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Samhain





Is maith an scéalaí an aimsir.



Schottland, Highlands, 31. Oktober, 4.00 Uhr morgens


Diese verfluchte Kälte!
Annag kroch tiefer in ihren Daunenschlafsack. Wenn die Nacht doch schon vorbei wäre und sie sich mit Brian wieder an die Arbeit auf dem Ausgrabungsfeld machen könnte.
Langsam ging die Saison zu Ende und noch immer hatten sie nicht den Durchbruch geschafft, auf den sie so sehr hofften, seit sie im Frühjahr entdeckt hatten, dass neben den Cairns, an denen sie nun schon gut ein Jahr arbeiteten, eine zweite Fundstätte lag, die wesentlich älter und geheimnisvoller war.

Ein Jahr lang hatten sie unermüdlich geforscht. Zu Anfang waren es nur die Kuppen zweier Menhire gewesen, die sie im Sand der ehemaligen Flussbiegung zufällig entdeckt hatten. Inzwischen war es ihnen gelungen, den gesamten Henge freizulegen.

„Megalithkultur“, hatte Brian ungeduldig gebrummt, nachdem sie den dritten aufrechten Stein gesichert hatten. Ihm ging es nie schnell genug und auch Annag ließ sich langsam von seiner Ungeduld anstecken.

Wenn der Spätherbst doch noch ein paar trockene Tage mit sich brächte!
Dann wollte sie auch die Kälte akzeptieren, ja, sie würde nicht einmal den Morgennebel verfluchen, der sich tagtäglich auf die Erde legte und ihr das Handwerk erschwerte.
Feste, feuchte Erde war den Archäologen ein Graus.

Annag musste lächeln. Heute würden sie nur zu zweit sein. Immerhin war Wochenende und die Truppe, wie sich ihre Grabungsmannschaft selbst oft scherzhaft nannte, hatte frei und war in die nächste Stadt gefahren, um wieder einmal unter Menschen zu kommen, die keine Erde unter den Fingernägeln trugen. Sie würden shoppen, sich dann in irgendeinem Pub den Bauch mit Fish and Chips vollschlagen und ordentlich mit Guiness und Single malt nachspülen.

Naja, bei der Kälte mochte ein Malt nicht das Schlechteste sein.
Annag verzog das Gesicht.
Gestern hatten sie im Dorf bei Alan gegessen. Der alte Bauer, dem der Grund gehörte, auf dem sie gruben, hatte seinen Namenstag gefeiert und ihnen tatsächlich Haggis vorgesetzt. Sie würde Brians Gesicht noch lange nicht vergessen, als er gehört hatte, was alles in diesem Gericht verarbeitet war. Dennoch hatte ihr Chef heldenhaft seinen Teller geleert und danach wie ein Schotte mit Alan getrunken und alte Legenden erzählt.

Als Alan dann angefangen hatte, über die Blutopfer für Cenn Crúach zu fabulieren, hatte sie die Müdigkeit übermannt, die der zweite Malt mit sich brachte, und sie war mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen.
Peinlich!
Brian und Alan hatten allerdings nur gutmütig gelacht und sie gemeinsam ins Zeltlager zurückgebracht.

Annag sinnierte weiter über den vergangenen Abend und schlief schließlich doch wieder ein.
Erst als sich die Sonne schon über die Bergkuppen erhoben hatte und versuchsweise die Nebel durchdrang, wachte sie auf.

Ein großartiger Duft von gebratenen Würstchen und Kaffee lockte sie aus dem Zelt.
Später, als sie mit Brian zum Grabungsfeld ging, waren die Nebelbänke fast gänzlich verschwunden. Der Tag versprach, schön zu werden.


31. Oktober, 12.00 Uhr Mittag

Ächzend erhob sich Brian aus seiner knienden Arbeitsposition und klemmte sich den Pinsel hinter das linke Ohr. Wie immer nahm seine uralte Nickelbrille dabei eine verwegene Schräglage ein, doch den Archäologen schien das nicht zu stören.
„Lass uns eine Pause machen, Anni“, forderte er. „Wir sind doch gut vorangekommen und ich glaube nicht, dass uns jemand diese alte Steinplatte vor der Nase wegschnappt.“

Annag grinste.
Sie hatte diesen Scherz schon hundert Mal gehört, einen Insider, der sich auf eine nie wirklich bestätigte Grabungskonkurrenz zwischen Max von Oppenheim und Lawrence von Arabien bezog, zwei ihrer berühmten Altvorderen, die um die Ausgrabungen am Tell Halaf gestritten haben sollten. Wie auch die dazugehörige Geschichte, die Brian, mit einer ordentlichen Portion Konfabulation, immer wieder gern seinen Studenten erzählte.

