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Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt all jenen Menschen, die zum Entstehen meiner Geschichte beigetragen haben – natürlich meiner Familie und ganz besonders meinen beiden Kindern, ohne die es Darius, den Drachen, nie gegeben hätte, allen treuen Lesern und Kritikern der Bookrixcommunity und ganz besonders Katrin B. und Divina Michaelis für ihre kreativen und hilfreichen Korrekturen.
Ein besonderes »Gratias ago!« sei den Königen der Spielleute gewidmet, Corvus Corax, für deren wundervolle, unnachahmliche Musik, die mir Anregung und Inspiration beim Schreiben war.
Ein großes Dankeschön euch allen und nun viel Spaß beim Lesen der ›Magier von Art-Arien‹!
Sophie André
Eine großformatige Darstellung der Karte und weitere Skizzen zum Buch finden Sie auf meiner Homepage unter
http://www.sophie-andrae.de/intro.html
Der Fund:
Über der Steilküste von Ipioca lagen schwere Nebelbänke, die die Morgenluft zu einem Netz aus feinsten Wassertröpfchen verdichtete. Schweigen ruhte auf dem Land der Inokté, das nur von den vereinzelten Rufen der Sturmmöwen unterbrochen wurde, die durch die weißen Schwaden seltsam gedämpft klangen. Pflanze und Tier warteten auf die Herbstsonne, die dem morgendlichen Spuk ein Ende bereiten würde.
Plötzlich durchbrach ein dumpfer Misston die Stille. Scharrend und kratzend bohrte sich der Bug eines kleinen, hölzernen Küstenfahrzeugs in den Sand. Ein Segel flatterte im Wind. Und auch nachdem das Schiffchen zum Stillstand gekommen war, ließ sich weiterhin das sanfte Klatschen der Leinwand gegen den Mastbaum vernehmen. Dann flaute der Wind ab und erneute Stille breitete sich über dem Strand aus.
Fünfzig Lachter südlicher unterbrach Nashoba seinen morgendlichen Lauf am höchsten Punkt über den Klippen und ließ sich in Erwartung des Sonnenaufgangs nahe der Abbruchkante nieder. Die Tage im Dorf ließen ihm wenig Zeit zu meditieren und nachzudenken. Daher waren die frühen Morgenstunden, wenn der Tag gerade erwachte und der Tau noch auf dem Gras lag, für ihn die besten, um seine Gedanken zu ordnen. Alle Wesen seines Stammes, egal ob Mensch oder Magier, waren in ihren Entscheidungen frei und unabhängig. Dennoch hatte Nashoba reichlich Stoff zum Nachdenken, denn seine Ansichten waren im Rat von großem Gewicht. Er war der Minági.
Er blickte auf die treibenden Nebelfelder, in deren Tropfen sich die aufgehende Sonne spiegelte, und genoss die Ankunft des neuen Tages. Dabei schob er die langen schwarzen Haare aus der Stirn und strich sich über das Gesicht.
In letzter Zeit war das Leben der Inokté ruhig und friedlich dahingeflossen. In den Grenzregionen von Ipioca war es unerwartet still geblieben. Übertritte der Chromnianer waren selten und auffällig ziellos gewesen.
Als Anführer der magischen Grenzwächter kannte Nashoba seine Gegner gut und wusste, dass sie nichts Unüberlegtes taten. In all den Jahrzehnten, die er schon an der Grenze verbracht hatte, war es keinem der Art-Arianer gelungen, ihren Nachbarn mehr als einen flüchtigen Waffenstillstand abzuringen. Zu verlockend musste den Chromnianern die Aussicht auf mehr Land, mehr Bodenschätze und mehr Sklaven erscheinen, um der gegnerischen magischen Allianz eine Pause zu gönnen. Noch hielt der magische Wall den Übergriffen stand. Dennoch war der Minági von der neuen Entwicklung beunruhigt.
Nashoba stand auf und streckte sich. Die Wolfskrieger waren große Männer mit vollendetem Körperbau. Doch selbst unter ihnen fiel er durch seine schier unbezwingbare Kraft und Energie auf. Selbst in Wolfsgestalt war er den anderen an Ausdauer und Zielstrebigkeit überlegen. Er war der perfekte Anführer, so wie es der Leitwolf der Rudel auch sein sollte. In ihm vereinten sich beide – der erste Wolfsmagier und der Erste der menschlichen Stämme.
Während sich die Nebel langsam in der stärker werdenden Morgensonne auflösten, blickte Nashoba aufmerksam nach Westen. Er hatte das Gefühl, dass etwas Fremdes, Unbekanntes den morgendlichen Frieden der Landschaft störte, doch er konnte die Ursache dafür noch nicht sicher ausmachen.
Die Wolfskrieger waren in der Lage, andere Magier an ihrer mentalen Präsenz zu erahnen, sie zu spüren und die Kräfte einzuschätzen, mit denen sich diese Geschöpfe umgaben. Die Botschaft, die nun auf Nashoba einflutete, war jedoch flüchtiger und undeutlicher, wie ein Hauch, der nur leicht die Wellen kräuselte und dennoch für ein Gespür wie das des Minágis eindeutig ein magiebegabtes Wesen ankündigte.
Nashoba blickte konzentriert über das Meer und den Strand. Das Boot, das zu seinen Füßen in den Wellen schaukelte, wäre ihm trotz des Nebels nicht entgangen. Das Segel flatterte noch träge in der Brise, während sich der Bug des leichten Holzschiffes bereits in den Sand des Strandes gebohrt hatte. Die Aura, die ihm zugetragen wurde, flackerte und drohte aus seinen Sinnen zu verschwinden. Neben dem Mast sah er eine weiß gekleidete Gestalt am Boden liegen. Hier war ein Boot gestrandet, das eine seltsame Botschaft ausstrahlte.
Der Minági hatte schon viele Tricks der Chromnianer erlebt und war in allem, was er unternahm, vorsichtig. Ohne ein unnötiges Geräusch zu verursachen, überwand er den schmalen Felsenpfad, der ihn an den Strand brachte. Die Gestalt in dem Boot regte sich nicht. Nashoba spürte nach wie vor nur ein leichtes Flackern der ihm unbekannten Aura. Er schloss daraus, dass das magische Wesen im Boot entkräftet sein müsse oder anderweitig stark geschwächt. Um dieses Rätsel zu lösen, näherte er sich dem ungewöhnlichen Strandgut. Es war ein kleines Küstenfahrzeug für den Transport weniger Menschen oder Güter zu den vorgelagerten Inseln der Steilküste. Boote wie diese wurden gern von den Bewohnern der Inseln weiter im Süden benutzt. Das Volk der Wolfskrieger verfügte über wesentlich robustere Kanus und würde sich kaum einer Nussschale wie dieser anvertrauen.
Nashoba trat an den Bug des Schiffchens und blickte aufmerksam in dessen Inneres. Hier lagen hunderte sorgfältig verpackte Pflanzenpäckchen – Setzlinge, wie er vermutete – und einige wachsversiegelte Truhen, wie sie zum Transport von Wertgegenständen genutzt wurden, die nicht wasserbeständig waren. Das alles umfing der Blick des Minági abschätzend, bevor seine Sinne sich der reglosen Gestalt zuwendeten, die neben dem Mast zusammengesunken war.
Unwillkürlich hielt der Wolfskrieger den Atem an. Beinahe zu seinen Füßen ruhte eine junge Frau im weißen, fließenden Kleid einer Heilerin der Inseln. Das Gesicht war von Strapazen und Belastung gezeichnet. Ihr Atem ging langsam und der Herzschlag, den er mit seinen geschärften Sinnen deutlich wahrnahm, pulsierte schnell und unregelmäßig. Dennoch war die Heilerin von einer Schönheit, der sich selbst Nashoba nicht entziehen konnte.
