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Für Tante G.

 

 

Es gibt Kleinigkeiten im Leben, die einen prägenden Eindruck hinterlassen. Manchmal sind es  Gesten, Handlungen, manchmal sind es Wörter und Sätze.

Während ich mich darauf vorbereite, ein paar Anekdoten zum Gedenken an meine vorgestern verstorbene 90-jährige Patentante zusammenzustellen, fällt mir ein, wie ich – viel jünger - zusammen mit D. vor dem Pfarrer saß und dieser den trauernden Ehemann neben mir fragte, was denn seine Gemahlin ausgemacht habe. Die Antwort darauf war wie ein kalter Guss: „Sie war sparsam und reinlich!“ Wie konnten diese beiden Eigenschaften das Leben einer 53-jährigen Frau ausmachen? Wie war ein Mensch auf solche Belanglosigkeiten reduzierbar?

 

Später begriff ich, dass es die Trauer und das Unvermögen waren, die Situation zu beherrschen, die D. diesen  Satz herausbringen lassen hatten. Er hätte ebenso „Sie war alles für mich!“ sagen können. C. war fort, sie würde ihn nie wieder anlachen, nie wieder verrückte Reisepläne mit ihm schmieden oder auch nur am Sonntagmorgen mit ihm im Bett Kaffee trinken. Es lag nicht an fehlenden Gefühlen, es lag an der Unmöglichkeit, sie in passende Worte zu kleiden.

 

Was aber sind die richtigen Worte, um einen geliebten Menschen auf dem letzten Weg zu begleiten? Sicher sind es für jeden andere. Doch wenn ich heute darüber nachdenke, was meine Patentante ausmachte, wie ich sie gesehen habe, so sind es die kleinen, alltäglichen Anekdoten, die mich durch meine Kindheit und Jugend begleitet haben.

 

Im Nachhinein war sie aus meiner Sicht immer nur die „Tante“ Gertrud, obwohl das, genaugenommen nicht einmal stimmte. Genaugenommen war es die Schwägerin meiner Oma, die damals mit meinen Eltern, meiner Oma und deren Schwester das winzige alte, niedrige Fachwerkhaus am Ende der Straße bewohnte. 

 

Für mich als Kind gab es keine Zeit  ohne Tante Gertrud, auch, wenn ich mich kaum daran erinnere, wie es gewesen war, jenes Häuschen zu bewohnen, weil meine Eltern nebenan eine Scheune ausbauten und wir dorthin umzogen, als ich vier Jahre alt war. Doch auf dem Weg nach Hause kamen wir immer an ihrem Häuschen vorbei und oft genug kehrten wir auch dort ein.  

 

In meiner Erinnerung ist eigentlich immer Sommer. Doch geht es uns nicht allen so, dass die Sommer unserer Kindheit endlos waren? Das kleine Häuschen aber mit den drei oder vier Steinstufen zur Haustür, mit der engen Wendeltreppe, die ich oft genug mit dem Po geputzt habe – sei es absichtlich beim runterrutschen oder beim Stolpern, weil ich es mal wieder zu eilig hatte, nach unten zu kommen, sieht in meiner Erinnerung sicher ganz anders aus, als es in Wahrheit war.  Für mich war das alte Bauernhaus mit seinem staubigen Dachboden, seinen niedrigen Decken und seiner Waschküche Abenteuer pur. Für die Bewohner mochte es weniger nett gewesen sein, stets den Kopf einziehen zu müssen, um durch eine Tür zu gehen, von den Fliegen auf dem „Plumpsklo“ und den nassen Wänden durch die Waschkessel gleich nebenan ganz zu schweigen. Und doch war meine Tante Gertrud fast immer fröhlich.

 

Es müssen viele Abende gewesen sein, in denen wir auf der grün gestrichenen Holzbank vor dem Haus saßen und unser Abendbrot aßen. Mit den bunten Lampions im Wildbirnenbaum, der eigentlich auf den treffenden Namen „Scheißhäuselbirnbaum“ hörte, weil man nach dem Naschen garantiert dorthin gehen musste, war es immer auch gleichzeitig eine Partie. Oft genug glaubten das auch die Nachbarn, die nicht so genau hinsahen und gar nicht mitbekamen, dass das Partiefood doch eigentlich nur aus vier Leberwurstschnitten und drei Radischen bestand. Der Frohsinn war es, der ihnen auffiel  und ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich jedem gefiel.