Lachend gingen sie zurück ins Lager, wuschen sich die verstaubten Gesichter und setzten sich dann zu einem frugalen Mahl zusammen.

„Heute Nacht ist Samhain…“ überlegte Brian laut und lächelte Annag an. „Wie wäre es, wenn du uns den Weg zu einem dieser Sids zeigst. Du müsstest ihn doch kennen, bei deinen gälischen Vorfahren und deinem Aussehen.“

Annag grinste. „Du verwechselst mich wohl mit den Pikten, mein Lieber! Die waren klein und dunkelhaarig. Bei uns sind die Elfen eher von heller Lichtgestalt. Das `Klein und dunkel wie eine Fee` hat uns erst die Zimmer-Bradley beigebracht und in dieser Sache kann ich ihr unmöglich zustimmen.“ Sie lachte hell auf. „Ich wäre lieber eine Piktin als eine Elfe oder Fee. Die Frauen vom Kleinen Volk waren begabt, Kriegerinnen, Heilerinnen und“, hier lächelte sie ansatzweise geheimnisvoll, „sie sollen Meisterinnen der Verführung gewesen sein.“

Der Professor lachte. Brian mochte es, wenn seine Assistentin so ausgelassen war. An der Universität waren sie meistens viel zu schnell wieder im hektischen Stundenplangetriebe gefangen. Hier draußen floss die Zeit anders, träger, geruhsamer. Hier konnten sie scherzen, plaudern und auch Freunde sein. Das genoss er.

„Du denkst doch nicht etwa an Beltaine“ nahm er den Faden wieder auf und sah schmunzelnd zu, wie sie errötete.


31. Oktober, 15.00 Uhr Mittag.

Zufrieden mit den bisherigen Ergebnissen des Tages, mit der Sonne auf ihrem Rücken, dem Gefühl der wohligen Erschöpfung in ihrem Körper und den oberflächlich dahinplätschernden Gedanken in ihrem Kopf befreite Annag einen der Menhire von der letzten Schmutzschicht.

Sie nahm das entgeisterte Keuchen ihres Kollegen zunächst gar nicht wahr, so sehr war sie in ihre Arbeit versunken.

Erst als er halblaut nach ihr rief, hob sie den Kopf und sah Brian auf dem Boden der Ausgrabungsfläche direkt im Zentrum des Henge knien, wo er hektisch mit beiden Händen etwas von Erde zu befreien versuchte.

Annag ergriff ihre Werkzeuge und ging zu ihm. So, wie sich Brian gebärdete, musste er auf etwas Interessantes gestoßen sein.


31. Oktober, 15.30 Uhr

Noch immer hockten die beiden Archäologen intensiv arbeitend in der Mitte des Henge. Das, was sie gefunden hatten, dachte sich Annag belustigt, gehörte hier so sicher her wie ein Kreuz in eine Kirche, ein Halbmond in eine Moschee oder die Klagemauer nach Jerusalem.

Wie betriebsblind waren sie denn nur gewesen, dass sie den Opferaspekt der Henges außer Acht gelassen hatten? Es gab immer wieder solche Funde innerhalb der mysteriösen Kreisanlagen.

Diese Depotfunde, wie sie sie nannten, waren mehr als nur Grabbeigaben oder Reste von Siedlungen. Oft wurden sakrale Gegenstände als Opfer dargebracht oder gar einer eigenen Bestattungszeremonie unterzogen, um ihre magische oder kultische Wirkung aufzuheben.

Hier nun standen sie vor einer megalithischen Deponierung unter einer fast kreisrunden Steinplatte und waren kurz davor, sich Zugang zu verschaffen.

Gespannt verfolgte Annag einen Moment lang, wie Brian die letzten Schaufeln von Erdaushub vorsichtig zur Seite hob. Dann ließ sie ihre Taschenlampe aufleuchten und reichte sie an den Älteren weiter.

"Gum biodh ràth le do thurus", murmelte sie leise.

