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Qindie

 

 

 

 

 

 

 

 

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Danksagung

 

Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt all jenen Menschen, die zum Entstehen meiner Geschichte beigetragen haben – natürlich meiner Familie und ganz besonders meinen beiden Kindern, ohne die es Darius, den Drachen, nie gegeben hätte, allen treuen Lesern und Kritikern der Bookrixcommunity und ganz besonders Katrin B. und Divina Michaelis für ihre kreativen und hilfreichen Korrekturen.

Ein besonderes »Gratias ago!« sei den Königen der Spielleute gewidmet, Corvus Corax, für deren wundervolle, unnachahmliche Musik, die mir Anregung und Inspiration beim Schreiben war.

Ein großes Dankeschön euch allen und nun viel Spaß beim Lesen der ›Magier von Art-Arien‹!

 

Sophie André

 

Karte der Vier Provinzen

 

 

 

Eine großformatige Darstellung der Karte und weitere Skizzen zum Buch finden Sie auf meiner Homepage unter

http://www.sophie-andrae.de/intro.html

Kapitel 1: »Komm Schwimmer!«

Darius erzählt:

Während ein Mann namens Sinan Istakhrasus auf dem Forum von Chromnos' Hauptstadt vierzig Peitschenhiebe erhielt und damit eine Erschütterung der Macht herbeiführte, die keiner von uns auf diese Art erwartet hätte, lebten wir in Art-Arien im Genuss einer lang andauernden Ruhe. Keiner von uns ahnte, welche seltsamen Entwicklungen sich hinter der magischen Grenze begaben. Nachdem endlich auch der letzte Gast Schuma und unsere Burg verlassen hatte, konnten Solinea und ich die Ruhe finden, nach der wir uns so sehr sehnten.

Ich erinnere mich noch gut, dass wir manchen Abend still zusammen in dem kleinen Burggarten saßen oder von einem der Türme aus ins Land sahen. Oftmals ließ mich meine Gefährtin dann an ihren Gefühlen und ihren Gedanken teilhaben und ich tat es ihr gleich und ließ sie mehr von mir wissen, als ich je einem Wesen offenbart hatte, Atreus eingeschlossen. Jeder Tag, der verging und jede Nacht, die sie an meiner Seite verbrachte, führte uns ein wenig näher zueinander und ich liebte sie dafür.

Nicht dass ich über dieser Euphorie die Tatsachen vergessen hätte. Mehr als einmal nahm ich den mentalen Kontakt zu Solineas anderem Gefährten und meinem Freund Nashoba auf und schon bald fanden wir Wege, wie wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten konnten. Damals, ganz am Anfang dieser neuen Erfahrungen, konnte sich keiner von uns beiden vorstellen, dass wir gemeinsam und gleichzeitig mit Solinacea leben sollten. Wir kamen überein, dass immer einer von uns bei ihr sein würde, während der andere seinen Aufgaben nachkam. Kampftraining, Grenzüberwachung, die Führung unserer Länder, das alles erschien uns ebenso wichtig wie unsere Gefährtin und eine gute Lösung schien in jener Teilung zu liegen. So lebten wir in jenen ersten Mondumläufen und es kam Nashoba und mir gut vor.

Dann, irgendwann im Sommer, als wir gerade alle in Tsiigehtchic waren, gesellte sich Archon zu uns. Der alte Primus der Elementemagier hatte eine lange Reise hinter sich und wahrscheinlich eine Vielzahl schwieriger Gespräche, denn er kam von Dakoros, wo er versucht hatte, Leondara und Naoki in ihrem Beharren gegen unsere Gefährtenschaft aus dreien umzustimmen. Ihretwegen hatten wir noch nicht das »Omnia vincit amor« beschworen und ihretwegen sah ich Solinea mehr als einmal still nach Südwesten über das Meer starren, als könne sie so ihre Wahlmutter zum Einlenken bewegen.

Archon unverhofft erscheinen zu sehen, war für mich inzwischen ein gewohnter Anblick und so begrüßte ich den alten Freund ohne große Überraschung.

»Darius!«, ergriff der Primus sofort das Wort und zog mich am Arm zu einem kleinen Weg über die Klippen. »Mein lieber Sohn!«

Das war ihm zu einer neuen Gewohnheit geworden, Nashoba und mich als seine Söhne zu bezeichnen. Vielleicht wollte er damit ein wenig die Ablehnung der Dakoraner wettmachen. Vielleicht amüsierte ihn auch die Vorstellung, einen Wolf und einen Drachen zum Sohn zu haben – wer weiß das schon? Mich irritierte seine Anrede nicht wenig. Doch Archon ließ sich von solchen Nichtigkeiten nicht beirren.

»Was für ein Glück, dich hier allein anzutreffen«, eröffnete er seine Rede. »Ich wollte schon lange einmal mit dir sprechen und nun habe ich eine hervorragende Gelegenheit dazu.«

Erstaunt sah ich den Alten an. Was gab es, dass er es nicht vor allen benennen konnte? Doch ich sah ein feines Lächeln auf seinem Gesicht, das anzeigte, dass ich mich bereits verraten hatte. Archon! Der Seher! Wie hätte auch nur ein kleiner Gedanke vor ihm verborgen sein können?

An jenem Tag kam er sofort zu dem, was ihn bewegte. »Ist euch, Nashoba und dir, eigentlich klar, was ihr bei Solinacea anrichtet, indem ihr euch derartig aus dem Weg geht?«

Forschend musterten mich seine blauen Augen und für einen Moment verschlug es mir die Sprache. Archon war schon immer sehr direkt gewesen, doch hier hatte er etwas in unser Verhalten hineingedeutet, was nicht da war.

»Nashoba und ich, wir gehen uns nicht aus dem Weg!«, brummte ich unzufrieden und der Alte lachte.

»Aber natürlich tut ihr das, mein Lieber! Sobald er Tsiigehtchic betritt, brichst du mit Solinea auf, gibst sie hier ab wie eine Ware und verschwindest an die Grenze. Und umgekehrt macht es der Minági genauso. Ihr besprecht euch nicht mehr halb so viel wie früher, und sei es auch nur zu euren kriegerischen Aufgaben. Das stimmt doch, oder?«

Archon verwirrte mich. Sah es für ihn so aus, als gingen wir uns aus dem Weg? War Nashoba nicht einer meiner besten Freunde? Und wenn wir das taten, auch wenn es uns selbst noch nicht aufgefallen war, zumindest nicht mir, was mochte Solinea darüber denken? Vermutlich hatte der Primus mir angesehen, dass ich nachdachte, denn er ließ mich lange in Ruhe. Dann, leise, brach er das Schweigen.

