türmeraufgabe ausmachten - die nächtliche Wache, um nach Bränden Ausschau zu halten. Das ›Hör, Gesell, hör!‹ war zwar auch für ihn gang und gebe gewesen. Doch in seinem kindlichen Gemüt hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, welche Bedeutung der nächtliche Ruf und seine Antwort hatten.
Sogar als er bereits auf dem Turm wohnte, war ihm lange Zeit nicht bewusst geworden, dass ihm das Bett nur deshalb nachts allein gehörte, weil der Türmer Albin draußen auf dem Umgang wachte und nach der bedrohlichen Helligkeit eines nächtlichen Feuers Ausschau hielt.
Der Alte brauchte wenig Schlaf - längst war er die nächtlichen Wachen gewöhnt, sodass er sich tagsüber zwar ein paar Stunden ausruhte und dennoch Zeit für seinen Ziehsohn fand.
Heute, da sie sich bei den nächtlichen Wachen ablösten, fragte sich Roderich oft, wie Albin es geschafft hatte, sich trotz der durchwachten Nächte um ein Kind wie ihn zu kümmern.
Vielleicht war es für den Türmer leichter geworden, als die Pest endlich ihre Stadt verlassen hatte. Für ein paar Pfennige durfte er bei der Magd des neuen Diakons zu Mittag essen. Oftmals ließ diese ihn dann mit ihren Kindern spielen und später lernte er gemeinsam mit den beiden Jungen der dicken Frau ein wenig Lesen und Latein bei ihrem Brotherrn. Dass dieser wie auch sein Vorgänger der Vater der Kinder seiner Haushälterin war, verstand er damals noch nicht. Ebenso heimlich wie seine eigenen Eltern lebten der Diakon und seine Magd enger zusammen, als es das Zölibat erlaubte. Doch das verstand Roderich erst viel später. So wie er auch lange brauchte, um zu sehen, dass die Menschen ihn beobachteten und die Mädchen ihn mieden. Was wusste er denn als Halbwüchsiger schon von den Regeln der Zünfte?
»Du lebst nicht mit uns!«, hatte ihm die blonde Lene erwidert, als er sie gefragt hatte, ob sie nicht mit ihm spielen wolle. »Du gehörst auf den Turm, Roderich. Und ich gehöre in die Färbergasse.«
Es war das erste Mal gewesen, dass ihm die Ablehnung der Städter offen entgegengeschlagen war. Am Abend dieses Tages hatte er sich bitter bei Albin beschwert.
Albin! Bei dieser Erinnerung lächelte Roderich. Wie energisch ihn doch der Alte vor Enttäuschungen zu schützen versucht hatte! Damals waren es wenige Worte gewesen, die das Kind beruhigt hatten.
»Lene irrt sich«, hatte der Türmer ihm versichert. »Du lebst sehr wohl mit ihnen. Ja, du bist für sie alle irgendwann verantwortlich. Nur du, der Türmer, kannst sie später, wenn du erwachsen bist, vor Bränden und Räubern warnen, keiner sonst.«
In der Nacht nach jenen denkwürdigen Tag hatte ihn der Türmer zum ersten Mal mit auf Nachtwache genommen. Aufmerksam waren sie ihre Runden um den Turm gegangen und hatten Ausschau nach einem verräterischen Leuchten gehalten. Am Morgen war Roderich enttäuscht gewesen, dass sie rein gar nichts entdeckt hatten.
»Sei froh!«, hatte ihm der Türmer entgegengehalten. »Oder willst du, dass Lenes Haus vor deinen Augen zu Asche wird?«
Nein, das wollte er nicht. Also schüttelte er entschlossen den Kopf und schwieg.
Beim nächsten Markttag ging er dem Mädchen Lene aus dem Weg. Wenn sie ihn nicht dabeihaben wollte, obwohl er sie vor Schlimmem beschützte, dann war sie einfach dumm. Mit dummen Menschen aber umgab sich ein zukünftiger Türmer wie er nicht!
Was wusste er damals schon über die Arroganz der Zünfte, ihr Sippengehabe und ihre vorgefasste Meinung? Nichts wusste er! Erst nach und nach wurde ihm klargemacht, wie gering die Städter ihren Türmer schätzten. Daran hatten auch die Pest und die ihr nachfolgenden dürren Jahre nichts ändern können. Erst ein ganzes Jahrzehnt später, mitten im Winter, wurde manchem der hochmütigen Patrizier und Handwerker klar, wie wichtig der unscheinbare Mann oben auf dem Turm für sie war. Doch bevor Roderich über diesen, durch des Türmers Ruf schnell beherrschten Brand nachdenken konnte, verstärkte sich das Keuchen und Räuspern des alten Mannes. Albin wurde wach.
'Endlich!', dachte Roderich, als sein Ziehvater die Augen aufschlug. Es gab noch so viele Dinge, die er dem alten Mann sagen musste, die nicht unausgesprochen bleiben durften, wenn er Sophias Vorhersagen Glauben schenken wollte. Doch zunächst sollte Albin ein wenig von der Hühnersuppe löffeln, die er vorbereitet hatte, und ein wenig Huflattichtee trinken. Dorthinein hatte er einen großen Löffel Honig gerührt - er wusste, dass der alte Mann die Süße mochte.