Der Professor sah sie einen Moment lang überrascht an, nickte dann dankend und ließ den Schein ins Innere der Steinkammer gleiten. Sofort eröffnete sich ihnen ein Raum von der Größe eines Umzugskartons, der an allen Seiten von glatten Monolithen begrenzt war. Auch die Deckplatte, die Brian gefunden hatte, war vom selben Material.

Aufgeregt verfolgten beide den Weg des Strahls, der nun die kleine Kammer nach und nach ausleuchtete.
Einige endlose Augenblicke lang schien die Steinsetzung völlig leer zu sein.

Innerlich sah sich Annag bereits mit den Schultern zucken. Was hatten sie denn sonst erwartet? Im Zentrum der Henges waren auch fast immer Grabstätten und erst, wenn sie demnächst den Bodenaushub gründlich untersuchten , könnte die eine oder andere kleine Grabbeigabe dabei sein. Sicher kämen Skelettreste zutage, viel mehr aber auch nicht.

Die junge Frau lachte trotz aller Enttäuschung in sich hinein. Offenbar hatte sie sich von Brians ständiger Erwartungshaltung anstecken lassen und auch schon auf das Unmögliche, den Wunderfund, das Schatzdepot, gehofft.

Entspannter verfolgte sie nun die Wanderung des Lichtstrahls über die Megalithen.
Doch dann fiel ihr etwas auf.
„Halt!“
Der Professor, der ebenfalls hochkonzentriert den Bildern gefolgt war, die die Taschenlampe aus dem Dunkel holte, schreckte auf.

„Hast du diesen seltsamen Schattenverlauf eben gesehen? Geh noch mal einen Meter zurück nach links.“

Der Lichtstrahl folgte Annags Anweisung und nun sahen sie es beide. Dort, wo eigentlich glatter Stein hätte sein sollen, erschien ein senkrechter, knapp dreißig Zentimeter hoher, schmaler Schatten auf der Wand. Eine Nische.


31. Oktober, 16.15 Uhr

Wie zwei Bauarbeiter mochten sie aussehen, dachte Annag belustigt.
Brian und sie hatten sich schwere Brechstangen aus ihrem Werkzeugdepot geholt und versuchten nun gemeinsam, die Deckplatte des Depots wegzuschieben.

Es war ihr Glück, dass sie es mit einer Schieferplatte und keinem Quarzit zu tun hatten. Durch ihre geradlinige Bruchfähigkeit war die Platte dünn und für zwei Personen gerade noch zu bewegen.

Trotzdem klebte ihr das Shirt schweißig am Rücken, als sie endlich die Platte soweit verrückt hatten, dass Brian sich über die Öffnung beugen und die Nische in Augenschein nehmen konnte.

Sie hörte ihn scharf einatmen.

„Da ist etwas. Eine Niederlegung. Opfergabe.“

Der Archäologe in ihm wurde sachlich.

„Der Fund ist etwa dreißig mal zwanzig mal zwanzig Zentimeter groß und von zerfallenem organischen Material umgeben. Aus der Lage lässt sich mit einiger Gewissheit schließen, dass er seit der Niederlegung dort nicht mehr bewegt worden ist.“

Brian sah auf und blickte ihr in die Augen.

„Wir haben also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einen originalen Depotfund vor uns. Gratuliere Dr. Annag Mawhiney, mit diesem Fund hält Ihr Name Einzug in die Liste der Erfolgreichen.“

Brian grinste.

„Lass uns die Kamera holen und die Vermessungsgeräte. Dann legen wir los.“

Annag lächelte zurück.

„Willst du nicht bis morgen warten, wenn dein ganzes Team wieder da ist? Immerhin ist Collum der bessere Fotograf und Isa würde dir bei den Geländemarkierungen auch mehr helfen können.“

Der Ältere sah sie gespielt entsetzt an.

„Was höre ich da, Dr. Mawhiney? Sie wollen in diesem Moment aufhören? Damit stempeln Sie sich selbst zu einem wirklich hoffnungslosen Fall. Etwas mehr Enthusiasmus meine Dame, wenn ich bitten darf, Forschergeist, Abenteuerlust!“

Nun musste auch Annag lachen.

„Schon gut, Brian! Ich verstehe ja, dass du wie auf glühenden Kohlen sitzt und da rein willst. Geht mir doch genauso …“


31. Oktober, 17.30 Uhr

Die Sonne näherte sich dem Horizont und tauchte die schottische Landschaft in ein unwahrscheinliches Licht aus Rot und Gold. Die umliegenden Hügel warfen je nach ihrer Lage lange Schatten oder erstrahlten im letzten Sonnenlicht.