»Du weißt, dass ich vieles sehen kann, was euch verborgen bleibt. Trotzdem hätte es dir auffallen können. Dir und natürlich auch Nashoba, weil sie sich hier ebenso verhält wie auf der Drachenburg.« Archon musterte mich abschätzend.

Dennoch wusste ich, dass er es auf seine Art gut meinte. Er würde nicht mit mir hier allein auf den Klippen stehen, wenn er nicht annahm, dass ich seinen Rat verdient hatte. So war er schon immer gewesen und mit den Jahrzehnten hatte ich den Magier wirklich schätzen gelernt. Trotzdem erkannte ich nicht, worauf er hinauswollte.

»Solinacea verhält sich nicht ungewöhnlich!«, murmelte ich. Das zumindest wäre mir auf jeden Fall aufgefallen. Wann immer ich sie bei mir hatte, verbrachten wir so viel Zeit zusammen, wie es irgend ging. In dem halben Jahr seit dem Ritual hatte ich zum Beispiel mehr über Heilkunst erfahren als je zuvor. Und so, wie ich von ihr lernte, nahm sie an, was ich ihr geben konnte – magisches Wissen, meine Erkenntnisse und Gedanken über Schuma, alles, was ich über meine menschlichen Gefolgsleute wusste und natürlich auch die Kampfkunst der Dämonenkrieger. So, wie wir uns liebten, ergänzten wir uns im täglichen Leben und es war einfach ein Genuss, das zu erleben.

Archon war mir offenbar still in meine Gedanken gefolgt, während ich mein Zusammenleben mit Solinea bedachte, denn er lächelte freundlich.

»Aber sicher, Darius, geht es meiner Tochter bei dir gut. Daran habe ich auch nie gezweifelt. Und auch bei Nashoba fühlt sie sich nach wie vor wohl. Das ist es nicht, was ich meine.« Er fasste sich nachdenklich in den langen Bart.

»Um es dir einfacher zu machen also. Frei heraus! Was tut Solinacea, wenn sie in Schuma ankommt, hmmm?«

Das also meinte er. Ach Archon! Ich grinste. Es war aber auch zu witzig! Immer wenn ich Solinea auf die Burg brachte, nahm sie als Erstes ein langes, heißes Bad. Ich gönnte ihr diesen Luxus, den sie in Tsiigehtchic natürlich nicht haben konnte, nur zu gern. In vielen Dingen war meine schöne Aimée anspruchslos. Kleider, Schmuck, aufwändige Frisuren, das alles interessierte sie nicht. Mich störte es nicht. Ich liebte sie so, wie sie war und nicht wegen einem Kleidungsstück, das sie trug. Doch wenn ich ihr mit ein wenig heißem Wasser Wohlbefinden schenken konnte, dann sollte sie es haben. Warum denn nicht?

»Was, bei unserer geliebten Göttin, stört dich an einem Bad?«, fragte ich verständnislos. »Gibt es etwas Harmloseres als so ein kleines Vergnügen?«

Archon lachte. »Nein! Natürlich nicht. Es ist nur so, dass Solinacea immer bereits gebadet hat, wenn du sie abholst. Dass sie es bei dir ein zweites Mal tut, hat einen bestimmten Grund.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. So ein Unsinn! »Es tut ihr eben gut! Ich glaube, Archon, du siehst Gespenster!«

Der alte Elementemagier wurde schnell wieder ernst bei meiner unbedachten Rede. »Nun ja! Du erkennst es nicht. Es ist auch gut verborgen. Solinacea ist nicht dumm.« Archon musterte mich ernst. »Im Sommer, als ihr mit diesem Unfug angefangen habt, hast du ihr einmal bei ihrer Ankunft gesagt, sie rieche nach Wolf und Wildnis. Erinnerst du dich daran?«

Mit einem Mal verstand ich, worauf Archon hinauswollte. Ja, er hatte recht. So etwas hatte ich gesagt. Es war einfach dahergeredet gewesen und hatte mir nicht viel bedeutet. Ja, es war eher scherzhaft gedacht. Aber es stimmte schon, dass Solinea danach baden gegangen war.

Wenn sie es also weiterhin tat, um den anderen Teil ihres Lebens von mir fern zu halten, dann hatte Archon recht. Das konnte nicht gut für sie und uns alle drei sein.

Archon nickte. »Das Problem ist, dass sie von Nashoba einen ähnlichen Kommentar zu hören bekam. Und so versucht sie, strikt zwischen Tsiigehtchic und Schuma zu trennen, um keinem von euch weh zu tun. Sie erzählt dir nichts von ihrem Zusammensein mit Nashoba und er erfährt nicht, was sie mit dir in Schuma erlebt. Eine Zeit lang mag das funktionieren, aber langfristig wird es ihr erheblich schaden. So könnt ihr nicht weitermachen, Darius!«

Archon hatte recht und ich wusste es. Aber auch, wenn ich nun sah, was wir falsch machten, würde es schwierig werden, viel daran zu ändern. Das Leben der Inokté und der Dämonenkrieger unterschied sich so grundlegend voneinander, dass eine Annäherung schwer werden würde. Und jeder von uns hatte sein Volk anzuführen. Auch dieser Aufgabe mussten wir gerecht werden. Dazu mussten wir dort leben, wo man uns brauchte. Was also sollten wir tun?

Der Primus sah schnell, dass er bei mir ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Tochter gefunden hatte. Und er hatte sich schon mehr Gedanken über uns gemacht, als wir es selbst getan hatten.

»Im Prinzip ist es doch sehr einfach«, begann er, mir seine Vorschläge zu unterbreiten. »Ganz zu Beginn eurer Gefährtenschaft haben euch die Glaiventräger Loyalität geschworen. Erinnerst du dich?«

Und ob ich das tat. Es war eine unverdiente Geste von Seiten Shayans und meiner Männer gewesen, für die ich ihnen immer noch dankbar war. Ich nickte.

»Du weißt gewiss auch noch, wem ihr Treueschwur galt, nicht wahr?«

Sicher wusste ich das, hatte es mich doch ziemlich erstaunt, dass sie auch Nashoba darin einbezogen hatten.