Mühsam kam der Türmer zu sich. Schon wieder schüttelte ihn der unerbittliche Husten. Roderich half dem Kranken, sich aufzurichten und klopfte ihm auf den Rücken, damit der Schleim in der Brust sich ein wenig besser lösen konnte. Doch es dauerte lange, bis sich der Atem des Alten beruhigt hatte.
"Danke!", keuchte er. "Es ist schön, dass du da bist, Roderich."
Roderich errötet leicht, dachte er doch nur ungern an jenes Jahr, in dem er den Turm kaum bestiegen hatte. Doch darüber wollte Albin heute nicht mit ihm reden, oder?
"Ich war lange auf heute Nacht", erzählte der Türmer leise, "und habe über uns beide nachgedacht. Es war gut, dich dort draußen zu wissen. Du wirst ein guter Türmer sein. Trotzdem ist es schön, dich jetzt hier bei mir zu haben."
Nachdenklich schaute Roderich zu, wie der Alte seinen Tee trank. "Ich wollte das am Anfang gar nicht", gab er dann zu, "diesen Turm, diese Arbeit, diese Höhe. Es schien mir so weit weg vom Leben, so weit weg von den anderen Menschen … einsam."
Albin nickte. "Ich weiß. Doch heute …?"
Der jüngere Mann und Türmergehilfe lächelte. "Heute bin ich mir sicher, dass ich hier zuhause sein will. Wir mögen hoch oben über der Stadt leben. Doch wir sind auch dem Himmel ganz nahe." Er lachte und wiederholte dann einen Scherz, den sie gern untereinander ausgetauscht hatten. "Und wir sind die Herren der Zeit …"
Andächtig schwiegen beide.
Die Herren der Zeit … Ja, das waren sie wohl. Roderich erinnerte sich an jenen Sommer, als die Turmuhr nach einem Blitzschlag beschädigt gewesen war und sie einen ganzen Monat lang auf das Ticken des mechanischen Uhrwerks hatten verzichten müssen, bis der Uhrmacher aus Hamburg seine Arbeit getan hatte. In den ersten Tagen hatten die Menschen ungläubig zum Kirchturm hochgestarrt. Wo bleiben die Rufe der Glocken? Wieso standen die Zeiger der Turmuhr still? Manch einer hatte schon von einem bösen Ohmen zu munkeln begonnen.
Der Diakon war zu ihnen nach oben gestiegen und hatte sich mit Albin über diesen unmöglichen Aberglauben seiner Schäfchen ausgetauscht. Dann hatten die beiden mühsam am Stand der Sonne die Mittagszeit bestimmt und so die Zeit für das Angelusläuten herausgefunden. Ein Stundenglas war gebracht worden und Albin hatte sorgsam darauf geachtet, dass sie nun wieder wie üblich viermal am Tag die Zeit durch die Glocken verkündeten.
Damals hatten sie sich zum ersten Mal "Die Herren der Zeit" genannt und der Diakon hatte herzlich über diese scherzhafte Anmaßung gelacht, Roderich aber dennoch ermahnt, solche Worte nicht außerhalb der Türmerwohnung zu benutzen. Man wusste nie, welche Ohren aufgesperrt sein konnten …
Heute, mit dem Wissen eines erwachsenen Mannes verstand er den Kirchenmann. Zu viel Aberglauben, zu viel Missgunst und vor allem zu wenig Achtung vor dem Dienst des Türmers waren eine Mischung, die schnell gefährlich für Albin werden konnte, wenn man glaubte, er sei den Zünften und den Patriziern gegenüber nicht demütig genug. Aus ihren gut gefüllten Kassen kam der Lohn für den Alten und hätte man ihm diese Einnahme gekürzt, der Alte hätte den Turm verlassen müssen oder aber seinen Ziehsohn von sich weisen. So war es ein Glück gewesen, dass der sonst so stürmische Junge dieses kleine Geheimnis für sich behielt.
Roderich lauschte dem Keuchen Albins und fand, dass es ein wenig leiser und weicher geworden sei. Dann kroch die Aufmerksamkeit seines Gehörs wie selbstverständlich zu dem 'Klack, tock ' des mechanischen Uhrwerks. Ein winziges Kratzen, ein leises Quietschen ließ ihn genauer hinhorchen und auch Albin nickte, als er die Konzentration seines Schülers bemerkte.
"Ja, du hast recht", stimmte er dem Unausgesprochenen zu. "Es braucht ein wenig Öl."
Roderich nahm dem Alten die inzwischen leere Tasse ab. "Ich mach das schnell", versicherte er und füllte noch einmal vom Huflattichtee nach. Doch Albin sah das anders.
"Nicht schnell, mein Junge!", wies er leise an. "Schnelligkeit ist nicht das Herz unseres Werks, da sie uns verleitet, ungenau zu sein. Arbeite gründlich und lass dir Zeit!"
Früher hätte sich Roderich über einen solchen Kommentar schwarzgeärgert. Heute, da er älter und wissender war, störte ihn diese Bemerkung des Alten kaum noch. So war Albin eben!