Gedankenverloren starrte Annag in die Landschaft. Ja, hier konnte man wirklich an Elfenhügel, Feen und das Kleine Volk zu glauben beginnen. Nachdenklich musterte sie eine kleine Erhebung knapp vierhundert Meter entfernt, deren Kuppe mit Heide und niedrigen Sträuchern überzogen war. Innerlich lächelte sie. Ein ideales Elfenversteck!

Brian hatte sich indessen Handschuhe übergezogen und hob nun vorsichtig, fast zärtlich, ihren Fund aus dem Boden.

Sie hatten Folien ausgebreitet und einen Scheinwerfer bereit gemacht, sodass sie auch nach Sonnenuntergang noch arbeiten konnten.

Jetzt aber wollte der Forscher wissen, was er ans Tageslicht gebracht hatte.
Der Fund irritierte ihn nicht wenig. Man schätzte das Alter der Henges im Allgemeinen auf mindestens 3000 bis 5000 Jahre.
Entsprechend bewegte sich auch die Datierung der Niederlegungen innerhalb diesen Zeitraumes.

Hier aber war um den Fund organisches Material erhalten geblieben. Und selbst, wenn er annahm, dass es sich bei dieser Substanz um Leder handelte, war eine solche Dauerhaftigkeit undenkbar.

Langsam begann er, das Material mit einer Pinzette abzuheben, immer darauf bedacht, Annag Zeit zu geben, ein paar Fotos des Ablaufs zu schießen.

Nach und nach kamen die tieferen Bestandteile ihres Fundes ans Licht.
Eine halbe Stunde später starrten Brian und Annag ungläubig auf das, was vor ihnen lag. Ein kurzes Bronzeschwert, ein paar Armspangen, ein Torques … und ein eiserner Dolch sowie einige handgeschlagene Goldmünzen, die bei genauerer Betrachtung einen Drachenkopf zeigten.

Brian ließ sich ins Gras fallen. „Das…“ Er musste sich erst einmal sammeln. „Das, Annag, ist mehr, als ich in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte.“ Noch einmal holte er tief Luft. „Das … ist ein Rätsel!“

Doch an diesem Abend ließ sich das Geheimnis um die Zusammensetzung ihres Fundes nicht mehr lösen. Fachmännisch verpackten sie das Entnommene luftdicht in feste Folien und Plastebehälter und trugen dann ihre Schätze ins Zeltlager.
Brian deponierte die Kisten in seinem Van und schloss vorsichtshalber ab. Sie waren zwar an einem Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, doch man konnte nie wissen …

Eine Stunde später, frisch gewaschen und in sauberer Kleidung, saßen sie zusammen am Lagerfeuer und beobachteten die züngelnden Flammen. Brian hatte zur Feier des Tages eine Flasche Champagner geöffnet, der das Dosengericht, welches sie sich geteilt hatten, wieder wett machte.

Trotz aller Freude über den unerwarteten Fund war der erfahrene Archäologe grüblerisch.

„Was denkst du? Wie kommen die Münzen in diesen Hort und warum haben wir Eisen gefunden?“

Brian rieb sich die Stirn.

„Stellt man nun noch eine Beziehung zu den Menhiren her, haben wir drei große Zeitalter in einem Fund vereint. Steinzeit, Bronzezeit und frühes Mittelalter, vielleicht noch vor der Christianisierung.“

Er machte eine bedeutsame Pause.

„Wie also lösen wir dieses Rätsel, Annag?“

Annag hatte ebenso wie ihr Kollege über den Fund gegrübelt und dann beschlossen, zunächst die genaueren Auswertungen abzuwarten, bevor sie sich weiter den Kopf zerbrach.

Dennoch diskutierten die beiden Wissenschaftler noch gute zwei Stunden, bevor sie sich erschöpft zur Ruhe legten.


1. November, 0.00 Uhr, Beginn der Samhainnacht

Ein alles durchdringender Donnerschlag rollte über das Zeltlager und riss Annag aus ihrem Schlaf. Müde drehte sie sich auf die andere Seite und zog eine Hand unter die Wange, als ein zweites Donnergrollen ertönte.

Gewitter!
‚Verdammt‘, dachte sie schläfrig, 'so sicher haben wir die Grube nicht abgedeckt, dass sie einem Wolkenbruch standhalten könnte.'