»Shayan hat damals schon mehr von dem verstanden, was ihr tatet, als ihr. Wenn also die Glaiventräger Nashoba anerkennen, dann kann er als einer der Euren gelten. Oder?«

Wieder nickte ich. Auch, wenn ich mir darüber noch keine besonderen Gedanken gemacht hatte, war ich mir sicher, dass der Minági bei meinen Leuten anerkannt war.

»Und du glaubst auch, dass Solinea bei den Dämonen und den Inokté zuhause ist, nicht wahr?«

»Natürlich ist sie das! Hier sowieso, und in Schuma wird sie nach der Seuche regelrecht verehrt.«

Archon grinste. »Fehlt nur noch einer, damit ihr hier wie dort kommen und gehen könntet, wie ihr wollt. Wann also wirst du um Aufnahme bei den Inokté bitten, Darius?«

Laut auflachend war ich dem Ende von Archons Rede gefolgt. Dieser alte Fuchs! Aber so einfach war es dann doch nicht.

»Selbst, wenn mich die Inokté als einen der Ihren anerkennen würden – das Problem der Führung wäre damit noch lange nicht gelöst.«

Archon schüttelte ungeduldig den Kopf. »Natürlich wäre es das! Jeder von euch hat einen überaus starken Stellvertreter, der ihn unterstützen kann. Oder glaubst du nicht, dass Atreus und Tahatan fähig wären, an eurer Stelle Entscheidungen zu treffen? Ihr verfügt alle vier über die Kunst der Teleästhesie, so dass ihr euch selbst über weite Strecken hinweg beraten könntet. Das sind alles Ausreden, Darius! Und ich werde sie nicht akzeptieren, wenn ihr damit meine Tochter unglücklich macht. Weder von dir noch von Nashoba!«

Gutmütig wedelte der Alte mit seiner Rechten durch die Luft, um seine harten Worte etwas zu entkräften.  »Ich weiß ja, dass ihr Solinacea nicht absichtlich weh tut. Keiner von euch beiden. Und ich weiß auch, dass ihr das schon hinbekommen werdet, wenn ihr nur in Ruhe darüber nachdenkt und euch besprecht.«

Jetzt lächelte der Alte offen und trat leutselig noch ein wenig näher. Leise und geheimnisvoll fuhr er fort. »Doch ich habe in Dakoros etwas erreicht, was als Erfolg gelten könnte, wenn du bereit bist, für die Anerkennung durch Leondara etwas zu tun.«

Nun also nahm das Gespräch seine bedeutende Wendung und ich richtete meine volle Konzentration auf Archon. »Was erwartet die Priesterin?«

Archon zuckte mit den Achseln. »Du kennst sie, Darius, und weißt, wie schwierig sie sein kann. Dennoch scheint derzeit ihre Vernunft stärker als ihr Stolz zu sein und sie ist bereit, euren Bund anzuerkennen, wenn du wie Nashoba einen Beweis deiner Würdigkeit erbringst.«

Das … Ich holte erst einmal tief Luft. Das war eine unerhörte Unverschämtheit. Was dachte sich diese Frau, dass sie von mir verlangte, mich zu beweisen? Hatte ich nicht schon genug für Art-Arien gegeben? War ich nicht bereit gewesen, für Solinacea zu sterben? Genügte das etwa nicht?

Archon sah, was in mir vorging und legte begütigend eine Hand auf meine Schulter. »Deshalb wollte ich mit dir allein sprechen, Darius. Ich weiß, dass sie dich damit schwer beleidigt. Ich weiß auch, dass es nicht nötig ist, dir einen erneuten Beweis deiner Liebe abzufordern.«

Langsam löste ich meine geballten Hände und versuchte über das Gehörte nachzudenken. Vielleicht war es gut, erst einmal alles anzuhören, was Leondara durch Archon sagen ließ. Ich wusste, wie sehr Solinea unter dem Verhalten ihrer Wahlmutter litt. Sie war so behütet aufgewachsen!

Andererseits sah ich auch, wie sehr uns das Fehlen der dakoranischen Schwertmeister auf die Dauer schwächte. Wenn das, was sie verlangte, machbar war … Ich zuckte mit den Achseln.

»Was also will sie von mir?«

Archon schmunzelte. »Du siehst ein bisschen aus, wie ein mürrischer Kater, dem man gerade auf den Schwanz getreten ist und der dennoch sein Futter will.«

Er grinste und ich drohte ihm spielerisch mit der Faust. »Treib es nicht zu weit!«

»Schon gut! Ich halte mich schon zurück! Leondara hatte keine klaren Vorstellungen, wie du dich beweisen könntest. Also habe ich einen Vorschlag gemacht.«

Langsam sah ich Archons Geschick und seine heimlichen Spielzüge klarer. »Du hast also für mich verhandelt, mein Freund. Was hast du ihr angeboten?«

Nachdenklich wurde ich von dem Alten gemustert. »Ich dachte mir, da du ja nicht irgendein Inokté sein willst, wenn dich der Stamm denn aufnimmt, dass ein Sonnentanz das Richtige für dich wäre. Damit beweist du dich vor Leondara, aber auch vor den Inokté, du ehrst Solinacea, indem du ihr deinen Ritus widmest und Nashoba bekommt so die Gelegenheit, dir die Stellung innerhalb seiner magischen Krieger zu gewährleisten, die dir zusteht.«

Fassungslos starrte ich den Alten an. Was für ein geschickter Winkelzug! Was für ein Spiel mit den Möglichkeiten! Ich lachte leise auf, schon gar nicht mehr wütend auf die Dakoraner. Man konnte Archon nur gernhaben, diesen alten Fuchs.

Aber trotzdem! »Was, um alles in der Welt, ist ein Sonnentanz?« fragte ich nun doch nach.

»Das kann dir Nashoba am besten erklären. Frag ihn danach und erzähl ihm auch gleich alles andere. Er wird dir bestimmt ein offenes Ohr schenken!«

»Aber willst du ihn denn nicht selbst begrüßen?«

»Ich? Nun ja, später ganz sicher. Aber bis dahin werde ich zu Solinacea gehen. Sie braucht von dem, was ihr vereinbart, nicht alles zu hören.«

Sprachs und machte sich auf den Rückweg ins Dorf. Ich aber suchte mir einen windgeschützten Platz und nahm mir ein wenig Zeit, über das Gehörte und Besprochene nachzudenken.