"Du hast recht, Vater!", stimmte er zu. "Natürlich werde ich es ordentlich machen." Er beobachtete noch kurz, wie Albin bei dem Wort 'Vater' glücklich zu strahlen begann, dann wandte er sich um und verließ die kleine Türmerstube. Das Uhrwerk wartete.
Der kleine Junge hatte lange nicht verstanden, warum er dort hinauf gehen sollte – über die Dächer, weg vom Gedränge der Menschen, weg von der Mutter und dem hübschen kleinen Häuschen an der Außenmauer des Domes. War er böse gewesen? Hatte er etwas Schlechtes getan?
Heute ahnte Roderich, wie schwer es für den Türmer damals gewesen sein musste, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht seine Schuld war, dass er, das Kind, nicht im geringsten einen Einfluss auf die Pest haben konnte.
»Es ist etwas ganz Besonderes, dass du hier oben sein darfst«, hatte er dem verstörten Jungen vor Jahren gesagt. »Nicht jeder darf auf diesen Turm steigen. Und niemand außer dir und mir darf die Turmuhr ölen und die Mittagsglocke läuten. Es ist eine Auszeichnung, wenn du am Glockenseil ziehen darfst.«
Damals hatte der junge Roderich, das Kind, diese Rede geglaubt. Stolz war er gewesen, wenn er mit der verbeulten Ölkanne einzelne Tropfen des wertvollen Olivenöls über die Achsen der Zahnräder gießen durfte. Ein aufgeregtes Herzklopfen hatte seinen Brustkorb fast gesprengt, als er zum ersten Mal die Mittagsglocke läuten durfte – jene Glocke, die ein paar Wochen darauf auch den Weg seiner verstorbenen Mutter begleitete.
Erst viel später waren ihm die Schwielen aufgefallen, die das Glockenseil auf seinen Handflächen hinterließ, hatte er die derben, zum Teil vernarbten Hände des Türmers als das angesehen, was sie waren: Zeugen einer schweren, nie endenden Arbeit. Mochten sie auch nur vier Mal am Tag an den Seilen ziehen, da sie sich mit den Mönchen diese Aufgabe teilten - den Glockenklang zu erzeugen, war Schwerarbeit.
Noch länger hatte es gedauert, bis der Junge an jenen Stunden teilhatte, die das Herz der Türmeraufgabe ausmachten - die nächtliche Wache, um nach Bränden Ausschau zu halten. Das ›Hör, Gesell, hör!‹ war zwar auch für ihn gang und gebe gewesen. Doch in seinem kindlichen Gemüt hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, welche Bedeutung der nächtliche Ruf und seine Antwort hatten.
Sogar als er bereits auf dem Turm wohnte, war ihm lange Zeit nicht bewusst geworden, dass ihm das Bett nur deshalb nachts allein gehörte, weil der Türmer Albin draußen auf dem Umgang wachte und nach der bedrohlichen Helligkeit eines nächtlichen Feuers Ausschau hielt.
Der Alte brauchte wenig Schlaf - längst war er die nächtlichen Wachen gewöhnt, sodass er sich tagsüber zwar ein paar Stunden ausruhte und dennoch Zeit für seinen Ziehsohn fand.
Später, als sie sich bei den nächtlichen Wachen ablösten, fragte sich Roderich oft, wie Albin es geschafft hatte, sich trotz der durchwachten Nächte um ein Kind wie ihn zu kümmern.
Vielleicht war es für den Türmer leichter geworden, als die Pest endlich ihre Stadt verlassen hatte. Für ein paar Pfennige durfte er bei der Magd des neuen Diakons zu Mittag essen. Oftmals ließ diese ihn dann mit ihren Kindern spielen und später lernte er gemeinsam mit den beiden Jungen der dicken Frau ein wenig Lesen und Latein bei ihrem Brotherrn. Dass dieser wie auch sein Vorgänger der Vater der Kinder seiner Haushälterin war, verstand er damals noch nicht. Ebenso heimlich wie seine eigenen Eltern lebten der Diakon und seine Magd enger zusammen, als es das Zölibat erlaubte. Doch das verstand Roderich erst viel später. So wie er auch lange brauchte, um zu sehen, dass die Menschen ihn beobachteten und die Mädchen ihn mieden. Was wusste er denn als Halbwüchsiger schon von den Regeln der Zünfte?
»Du lebst nicht mit uns!«, hatte ihm die blonde Lene erwidert, als er sie gefragt hatte, ob sie nicht mit ihm spielen wolle. »Du gehörst auf den Turm, Roderich. Und ich gehöre in die Spenglergasse.«
Es war das erste Mal gewesen, dass ihm die Ablehnung der Städter offen entgegengeschlagen war. Am Abend dieses Tages hatte er sich bitter bei Albin beschwert.
Albin! Bei dieser Erinnerung lächelte Roderich. Wie energisch ihn doch der Alte vor Enttäuschungen zu schützen versucht hatte! Damals waren es wenige Worte gewesen, die das Kind beruhigt hatten.