 

Doch meiner Tante Gertrud schien das wenig auszumachen. Als Kind erschien es mir auch ganz natürlich und selbstverständlich, dass sie das Leben zu genießen wusste. Da war es einfach nur lustig, wenn die Tante- war deren später angeschaffte kleine Waschmaschine mal wieder defekt - mit der Mutter im Keller saß, die Wäscherei beobachtete, Schlager sang und Roséwein trank, den sie höchst selbst mitgebracht hatte. 1 Flasche für vier Weiber – ein echter Schwips war da sicher nicht drin! Spaß gab es dennoch immer, wenn Tante Gertrud dabei war.

 

Heute denke ich, sie war eine Frau, die sich nicht unterkriegen ließ. Als Kind aus Schlesien vertrieben, ohne besondere Berufsausbildung, musste ihr der Neubeginn hier sicher schwergefallen sein. Dennoch war sie stolz auf ihren Beruf als Stepperin, empfand sie ihren eigenen Wert beim Herstellen der damals wertvollen Stickereideckchen und –decken. Dass ihr später eigene Kinder aufgrund einer Bauchhöhlentuberkulose versagt blieben und ihr Mann früh verstarb, lässt ihre Frohnatur heute noch viel wertvoller erscheinen. Manch einer wäre zum Miesepeter und Sauertopf geworden.

 

Ich glaube, auch ihren beiden alleinerziehenden Schwägerinnen war sie eine starke Stütze in allen Lebenslagen. Sie war meiner Mutter eine sehr gute Freundin und Vertraute, wenn es galt, Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden. Sie war eine zuverlässige helfende Hand, nicht nur gut beim Geben von Ratschlägen, sondern auch mit handfesten Taten im täglichen Leben. Und auch da blieb ihr der Spaß am Leben erhalten, sei es, dass sie mit uns Kindern beim Heumachen in den großen Heutüchern den Hang herab rutschte oder tatkräftig mithalf, als in einem Jahr der Pilzschwemme, am Abend plötzlich zwei Wäschekörbe voll Hallimasch auf dem Tisch standen. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, hätte vielleicht eine Devise von ihr sein können. Vielleicht hätte sie, so oft, wie sie vom Leben Zitronen erhalten hat, aber auch nach Salz und Tequila gefragt,  wäre ihr denn dieses Mixgetränk bekannt gewesen.

 

Gefragt habe ich sie nie, welche Grundsätze sie im Leben verfolgte. Doch vielleicht war das auch gar nicht nötig? War es nicht offensichtlich, dass sie ihr Leben so gut es ging genoss? Dass sie die Zuneigung genoss, die man ihr entgegenbrachte und die sie nach Kräften erwiderte? Was spielte es da für eine Rolle, wenn mal wieder der Schimmelpilz hinter dem  Küchenschrank wuchs oder es durch das Doppelfenster zog? Wichtig war viel eher, dass Minka abends rechtzeitig heim kam – und vielleicht hießen alle ihre Katzen so und waren weiß-bunt getigert? Wichtig war, dass die Familie zusammenhielt. Wichtig war, dass alle zurechtkamen.

 

90 Jahre sind eine sehr sehr lange Zeit und nicht in ein paar Wörtern aufzuschreiben. Aber vielleicht braucht sie diese Wörter dort auch gar nicht, wo sie nun hingegangen ist? Vielleicht – und bei dem Gedanken wird es mir warm ums Herz – hat sie dort ihre Lieblingsnichte längst wiedergetroffen – M., meine Mutti. Und wenn das so ist, da bin ich mir ganz sicher, hat diese sie ganz bestimmt mit einem Gläschen Roséwein empfangen. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Und wenn der Tag des Abschieds sich wie der Biss in eine Zitrone anfühlt, dann, zum Donnerwetter nochmal, her mit dem Tequila, her mit dem Salz!

 

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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Bildmaterialien: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2016

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