 

»Komm Schwimmer«

Darius war kein dummer Mann und so brauchte er nicht lange, um zu verstehen, dass Archon mit seinen Vorbehalten gegenüber ihrer derzeitigen Lebensweise recht hatte. Und auch wenn die Unterschiede zwischen Schuma und Tsiigehtchic erheblich waren, so gab es doch manches, was ihm am einfachen täglichen Leben der Inokté gefiel. Erstmals war ihm das schon im Frühjahr klargeworden, als er zusammen mit Solinea darauf gewartet hatte, dass Nashoba von seiner Verletzung genas und sie ihre gemeinsame Zukunft planen konnten.

Damals hatten ihm die Wölfe ein eigenes Tipi eingerichtet und Darius war erstaunt gewesen, wie eigenartig und doch wohlig sich diese für ihn neue Behausung angefühlt hatte. Die Kreisform des Zeltes, die ihn zunächst irritiert hatte, war ihm bald wie ein Schutz und eine tröstliche Hülle vorgekommen, die weichen, stark duftenden Felle, das im Frühjahr beinahe ständig glimmende Feuer, all das hatte ausgesprochen beruhigend und besänftigend auf ihn gewirkt, zu einer Zeit, in der er über seine Zukunft stark verunsichert gewesen war.

Darius war sich schnell darüber im Klaren, dass es ihn weit weniger stören würde, zeitweise mit den Inokté zu leben, als er es zunächst angenommen hatte. Andererseits wusste er von früheren Begegnungen mit dem Minági, wie schwer es diesem fiel, längere Zeit in geschlossenen Räumen auszuhalten. Nashoba hatte sich zwar nie darüber beschwert, aber wann immer er auf der Drachenburg zu Gast gewesen war, ließ sich seine Unruhe nach ein paar Tagen nicht übersehen. Der Drache hatte ihn dafür manchmal belächelt. Dennoch, wenn er ganz ehrlich war, verstand er seinen Freund. Er wusste, wenn er den Ideen von Archon Gestalt geben wollte, musste er den ersten Schritt tun. Besser ein kalter Winter in Ipioca als Traurigkeit in Solineas Augen. Also machte er sich auf die Suche nach seinem Inoktéfreund, um ihn zu einem offenen Gespräch zu bewegen.

Nashoba war an jenem Tag leicht zu finden. Die Ruhe an der Grenze und die friedliche Stille im Dorf waren etwas, das der Minági ganz bewusst genoss. Selten kam er dazu, das Land und die Natur, die er zu schützen geschworen hatte, auch zu beobachten und zu genießen. An jenem Morgen war er daher schon früh aufgebrochen, um sich an der Mündung des Eisenflusses den Beginn der Lachswanderung anzusehen.

Für die Inokté war die Ankunft des ›Schwimmers‹, wie sie den Lachs respektvoll nannten, mehr als eine Sicherheit in der Nahrungsversorgung. Im Zug der Lachse und dem großen Lebenszyklus, der mit ihrer Wanderung in Verbindung stand, sahen sie das Wirken eines mystischen Schöpfers.

Nashoba kannte die Mythen und Legenden um den ›Schwimmer‹ genau und auch wenn er manche Dinge einfacher sah und nicht unbedingt in die Ankunft der Lachse das Wirken einer geheimnisvollen Magie hineindeutete, so war er von dem alljährlichen Wiederkehren dieses Naturschauspiels fasziniert.

Darius ertappte ihn dabei, wie er auf einem Felsenüberhang am Ufer des Eisenflusses kniete und leise ein uraltes Lied seines Volkes sang. »Komm Wolf, komm Schwimmer …«

Es war etwas in der Gestalt seines Freundes, was Darius still nähertreten ließ. Zum ersten Mal sah er den Minági frei von den Zwängen des Krieges, still in eine friedliche Meditation versunken, eins mit seinem Land und mit sich. Ein neuer Respekt dem Älteren gegenüber regte sich in dem Drachen und er wünschte sich, auch eines Tages eine solche Ruhe und Weisheit erlangen zu können.

Nashoba, dem die Ankunft des Freundes nicht entgangen war, der sich aber auch in seinen Betrachtungen nicht stören lassen wollte, winkte Darius näher. Der folgte seiner einladenden Hand nicht ungern. Wollte er doch erfahren, was den Minági an den Fluss gelockt hatte und zu dessen leisem Gesang Anlass gab. Dann, als auch er sich über die Klippe beugte, sah er es: Unzählige Fischleiber mit silbern schimmernden Schuppen und flinken Flossen drängten sich in die Flussmündung. Tausende und abertausende Lachse waren auf dem Weg zu den Plätzen ihrer Kindheit, zu den weit im Land gelegenen Quellen des Flusses.

Dort, so erklärte ihm Nashoba nun leise, lagen die Kiesbänke, die Laichplätze, von wo aus jene Lachse vor einigen Jahren ins Meer gezogen waren. Dorthin würden sie nun zurückkehren, um ihrerseits zu laichen und zu sterben.

»Nicht viele von ihnen werden tatsächlich an den Quellläufen ankommen«, erklärte der Inokté seinem Freund. »Der Weg dorthin ist für sie ein Kampf auf Leben und Tod. Mancherlei Gefahren drohen: Greife, Bären, die Sonne, Niedrigwasser. Dennoch wird ein jeder von ihnen dieses Risiko auf sich nehmen. Keiner der Fische, die du hier siehst, wird je lebend ins Meer zurückkehren. Der Zyklus ihres Lebens beginnt und endet an den Quellen. Und dennoch sind sie voller Mut, stetig, unaufhaltsam.«

Lächelnd sah Nashoba zu Darius, der bei den Erklärungen des Minági wie gebannt auf die unüberschaubare Menge von Fischleibern starrte.