»Lene irrt sich«, hatte der Türmer ihm versichert. »Du lebst sehr wohl mit ihnen. Ja, du bist für sie alle irgendwann verantwortlich. Nur du, der Türmer, kannst sie später, wenn du erwachsen bist, vor Bränden und Räubern warnen, keiner sonst.«
In der Nacht nach jenen denkwürdigen Tag hatte ihn der Türmer zum ersten Mal mit auf Nachtwache genommen. Aufmerksam waren sie ihre Runden um den Turm gegangen und hatten Ausschau nach einem verräterischen Leuchten gehalten. Am Morgen war Roderich enttäuscht gewesen, dass sie rein gar nichts entdeckt hatten.
»Sei froh!«, hatte ihm der Türmer entgegengehalten. »Oder willst du, dass Lenes Haus vor deinen Augen zu Asche wird?«
Nein, das wollte er nicht. Also schüttelte er entschlossen den Kopf und schwieg.
Beim nächsten Markttag ging er dem Mädchen Lene aus dem Weg. Wenn sie ihn nicht dabeihaben wollte, obwohl er sie vor Schlimmem beschützte, dann war sie einfach dumm. Mit dummen Menschen aber umgab sich ein zukünftiger Türmer wie er nicht!
Was wusste er damals schon über die Arroganz der Zünfte, ihr Sippengehabe und ihre vorgefasste Meinung? Nichts wusste er! Erst nach und nach wurde ihm klargemacht, wie gering die Städter ihren Türmer schätzten. Daran hatten auch die Pest und die ihr nachfolgenden dürren Jahre nichts ändern können. Erst ein ganzes Jahrzehnt später, mitten im Winter, wurde manchem der hochmütigen Patrizier und Handwerker klar, wie wichtig der unscheinbare Mann oben auf dem Turm für sie war. Doch bevor Roderich über diesen, durch des Türmers Ruf schnell beherrschten Brand nachdenken konnte, verstärkte sich das Keuchen und Räuspern des alten Mannes. Albin wurde wach.
'Endlich!', dachte Roderich, als sein Ziehvater die Augen aufschlug. Es gab noch so viele Dinge, die er dem alten Mann sagen musste, die nicht unausgesprochen bleiben durften, wenn er Sophias Vorhersagen Glauben schenken wollte. Doch zunächst sollte Albin ein wenig von der Hühnersuppe löffeln, die er vorbereitet hatte, und ein wenig Huflattichtee trinken. Dorthinein hatte er einen großen Löffel Honig gerührt - er wusste, dass der alte Mann die Süße mochte.
Mühsam kam der Türmer zu sich. Schon wieder schüttelte ihn der unerbittliche Husten. Roderich half dem Kranken, sich aufzurichten und klopfte ihm auf den Rücken, damit der Schleim in der Brust sich ein wenig besser lösen konnte. Doch es dauerte lange, bis sich der Atem des Alten beruhigt hatte.
"Danke!", keuchte er. "Es ist schön, dass du da bist, Roderich."
Roderich errötet leicht, dachte er doch nur ungern an jenes Jahr, in dem er den Turm kaum bestiegen hatte. Doch darüber wollte Albin heute nicht mit ihm reden, oder?
"Ich war lange auf heute Nacht", erzählte der Türmer leise, "und habe über uns beide nachgedacht. Es war gut, dich dort draußen zu wissen. Du wirst ein guter Türmer sein. Trotzdem ist es schön, dich jetzt hier bei mir zu haben."
Nachdenklich schaute Roderich zu, wie der Alte seinen Tee trank. "Ich wollte das am Anfang gar nicht", gab er dann zu, "diesen Turm, diese Arbeit, diese Höhe. Es schien mir so weit weg vom Leben, so weit weg von den anderen Menschen … einsam."
Albin nickte. "Ich weiß. Doch heute …?"
Der jüngere Mann und Türmergehilfe lächelte. "Heute bin ich mir sicher, dass ich hier zuhause sein will. Wir mögen hoch oben über der Stadt leben. Doch wir sind auch dem Himmel ganz nahe." Er lachte und wiederholte dann einen Scherz, den sie gern untereinander ausgetauscht hatten. "Und wir sind die Herren der Zeit …"
Andächtig schwiegen beide.
Die Herren der Zeit … Ja, das waren sie wohl. Roderich erinnerte sich an jenen Sommer, als die Turmuhr nach einem Blitzschlag beschädigt gewesen war und sie einen ganzen Monat lang auf das Ticken des mechanischen Uhrwerks hatten verzichten müssen, bis der Uhrmacher aus Hamburg seine Arbeit getan hatte. In den ersten Tagen hatten die Menschen ungläubig zum Kirchturm hochgestarrt. Wo bleiben die Rufe der Glocken? Wieso standen die Zeiger der Turmuhr still? Manch einer hatte schon von einem bösen Ohmen zu munkeln begonnen.
Der Diakon war zu ihnen nach oben gestiegen und hatte sich mit Albin über diesen unmöglichen Aberglauben seiner Schäfchen ausgetauscht. Dann hatten die beiden mühsam am Stand der Sonne die Mittagszeit bestimmt und so die Zeit für das Angelusläuten herausgefunden. Ein Stundenglas war gebracht worden und Albin hatte sorgsam darauf geachtet, dass sie nun wieder wie üblich viermal am Tag die Zeit durch die Glocken verkündeten.