Trotzdem löste er bald seinen Blick von der Frau, die ganz offensichtlich seine Hilfe benötigte. Der Minági ergriff das Boot am Bug und zog es weiter auf den Strand hinauf. Dann schwang er sich über den seitlichen Rumpf und näherte sich der Heilerin, die auf die Bewegungen des Bootes nicht reagiert hatte. Er beugte sich zu ihr hinunter und strich ihr vorsichtig das lange, fast weißblonde Haar aus dem Gesicht. Dabei beobachtete er eine matte Bewegung ihrer Hand.
Nashoba zögerte. Er versuchte sich klarzuwerden, welchen Weg er jetzt einschlagen sollte. In seinem Dorf Tsiigehtchic hatte er zwar die besten Möglichkeiten, sie zu pflegen und, falls nötig, zu behandeln. Andererseits ließe sich dort ihre Präsenz kaum verbergen und er wusste nicht, aus welchem Grund sie sich allein auf das Meer gewagt hatte. Die Setzlinge und Truhen ließen an eine Wanderschaft denken und Nashoba befürchtete, die Aufmerksamkeit der Chromnianer auf die Heilerin zu lenken, wenn er sie im Dorf dem Interesse seines Stammes aussetzte.
Die Dunkelmagier nahmen die Schwingungen jeglicher Magierpräsenz ebenso wahr wie die Wolfsmagier oder die Dämonenkrieger. Anders jedoch als diese magischen Spezies verfügten die Heiler nicht über eine Fähigkeit, mit der sie ihre Aura verbergen oder zumindest ein wenig verschleiern konnten. Wenn sie Tarnung benötigten, waren sie auf magische Hilfsmittel wie Amulette oder Körpersiegel angewiesen und weder das eine noch das andere schien die junge Frau im Boot zu besitzen. Wenn er die Heilerin an einen entfernteren Ort bringen könnte, ließe sich ihre Präsenz mit Hilfe der Wolfsmagie sicherer verbergen. Nashoba bezweifelte, dass sie in ihrem Zustand für seine Feinde erkennbar sein würde. War sie aber erst wieder zu Kräften gekommen, musste ihre Aura wie eine helle Flamme um sie spürbar sein.
Der Minági war schon früher mit Heilerinnen von Dakoros zusammengekommen und bei jeder dieser Frauen war ihm die strahlende, fast greifbare Energie ihrer magischen Präsenz aufgefallen und hatte ihn beeindruckt. Die Magie der Heilerinnen war zutiefst friedvoll, aber an ihrer Aura ließ sich eine wesentlich stärkere Macht erahnen, die sie bisher jedoch niemals preisgegeben hatten. Bislang waren ihre Heilstätten auf Dakoros und an der Küste die sichersten Orte in Art-Arien. Niemand wagte es, dort einen Streit vom Zaun zu brechen oder gar in kriegerischer Absicht zu erscheinen.
Zu Beginn der magischen Allianz fanden alle Treffen der Magier auf Dakoros statt. Die Insel wurde von ihnen allen als neutrale Stätte des Friedens akzeptiert. Dann, als sich die Auseinandersetzungen mit Chromnos, der von den Dunkelmagiern beanspruchten Provinz, immer mehr zuspitzten, entschlossen sich die verbündeten Magier des Festlandes, ihre Grenzen zu schließen und die kriegerische Herausforderung des Gegners anzunehmen. Damals wandten sich die Dakoraner gegen ihre Verbündeten und mit Hinweis auf die Friedfertigkeit ihrer Magie zogen sie sich auf die Inseln zurück. Für diesen Schritt waren sie sogar bereit gewesen, jene Gruppe von Heilerinnen zurückzulassen, die sich vor vielen Jahrhunderten in Chromnos niedergelassen hatte, aber dennoch als heilkräftige Schwesternschaft den Dakoranern in nichts nachstand. Dass nun eine Magierin der Inseln an der Küste Ipiocas strandete, war mehr als ungewöhnlich. Es war geradezu unmöglich.
Nashoba entschied sich für jene Lösung, die der Sicherheit seines Volkes gemäßer erschien. Er trat entschlossen aus dem Boot zurück an den Strand und entfernte sich einige Meter aus dem Sichtwinkel der Heilerin. Auch wenn er glaubte, dass sie zu geschwächt sein würde, um ihn zu beobachten, wollte er kein Risiko eingehen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die magische Handlung und senkte seinen Kopf, um sich zu konzentrieren. Schon nach wenigen Augenblicken spürte er den Kontakt zu seinen magischen Brüdern. Er rief Tahatan an, seinen engsten Vertrauten und bat ihn, sich auf den Weg zu ihm zu machen. Kurz schilderte er seinen unerwarteten Fund und seine nächsten Ziele.
In Zeiten des Friedens erteilte Nashoba nur selten Befehle und erlaubte es sich auch in diesem Fall nur zu bitten. Doch Tahatan kam den Wünschen des Minági dennoch sofort nach. Er verließ Zelt und Herde des Sommerlagers und machte sich auf den Weg zu seinem besten Freund und Anführer.
Aber Nashoba benötigte mehr als nur eine helfende Hand. Er wandte sich wieder seinen mentalen Kräften zu und suchte Kontakt zu Onatah, der alten, geschätzten Heilerin seines Stammes. Ihre Präsenz war schwerer auszumachen, da sie unter den Wolfsmagiern eine Ausnahme darstellte. In ihr verbanden sich die Kräfte der Wolfsmagie mit der der Dämonenkrieger und der Schwertmeister. Sie war ein Kind zweier Magier mit verschiedenen Kräften und lebte schon seit Jahrhunderten als mächtige Medizinfrau und enge Beraterin des Minágis bei den Inokté. Nashoba wusste, dass das Alter für Onatah eine Belastung war. Aber er zweifelte nicht, dass auch sie seinem Ruf nachkommen würde. Und natürlich irrte er sich nicht. Zielstrebig fuhr er nun fort, seinen Plan umzusetzen.
Während Tahatan und Onatah sich zu dem gewünschten Treffpunkt aufmachten, hüllte sich Nashoba in seine eigene schützende Aura und hob die Heilerin aus dem gestrandeten Boot. Schnellen Fußes erklomm er die Steilküste und machte sich mit seiner Last auf den Weg ins Landesinnere. Hier gab es ein Jagdlager, das er mit seinen Gefährten während der Sommermonate oft aufgesucht hatte.
Nun, im letzten Sonnenlicht des Herbstes war es zwar verlassen, jedoch mit all dem ausgerüstet, was sie für die nächsten Tage und vielleicht Wochen zum Überleben benötigten. Onatah würde ihre Heilkräuter und Medizinbündel bei sich tragen und zusammen mit Tahatan wäre es sicher ein Leichtes, die Sicherung der Grenzen voranzutreiben und gleichzeitig für Sicherheit und Nahrung im Lager zu sorgen.
Nashoba lief zügig, bis er die erste Quelle auf seinem Weg erreichte. Hier machte er Halt und bettete die Heilerin in das von der Sonne erwärmte Moos. Er schöpfte Wasser und rieb es auf Wangen und Stirn der erschöpften Frau. Im Stillen bewunderte er die Ebenmäßigkeit und Schönheit der hellen Gesichtszüge. Versunken berührte er das blonde, glatte Haar, das der Heilerin bis zu den Hüften reichte. Nach einiger Zeit zeigte die erfrischende Wirkung des Wassers Erfolg und die junge Frau erwachte. Leuchtend blaue Augen schauten Nashoba an, ein Blick, in dem er sich leicht verlieren könnte. Dessen wurde er sich bald bewusst.
