Cover

Anmerkung der Autorin

Die Inspiration für die folgende, fiktive Erzählung gab mir ein Song von Heinz Rudolf Kunze, „Akrobat“, den ich im Folgenden auch abschnittsweise zitieren möchte.

Trainingsinformationen und Hintergründe zu Lebensumständen von Hochleistungsartisten fand ich in einer mehrteiligen Dokumentation über die Hintergründe der Shows "Quidam" und "Varekai" des Cirque du Soleil. Es hätte aber auch eine beliebige andere Show einer anderen Truppe sein können.

Die Figur des Patrice Renard und alle weiteren Namensnennungen sind meine freie Erfindung und es sind keine Übereinstimmungen mit realen Personen beabsichtigt.

Meines Wissens hat es weder beim Cirque noch bei einer anderen großen Artistikshow in den letzten Jahren schwere oder tödliche Unfälle gegeben.

Ob ein Akrobat tatsächlich psychisch in der Lage wäre, sich durch einen gezielten Fehlsprung zu suizidieren, ist reine Spekulation! 

Eure Sophie

Akrobat


 
Akrobat


Die Stunde vor acht:
So lang wie die Nacht
Dann auf zu den uralten Taten
Und einer im Saal
Wird dich jedesmal
Verachten
Verleugnen
Verraten

Die Lichter gehen an
Ein einsamer Mann
Jongliert mit tausend Blicken
Sie werden's nie lernen:
Dein Griff nach den Sternen
Ist ein Griff nach Trapezen und Stricken.

aus "Akrobat" von Heinz Rudolf Kunze




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Die Geschichte des Patrice Renard ist eine Geschichte der Einsamkeit. Es ist die Geschichte eines Erfolges, der seinesgleichen suchte und kein Gegenüber fand. Es ist die Geschichte vom Verlust einer Emotion, die Renard niemals wirklich besaß.

Die Geschichte des Akrobaten Patrice Renard beginnt und endet in jener blauen Stunde, die jeden Artisten vor und nach dem Auftritt tagtäglich wieder auf ´s Neue ereilt.

In jener letzten, einsamen blauen Stunde saß Patrice allein in seinem Mobil Home in Vancouver und ließ die vergangenen drei Jahre mit all ihren Bildern und Erinnerungen an seinem inneren Auge vorbeiziehen.

Alles begann in Paris. Paris, jene Stadt, in der er aufgewachsen war und die er liebte wie seine Heimat.
Paris, die für ihn ein Leben bereit hielt, das er sich bunter und abwechslungsreicher nicht hätte vorstellen können. Die Gedanken des Artisten schweiften zurück.

Als kleiner Junge war Renard aus einem Dorf in den Ardennen in die große Hauptstadt gekommen, hatte später hier die Schule abgeschlossen und ein Sportstudium aufgenommen.

Damals, als alles begann, lebte er schon seit ein paar Jahren zusammen mit seinen Freunden in einer Wohngemeinschaft in Montmartre.

An den Abenden verdiente er sich regelmäßig ein paar France mit akrobatischen Straßenshows dazu. Zwei Feuerspucker, ein paar wechselnde Musiker und die drei Akrobaten seiner WG.
Die Leute mochten ihre Darbietungen, gönnten ihnen gern ein halbes Stündchen Aufmerksamkeit und ein wenig Kleingeld.

Für Renard reichte dieser Zuverdienst neben dem Stipendium aus, um ihm ein sorgloses Leben zu garantieren und er hatte geglaubt, damit bis zum Ende seines Studiums weiter machen zu können.

Doch dann war eines Abends jener Ausländer erschienen, der ihn aufmerksam beobachtet und viel mehr Geld in den Hut geworfen hatte, als es am Fuß der Sacre Coeur üblich war.
Das Geld war es auch, das Renard erst auf das fremde Gesicht aufmerksam werden ließ.

Schon am folgenden Abend sah er den Mann erneut und dieses Mal bat ihn der Fremde nach der Show um ein Gespräch, ja er lud ihn zu einem späten Abendessen in eines der Straßenbistros ein.

Der Mann, der sich als Brian Connelly vorstellte, trat an diesem Abend mit einem Angebot an Renard heran, das jener nicht ablehnen konnte.

Er bot ihm einen Platz in seiner Show, vorausgesetzt, Patrice würde sich im Training und in den ersten Proben bewähren.