Damals hatten sie sich zum ersten Mal "Die Herren der Zeit" genannt und der Diakon hatte herzlich über diese scherzhafte Anmaßung gelacht, Roderich aber dennoch ermahnt, solche Worte nicht außerhalb der Türmerwohnung zu benutzen. Man wusste nie, welche Ohren aufgesperrt sein konnten …
Heute, mit dem Wissen eines erwachsenen Mannes verstand er den Kirchenmann. Zu viel Aberglauben, zu viel Missgunst und vor allem zu wenig Achtung vor dem Dienst des Türmers waren eine Mischung, die schnell gefährlich für Albin werden konnte, wenn man glaubte, er sei den Zünften und den Patriziern gegenüber nicht demütig genug. Aus ihren gut gefüllten Kassen kam der Lohn für den Alten und hätte man ihm diese Einnahme gekürzt, der Alte hätte den Turm verlassen müssen oder aber seinen Ziehsohn von sich weisen. So war es ein Glück gewesen, dass der sonst so stürmische Junge dieses kleine Geheimnis für sich behielt.
Roderich lauschte dem Keuchen Albins und fand, dass es ein wenig leiser und weicher geworden sei. Dann kroch die Aufmerksamkeit seines Gehörs wie selbstverständlich zu dem 'Klack, tock ' des mechanischen Uhrwerks. Ein winziges Kratzen, ein leises Quietschen ließ ihn genauer hinhorchen und auch Albin nickte, als er die Konzentration seines Schülers bemerkte.
"Ja, du hast recht", stimmte er dem Unausgesprochenen zu. "Es braucht ein wenig Öl."
Roderich nahm dem Alten die inzwischen leere Tasse ab. "Ich mach das schnell", versicherte er und füllte noch einmal vom Huflattichtee nach. Doch Albin sah das anders.
"Nicht schnell, mein Junge!", wies er leise an. "Schnelligkeit ist nicht das Herz unseres Werks, da sie uns verleitet, ungenau zu sein. Arbeite gründlich und lass dir Zeit!"
Früher hätte sich Roderich über einen solchen Kommentar schwarzgeärgert. Heute, da er älter und wissender war, störte ihn diese Bemerkung des Alten kaum noch. So war Albin eben!
"Du hast recht, Vater!", stimmte er zu. "Natürlich werde ich es ordentlich machen." Er beobachtete noch kurz, wie Albin bei dem Wort 'Vater' glücklich zu strahlen begann, dann wandte er sich um und verließ die kleine Türmerstube. Das Uhrwerk wartete.
Und Roderich nahm sich Zeit. Vielleicht war es auch ganz gut, ein wenig Abstand zu der düsteren Stube mit dem Siechen zu bekommen?
Gründlich reinigte er die Wellen und Zahnräder des Uhrwerks mit einem weichen Tuch bis sie wieder matt glänzten. Dann zog er die Gewichte in die Höhe, die die Mechanik am Laufen hielten. Auch sie rieb er ab und ließ sie dann ausschwingen. Zum Schluss füllte er frisches Olivenöl in sein Kännchen und goss Tropfen für Tropfen über die langsam kreisenden Zahnräder und Achsen.
Nachdenklich verfolgte er die immerwährende Bewegung des Ganzen, folgte dem Lauf der Zeit in ihre Kreise, ihr Fortschreiten hinein. Seine Gedanken schweiften ab zu jenem Tag, als er das erste Mal erkannt hatte, dass die Uhr vor ihm ein greifbares Sinnbild für das Verstreichen der Zeit war. Als Kind hatten ihn das Glänzen des Metalls, das Ticken der Mechanik und die eleganten Bewegungen der Zahnräder fasziniert. Später dann, älter geworden, war ihm irgendwann klargeworden, was er da vor sich sah.
Jedes klick-tock, jeder Umlauf der Zahnräder war Ausdruck verstrichener Zeit, die nie zurückkam. Zeit war plötzlich für Roderich greifbar geworden, winzige Stücke der Zeit, die von der Zukunft in die Vergangenheit tickten, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Sie ließ sich nicht halten in ihrem Fluss, nicht einmal verlangsamen und er hatte damals das Gefühl gehabt, dass er mit dem Schwinden der Stunden mehr und mehr verpasste, dass die Zeit und mit ihr das Leben dort draußen rasend schnell an ihm vorbeiliefen, ohne dass er Anteil daran gehabt hatte.
Damals hatte er ein weiteres Mal gegen das Leben im Turm und auch gegen den Türmer selbst rebelliert. Dass dieser ihn vom wirklichen Leben fernhielte, hatte er dem überraschten Mann an den Kopf geworfen, dass er seine Zeit auf dem Turm unnütz vergeude, dass das wahre Leben anderswo sei – dort unten nämlich bei den Menschen der Stadt, bei dem bunten Treiben der Märkte und Handwerksstätten, in den Schreibstuben, ja selbst in den Tavernen.
Albin war ruhig geblieben, zu ruhig aus Sicht des jungen, aufgebrachten Mannes.