Er hielt ihr vorsichtig den frisch gefüllten Wasserschlauch an die Lippen und betrachtete sie, während sie langsam Schluck für Schluck trank. Sie schien ohne Angst zu sein. Doch sie sprach nicht, sondern fiel schnell wieder in einen tiefen Schlaf. Offenbar träumte sie, denn er hörte sie unverständliche Laute und einzelne Worte murmeln. Nachdem er sich selbst ebenfalls erfrischt hatte, nahm Nashoba seine Last wieder auf und folgte dem Weg zum Sommerlager. Lange Zeit lief er durch die herbstbunten Laubwälder. Die Landschaft wandelte sich zunehmend von üppigem, feuchtem Küstenwald hin zur eher trockenen Taiga des Innlandes. Nashoba genoss die Sonne auf seinem Nacken. Während seines Laufs blieb ihm viel Zeit, Gesicht und Wesen der Frau in seinen Armen zu studieren. Er erinnerte sich an den tiefblauen Blick und roch den Duft ihres langen Haares, dessen Farbe ihn an bleiche Späne eines hellen Holzes erinnerte. Noch war es dem Minági nicht bewusst, aber die Schönheit der Heilerin begann, eine sanfte Anziehung auf ihn auszuüben.
Aus verschiedenen Richtungen trafen sie im späten Nachmittagslicht des Herbsttages im Jagdlager ein. Die Sonne brach sich in den gelben Blättern der Birken, die die Gebirgshänge Ipiocas bedeckten. Hier und da schimmerten Pilze durch das Laub. Der Herbst war golden und wie geschaffen für einen Aufenthalt in der Abgeschiedenheit der bergigen Wildnis.
Als Nashoba auf die Lichtung trat, kam ihm Tahatan bereits entgegen. Er hatte ein Tipi aufgeschlagen und ein Feuer entzündet. Weißer Rauch kräuselte sich über den Zeltstangen. Zwei Pferde grasten am Rand der Wiese und ein Travois wartete neben dem Zelt.
Die beiden Inoktékrieger traten aufeinander zu und begrüßten sich. Wie Nashoba gehörte auch Tahatan zu den größten und stärksten Männern seines Stammes. Er war kaum eine halbe Handbreite kleiner als der Minági. Während sein Gesicht einen wachen Verstand offenbarte, verriet ein Blick auf seinen Körper, dass er wie sein Freund und Anführer über unerschöpfliche Kräfte verfügen konnte.
Tahatan nahm Nashoba die Last aus den Armen. Der Minági streckte sich nach dem langen Lauf, bis seine Schultern in den Gelenken knackten. Dann warf er einen weiteren langen Blick auf die fremde Frau, die nun von seinem Freund gehalten wurde. Ein schmales Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Einen solchen Fund habe ich an unserer Küste noch nie gemacht«, begann er. »Wer hätte gedacht, dass eines Tages an unseren Ufern ein Boot von Dakoros stranden würde?«
Der von ihm Angesprochene nickte. »Eine seltsame Sache …« Er zögerte. »Und ein ziemliches Risiko für eine Frau, sich allein auf das Meer hinauszuwagen. Ob sie die Strömungen nicht kannte?« Nachdenklich betrachtete er das Wesen in seinen Armen.
»Ich bin dir wirklich dankbar, dass du so schnell gekommen bist, Tahatan.« Nashoba folgte dem jüngeren Inokté, der sich inzwischen dem Tipi zugewandt hatte. »Es wäre schwierig geworden, sie hier aufzunehmen, wenn ihr – Onatah und du – mir nicht dabei helfen würdet.«
Tahatan nickte. »Schon gut! Es schützt uns schließlich alle, wenn du jemanden wie sie nicht sofort ins Dorf bringst.« Der Wolfskrieger runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich kann nicht verstehen, wie sie an unsere Küste gelangen konnte.« Er machte eine zögernde Pause. »Selbst, wenn man noch so ungewöhnliche Strömungen und Windverhältnisse voraussetzt, hätte sie niemals so weit nach Norden gelangen dürfen.«
Nashoba nickte. »Es sei denn, sie wollte es so … Doch lass sie uns erst einmal hineinbringen. Dann können wir immer noch reden.«
Tahatan trug die junge Frau ins Tipi und bettete sie auf einige Felle und Decken, die er dort ausgebreitet hatte. Nashoba griff sich einen Wasserschlauch und nahm einen ausgiebigen Schluck. Dann wandte er sich an seinen Freund, der ihn erwartungsvoll anblickte und berichtete, was er seit dem frühen Morgen erlebt hatte. Tahatan runzelte die Stirn und dachte über das Gehörte nach. Auch wenn Nashoba nicht alles ausgesprochen hatte, was er dachte oder vermutete, so war es Tahatan klar, dass sein Freund Probleme voraussah und er sich für diesen abgelegenen Ort entschieden hatte, um den Stamm zu schützen.
»Nun, es war bestimmt vernünftig, sie hierher zu bringen. Wenn sie wieder zu Kräften kommt, wird ihre Aura hier leichter zu verbergen sein. Das würde uns gerade noch fehlen, dass die Chromnianer sie entdecken und uns angreifen, um sie in die Hände zu bekommen. Es hat mich schon immer erstaunt, dass sich die Heiler noch nie die Mühe gemacht haben herauszufinden, wie sie ihre Aura vernünftig verbergen können.«
Nashoba lächelte und nickte zustimmend. »Ja wirklich! Das ist mir auch unverständlich. Aber vielleicht sind ihre Kräfte von unseren ja so verschieden, dass sie es gar nicht können? Das Sommerlager können wir jedenfalls noch einige Wochen benutzen, bevor der Wintereinbruch kommt. Bis dahin werden wir eine Lösung gefunden haben. Vielleicht wird sie auch bald weiterziehen. In ihrem Boot waren Dinge, die nach einer Wanderung oder einer Flucht aussahen – wertvolle Dinge.«
Er sah Tahatan auffordernd an. »Und auch deshalb habe ich dich um Hilfe gebeten. Es sind einige hundert Setzlinge in dem Boot und wasserdichte Truhen. Das alles sollten wir bergen und die Pflanzen am besten zu Utina bringen. Sie wird uns nicht bedrängen, etwas über deren Herkunft zu erfahren, wenn wir nicht darüber sprechen wollen. Und sie hat die meiste Erfahrung mit exotischen Pflanzen und wird wissen, welcher Pflege die Setzlinge bedürfen.«
Es war eine Besonderheit der Inokté, dass sie noch immer wie vor vielen Hunderten von Jahren lebten und alle Neuerungen, die ihr wildes, ungebändigtes Land schädigen konnten, nachdrücklich von sich wiesen. Nur wenige Ausnahmen ließen sie gelten. So waren ihre Schamaninnen zum Beispiel bereit, Heilkräuter der anderen Provinzen zu nutzen und anzubauen.
Tahatan und Nashoba entzündeten vor dem Zelt ein kleines Feuer, an dem sie sich niederließen. Für eine Weile sprach keiner von beiden. Jeder ging seinen Gedanken nach und versuchte einen Blick in die Zukunft zu erhaschen.
»Wir werden die Grenzen intensiver sichern müssen«, sagte Tahatan schließlich in die Stille hinein.
Nashoba stimmte seinem Freund sofort zu. »Ja. Daran habe ich auch schon gedacht. Es ist in letzter Zeit viel zu ruhig. Als ob sie etwas Größeres planten … heute Morgen dachte ich daran, mit Archon zu sprechen …«
Tahatan hob erstaunt die Augenbrauen. »Diese ungewöhnliche Friedlichkeit stört dich also auch …« Er strich sich über einen seiner rabenschwarzen Zöpfe. »Es ist viel zu ruhig an den Pässen für diese Jahreszeit. Ich werde mit den Wächtern Kontakt aufnehmen. Chaska ist im Moment mit seinem Rudel am Pass der jammernden Winde. Wir werden ihm noch ein paar Männer schicken und seine Position auch im Hinterland durch mehr Waldgänger verstärken. Dann sollte uns nichts entgehen. Ich werde zu ihm aufbrechen, sobald wir das Boot geborgen haben.«
Die Krieger ließen sich am Feuer nieder. Während die Heilerin im Tipi ihrer Genesung entgegen schlief, planten die beiden Männer ihre Unternehmungen für die kommenden Tage. Sie waren tief in ihre Beratung versunken, als Onatah mit ihren Packpferden die Lichtung betrat. Sie stieß einen hellen Eulenruf aus, mit dem sie sich vor den Kriegern zu erkennen gab. Dann brach sie in ein Gelächter aus.