Er hatte damals nicht gezögert und wenn er vor sich ganz ehrlich war, würde er auch heute noch jenes Angebot nicht ausschlagen.

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Akrobat
Du machst ihnen Spaß
Den Clowns mit dem grässlichen Lachen

Akrobat
Gefundener Fraß
Sie gaffen mit offenem Rachen.

aus "Akrobat" von Heinz Rudolf Kunze




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Eine Woche später hatte ihn Conelly abgeholt und sie waren zum ersten Training gefahren.

Eigentlich war es wohl eher ein Vorturnen gewesen, denn zu seiner Überraschung waren an diesem Tag nur Neulinge unter der hohen Plane des riesigen Zeltes aktiv gewesen.

Damals hatte er geglaubt, mit seinen Hochseiltricks bestechen zu können, dabei war es nur Basishandwerk gewesen, was er zeigen konnte. Das wusste er heute nur zu genau.

Fast ein halbes Jahr hatten das Training und die Vorbereitung zu seiner ersten Show gedauert, dann war Connely zu ihm gekommen und hatte ihm einen Vertrag überreicht, der ihm eine Anstellung garantierte, solange die neue Show mit dem Namen Shadow of Moon gespielt werden würde.

Nun lief sie schon mehr als zwei Jahre und ein Ende schien nicht in Sicht. Nach Paris waren andere europäische Städte zu Spielorten geworden und schließlich hatte sie ihn nach Vancouver geführt …

Dennoch war es in Paris gewesen, woran er sich nun erinnerte.
Einer seiner ersten Auftritte, bei denen er noch naiv daran glaubte, ein Star zu sein.

Tatsächlich hatte man ihn wie den neuen Stern am Himmel des Akrobatikgeschäfts gefeiert.
Ihm, dem Newcomer, war jene Rolle übertragen worden, mit der alles in Shadow of Moon stand oder fiel.

Von den Zeitungstypen hatte ihn keiner danach gefragt, wie er zu seinen Leistungen gekommen war, niemand hatte zu hören verlangt, wie viele Stunden täglich er in den vergangenen sechs Monaten trainiert hatte.

Connely war ein Mann gewesen, der die absolut perfekte Umsetzung seiner Vorstellungen erwartete und seinen Wünschen diesbezüglich auch zweifelsfrei Gehör verschaffte.
Als Geldgeber und somit quasi Besitzer der Show wurde er von den Trainern und den Sportlern wie ein Gott verehrt.
Keine Zeit war für ein Probetraining oder ein Vorspiel zu früh oder spät, wenn der Maestro es so wollte.

Es hatte Tage gegeben, an denen Renard zwanzig Mal und öfter vom Hochseil in das schwingende Trapez gesprungen war. Zwanzig Mal, bis Connely mit Haltung, Flugbahn und Ausdruck seines Gesichts schließlich zufrieden war.
Und selbst dann hatte er noch Verbesserungsvorschläge gemacht und neue Ideen inszeniert.

Später, einen Monat vor der Premiere, offerierte ihm der Ire schließlich jene Hauptrolle, die Renard in den Künstlerhimmel der Akrobaten gehoben hatte.

Als Shadows of Moon bald darauf zu einem Erfolg geworden war, hatte Connely für die Verehrung, die man Patrice entgegen brachte, nur ein müdes Lächeln übrig gehabt.

Damals konnte sich Renard diese Haltung nicht erklären, heute wusste er mehr, viel mehr über die Kurzlebigkeit solcher Begeisterung.

Doch damals hatte er seine Fans geliebt und die Zeit mit dem jubelnden Volk genossen.

Es war an einem dieser ersten Abende gewesen, als er Celia kennen gelernt hatte.
Sie war mit einem seiner Freunde, Francois von der Sporthochschule, in der Show gewesen und sie hatten sich danach in einer der Bars am Montmartre getroffen.
Es sollte sein wie früher, hatte Renard gesagt.

Doch ganz so unbeschwert wurde es nicht.
Patrice blieb zwar unerkannt, da er ohne Kostüm und Schminke dem fliegenden Holländer in der Show kaum ähnelte, dennoch stand sein Erfolg auf eine subtile Weise zwischen ihm und seinen Freunden.
Nur Celia waren die feinen Differenzen zwischen ihm und Francois nicht aufgefallen.