Vielleicht habe er ja recht, war seine Antwort gewesen. Das Leben auf dem Turm sei tatsächlich weit weg vom alltäglichen Trubel der Stadt und einem jungen Mann wie Roderich mochte die kleine hoch oben gelegene Stube wie eine Einöde vorkommen. Wenn er sich sicher sei und es ernst meine, könne er jederzeit hinuntergehen und sein Glück versuchen.
Albin hatte ihn nicht aufgehalten. Er schien zu wissen, dass das unmöglich gewesen wäre. Ja, er hatte ihm sogar noch eine gute Handvoll der schwer verdienten Münzen in die Hand gedrückt. Seine Tür stünde ihm jederzeit offen, wenn er es sich doch anders überlegen sollte. Dann war Roderich leicht beschämt die einhundertvierundzwanzig Stufen hinabgerannt. Er war frei!
Sein erster Weg führte ihn zur Familie des Diakons. Anna, dessen Haushälterin, umarmte Roderich herzlich wie immer und hörte aufmerksam zu, als er ihr seine hochfliegenden Pläne schilderte. Arbeit wolle er sich suchen – richtige Arbeit, die mehr beinhaltete als ein Uhrwerk zu ölen und nach nie ausbrechenden Feuern Ausschau zu halten. Ein eigenes Zimmer würde er später haben und die Mädchen würden ihn nicht mehr ob seines niederen Standes meiden … Anna hatte still gelächelt und ihm dann angeboten, bei ihr und ihren Kindern zu wohnen, bis seine Pläne Wirklichkeit geworden wären. Der Diakon hatte dem freundlich zugestimmt und bemerkt, dass sie diese gute Tat Albin einfach schuldig seien. Wissend lächelnd hatte er vorgeschlagen, dass ihnen Roderich ja eine kleine Miete zahlen könne, sobald er Arbeit gefunden habe. Bis dahin wäre es völlig ausreichend, wenn er nach seiner Arbeitssuche Anna bei ihren schweren Hausarbeiten zur Hand ginge.
Unbedarft wie er war, hatte Roderich dem zugestimmt und war frohen Mutes in den Sommertag hinausgetreten, um auf dem Markt nach einer Arbeit Ausschau zu halten, die ihm zusagte.
Zunächst waren es die Händler gewesen, die ihn faszinierten und so hatte er drei Tage lang alle Kontore und Marktstände nach einer Anstellung abgeklappert. Einige Angebote hatte er bekommen, das musste er im Nachhinein zugeben. Säcke sollte er von den Fuhrwerken auf den Markt schleppen, da man die Gespanne nicht zwischen die eng aneinander gereihten Marktstände rangieren konnte. Waren hätte er austragen können und den Boden der Speicher ausfegen … Doch dies alles war nicht das, was er sich erhofft hatte.
Klein müsse man anfangen, riet ihm der Diakon, dem er seine Misere schilderte. Also hatte auch Roderich versucht, es so zu machen und hatte Säcke geschleppt und Böden gefegt. Am Abend war er erschöpft ins Haus des Diakons zurückgekehrt, nur um dort weiterzumachen – die Böden des Doms waren genauso sauberzuhalten wie jene der Speicher. Wasser musste herangeschleppt werden für das Bad des Diakons und die schwere nasse Wäsche sollte auf die Wiese hintern Haus gebracht werden zum Ausbreiten.
Tag für Tag verging und auch nach zwei Monaten sah Roderich keine Verbesserung seiner Situation. Tagtäglich mahnte ihn das Läuten der Mittagsglocke an das Verstreichen seiner Zeit und an den Türmer, der nun ganz allein in seinem Kämmerlein hoch oben über der Stadt saß.
Es wäre einfach für Roderich gewesen, den Alten zu besuchen, doch er traute sich nicht hinauf – nicht ohne etwas in seinem Leben erreicht zu haben.
Dann, an einem regnerischen Morgen, beschloss er, sein Glück anderswo zu versuchen. Mochte er auch bei den Händlern keinen Erfolg gehabt haben, so sah es bei den Handwerkern vielleicht ganz anders aus? Nach und nach versuchte er bei verschiedenen Gewerken sein Glück. Bei Schreiner, Plattner und Schmied kam er erst gar nicht über die Türschwelle. Welche Empfehlungen er denn vorzuweisen und welche Erfahrungen er schon gesammelt habe, wollten die breitschultrigen, ruppigen Männer wissen. Wenn er dann zugab, nur der Ziehsohn des Türmers zu sein, der zwar Lesen und Schreiben konnte, jedoch keinen Schmiedehammer zu schwingen verstand, trat ein mitleidiges Lächeln auf die Gesichter. »Jedem seine Zunft«, bekam er zu hören und »Schuster bleib bei deinen Leisten!«
Der Schmied, bei dem sich Roderich nach zwei erfolglosen Anfragen nicht so schnell abwimmeln lassen wollte, wurde dann deutlicher. »Es gibt genug Jungen, die in unserer Zunft aufgewachsen sind und darum allerlei Können mitbringen. Da brauche ich keinen dahergelaufenen Türmergehilfen zu beschäftigen. Und deine Herkunft, mein Junge, fiele ja auch auf mich zurück. Was glaubst du, würde der Zunftmeister sagen, schlüge ich dich als Gesellen vor?« Der Schmiedemeister hatte ihm bedauernd auf die Schulter geklopft. »Das ist keine Zeit für einen wie dich, sich in den Zünften zu bewerben. Ja, wenn du ein Färber werden wolltest … doch ein Schmied wirst du nimmermehr.«
Müde lächelnd fuhr Roderich nochmals über die glänzenden Gewichte der Turmuhr. »Wenn du ein Färber werden wolltest …« Viel zu wenig hatte er damals über die Menschen seiner Stadt gewusst! Und so war er tatsächlich den Wegbeschreibungen gefolgt und an den Rand der Stadt gekommen, in jene Färbergasse, in der, so wusste er, auch jene Lene wohnte, die ihn als Jungen so schnöde abgelehnt hatte.