»Na, das ist ja kaum zu fassen, da habe ich meine Söhne beide zusammen und immer noch ist keiner von euch in der Lage, mich rechtzeitig ankommen zu hören.«
Es war ein Scherz, den sie sich hin und wieder gestatteten. Alle drei wussten, dass die Wölfe Onatah nicht wahrnehmen konnten, wenn sie es nicht wollte und Onatah wandte bei jeder Ankunft gezielt ihre Magie an, damit das auch so blieb.
»Wir hätten dich gehört, wenn du nicht wie eine Eule geflogen wärst«, grinste Tahatan und eilte auf die alte Medizinfrau zu, um sie sogleich in die Arme zu schließen. »Knorrig wie ein Baum und duftend wie eine ganze Kräuterhütte, Onatah, daran würde ich dich schon auf Meilen erkennen.«
»Genau, und wenn wir sie nicht daran erkennen könnten, dann würde sie sich uns spätestens durch ihre spitze Zunge verraten«, meinte nun auch Nashoba lachend und Onatah wurde von einem Krieger zum nächsten weitergereicht.
Sie waren Freunde, Weggefährten, Seelenverwandte auf ihrem Lebensweg und jedes Treffen genossen sie, als wären sie eine Familie, wobei sich Onatah ihnen wie eine Mutter verbunden fühlte. Dem hohen Alter nach konnte sie es auch sein.
»Nun, was lockst du mich kurz vor Beginn des Winters noch einmal in diese Einöde, Nashoba? Willst du auf Bärenjagd gehen und hast keinen Jagdzauber mehr?«, scherzte die Alte.
»Wenn es nur das wäre …«. Nashoba schüttelte den Kopf, nun plötzlich wieder ernst geworden. »Am Strand unterhalb der Klippen ist ein Boot gestrandet, das vermutlich von Dakoros kam. Jedenfalls war eine ihrer Heilerinnen an Bord, halb verdurstet und mit fast erloschener Aura. Ich wollte sie nicht ins Dorf bringen. Das kam mir nicht sicher genug vor. Deshalb haben wir sie jetzt hier und ich möchte dich bitten, deine Heilkunst für sie einzusetzen.«
Nashoba wandte seinen offenen Blick Onatah zu. »Du weißt, dass wir immer viel Unterstützung von den Dakoranern bekommen haben. Das sind wir ihnen schuldig.«
»Natürlich, Nashoba, natürlich«, pflichtete Onatah ihm bei. »Ich werde mich sogleich ans Werk machen. Bringt mein Medizinbündel hinein und versorgt uns mit genügend Wasser. Dann schlagt bitte auch mein Tipi auf, damit wir ausreichend Platz haben und kümmert euch um die Ponys.«
Tahatan lachte. »Was für eine Rede! Du bist immer noch ganz die Alte, nur keine Zeit verschwenden und an alle Aufgaben verteilen. Aber du sollst zufrieden sein.«
Mit diesen Worten nahm er das erste Bündel vom Pferd und ging voran, um die Schamanin ins Tipi zu geleiten. Onatah schob das Leder zurück, das den Eingang des Zeltes verschloss und warf einen Blick in das Innere.
»Gut, gut. Damit kann ich erst einmal zurechtkommen. Bringt alles hier herein und dann macht, dass ihr mich in Ruhe lasst. Dies hier ist eine Frauensache!«
Tahatan stöhnte gespielt auf, aber er grinste, als er nickte. Onatah mochte ruppig und respektlos erscheinen, doch er kannte keine bessere Medizinfrau als sie und seit Jahrzehnten hatte sie ihnen zuverlässig bei ihrem Kampf gegen das Dunkle von jenseits der Grenzen geholfen. Hätte er jemals den Wunsch gehabt, sich seine längst verstorbene Mutter gealtert vorzustellen, hätte sie wohl so wie Onatah ausgesehen.
Während diese die Heilerin versorgte, richteten Nashoba und Tahatan das Lager ein. Sie bauten das Tipi der alten Medizinfrau auf, was eigentlich eine Frauenarbeit gewesen wäre. Aber da die Schamanin nicht mehr stark genug war und mit anderen Aufgaben beschäftigt, taten sie es ohne einen Kommentar. Sie brachten die Ponys zur Tränke an den nahen Bach und dann in den Korral und sorgten für Futter. Zuletzt dachten sie auch an ihr eigenes leibliches Wohl. Tahatan ging auf die Jagd.
Nashoba blieb nahe beim Lager. Er beschloss, den Brennholzvorrat aufzustocken. Die Lichtung konnte er nur begrenzt verlassen, weil er die Schutzaura weiter aufrechterhalten wollte, mit der er die Heilerin von Dakoros umgeben hatte.
Holz zu sammeln war keine Arbeit, die einem Krieger viel Konzentration abverlangte und so hatte Nashoba reichlich Zeit, um sich Gedanken über den fast vergangenen Tag zu machen.
Die Dakoranerin hatte auf ihn eine seltsame Faszination ausgeübt, obwohl sie so geschwächt war, dass sie nicht einmal mit ihm sprechen konnte. Dennoch spürte er die Ausstrahlung ihrer sanften Aura und die Anziehung ihrer Weiblichkeit. Wie die meisten Magier hatte auch Nashoba die längste Zeit seines Lebens allein verbracht. Es war eine notwendige Sache, die die Geheimnisse der Magie schützte und das Alleinsein wurde zur Gewohnheit, wenn man sehr viel länger lebte als alle Normalsterblichen und die Generationen der Menschen schneller alterten als man selbst.
Noch zu Lebzeiten seiner Eltern wäre es für einen Wolfskrieger selbstverständlich gewesen, eine magische Gefährtin zu finden, doch mit den Jahrzehnten des Krieges war die Zahl der magiebegabten Frauen immer geringer geworden. Viele waren von den Dunkelmagiern in den ersten Jahren des Krieges verschleppt worden und später, als die Allianz die Grenzen zuverlässiger hatte schließen können, waren die Frauen an der Seite der Krieger in den Kampf gezogen – ein Fehler, der nicht wiedergutzumachen war.
Nashoba wusste, dass sich manche Magier, vor allem die Elementezauberer, mit Frauen von Dakoros verbunden hatten. Für sich selbst hatte er das nie in Erwägung gezogen, dazu schien ihm sein Leben an der Grenze viel zu ruhelos und zu gefährlich. Natürlich hatte auch er kurzzeitige Partnerinnen unter den menschlichen Frauen gehabt, aber er hatte sich nie niedergelassen oder gar eine Familie gegründet. Heute jedoch überkam ihn eine Sehnsucht, die er selbst nicht erklären konnte. Das war mehr als nur das Begehren eines schönen Körpers oder eines hübschen Gesichtes. Nashoba konnte selbst nicht begründen, wie er dieses Gefühl entwickelt hatte. Es verunsicherte ihn und versetzte ihn gleichzeitig in eine Hochstimmung, die nicht rational war.
Der Minági beschloss, sich Zurückhaltung aufzuerlegen und abzuwarten, was die kommende Zeit brachte. Er würde Gelegenheit haben, die Dakoranerin kennenzulernen und würde dann sehen, welchen Weg sie gehen wollte. Nashoba war sich sicher, dass die Heilerin nur auf der Durchreise war und dass es für ihn keinen Grund gab, in irgendeine Schwärmerei zu verfallen. Er straffte sich und verschloss seine Seele.