»Und sie werden ihr Ziel erreichen. Die Lachse als Art werden erhalten bleiben. Ja, noch mit dem Fleisch ihrer verwesenden Körper werden sie die neue Generation ernähren.« Ein wenig beschämt über seinen emotionalen Ausbruch wandte Nashoba den Blick wieder auf den schäumenden Fluss. »Es fasziniert mich. Es fasziniert mich, wie sich dieses Schauspiel Jahr für Jahr wiederholt. So vieles hängt vom Zug der Lachse ab: das Überleben der Adler und der Grizzlybären, das Gleichgewicht der Natur und auch das Leben meines Stammes im kommenden Winter.«

Freundlich erwiderte nun Darius den offenen Blick seines Freundes. »Ich verstehe dich. Und ich wünschte, auch ich könnte in der Natur all das sehen, was sie dir offenbart.«

Erstaunt musterte ihn der Wolfsmagier, doch ging er nicht direkt auf Darius' letzte Bemerkung ein. »Ich hatte vor, mit Solina dem Weg der Lachse ein Stück zu folgen. Sie hat noch nie einen Bären gesehen und zur Zeit der großen Fischzüge sind die Braunen gut zu beobachten und so satt, dass sie für uns ziemlich harmlos sind. Komm doch einfach mit uns und sieh es dir selbst an.«

Nun war es an dem Drachen, Erstaunen zu zeigen. »Du würdest wollen, dass ich euch beide bei diesem Abenteuer begleite?« fragte er überrascht nach.

Nashoba zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Du wärst nur ein paar Tage von Schuma fort und es ist wirklich ein spannendes Erlebnis. Außerdem wollte ich dir sowieso das eine oder andere von Ipioca zeigen und dem ›Schwimmer‹ eine Zeitlang zu folgen, wäre dafür ein guter Anfang.«

Darius lachte leise. »Du machst es mir wirklich einfach, mein Freund. Hast du mein Gespräch mit Archon belauscht, dass du so entgegenkommend bist?«

Irritiert runzelte Nashoba die Stirn. »Du weißt, dass ich nicht unerlaubt in deinen Gedanken stöbere, Darius!«, brummte er unwillig. »Es war nur ein Vorschlag. Aber wenn du nicht willst, musst du natürlich nicht mit mir in der Wildnis herumirren.«

Hier wurde er von Darius begütigend unterbrochen. »Natürlich werde ich mitkommen, wenn du mich einlädst. Es ist nur, dass Archon gerade vorhin angemahnt hat, dass wir uns nicht so sehr aus dem Weg gehen sollten wie bisher. Und nun kommst du und sprichst aus, worum ich dich bitten wollte. Ich wusste noch nicht einmal, wie ich das Thema anpacken könnte …«

Nashoba war schnell wieder der ruhige, überlegte Mann geworden, der er normalerweise war. Obwohl er seinen Freund gut kannte, ließ ihn dessen direkte Art manchmal zu schnell zornig reagieren. Dennoch mochte er den Drachen und nahm ihm sein Wesen nicht übel. Dazu waren sie viel zu eng befreundet und hatten zu viele Abenteuer miteinander geteilt. Dass Archon behauptete, sie gingen sich aus dem Weg, verwirrte auch den Wolfsersten.

»Was hat Archon nun schon wieder gesagt, dass es dich hierher treibt?«, verlangte er zu wissen.

Also schilderte Darius, was er von dem alten Elementemagier gehört hatte und auch, was dieser in Dakoros für sie hatte erreichen können.

Lange Zeit schwieg Nashoba dann zu dem Gehörten. Die Lachswanderung hatte seine Faszination für ihn verloren. Was Archon schlicht mit Unfug betitelt hatte, störte auch ihn. Dennoch sah er nicht, wie sie dieses Problem langfristig lösen konnten. Die Bedingungen der Dakoraner gefielen ihm noch weniger.

»Was also meinst du, könnten wir tun?«, forschte er nach.

Darius, dem es unerwartet angenehm war, hier mit Nashoba zu sitzen und sich zu beraten, beschloss, ehrlich zu sein. »Es wundert mich ja selbst, aber als ich vorhin darüber nachdachte, kam ich zu dem Entschluss, dich zu bitten, mich bis zum Frühjahr hier bei euch niederlassen zu dürfen.« Er lachte leise. »Ich mag es, abends an einem Feuer zu sitzen, eingehüllt in ein duftendes Fell, und euren Wildkräutertee zu trinken.« Als Nashoba bei diesen Worten die Stirn runzelte, beeilte er sich, fortzufahren. »Natürlich nur, wenn es dich nicht stört. Ich würde nur dein Gast sein, nichts anderes.«

»Darum geht es nicht!«, beschwichtigte ihn der Minági. »Du bist so oft und so lange in Tsiigehtchic willkommen, wie du möchtest. Und das weißt du!«  Nachdenklich fuhr sich Nashoba mit der Hand über das Gesicht. »Ich weiß nur nicht, wie ich deine Großzügigkeit erwidern kann. Einen Winter lang auf der Drachenburg zu leben, wäre für mich eine große Herausforderung.«

Darius nickte. »Das verstehe ich! Darüber musst du dir heute auch noch keine Gedanken machen. Wenn du mir erlaubst, mit euch hier zu leben, haben wir viel Zeit, um zu sehen, ob uns ein solches Zusammensein überhaupt gelingt. Planen können wir dann immer noch.«

Wieder schwiegen sie eine Weile, dann nahm Darius erneut das Gespräch auf. »Das andere ist dieser Sonnentanz. Ich habe keine Vorstellung, was Archon da überhaupt vorgeschlagen hat. Er meinte nur, du könntest es am besten erklären …«

Wieder brummte der Inokté ungehalten. »Ich verstehe überhaupt nicht, wie Archon auf so einen Gedanken kommen konnte. Einen Sonnentanz hat es seit Generationen nicht mehr gegeben und er hat auch nie richtig zu unseren Ritualen gehört.«

Erklärend sah der Minági seinen Freund an. »Er ist ein sehr heiliges Ritual. Darin irrt sich Archon nicht. Doch seine Wurzeln liegen nicht hier im Norden, sondern bei unseren menschlichen Völkern draußen auf dem Grasland. Sie beweisen damit Mut und Ausdauer und beschwören mit dem Tanz Gesundheit und Wohlstand für ihre Familien und Gruppen. Der Ritus selbst ist für die Tänzer kein Spaß.« Wieder musterte er Darius. »Und ich denke, du hast genug gelitten und geopfert, als dass du dich auch nur ein weiteres Mal durch Schmerz beweisen müsstest!«

Nashobas Zorn war deutlich spürbar und der Drache legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Noch habe ich ja auch nichts entschieden. Doch bevor ich das tue, muss ich wissen, was von mir verlangt wird.«

Nashoba brummte unwillig. »Du wirst uns wieder einmal für unzivilisierte Barbaren halten …«

Der Drache lachte und wedelte dabei ungeduldig mit der Hand. »Los jetzt, du Barbar! Erkläre mir eure Riten!«

Die ungezwungene Fröhlichkeit von Darius trotz des ernsten Themas ließ auch Nashoba entspannter werden und so machte er sich daran, seinem Freund ein weiteres Mal in die Sitten und Gebräuche der Inokté Einblick zu geben.