Wieder donnerte es und plötzlich vollkommen munter pellte sich die Archäologin hastig aus ihrem Schlafsack, fuhr in ihre schweren Arbeitsstiefel und rannte nach draußen, nur um dort festzustellen, dass sie unter einem sternklaren Himmel in der Kälte stand.

Der Reißverschluss von Brians Zelt surrte und dann kam ihr verschlafener Kollege ebenfalls zum Vorschein.

Brian rieb sich die Augen und sah, wie sie, überrascht zum Himmel.

„Hast du den Donner gehört?“

Sie nickte.
Doch noch ehe sie weitersprechen konnte, erklang der dumpfe Laut ein nächstes Mal und nun folgten die Schläge in einem fortwährenden Rhythmus.

Verständnislos sahen sich die beiden Wissenschaftler um, bis ihr Blick an jenem Hügel hängen blieb, den Annag am Abend scherzhaft als Sid bezeichnet hatte.

Dichter Nebel lag über dessen Kuppe und hinter den weißen, vom Mond beschienenen Schwaden war eine kaum erkennbare Bewegung.

Das Donnern oder Trommeln war nun etwas leiser geworden, hielt aber nach wie vor an.
Weitere unverständliche Geräusche kamen hinzu. Ein leises Trappeln, ein Schnauben. War das ein Pferd? Etwas klirrte, als schlüge Eisen gegen Eisen. Dann herrschte Stille.

Ängstlich trat Annag ein Stück näher zu Brian, der ihr einen Arm um die Schulter legte.

„Was, bei allen guten Geistern, ist das?“

Der Mann neben ihr schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte er kaum hörbar zurück.

In diesem Moment zerriss ein neuer Klang die kurze Stille. Ein Hornsignal ertönte. Ein langer, dunkler, voller Klang erfüllte den Ort, und während sie noch den Schreck zu verkraften versuchten, erschien aus dem Nebel eine fahle Gestalt.

Still schritt ein riesiges Pferd samt Reiter aus dem Dunst.
Das Bild erinnerte an einen Ritter aus alten Zeiten, eine komplette Rüstung, Schwert, Helm, Harnisch. Der Mann trug außerdem eine Standarte und obwohl er noch so weit von ihnen entfernt war und das Mondlicht nur Schemen zu erkennen gab, war sich Annag sicher, einen Drachenkopf zu erkennen.

Starr vor Angst und unfähig zu sprechen, standen die beiden Archäologen vor der Erscheinung.

Wieder erklang das Hornsignal und ein weiteres berittenes Wesen schloss zu der nun wie versteinert auf dem Hügel stehenden Reitergestalt auf. Es war ähnlich gerüstet wie die Gestalt in der Mitte. Annag nahm einen Schild wahr und erkannte darauf ein Schwanenwappen.

Doch sie sollte keine Zeit haben, das Geschehen weiter zu betrachten. Hinter sich vernahm sie nun ein heiseres Keuchen.

Das Geräusch riss sie aus ihrer Starre und sie fuhr herum. Alan lief auf sie zu, als sei ein Feind hinter ihm her.
Atemlos, keuchend, sich vorbeugend, um besser Luft holen zu können, stand er kurz darauf vor ihnen.

„Ihr habt sie geweckt …“, stammelte er, kaum hörbar und mit einem angstvollen Blick auf das Treiben auf dem Hügel.
„Heilige Mutter Gottes, ihr habt sie geweckt!“

Trommel und Hornruf unterbrachen ihn, doch Brian, der sich relativ schnell wieder gefasst hatte, forschte sofort nach.

„Wen sollen wir geweckt haben, Alan?“

Der alte Bauer wies nur mit der Hand auf die beiden Reiter.

„Sie!“

Brian, der seinem Blick gefolgt war, erstarrte. Ein dritter Ritter war erschienen, größer und breiter als seine beiden Vorgänger. Er trug eine Lanze und hielt einen Schild, den derselbe Drache zierte, wie das Banner.

„Wer sind die und wie kommen sie hierher?“, drang er auf Alan ein.

„Die Hüter des Drachenbanners, des Pendragon-Banners!“, flüsterte Alan. „Etwas hat ihre Ruhe gestört …“


Eindringlich richtete sich der Alte nun auf und sammelte sich einen Moment lang.
Dann sprudelte es nur so aus ihm heraus.