Als sich die Sonne dem Horizont näherte, kehrte Tahatan mit einem Reh ins Lager zurück und die beiden Männer begannen, einen Braten über dem Lagerfeuer zuzubereiten.
Nach einer Weile gesellte sich Onatah zu ihnen. »Es geht ihr besser. Sie hat genug getrunken und scheint langsam ihr Bewusstsein zurückzuerlangen. Außer dem Wassermangel und der zu langen Sonneneinwirkung auf dem Meer scheint ihr nichts zu fehlen. Sie hat keinen Kontakt zu den Dunkelmagiern gehabt«, berichtete sie trocken. »Ich frage mich, Nashoba, ob du weißt, wen du da in unsere Welt gebracht hast?«, verkündete sie dann ohne Übergang.
Nashoba sah fragend auf. »Eine Heilerin von Dakoros … was sonst?«
Onatah sah ihn zweifelnd an. »Du hast wirklich nicht gesehen, was sie ist, oder?«
»Was sollte sie sonst sein?«
»Sie ist eine Hohepriesterin!«
»… eine Hohepriesterin von Dakoros? Das ist unmöglich!« Nashoba blickte stirnrunzelnd zu Onatah. »Du weißt, ich mag deinen Humor, aber darüber solltest du nicht scherzen!«, wies er sie zurecht.
»Nun, du hast sie nicht nackt gesehen, oder?«, fragte Onatah schmunzelnd.
Die Antwort des Minágis kam prompt und hart. »Was denkst du von mir, natürlich nicht!«
Die Schamanin schmunzelte. »Dann kennst du auch ihre Körperzeichnung nicht. Die hat sie nämlich! Es ist eine goldene Schlange, die sie unterhalb des linken Schlüsselbeins trägt. Und nun sage mir, welche Heilerin außer den Hohepriesterinnen sollte den goldenen Anguis tragen?«
Onatah schaute ernst zu Nashoba und die Flammen des Feuers spiegelten sich in ihren Augen. »Wenn sie von den Dunkelmagiern hier bemerkt wird, kann das alles verändern. Sobald sie völlig wach ist, musst du mit ihr sprechen und sie nach ihren Zielen und Wegen befragen. Wenn es irgendwie möglich ist, müssen wir sie vor Chromnos verbergen. Die Macht, die sie mit sich trägt, kann das Gleichgewicht neigen. Möge es zu unseren Gunsten sein.«
Tahatan regte sich und blickte zu Onatah. »Mag sein, du hast recht. Mag aber auch sein, sie ist nur eine ranghohe Priesterin. Wir sollten nichts planen, bevor wir Sicherheit über ihre Person und ihre Ziele haben. Wer garantiert uns, dass sie wirklich von den Inseln kommt und kein Trugbild der dunklen Großmeister ist?«
Nashoba senkte den Kopf und verbarg sein Gesicht in den länger werdenden Schatten des Abends. Wenn sie tatsächlich eine Hohepriesterin von Dakoros war – und er kam keinen Moment auf den Gedanken, an Onatah und ihren Kenntnissen der Magie zu zweifeln – war es gut, sein irrationales Empfinden für diese Frau tief in sich zu verbergen. Sie würde weiterziehen oder nach Dakoros zurückkehren und mit Sicherheit für ihn unerreichbar bleiben. Auch wenn sich rangniedrigere Heilerinnen schon mit Magiern anderer Spezies verbunden hatten, so galt das ganz gewiss nicht für eine Hohepriesterin. Und falls sie es doch täte, so kam aus Nashobas Sicht nur einer der wenigen Magier der Vier Elemente in Frage, die mit ihrer hoch entwickelten Kultur der von Dakoros nicht nachstanden.
Für die Inokté und ihre Wölfe würde sie nur ein mitleidiges Lächeln haben. Deren Lebensweise war archaisch. Gerade weil die Stämme diese Art des Lebens selbst gewählt hatten und bewusst auf Fortschritt verzichteten, hatten sie nur wenig mit der Hochkultur von Dakoros gemein.
Nashoba nahm den Gesprächsfaden wieder auf. Er wollte nicht, dass Onatah seine seltsame Stimmung auffiele und er sich erklären müsse.
»Auch ich habe keinen Dunkelmagierkontakt an ihr spüren können und ich war mehrere Stunden lang von ihrer Aura umgeben. Alles deutet darauf hin, dass sie von den Inseln kommt. Aber wenn es ihr wirklich nur an Wasser gemangelt hat, wird sie mit deiner Hilfe schnell wieder soweit bei Kräften sein, dass sie sich erklären kann. Bis dahin werden wir Geduld haben. Wenn wir das Boot geborgen haben, solltest du wie geplant an die Grenze gehen, Tahatan, die Verstärkung organisieren und dich mit Chaska beraten. Das wird fürs Erste genügen.«
Tahatan nickte. »Nun gut, wenn ihr beide sicher seid, hier nichts Dunkelmagisches zu spüren, dann mögt ihr recht haben. Ihr wisst, dass mein Gespür einer Aura nicht ganz so ausgeprägt ist wie eures. Ich wollte nur jede Möglichkeit in Betracht ziehen …«
Der Magier sah stirnrunzelnd in die Runde und Nashoba beeilte sich, seinen besten Freund ein wenig aufzumuntern. »Und das ehrt dich natürlich Tahatan. Nimm es uns nicht übel, dass wir dir widersprochen haben. Wir wollten dich nicht kränken.«
Nashoba lächelte seinem Freund zu. Er wusste, dass Tahatans Ehre schnell verletzt war und wollte ihm nicht zu nahetreten.
»Nimm dir für morgen und die kommenden Tage alles Fleisch mit, das wir hier noch übrighaben und wähle dir eines meiner Ponys aus der Herde, bevor du losziehst.«
Tahatan grinste. »Wer könnte dem Angebot eines schnellen Pferdes schon widerstehen? Ich freue mich schon auf den Ritt – und hab keine Angst, den Rappen werde ich für dich zurücklassen ...«
Nun musste auch Nashoba lachen. Der Rappe war sein Lieblingstier und Tahatan hätte ihn niemals für sich ausgewählt, auch wenn er ihn gern mit seiner Leidenschaft für schnelle Pferde aufzog, die er im Übrigen mit vielen Inokté teilte, so auch mit Tahatan.
Solinacea erzählt:
Ein Duft nach Holzfeuer und getrockneten Kräutern lag in der Luft, als ich erwachte. Über mir sah ich die Spirale der Stangen eines Tipis um den geöffneten Rauchfang gruppiert, durch den eine zarte Rauchfahne ihren Weg nach draußen fand. Ich lag bequem auf einem warmen Untergrund. Als ich die Hand danach ausstreckte, fühlte ich die Weichheit von Fellen und Decken, die mich umgaben. Es gab keinen Zweifel. Ich war an dem Ort angekommen, der das geheime und unsichere Ziel meiner Reise gewesen war: Ipioca, das Land der Inokté.
Ein Gesicht beugte sich über mich, dessen Schönheit und Ausdruck mich nicht mehr loslassen sollte – der Kopf einer alten Frau mit von Grau durchzogenen dunklen Zöpfen, die die Züge eines windgegerbten, faltigen Gesichts umrahmten. Ich sah Augen von dunklem Braun, die mich durch ihre Ausstrahlung von Weisheit und Güte sofort für sich einnahmen, eine markante Nase, wie sie allen Inokté gegeben war und einen vollen, von Lachfältchen umrahmten Mund, der sich zu einem Lächeln verzog, als sie erkannte, dass ich wach war.