Schon von weitem war ihm der Gestank der Färberbecken entgegengeschlagen. Es war Sommer gewesen und die Hitze hatte die unsäglichen Ingredienzen der Färberlaugen noch intensiver riechen lassen als sonst. Urin war ein wichtiger Bestandteil, lernte er später aus den Reden des Diakons, vergorene Rinden und Pflanzenbestandteile. Aufmerksam war er durch die Gasse geschlendert, dabei die krummen Rücken der Männer und Frauen betrachtend, die schwer schuftend über die Bottiche gebeugt, färbten. Große Leinenbahnen waren über Seilen aufgehängt und schwangen im leichten Wind, Frauen entleerten keuchend benutzte Bottiche in den angrenzenden, ebenfalls stinkenden Bach. Dabei beachtete ihn niemand. Angewidert wollte sich Roderich bereits abwenden, als er sie sah – Lene. Hoch aufgerichtet unter einem Tragjoch mit zwei Eimern kam sie auf ihn zu. Sie hatte ihn erkannt, da war er sich auch nach Jahren noch sicher. Doch anders als damals, verstand sie der erwachsene Roderich besser. Er sah ein, dass sie vorgab, ihm nie zuvor begegnet zu sein und schnell weiterging. Das Los der Färber war um ein Vielfaches härter als sein eigenes, mochte er nun Türmergehilfe oder ein Träger auf dem Markt sein. Damals hatte er Lene verlegen gegrüßt und war dann schnell in das Domviertel zurückgeeilt. Die kleine Lene hatte recht gehabt!
Roderichs Handgriffe waren oft geübt und inzwischen eine alte Gewohnheit, als er mit einem weichen Tuch säubernd über die ineinandergreifenden Zahnräder der Turmuhr strich und einen dunklen Ölfilm entfernte.
Auch in seinem Leben griffen die Ereignisse wie Zahnräder ineinander. Schweigend sann er darüber nach, wie eng Freude und Leid im Leben der Menschen beieinander lagen. Nun, da er bald Türmer sein würde und von den Zünften für seine Dienste bezahlt, könnte er Gretel, die uneheliche Tochter des Diakons fragen, ob sie seine Frau sein wolle und mit ihm auf dem Turm leben. Doch seine Erhebung in den Türmerstand setzte nun einmal den Tod Albins voraus – eine Tatsache, über die Roderich nicht nachsinnen konnte, ohne dass ihm die Tränen in die Augen traten.
Vorsichtig verschloss der Türmergehilfe das Fläschchen mit Olivenöl, das einen weiten Weg aus der Toskana zu ihm auf den Turm hinauf hinter sich hatte, um den hohen Ansprüchen Albins an das Geschmier der Uhr zu genügen. Hierin würde er dem Alten folgen, dachte Roderich. Etwas so Wertvolles wie den genauen Lauf der Zeit durfte man nicht für einen Heller mehr aufs Spiel setzen. Drei goldene Tropfen ließ er immer aus dem Fläschchen heraus über das oberste Zahnrad rinnen, nicht mehr und nicht weniger.
Roderich wandte sich zum Gehen. Doch er stieg noch nicht wieder hinunter in die Türmerstube. Auch wenn die Feuerwache nur nachts seine Pflicht war, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, auch tagsüber hin und wieder in „seiner“ Stadt nach dem Rechten zu sehen.
Er stieg die steile Treppe weiter nach oben und lauschte auf das vertraute Knarren der ausgetretenen hölzernen Stufen. Im kommenden Herbst musste er unbedingt einen Stamm besorgen und ein paar Bretter austauschen, denen der Holzwurm zu sehr zugesetzt hatte. Es durfte nicht sein, dass er stolperte oder gar durchbrach, sollte er einmal eilig hinauf- oder hinunterlaufen müssen. Der künftige Türmer schmunzelte in sich hinein. Soweit war es schon gekommen: Er plante seine eigene Zukunft auf dem Turm!
Dann schlich sich ein Seufzen über seine Lippen. So gern er inzwischen Türmergehilfe war – der absehbare Tod Albins, seines Ziehvaters, lag schwer auf seiner Seele.
Am Glockenstuhl vorbei trat er durch die kleine Tür nach draußen und streckte sich unwillkürlich, als ihn die frische, unverbrauchte Luft traf, die hier oben fast immer vom Wind bewegt wurde. Auch heute wehte eine leichte Brise und ließ die halblangen Haare des Türmers um dessen Stirn wehen.