»Einen Sonnentanz veranstaltet man im Sommer, wenn die Sonne am höchsten steht«, begann er. »Auf dem Dorfplatz wird ein frischer Stamm aufgestellt, um den sich die Tänzer später bewegen. Doch bevor sie tanzen, müssen sie abgeschieden von der Gruppe drei Tage fasten und beten.«

Darius spürte, wie ungern Nashoba von diesem alten Brauch berichtete. Es schien dem Minági nicht zu gefallen, dass die Dakoraner gerade einen Inokté-Ritus forderten.

»Im Fasten bin ich inzwischen geübt«, spottete der Drache gutmütig, um die Situation ein wenig zu entspannen. Doch so einfach war das nicht. Nashoba ließ sich nicht aus seiner grimmigen Stimmung locken.

»Mag sein«, wiegelte er die Bemerkung des Drachen ab. »Aber erst danach beginnt das eigentliche Ritual.« Er hob den Kopf und blickte dem Freund nun offen in die Augen. »Ein Schamane weiht dann am frühen Morgen des vierten Tages die Tänzer, und bereitet ihre Körper für den Tanz vor.« Wieder schweig er einen Moment lang.

»Wie ...?«

»Nun denn, da du es unbedingt hören musst!« Grimmig schlug der Wolf mit der Rechten auf den Boden. »Er schneidet den Tänzern an zwei Stellen der Brust in die Haut und zieht eine Gerte durch das Fleisch. Damit bindet er sie an den Stamm. Einen Tag lang schauen die Männer in die Sonne und meditieren. Am Abend tanzen sie so lange zu den Trommeln und werfen sich gegen ihre Fessel, bis die Haut reißt und sie frei sind. Wer das durchsteht, hat damit einen Ehrenplatz innerhalb des Stammes inne.«

Beide Männer schwiegen lange und während Darius bereits abwog, ob er sich einem solchem öffentlichen Ritual gewachsen fühlen würde, empfand Nashoba dessen Schweigen als einen Beweis, wie archaisch er in Darius' Augen sein musste.

»Es ist Unsinn, was sich Archon da ausgedacht hat«, brummte er.

Der Drache sah auf und in seinem Blick lag eine ganz andere Botschaft, als sie der Minági erwartet hatte. »Die Menschen deines Stammes müssen ungeheuer mutig sein, wenn sie solche Rituale pflegen« offenbarte der Drache nun seine Gedanken. »Dennoch habe ich noch nicht alles verstanden. Vor allem scheinen immer mehrere Männer an dem Ritus teilzunehmen, oder?«

Nashoba nickte. »So ist es. Doch wenn du mehr über das Ritual erfahren willst, muss ich einen der Schamanen von den Ebenen herbitten. Es ist ihr Ritual und es steht mir nicht zu, es ohne ihr Einverständnis völlig zu offenbaren.«

»Es ist mehr als nur ein Blutopfer, nicht wahr?«, forschte Darius nach.

»Das, was du tun müsstest, habe ich dir genannt«, erläuterte Nashoba nun etwas weniger emotional. »Doch die Bedeutung des Ritus geht sehr tief. Wenn ein Mann wie du zum Sonnentänzer würde …« Einen Moment lang schwieg der Wolf nachdenklich. »Wenn du es also tun würdest, stünde dir ein Platz innerhalb des Stammes zu, ein Ehrenplatz. Doch du würdest dich auch mit jenen verbrüdern, die mit dir getanzt haben. Und du hättest Pflichten gegenüber dem Stamm …«

Noch einmal suchte der Wolfserste den Blick seines Freundes. »Du hast bei der Vertreibung genug erduldet, Darius. Mehr, als wir je verstehen können. Was auch immer die Dakoraner denken werden, du musst dich kein weiteres Mal sinnlos quälen!«

Der Drache erwiderte den Blick seines Freundes. »Es wäre nicht sinnlos! Es könnte vieles ändern! Das weißt du! Hol diesen Schamanen her. Wer weiß, ob er uns nicht einen guten Rat geben könnte? Und bis er hier ankommt, lass uns dem Weg des ›Schwimmers‹ folgen.«

 

Darius erzählt:

Als Nashoba mich einlud, mit Solinea und ihm gemeinsam ein kleines Abenteuer zu erleben, indem wir dem Weg der Lachse folgten und mit unserer Gefährtin deren erste Bären beobachteten, dachte ich nicht, dass diese wenigen Tage ausreichen könnten, um unser Zusammenleben von Grund auf zu ändern, doch so war es.

Der Minági entsprach meinem Wunsch und schickte einen Boten aus, um den führenden Schamanen der menschlichen Inokté aus den Grasebenen zu uns nach Tsiigehtchic zu bitten. Während er und Tahatan unsere Wanderung zu einer der Quellen des Eisenflusses in den Drachenbergen planten und die Grenzsicherung während dieser Zeit besprachen, führte mich mein Weg zu Onatah. Ihr fühlte ich mich seit damals, als sie bei uns auf der Burg zu Gast war, besonders verbunden. Und ich glaube, sie mochte mich ebenso. Vielleicht lag es daran, dass uns ihre Abstammung von den Dämonenkriegern besonders verband. Die alte Medizinfrau ließ mich fröhlich wissen, dass auch sie sich uns für eine Weile anschließen wolle. Ihre Kräutervorräte gingen zur Neige und dem wollte sie, nun da es Herbst wurde, vorbeugen.

So kam es, dass wir zwei Tage später zu viert aufbrachen. Ursprünglich hatte Nashoba wohl an Pferde gedacht, sich aber dann doch für ein meerestaugliches Kanu entschieden, wie er uns mit einem winzigen Grinsen am Tag vor der Abreise verriet.