»Du kannst beruhigt sein, du bist hier bei Freunden«, sagte sie mit leiser Stimme in der Gemeinsprache. »Ich bin Onatah von den Inokté.«
Während ich mich aufrichtete, nahm ich das Innere des Tipis nun gänzlich wahr. Hier war das Lager einer Medizinfrau, ohne Zweifel. Es gab Sträuße von Kräutern, die heilige Trommel, ein Medizinbündel, Frauenkleidung an einer der Zeltstangen. Onatah lächelte mich an und stopfte mir Decken und Felle in den Rücken, sodass ich bequem aufrecht sitzen konnte.
»Du warst mehrere Tage fern von uns«, erklärte sie mir. »Du solltest zunächst essen und trinken. Dabei kann ich dir berichten, wie du hierhergekommen bist, Priesterin.«
Überrascht hob ich den Kopf. Hatten sie mich so schnell erkannt? Aber wie sollte es auch anders sein, schließlich mussten sie mich hierhergebracht haben. Sicher hatte mich die Medizinfrau gewaschen – Waschungen gehörten zu ihrer Heilkunst – und dabei meinen Körper mit der magischen Zeichnung gesehen.
Sie reichte mir eine Schale mit einer duftenden Suppe, die ich dankbar annahm. Meine Kehle war ausgedörrt wie nach einer langen Trockenheit oder wie nach einer Fahrt über das Meer ohne genügend Wasservorräte. Aber ich hatte Ipioca erreicht, nur das zählte im Moment.
Ich nickte Onatah dankbar zu und trank. Als ich die Schale absetzte, blickte mich die Medizinfrau aufmerksam an.
»Du bist hier im Tipi von Nashoba, unserem Stammesersten. Es wird dir nichts geschehen. Als dein Boot an unserer Küste gestrandet ist, hat er dich gefunden und hierhergebracht. Du hattest Glück, dass du die Fahrt überlebt hast, noch einen oder zwei Tage länger und du wärst verdurstet.«
Ich hörte die unausgesprochenen Fragen dieser Anrede. ›Wie konnte eine Heilerin in eine solche Situation geraten? Hätte ich nicht genügend Vorräte bei mir haben sollen, war meine Navigationskunst nicht sicherer?‹
Ich würde eine Antwort auf diese Fragen geben, aber nicht jetzt und nicht, bevor ich den Minági gesprochen hatte. Es war schon erstaunlich, dass gerade ein Stammesältester mich gefunden hatte. Wir hatten es uns viel schwerer vorgestellt, mit den Führern in Kontakt zu kommen. Vor einigen Jahrhunderten waren die Magier des Festlandes noch regelmäßig zu uns auf die Inseln gekommen. Dann aber, als die Grenzstreitigkeiten immer weiter eskalierten und wir um Hilfe gegen die dunkle Bedrohung gebeten wurden, machte die damalige Hohepriesterin einen unverzeihlichen Fehler: Sie wies die Bittenden mit dem Hinweis auf das friedfertige Wesen unserer Magie ab und gestattete auch unseren Schwertmeistern kraft ihres Amtes nicht, die Inseln zu verlassen.
Die gesamte magische Allianz des Festlandes zog sich daraufhin von uns zurück und es kostete uns große Mühen und jahrzehntelange Arbeit, dieses Misstrauen allmählich wieder zu vermindern. Dennoch war vor allem das Verhältnis zu den Wolfsmagiern und den Dämonenkriegern nach wie vor angespannt. Beide Gruppen leisteten den Hauptanteil bei der Grenzverteidigung und sahen mit Skepsis auf unsere neutrale Stellung. So, wie sie das Wesen ihrer Magie vor den Chromnianern verbargen, so gewährten sie auch uns keinen tieferen Einblick mehr in ihre Lebensweise.
Dakoros und das Festland lagen eigentlich dicht beieinander, doch die magischen Wesen hatten sich weit voneinander entfernt. Das zu ändern, betrachtete ich als meine ganz persönliche Aufgabe. Ich hatte mehrere Wochen eingeplant, um das Vertrauen der Wolfsmagier zu erlangen. Dann, so hoffte ich, würde man mir ein Gespräch mit ihrem Anführer, dem Minági, gestatten. Und nun war ich hier, im Tipi eines der Stammesältesten, der ihm zweifellos nahestand. Besser konnte es das Schicksal gar nicht meinen. Doch ich musste vorsichtig vorgehen, Ziel und Geduld waren die Maxime von Dakoros.
»Man nennt mich Solinacea.« Ich nickte Onatah zu. »Du bist ebenfalls eine Heilerin, sei mir als solche im Geiste willkommen.«
Die rituelle Anrede unter Gleichen schien mir der geeignete Weg, schnell ihr Vertrauen zu gewinnen und so war es auch. Die Falten um ihre Augen verzogen sich zu einem erneuten Lächeln und sie beugte grüßend ihren Oberkörper in meine Richtung.
»Onatah von den Inokté. Aber das sagte ich schon. Möchtest du noch etwas trinken?«
Ich nickte dankbar. "Oh ja, bitte! Ich würde mich auch gern waschen, wenn es möglich ist.«
»Sicher!« Onatah füllte meine Schüssel neu. Dann erhob sie sich. »Ich werde dir etwas Wasser holen. Du solltest noch nicht aufstehen.«
Onatah sorgte für alles, was nötig war und brachte mir auch neue Kleidung. Die Bekleidung der Inokté war von hervorragender Qualität. Die Gerbkunst der Stämme brachte weiche, cremig-braune Leder zustande, die von den Frauen des Stammes kunstvoll bestickt und bemalt waren. Onatah reichte mir ein solches Gewand, bestehend aus Beinlingen, einem knielangen Kleid und festen und dennoch weichen Mokassins. Der rauchige, wilde Duft der Stämme lag auf dem Leder. Als ich hineinschlüpfte, fühlte ich, wie ich eins wurde mit der Kleidung und mit meiner neuen, mir selbst gestellten Aufgabe, den Inokté in der kommenden Zeit helfend und schützend zur Seite zu stehen. Onatah nickte anerkennend.
»Ha, eine echte Inokté.«
Ich lachte und ließ mich von ihrer fröhlichen Stimmung anstecken.
"Pilámaya-ye!« Ich schickte ihr einen Gruß in ihrer Stammessprache. Sie lachte ebenfalls auf, dann wurde ihr Gesicht plötzlich ernst.
»Du bist nicht unvorbereitet hier, wenn du unsere Sprache beherrschst. Wer bist du und was führt dich hierher?«
Oh ja, sie war weise und hellsichtig. Aber ich hatte auch nichts anderes erwartet. Ich würde schnell über mein Vorhaben sprechen können.
»Du hast recht. Ich bin nicht zufällig hier. Ich möchte mit dem Minági sprechen. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe nicht vor, euch Schaden zuzufügen.«
Wieder lachte sie auf. »Nein, ich glaube auch nicht, dass eine direkte Gefahr von dir ausgeht, wobei allein deine Anwesenheit hier schon ein Risiko sein könnte. Aber wenn du Nashoba sprechen willst, den findest du ganz sicher hier. Unser Stammeserster ist der Minági – wusstest du das nicht?«
Also war es so, wie wir es angenommen hatten. Die Wölfe verbargen viele von ihren Mysterien vor uns, aber wer die Stammesstrukturen der Inokté genau betrachtete, kam bald auf den Gedanken, dass die Magier die einzelnen Gruppen anführten. Sie waren so stark und undurchschaubar in ihrer Aura.
»Nein, wir wussten das nicht sicher. Ihr verbergt die Geheimnisse eurer Magie gut genug. Wir wissen um die Wolfsmagier. Aber wer eure Anführer derzeit wirklich sind, konnten wir nicht mit Sicherheit sagen.« Ehrlichkeit war der beste Weg, dachte ich mir.