„Vor vielen Jahrhunderten ist das schon einmal passiert. Kinder haben damals den Schatz gefunden und weggenommen. Die Hüter kamen, doch niemand verstand, was sie wollten. Sie sprachen nicht und gaben keine Erklärung. Ein Jahr lang zogen sie jeden Vollmond um den Henge. Es muss grausig gewesen sein.“

Brian zuckte mit den Schultern.

„Ein bisschen Geisterspuk von ein paar Verrückten …“

Doch Alan fiel ihm ins Wort.

„Das war noch nicht alles. In jenem Jahr gab es die größte Dürre, die man hier je erlebt hatte. Die Felder lagen brach, Vieh verdurstete, ja es sollen Säuglinge an der Brust ihrer Mutter verhungert sein … Und das alles, weil der Schatz verschwunden war.
Dann, als die Bauern schon fliehen wollten, kam ein alter Druide. Der Mann musste lange mit sich gerungen haben, ob er seine Identität bekannt gäbe.
Damals hat man Druiden und Heilige Frauen als Heiden verbrannt.
Doch dann hatte er wohl Mitleid.

Er erzählte eine Legende, in der es hieß, dass in diesem Henge nach Artus´ Übertritt zum Christentum das Drachenbanner zur Ruhe gebettet worden sei. Lancelot habe Artus davon überzeugt, dass er das den Stämmen schuldig sei, und der habe dem Ritter von der Quelle das Banner überreicht ...

Der Druide suchte den Henge auf und riet den Menschen, die Opfergaben wieder dort niederzulegen und ein eigenes Opfer zu bringen.
Das taten sie dann auch am nächsten Samhain und der Spuk verschwand …“

Brian betrachtete den Alten skeptisch.

„Und du meinst, das dort oben sind echte Geister und nicht irgendwelche Jugendlichen aus deinem Dorf, die sich mit uns einen Spaß erlauben?“

Der Bauer schauderte.

„Um Himmels Willen, Brian! Sieh doch hin! Es ist genauso, wie es die Überlieferung schildert. Alle, die das Pendragon-Banner jemals getragen haben … Gwydion abd Uther, den ihr als König Artus kennt, Lancelot von der Quelle und Uther, der Pendragon selber … Was auch immer ihr aus dem Henge genommen habt, ihr müsst es zurückgeben!“

Der Alte zitterte vor Angst.
Unschlüssig sah Brian zu Annag.

„Was meinst du? Sollen wir diesem Spuk mal auf den Grund gehen?“

Doch Annag sah ihn nicht an und hielt ihren Blick weiterhin auf die Hügelkuppe gerichtet.

„Das brauchst du nicht, Brian. Der Spuk kommt zu uns.“

Die drei Ritter hatten ihre Pferde angetrieben und kamen nun gemächlich ins Tal. Nun konnten die Zuschauer deutlich eine feine Transparenz ihrer Körper erkennen. Das Mondlicht schien durch sie hindurchzudringen. Und auch wenn die Hufe der Pferde beim Auftreten ein Geräusch verursachten, so sah man kein Steinchen rollen, keine Staubwölkchen aufsteigen. Es war, als würden die Tiere den Boden nicht berühren.

Ehrfürchtig betrachtete Annag die Prozession.

„Das ist kein Scherz, Brian!“

Doch die drei Ritter, die zunächst auf sie zugekommen waren, beachteten ihre Anwesenheit nicht, sondern schwenkten leicht ab und ritten weiter bis an den nördlichen Eingang des Henge. Hier saßen sie ab und gingen langsam bis an die Grube, die Brian und Annag geöffnet hatten.

Die Männer, Ritter, Geister, was auch immer, nahmen um den Fundort herum Aufstellung und zogen dann geschlossen ihre Schwerter, die sie mit der Spitze auf dem Boden aufsetzten. Dann verharrten sie.

Alan rüttelte den Archäologen an der Schulter.

„Du musst das Drachengold zurückgeben, Brian!“

Doch der Forscher schwieg.

„Brian, Alan hat Recht! Das hier ist kein Spaß mehr!“, forderte nun auch Annag.

Der Angesprochene wandte sich ihr zu.

„Das ist eine einmalige Chance, Annag. Auf so einen Fund warten viele Archäologen ein Leben lang. Willst du das wirklich verschenken, nur weil du an Gespenster glaubst und an alte Mythen?“

Alan fuhr zusammen.