Was sein Grinsen zu bedeuten hatte, verstand ich einen Abend später. Obwohl wir nicht den ganzen Tag gepaddelt waren, sondern immer wieder Pausen gemacht hatten, um den Zug der Lachse zu beobachten oder um den beiden Heilerinnen Zeit für ihre Kräutersuche zu lassen, lag mir die ungewohnte Anstrengung schwer in den Muskeln. Schultern und Nacken waren steif und ich fühlte mich erschöpft wie nach einem langen Flug. Außerdem hatte ich in meiner menschlichen Gestalt reisen müssen und nun war es eine Wohltat, am Ende des Tages die Verwandlung vollziehen zu können und endlich einmal die Flügel auszuschütteln.

Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, wie weit ich mich Solinea in Nashobas Anwesenheit nähern durfte, doch sie schien sich darüber keine Sorgen zu machen, denn sie trat fröhlich zu mir heran und strich mir liebkosend über die Schwingen. Es war diese Art selbstverständlicher Zuneigung, für die ich ihr alles gegeben hätte. Also ging ich das Risiko ein und zog sie in eine enge Umarmung. So wie immer kam sie mir zärtlich entgegen und als ich ihre Wärme fühlte und den Duft ihres Haares wahrnahm, erschien es mir richtig. Dann, als ich mich mit einem wohligen Seufzer von ihr löste, erklang ihr leises Lachen und ebenso selbstverständlich wie von mir wurde sie in eine zweite, ebenso feste Umarmung gezogen und sie genoss auch diese.

Und so blieb es. Mit einem unglaublichen Selbstverständnis schenkte Solinea ihre Zuneigung uns beiden. Vielleicht verstanden Nashoba und ich es nicht sofort, doch für sie schien es wirklich befreiend zu sein, uns beide um sich zu haben. In all den Wochen vorher hatte ich sie nie so glücklich, ja sogar übermütig erlebt wie in diesen Tagen am Fluss.

Ich beobachtete sie dabei, wie sie am nächsten Morgen nach dem Baden in unser Lager zurückkehrte und sich dabei lautlos an Nashoba anschlich, der mit geschlossenen Augen in der Sonne ruhte. Leise, wie auf der Pirsch, näherte sie sich ihrem nichts ahnenden Gefährten und bedeutete auch mir, still zu sein. Dann, als sie sich schließlich über ihn gebeugt hatte, schüttelte sie mit einem Lachen ihr tropfnasses Haar auf den erschrockenen Magier aus und trat danach sofort die Flucht an.

Einen Moment lang war ich über ihr Handeln entsetzt. Wie konnte sie einen Kriegsmagier auf diese Art überraschen? Was, wenn er sie aufgrund der Herausforderung angriff?

Doch sie kannte Nashoba gut. Dieser erkannte schnell, woher der unerwartete Regen gekommen war und mit einem typischen Inoktéschrei sprang er auf und jagte seiner Mitawin nach, die er auf der Sandbank am Fluss einholte. Beide rangen spielerisch im seichten Wasser miteinander, bis Nashoba sie wieder ans Ufer drängte und in den Sand warf. Einen Moment lang setzte sie sich noch gegen ihn zur Wehr, dann schlug die Stimmung um und ein weiteres Mal sah ich, was der Minági ihr bedeutete. Und auch er genoss die Nähe seiner Gefährtin sichtlich. Also schlug ich Onatah vor, ihr bei der Kräutersuche behilflich zu sein und wir ließen die beiden eine Weile allein.

Es war ungewohnt, etwas anderes zu tun, als zu kämpfen oder die Angelegenheiten Schumas zu beaufsichtigen. Sicherlich empfand auch Onatah die Situation als außergewöhnlich. Doch an jenem Morgen gab sie mir einen ersten Einblick in ihr Wissen, das sie in den folgenden Tagen immer weiter vor mir offenbarte. Ich würde vermutlich nie zu einem besonders guten Heiler werden, das ahnte ich schon damals, doch es machte mir Spaß, etwas Neues zu lernen und es erfüllte mich mit einem großen Respekt für die alte Schamanin, zu hören, wie viel Wissen hinter ihrer Tätigkeit steckte, die sie so selbstverständlich ausübte. In jener Zeit tat ich viel mehr, als nur dem Weg der Lachse zu folgen. Ich lernte eine neue Lebensart kennen und sie gefiel mir.

An diesem Tag kamen wir dem Gebirge deutlich näher und Nashoba erwartete, dass wir höchstens zwei weitere Tage bis zu den ersten Stromschnellen benötigten. Dort würden wir das Kanu zurücklassen und zu Fuß dem Fluss bis ins Reich der Grizzlybären folgen. Onatah, die den langen Fußmarsch scheute, würde im Lager am Boot auf unsere Rückkehr warten.

Doch bevor wir uns an jenem Abend zur Ruhe legten, bat mich Solinea, mit ihr noch einmal eine kurze Strecke zu fliegen. Sie wolle gern den Fluss von oben anschauen. Ein leichtes, wissendes Lächeln von Nashoba begleitete uns, als ich mich mit meiner Gefährtin im Arm in die Lüfte erhob und sie in die Höhen über dem Fluss trug. Eine Weile betrachteten wir still die ungebändigte, wilde Landschaft.

In vielen Windungen zog sich der Fluss weit in die Ebene hinein, um schließlich am Horizont ins Meer zu münden. Dort lag Tsiigehtchic und nun sah man erst, wie weit unser Weg schon gewesen war. Nach Osten hin erhoben sich die Drachenberge und weiter nördlich schimmerte das Grenzgebirge in der Abendsonne. Die Sonne spiegelte sich in den fernen Gletschern und die steilen Felswände hoben sich grau und rostbraun vom hellen Himmel ab. Schweigend bewunderten wir das unbeschreibliche Panorama unter uns.

Ein wenig östlich unseres Lagers gab es einen verhältnismäßig niedrigen Höhenzug, dessen Gipfel grasbewachsen und eher lieblich waren im Vergleich zu den Drachenbergen. Dorthin bat mich Solinea zu fliegen und wir fanden eine Klippe, auf der wir uns niederließen. Eine Zeitlang saßen wir Arm in Arm und blickten ins Land. Dann sank ihr schöner Kopf an meine Schulter. Ich ahnte, dass sie diese kleine Abgeschiedenheit ganz bewusst für uns gesucht hatte und es gab Wünsche, denen auch ich nicht widerstehen konnte.