Onatah holte scharf Atem. »Wer bist du?«
Diese Frage hatte sie schon am Anfang unseres Gesprächs gestellt. Nun musste ich wohl offener antworten. »Du hast meinen Körper bei der rituellen Waschung gesehen.«
Es war eine Feststellung, keine ernsthafte Frage. Sie nickte. »Ich bin das, was du annimmst. Ich komme von Dakoros. Die Insel wurde von einem Vulkanausbruch heimgesucht. Die Tempel der Heilerinnen mussten verlassen werden. Ich bin auf dem Weg, um neue Möglichkeiten zu finden, unsere Heilkunst in Art-Arien zu verbreiten. Ich bin eine der Ersten Priesterinnen von Dakoros, so, wie du es bereits erkannt hast. Ich bitte dich, lass mich mit dem Minági sprechen …«
Onatah senkte den Kopf. »Sei mir gegrüßt, Erste von Dakoros.« Sie erhob ihre Arme im magischen Grußritual.
»Ich werde Nashoba verständigen. Er wird zweifellos mit dir sprechen wollen, wenn er zurückkommt. Er ist auf dem Weg, doch vor dem Abend kann er kaum hier sein. Ruh dich bis dahin aus. Du bist willkommen.«
Sie nahm von einer der Zeltstangen ein Schmuckstück aus Bergkristallen und reichte es mir.
»Dies ist ein Amulett, mit dem es dir möglich ist, deine Aura vollständig zu verbergen. Bis ich es angefertigt hatte, musste Nashoba seine Schutzaura um dich ausbreiten. Aber er kann sich ja nicht immer in deiner Nähe aufhalten. Wir glauben, dass es besser wäre, wenn die dunklen Großmeister nichts von deiner Anwesenheit hier erfahren würden.«
Sie lächelte.
Treffen der Magier:
Als die Dämmerung hereinbrach, kehrte der Minági in das Jagdlager zurück. Gemeinsam mit Tahatan hatte er die Bergung des Bootes organisiert und seinen Freund dann zu Chaska an die Grenze weitergeschickt. Der Rückweg war ihm länger als gewöhnlich erschienen, denn ein feiner Nebel hatte den Weg erschwert und nun war er froh, endlich ein Feuer und Ruhe erwarten zu dürfen. Nashoba versorgte seine beiden Pferde, nahm ihnen den Proviant und weitere Decken für das Lager ab und begab sich dann zu seinem Tipi. Feine Schwaden weißen Rauchs kräuselten sich über den Zeltstangen und der Duft gebratenen Wildes versprach ein baldiges Abendessen.
Er schob die Haut beiseite, welche den kreisrunden Eingang des Tipis verschloss und fand Onatah an seiner Feuerstelle. Sie hatte sein Lager hergerichtet, das Essen zubereitet und nun erwartete sie das Gespräch mit ihm.
Nashoba lächelte und ließ sich am Feuer nieder, während er sich von der Schamanin ein Stück des gebratenen Rehs und ein wenig Gemüse reichen ließ. Er erzählte ihr davon, wie sie das Boot rechtzeitig vor der nächsten Flut geborgen hatten und dass die Setzlinge – und es mussten wirklich über hundert gewesen sein – bei Utina nun gut aufgehoben waren.
Sie hatte, wie erwartet, wenig Aufsehen darum gemacht, aber die Qualität und Auswahl der Pflanzen doch sofort erkannt und bewundert. Schließlich hatten sie die Truhen geborgen und einige persönliche Dinge der Heilerin wie ihr Kräuterbündel, medizinische Instrumente und Kleidungsstücke zunächst nach Tsiigehtchic gebracht.
Während er aß, berichtete Onatah von ihrem Tag und der Minági bekam den Eindruck, dass sie förmlich darauf brannte, ihn mit all den Neuigkeiten aus ihrem Gespräch mit der Heilerin zu erstaunen.
Solinacea – nun hatte sie also einen Namen.
Solinacea!
Ein Name wie ein Lied, dachte er versonnen. Es war merkwürdig gewesen. Je mehr er versucht hatte, nicht über die Dakoranerin nachzudenken, umso hartnäckiger waren seine Gedanken zu ihr zurückgekehrt. Je länger er darüber gegrübelt hatte, dass gerade eine Hohepriesterin von Dakoros in einem nicht sehr meerestauglichen Boot an der Küste von Ipioca gestrandet sein sollte, umso weniger war es ihm logisch erschienen. Selbst wenn sie die Hauptinsel Dakoros auf Grund des Vulkanausbruchs überstürzt hätten verlassen müssen, so hätte man doch gerade die obersten Heilerinnen niemals allein gehen lassen.
Sie verfügten über eine fortgeschrittene Kultur, hatten aufgrund des regen Küstenhandels zu jeder Zeit Navigatoren und Seefahrer auf den Inseln, die Handel betrieben oder in Dakoros die Wissenschaften studierten. Sie würden nicht ziellos in einem Kahn übers Meer treiben. Selbst wenn ein Vulkan ausgebrochen war, hätten sie genug Zeit gefunden, um eine geregelte Evakuierung auf eine der Nachbarinseln in die Wege zu leiten. Schließlich wussten sie über die vulkanischen Aktivitäten auf den Inseln seit Jahrhunderten Bescheid. Nun, sie wollte also mit ihm sprechen und da auch er Antworten auf seine Fragen wünschte, sah er erwartungsvoll auf diese erste richtige Begegnung.
Der nächste Morgen wartete mit einer für Ipioca typischen Herbststimmung auf. Feuchtigkeit lag über den Wäldern und Nebelfetzen geisterten durch die Bäume, während die ersten Strahlen der herbstlichen Sonne versuchten, die Nässe zu trocknen und den Nebel aufzulösen. Das Lager der Inokté erwachte mit seinen Tieren. Die Pferde schnauften im Korral und schüttelten sich, um den Tau aus dem Fell zu bekommen. Nashoba warf Holz auf das niedergebrannte Feuer und fachte die Flammen erneut an. Der anbrechende Tag versprach Antworten auf seine Fragen. Der Minági erwartete neben den Informationen, die ihm die Heilerin geben konnte, auch mögliche Veränderungen, die ihre Anwesenheit mit sich bringen mochte. Entscheidungen würden getroffen werden müssen.
Was konnte einen solchen Tag besser vorbereiten als eine Reinigung der Gedanken, eine Meditation? Der Minági sammelte seinen Geist und versetzte sich in seiner Vorstellung an einen versteckten Platz in den Bergen, an dem er gerne war, wenn er klar denken und Entscheidungen treffen musste. Er stellte sich vor, wie sich von jener hohen Klippe aus das Land vor ihm entfaltete – das Land, für das er vor vielen Jahrzehnten als Erster der Wolfsmagier die Verantwortung übernommen hatte, das Land, für dessen Wohlergehen er sich mit seiner Magie und seinem Leben verbürgt hatte.
Im Geist hob er nun seinen Blick in den Himmel. Mit dem Land zu Füßen und dem Himmel vor Augen, so glaubte er, würde er sich nie überschätzen oder sich selbst zu wichtig nehmen. Land und Himmel waren es, die ihn rechtfertigten und nur für das Land und dessen Geschöpfe wollte er da sein, auf keine andere Weise würde er seinem Platz als Minági gerecht werden.
Nashoba hob die Hände mit einer geheimen Formel und die Magie floss wie ein tiefer Atemzug durch seinen Körper. Er fühlte sich erfrischt und eins mit sich selbst, als er sich erhob, um sich dem kommenden Tag zu stellen.
Während der Minági mit seiner Magie Ruhe und Frieden über dem Lager und Land beschwor, hatte auch Solinacea Kraft aus ihrer Magie gezogen.
Nachdem sie sich den vergangenen Tag über ausgeruht und erholt hatte, war sie nun stark genug, um den Selbstheilungsprozess ihres Körpers magisch zu vollenden. Sie verließ mit einem schweigenden, aber freundlichen Gruß an Onatah das Tipi der Frauen und begab sich zu dem nahen Bach, wo sie niederkniete und Wasser schöpfte. Sie trank und berührte danach mit Händen und nackten Knien die morgendlich kalte Erde.