Mit beiden Händen stützte sich Roderich an der Balustrade des Umgangs ab. Wie immer begann er seine Umschau am Marktplatz. Heute waren nur die beiden Gemüsehändler dort, die nach dem Winter täglich ihre Rüben und Zwiebeln feilboten. Zwei Jungen verfolgten eine Krähe, die hüpfend vor den beiden Quälgeistern zu flüchten versuchte und sich in die Lüfte erhob, als ihr die Knaben zu nahe kamen. Hier und da stieg Rauch aus den Küchenkaminen der großen Häuser auf und der Duft der Holzfeuer war bis in Roderichs luftige Höhe zu riechen.
Vom Marktplatz aus folgte der Blick des jungen Mannes der Hauptstraße bis hin zur Breiten Brücke, die zwei Fuhrwerken gleichzeitig erlaubte, den Fluss zu überqueren. Dahinter wurden die Häuser niedriger und die Gassen enger.
Wie es ihm Albin oft empfohlen hatte, betrachtete er die eng beieinanderliegenden Dächer länger und genauer als die Patrizierhäuser. Je enger ein Stadtteil gebaut sei, desto schneller breite sich dort ein Feuer aus, hatte ihn der Alte gewarnt und Roderich hatte die Wahrheit hinter diesen Worten schnell verstanden. Außerdem waren die Häuser der Ärmeren oft nur aus Holz gebaut, wo die Reichen Stein und Mörtel verwendeten. Und die trockenen Bretter brannten schnell lichterloh.
Die aufgescheuchte Krähe flog eine Runde um den Kirchturm und ließ sich dann auf dem Giebel des Zunfthauses nieder. Aus sicheren Abstand krächzte sie den beiden Jungen, die zu ihr hinauf starrten, ihren Unwillen entgegen. Die beiden Tunichtgute lachten. Dann wandten sie sich anderen Abenteuern zu. Die Krähe war schnell vergessen.
Roderich sah noch einen Moment lang zu, wie der schwarze Vogel sein Gefieder nach dem Flug richtete, dann setzte er seinen Umgang fort. Nach und nach umrundete er so den Turm und betrachtete alle Stadtteile. Arme und Reiche lebten dort, Junge und Alte. Ganz weit draußen, auf einer Insel im Fluss sah er einen weiteren Kirchturm. Dort lag das Leprosorium, von dem keiner je genesen zurückgekommen war. Wieder sah sich Roderich dem allgegenwärtigen Tot gegenüber. Doch dieses Mal ließ er sich von seinen Gedanken nicht ablenken und schritt weiter aus, bis er die kleine Tür zum Glockenstuhl wieder erreicht hatte. Hier herauf, zu ihm auf den Turm war die Pest nicht gekommen und auch der Aussatz würde das nicht tun. Hier oben galten andere Regeln als dort unten im Getümmel der Städter. Wahrscheinlich hatte das auch seine Mutter geahnt, als sie ihn zu Albin auf den Turm gab. Heute, nach so langer Zeit, empfand er nichts als Dankbarkeit für sie. Hätte sie ihn bei sich behalten, so wäre ihnen vielleicht für kurze Zeit noch Glück beschieden gewesen. Doch der schwarze Tod kannte keine Nachsicht. Und nur indem sie sich von ihm trennte, konnte sie ihm dieses Leben erhalten.
Roderich schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Albin würde schon auf ihn warten! Er würde sich Zeit nehmen, und dem Alten noch einmal von seinen Gedanken erzählen und ihm für alles danken, was er für den Jungen und den wilden, uneinsichtigen Heranwachsenden namens Roderich getan hatte. Und er würde ihm versichern, dass er das Werk der Türmer fortsetzen und in Ehren halten würde.
Eine Krähe flog auf, als am Abend die tiefste Kirchenglocke monoton ihr Leuten aufnahm. Die Sonne berührte den Horizont, schickte einige letzte Strahlen über die Dächer der Stadt und überließ dann deren Bewohner dem heraufziehenden Dunkel. Unten im Dom, in einer kleinen Seitenkapelle, lag die sterbliche Hülle Albins, des alten Türmers, ordentlich eingehüllt in ein frisches, weißes Leinentuch. Zu seinem Haupt brannten zwei dicke Bienenwachskerzen, wie es sich gehörte. Hoch oben auf den Turm aber erklang wie jede Nacht der Ruf: „Hör, Gesell, hör!“. Später, wenn der neue Türmer Roderich sich aufmachen würde, die einhundertvierundzwanzig ausgetretenen Stufen nach unten zu gehen, um an der Bahre seines Ziehvaters für dessen Seele ein Gebet zu sprechen, würde ihn das unermüdliche Klack, tock, klack, tock der Turmuhr auf seinem Weg begleiten, die Minuten und Stunden der dahinschwindenden Zeit zählend. Dann war er der Herr der Zeit über der Stadt – und ihr ergebener Diener.
- ENDE -
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin Sophie André
Bildmaterialien: Cover Sophie André unter Verwendung der im Anhang geannten Fotos unter CCO Public Domain
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2016
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