Meine geliebte Solinacea! Niemals in all den Jahren, bevor ich sie kennenlernte, hatte ich mir vorgestellt, dass es mit einer geliebten Frau so sein konnte. Sie weckte Gefühle in mir, die ich vorher nicht gekannt hatte und gab mir gleichzeitig so viel Stärke, dass ich für sie ohne zu zögern alle meine dämonischen Instinkte vergaß und diesen Bund aus dreien zuließ, der eigentlich für ein Wesen wie mich undenkbar war.

Später am Abend, als wir ins Lager zurückkehrten, brannte bereits ein fröhliches kleines Lagerfeuer und Nashoba überwachte zwei Lachse, die über den züngelnden Flammen brieten. Onatah hatte ihrerseits mit Wurzelgemüse und Tee zu dem späten Mahl beigetragen und während mir der Gedanke an baldiges Essen und der Duft der bratenden Fische das Wasser in den Mund trieben, nahm ich mir vor, mich am kommenden Tag ebenfalls im Lachsfang zu versuchen.

Ich kann nicht genau sagen, ob es an diesem Abend war, als uns Nashoba die Legende des Schöpfers ›Alter Mann Kojote‹ erzählte oder an einem späteren. In meiner Erinnerung fließen diese wundervollen, friedlichen Tage ineinander und verbinden sich zu einer vollkommenen, träumerischen Einheit von Glück, wie sie uns in jenen Zeiten nur selten vergönnt war. Doch wann immer ich die Augen schließe und mir jene Zeit in den Sinn kommt, sehe ich meinen Freund im Schein der irrlichternden Flammen am Lagerfeuer sitzen, die Pfeife in der Hand und den Blick offen und zugänglich.

Dann mochte es sein, dass er einen Zug aus dem Chanunpa Wakan nahm, welches er bald darauf an mich weiterreichte. Wusste er doch, dass auch ich dem Genuss des starken Tabaks nicht abgeneigt war. Und er erzählte uns jenen Schöpfungsmythos, die mich mehr als alle anderen Inoktégeschichten berührte. Für Nashoba war die Erde heilig. Ihre Geschichte, die Tiere, die sie bevölkerten, die Berge, die weiten Ebenen, die Flüsse und auch die Inokté selbst hatten für ihn einen festen Platz in diesen Vorstellungen. Ja selbst den Bisons, Lachsen und den anderen Tieren, die von den Stämmen gejagt wurden, zollte er Respekt.

Damals erzählte er uns eine scheinbar völlig unwahrscheinliche Mythe über ›Alter Mann Kojote‹, den die Inokté vor Zeiten als ihren Schöpfer betrachtet hatten. Über viele Generationen war die Geschichte mündlich vom Vater auf den Sohn übergegangen und so hatte sie auch Nashobas Vater an seinen einzigen Nachkommen weitergegeben.

Alter Mann Kojote aber, der Erschaffer des Landes, hatte dieses aus Schlamm geformt, den ihm ein Bindentaucher aus den Tiefen des Urmeeres gebracht hatte. Und er bevölkerte das Land mit der ersten Frau, dem ersten Mann und einem Rudel Wölfe, indem er den letzten, schon trockenen Staub von seiner Hand blies. Er lehrte die Menschen, wie sie leben sollten und gab ihnen die Wolfsmagier an ihre Seite.

Dachte man aber genauer über die Überlieferung nach und ließ das Augenscheinliche einmal beiseite, so verriet diese Geschichte mehr als alle anderen Mythen, warum sich die Inokté so eng an ihr Land gebunden fühlten. Waren sie doch als ein Teil von ihm erschaffen worden.

Nashobas Geschichten stimmten mich immer wieder nachdenklich. Er war so tief in Ipioca verwurzelt und ich war nur ein Flüchtling aus einem fremden Land, in das ich vermutlich nie zurückkehren würde. Wehmütig dachte ich an die Jahrzehnte, die ich zusammen mit meinen Eltern und Dutzenden Dämonenkriegern sorglos in Smyrna verbracht hatte. So lang war das schon her! Auch, wenn ich zusammen mit den wenigen mir verbliebenen Freunden und Gefolgsmännern in Schuma ein neues Zuhause gefunden hatte, blieben doch die Erinnerung und die bittere Bilanz, damals, als es vielleicht noch möglich gewesen wäre, nicht rechtzeitig gehandelt zu haben.

Doch seine Weisheit verband Nashoba nicht nur mit dem Land und seinem Volk. Mein Bruder brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass mich diese Reise auf eine seltsame Art sentimental und traurig stimmte. Und als wir uns eines Abends allein beim Fischen befanden, sprach er mich darauf an.

»Deine Stille und heimliche Traurigkeit liegen nicht daran, dass du sie mit mir teilen musst, oder?« begann er. Der Minági betrachtete angelegentlich einen kurzen Speer, mit dem er auf Lachsjagd gehen wollte. »Solina ist so unbeschwert und glücklich dieser Tage, das kannst du unmöglich übersehen haben und da es dir auch gefallen muss, was ist es also, das dich quält?«

Ich erstarrte. War ich so gut zu durchschauen, dass mein Freund meine bedrückte Stimmung wahrnahm, obwohl ich mir alle Mühe gegeben hatte, sie vor meinen Gefährten zu verbergen? War ich so weich geworden, dass sich ein Inokté um mich Sorgen machte?

»Es ist nichts!« erwiderte ich ungehalten. Und: »Was vergangen ist, ist vergangen!« So sehr ich Nashoba mochte, widerstrebte es mir dennoch zutiefst, ihm Einblick in meine Gefühle zu geben.

Der Minági lachte. »Manchmal bist du genauso stur, wie ein echter Inokté, Darius«, gestand er. »Wenn ich dich nicht so lange schon kennen würde, müsste ich dir tatsächlich glauben …«

Ein offener, forschender Blick traf mich und ich senkte unter seiner Präsenz den Kopf.

»Doch ich werde dein ›Alles ist gut!‹ nicht akzeptieren. Irgendetwas stört dich an unserem Zusammensein und ich will wissen, was es ist.«

Nashoba blieb in seinem Drängen hartnäckig

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Die Urheberschaft von Idee und Text liegt bei der Autorin Sophie André.
Bildmaterialien: Cover, Fotografie und Bearbeitung: Sophie André , Karte der Vier Provinzen: eigener Entwurf - Kopie und Verbreitung nicht erwünscht
Cover: Alle Rechte liegen bei der Autorin. Eigenes Werk
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6265-4

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