Mit einem Flüstern begann sie Energie aus dem Erdboden zu ziehen und daraus Kraft zu gewinnen. Dies war eine für die Dakoranerinnen typische Art, neue Stärke zu erhalten. Sie nutzten sie häufig, wenn sie nach der Ausübung ihrer magischen Heilungen geschwächt waren oder eine besonders kräftezehrende magische Handlung bevorstand. Energie konnte aus vielerlei natürlichen Dingen gewonnen werden. Aber die Erde und die Bäume waren die zuverlässigsten Quellen aller Heilerinnen und so nutzte sie Solinacea an diesem Morgen, um sich zu stärken.
Sie zog die Erdenergien vorsichtig zu sich heran, grüßte die Erde dabei und dankte ihr im Stillen für die Gabe, die sie ihr entnahm. Sie konzentrierte sich vollständig auf den Fluss der Magie. Während sie die neuen Kräfte in sich aufnahm, glomm ein sanftes Leuchten der Aura um sie, welches sie im dämmrigen Schein der Morgensonne wie ein weiches Licht zu durchstrahlen schien.
Nashoba hatte das Tipi verlassen, um nach seinen Pferden zu sehen. Als er auf die Lichtung trat, spürte er sofort die fremde Aura der Heilerin. Sie war stärker geworden, auch wenn das Amulett Onatahs sie schützte. Es war ein angenehmes Gefühl, ihre Energie zu spüren. Er lächelte. Offenbar ging es ihr besser, wenn ihre Präsenz so intensiv war. In dieses Lächeln hinein betrat Solinacea die Lichtung. Noch ganz in die Nachwirkung der Magie versunken, war sie vom Bach zurückgekehrt, ohne die Anwesenheit des Mannes zu bemerken.
Später dachte Solinacea oft, dass sie viel früher über diesen Moment hätte nachdenken sollen, sich vorbereiten, Sätze in Gedanken bereitlegen. Dass sie nun dem Krieger gegenüberstand und vor Überraschung keine passenden Worte fand, ließ sie vor Scham erröten. Dennoch konnte sie den Blick nicht von der großgewachsenen Gestalt lösen, der sie sich zu dieser frühen Morgenstunde gegenübersah. Es war eines, über die Wolfskrieger zu lesen oder zu sprechen – einem von ihnen gegenüberzustehen, war eine völlig andere Sache.
Das Gesicht des Mannes war ihr in ihrer verschwommenen Erinnerung an die ersten Stunden in Ipioca begegnet. Nun aber umgab ihn die machtvolle Aura des Kriegers und sein forschender Blick musterte sie ausgiebig. Er flößte ihr zwar mit seiner gründlichen Betrachtung nicht unbedingt Furcht ein, dennoch konnte sie nicht vermeiden, dass sie von der Ausstrahlung und Gelassenheit, die von ihm ausging, beeindruckt war. Sie neigte den Kopf und hob die geschlossenen Hände vor die Brust zu einer rituellen Begrüßung.
Nashoba folgte ihr in diese Bewegung und deutete ebenfalls eine rituelle Begrüßung an. Innerlich lächelte er der Frau zu, die sich sichtlich bemühte, ihre Überraschung zu verbergen. Gewiss war es noch sehr früh am Morgen und sie hätte ein Recht darauf gehabt, ihre magische Handlung ohne Störung zu vollziehen. Dennoch gefiel dem Minági gerade diese winzige Unsicherheit, die bewies, dass die Frau vor ihm trotz ihres offensichtlich hohen Rangs empfindsam war. Nashoba lächelte.
»Es freut mich, dich gesund vor mir zu sehen, Solinacea von Dakoros.«
Er schloss jene Geste an, mit der die Dakoraner ihre Priesterinnen grüßten. Diese kleine Bewegung war Solinacea so vertraut, dass sie ihre erste Unsicherheit überwand und mit einem verhaltenen Lächeln den magischen Krieger begrüßte.
»Auch mich freut es, dich zu sehen. Ich möchte dir für meine Rettung danken.«
Sie sprach leise und Nashoba stellte fest, dass ihm der Klang dieser Stimme angenehm war. Die Inokté mochten eine knappe, besonnene Sprache. Laute, ausschweifende Gespräche kamen bei Nashobas Volk kaum vor. Dass die Heilerin intuitiv leise und zurückhaltend sprach, entsprach den Inoktévorstellungen von Respekt und Rücksichtnahme.
»Das war selbstverständlich und bedarf keines Dankes.« Nashoba nickte der Magierin freundlich zu. »Du bist hier willkommen.«
Inzwischen fröstelten beide bereits nach diesen wenigen Worten. Im Herbst waren die Morgenstunden im Gebirge ausgesprochen kühl und die Lichtung kein passender Ort für ein längeres Gespräch. Nashoba wandte sich halb seinem Tipi zu, das er eben verlassen hatte und wies einladend in dessen Richtung.
»Vielleicht sollten wir uns besser drinnen weiter unterhalten«, schlug er vor. »Noch ist der Morgen recht kühl …«
Wie schon beim ersten Mal fiel es ihm schwer, den Blick von Solinaceas tiefblauen Augen zu lösen. Sie waren faszinierend. Schließlich wandte er sich um und hob erneut seine Hand in Richtung des Tipis. Sie folgte seiner Einladung und er ließ sie eintreten. Immer noch schweigend bot er ihr einen Platz am Feuer.
Solinacea hielt zurückhaltend den Kopf gesenkt und trat in Richtung des ihr zugewiesenen Platzes. Sie hatte sich vor ihrer Reise ausführlich mit der Lebensweise und den Gebräuchen der Inokté vertraut gemacht, sodass sie wusste, dass eigentlich nicht ihr, sondern ihm der erste Platz am Feuer gebührte.
Als er nun darauf wartete, dass sie sich setzte, schüttelte sie still ihren Kopf und winkte ihm, seinem Vorrecht zu folgen. Nashoba setzte sich und nahm aus dem dampfenden Kessel über dem Feuer einen frischen Tee, den er Solinacea reichte. Hiermit hatte er ihr wiederum die höchste Ehre eines Gastes der Inokté erweisen.
Solinacea brach das Schweigen.
«Es ehrt mich wirklich, wie ihr mich empfangt, Erster der Inokté, aber es wäre mir um vieles angenehmer, wenn wir auf all diese Standesrituale zukünftig verzichten könnten. Ich kam mit dem Wunsch hierher, die alte Freundschaft zu den Inokté zu erneuern und um Unterstützung bei den voraussichtlich kommenden Auseinandersetzungen an der Grenze anzubieten. Es geht mir nicht darum, magische Macht zu demonstrieren oder Ehrungen zu empfangen.«
Überrascht wurde sie von dem Mann betrachtet, dem sie gegenübersaß. Nach dem, was er von ihr bisher gesehen hatte, hätte Nashoba alles erwartet, nur nicht, dass sie sofort zu ihrem Anliegen kommen würde. Im Stillen korrigierte er seine Vorstellungen von der Frau, die vor ihm saß. Sie mochte zurückhaltend erscheinen, ja fast schüchtern. Doch sie war gewiss zielstrebig und gewohnt, mit Respekt behandelt zu werden.
»Kühn und direkt, würde ich sagen, wie man es von einer Dakoranerin erwartet«, entgegnete er mit einem dünnen Lächeln. »Aber ich komme
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Texte: Die Urheberschaft von Idee und Text liegt bei der Autorin Sophie André.
Bildmaterialien: Cover und Artwork Sophie André, Karte der Vier Provinzen - eigener Entwurf, Kopie und Verbreitung ist nicht erwünscht.
Lektorat: Divina Michaelis - noch einmal einen ganz lieben Dank an dich für Geduld und Witz bei der Korrektur!
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2013
ISBN: 978-3-7309-5976-3
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