Sie schwärmte offen und mit einer erfrischenden Naivität von ihren Eindrücken der Show.
Einen Abend lang ließ sie sich von Renard jedes Detail seiner Nummer schildern, lauschte seinen Erzählungen wie einem Märchen aus tausend und einer Nacht und bewunderte ihn mit einer unschuldigen Offenheit, die er genoss.

Sie hatten sich wiedergesehen und Celia war die Erste gewesen, die von ihm mehr zu hören verlangt hatte als Geschichten über Erfolge und Clamour.
Sie hatte ihm zugehört, wenn er von seinen endlosen Trainingsstunden erzählte und auch, als ihn die Missgunst und die Zurückhaltung seiner Showkollegen zu quälen begann.

Früher war seine kleine Straßentruppe auch sein Freundeskreis gewesen und Renard verstand nur schwer, dass ihn seine jetzigen Kollegen als Konkurrenten sahen.

Vielleicht war es das Eintreffen zweier russischer Trampolinspringer, die bald darauf ihre koreanischen Vorgänger ablösten, das Patrice schließlich die Augen über die Wahrheit öffnete. Im Shadow würde er keine neuen Freunde finden. Hier arbeitete jeder für sich selber und für seine Karriere.

Connely brachte diese Tatsache eines Tages auf den Punkt, als er Renard mit einem einzigen Satz auch noch die letzte Illusion nahm.

„Jeder hier weiß, dass das Shadow die Obergrenze dessen ist, was ein Artist erreichen kann. Vier oder fünf Jahre, länger wird keiner von ihnen bleiben, ohne sich körperlich und seelisch zu verschleißen. Vier oder fünf Jahre sind das Höchste der Gefühle. Die meisten von ihnen werden aber eher wieder gehen müssen, wenn ich jemanden finde, der besser ist als sie.“

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Akrobat
Du Topsensation
Die Angst kommt in gierigen Wellen.

Akrobat
Sie sehen dich schon
Im Sand der Arena zerschellen.

aus "Akrobat" von Heinz Rudolf Kunze




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Die Stunden mit Celia waren anders gewesen.

Bei ihr hatte er der sein können, der er wirklich war.
Sie hatte hinter dem Künstler auch den Menschen in ihm gesehen.
Nicht, dass sie ihn nicht auch wegen seines Könnens liebte.

In ihrer gemeinsamen Pariser Zeit hatte sie immer wieder in der Vorstellung gesessen und ihn still bewundert.
Ja, sie hatte sich schließlich mit einem schüchternen Lachen gewünscht, auch einmal so fliegen zu können wie er.

Wieder erinnerte Renard sich an ihren ungläubigen Blick, die großen, weiten Pupillen in ihren blauen Augen, als er sie eines Nachmittags mit zu den Proben und nach der Übung mit hinauf genommen hatte in die Weite seiner Welt.

Doch sie war mutig gewesen, mehr als er es von ihr erwartet hatte, und so schlang er schließlich einen Arm um ihre Taille, ließ die Sicherungskarabiner einrasten und griff mit der freien Hand nach dem Trapez, um sich mit ihr hinaus in der leeren Raum zu schwingen.

Danach hatte sie lange geschwiegen und still in sich hinein gelächelt, bis er schon glaubte, ihre Schweigsamkeit nicht mehr ertragen zu können.
Und dann hatte sie ihn zum ersten Mal geküsst.
Hoch oben in der Manege, vor den Augen seiner Sicherungsmänner und seiner Kollegen, mit geschlossenen Augen und Händen, die auf seinen Nacken noch ein leichtes Zittern übertragen hatten.

Noch einmal spürte der Akrobat in seiner Erinnerung die weiche Wärme ihrer Lippen und ihre Hand in seinem Nacken.

Danach hatten sie sich noch oft geküsst und es war immer ein gutes Gefühl gewesen. Doch dieser erste Kuss war Renard als etwas ganz Besonderes in Erinnerung geblieben.

Erst als die gutmütigen Beifallsrufe und das Klatschen zu ihnen vordrangen, hatte sich Celia von ihm gelöst und war über und über rot geworden.
Zuerst hatte sie ihn noch angesehen.

„Ich danke dir, Patrice“, hatte sie geflüstert.