„Brian! Das sind nicht nur Mythen! Wenn du es nicht tust, werden noch mehr von ihnen kommen. Das Pendragon-Banner ist viel älter als Uthers Herrschaft. Sie sind gefährlich!“

Als hätte der Spuk nur auf diese Worte gewartet, wiederholte sich das Ganze und ein weiterer Krieger trat aus dem Nebel. Dieser nun war nicht gerüstet, sondern in einen festen Lederharnisch gekleidet. Über der Schulter trug er ein riesiges Fell und auf dem Helm wehte eine Wolfsrute.

Annag sah zu Brian.

„Das muss Vortigern sein. Glaubst du Alan nun?“

Vortigern, der vor Uther auf dem Thron gesessen hatte, ließ sich weniger Zeit als seine Vorgänger. Im Galopp jagte er den Hügel hinunter, stieß vor dem aus Angst wie versteinerten Brian seine Lanze in den Boden und gesellte sich dann zu den Anderen in den Henge.
Wieder lag Schweigen über dem Geschehen.

Brian löste sich aus seiner Starre.

„Nun gut! Das war deutlich genug.“

Zusammen mit Annag ging er zu seinem Van und holte die Kiste mit den Fundstücken aus dem Kofferraum.
Gemeinsam näherten sie sich langsam dem Henge. Es fiel ihnen mehr als schwer, sich freiwillig den geisterhaften, bedrohlichen Gestalten zu nähern, doch irgendwie schafften sie es.

Kurz vor der Grube setzten sie ihre Last ab und nahmen die Fundstücke aus der Folie.
Noch einmal zögerte Brian.
Doch als Uther und Artus ihm zwischen sich eine Gasse öffneten, fasste er einen Entschluss und trat festen Schrittes zwischen die Ritter.

Er kniete am Rand der Steinsetzung nieder und ließ die Schätze, das Drachengold, wie es Alan genannt hatte, zurück in die dafür bestimmte Nische gleiten.

Ein leises Murmeln begleitete sein Tun. Dann trat der Archäologe zurück und wie auf ein Wort stießen die vier Hüter des Drachenbanners ihre Schwerter in den Boden. Die Steinplatte erhob sich und verschloss die Fundstätte. Erde wirbelte auf und einen Moment später war von der Ausgrabung nichts mehr zu sehen.

Stumm wandten sich die vier Krieger nach Norden, wo ihre Pferde sie erwarteten, und ritten dann nacheinander zurück auf den Sid, wo sie verschwanden, wie sie gekommen waren. Ein letzter Hornruf und die Trommelschläge verklangen. Der Nebel lichtete sich. Es war vorbei.


Epilog:

Als Annag am darauffolgenden Morgen erwachte, glaubte sie zunächst, geträumt zu haben.
Unsicher, was denn nun Wahrheit und was Traum gewesen war, verließ sie ihr Zelt und besichtigte die Grabungsstätte.
Nichts deutete darauf hin, dass sie hier ein frühzeitliches Depot gefunden hatten. Annag grinste. Was für ein lebendiger, bunter Traum!

Doch dann fiel ihr auf, wie sehr der Boden im Zentrum des Henge zertrampelt war. Das war gestern mit Sicherheit nicht gewesen.

Sie sah sich die Sache genauer an und fand merkwürdige Fußabdrücke von Sohlen ohne Profil und vier schmale Einkerbungen im Boden.

Sinnend betrachtete sie die Spuren und rief sich das Erlebte der Nacht in Erinnerung. Hier hatten die Vier gestanden und ihre Schwertspitzen in den Boden getrieben.

Annag schüttelte den Kopf. Sie begann, an Geister zu glauben …
Ein merkwürdiger Fetzen fiel ihr auf und sie beugte sich nieder.
Ein Stück Fell! Vortigerns Mantel!

Vorsichtig steckte sie den kleinen Fund in einen der Plastebeutel, die sie immer mit sich herumtrug. Man musste für alles gerüstet sein.


10. November:

Annag starrte fasziniert auf die Auswertungen, die ihr Computer von der Datierung jener kleinen Fellprobe zeigte, die sie im Henge gefunden hatte.

Das Programm schätzte das Alter der Bärenhaut auf etwa 1700 Jahre.

Impressum

Texte: Urheberrecht: buechereimaus
Bildmaterialien: Cover buechereimaus unter Verwendung von
Lektorat: homo.nemetiensis
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein ganz herzlicher Dank geht von mir an Andreas alias homo.nemetiensis, der sich die Mühe eines professionellen Korrektorats gemacht hat.

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