Dann mit gesenkten Augen und mit den Fingern an den Schlaufen ihres Sicherungsgurtes spielend, „und ich liebe dich.“

In diesem Moment hatte er geglaubt, wirklich fliegen zu können.
Doch in Wahrheit hatte er ihr nur den Kuss zurückgegeben und ihr gesagt, dass er ebenso fühlte. Er war ein Meister des Trapezes, nicht der großen Worte.

Später am Abend saß sie erneut in der Vorstellung ganz vorn und in der folgenden Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander.

Aus einem Mal waren viele Male geworden und er hatte sich glücklich gefühlt, ein zufriedener, liebender Mann.

Doch dann war die Spielzeit in Paris zu Ende gegangen, Shadows of Moon war nach Moskau verlegt worden und aus ihrer Liebe war eine Fernbeziehung geworden.

Sie telefonierten fast täglich miteinander und auch wenn die Kosten für diese Gespräche wahnsinnig hoch waren, wollte er jeden Tag ihre Stimme hören, ihr Flüstern, ihre Versicherung, dass sie ihn noch immer liebte.

Neue Artisten trafen ein, die Gruppe wuchs und sie alle wussten, dass manch einer den nächsten Spielort nicht mehr als Akteur miterleben würde. Alle trainierten hart und ausgiebig und jeder von ihnen war froh, wenn nach der Abendvorstellung der Vorhang fiel. Dennoch war er auch glücklich. „Shadows of Moon“ blieb ein Dauerbrenner, jeden Abend ausverkauft und auch er hatte mit dem Fliegenden Holländer einen Anteil an ihrem gemeinsamen Erfolg.

Hin und wieder versuchte er seine Gedanken mit den Andern zu teilen und schließlich fand er doch noch zwei neue Freunde, die ihm das Leben vor und nach der Arbeit angenehmer machten. Nun rief er nicht mehr jeden Tag bei Celia an und sie schien ihn zu verstehen, gab vor, ihr eigenes Leben in Paris zu genießen.

Weihnachten kam, der Jahreswechsel, doch als sie ihn einlud, in der damit verbundenen Spielpause nach Paris zu kommen und mit ihr zu feiern, lehnte er das mit dem Hinweis auf den langen und teuren Flug ab. Vielleicht wollte er aber auch nur vermeiden, dass ihn die Kollegen ob seiner festen beziehung verspotteten. Das jedoch konnte er weder sich selbst noch Celia erklären.
Ihr Schweigen nach dieser Ankündigung war jedoch vielsagend.

Für Renard hielt Russland neue Erfahrungen bereit, die er nicht hatte voraussehen können.

Während die Franzosen bereits Weihnachten feierten, waren jene Tage und Abende in Moskau noch der Vorfreude auf die kommenden Festtage gewidmet. Durch das Festhalten an dem gregorianischen Kalender fielen die Feiertage auf andere Termine als in Paris.

Der 24. Dezember also war für Patrice ein normaler Spieltag.
Seine Freunde aber hatten für jenen Abend eine Überraschung geplant, von der der Akrobat nichts ahnen konnte.

Bisher hatte er sich in Anbetracht seiner Verbindung zu Celia immer von jenen jungen Frauen und Mädchen fern gehalten, die die Künstler allabendlich umlagerten und mehr als nur ihre unschuldige Gesellschaft anboten. Heute aber hatten seine beiden Freunde auch für ihn eine außergewöhnlich hübsche Begleiterin eingeladen, die er nicht ablehnen konnte, ohne die beiden zu verletzen.

Also schloss er sich der fröhlichen Gruppe an, die zunächst einen nächtlichen Bummel über den Roten Platz machte und den hell erleuchteten Kreml bewunderte, bevor sie gemeinsam mit der Metro bis zur Station Majakowskaja fuhren und im 5 Oborotow einkehrten.

Patrice war kein Mann, der nicht trank, doch der starke Alkohol der wodkahaltigen Mischgetränke brachte ihn bald dazu, seine Hemmungen fallen lassen. Er gab seiner Sehnsucht und seiner Einsamkeit nach und fand sich schließlich zu fortgeschrittener Stunde mit seiner Begleitung Darja in seinem Hotel wieder.

Sie war willig und erfahren und für ein paar Stunden würde sie ihn das Alleinsein vergessen lassen. Das zumindest versprach ihr Körper. Dass seine Freunde sie für ihre Gefälligkeiten bereits bezahlt hatten, verschwieg sie ihm selbstverständlich.

Sie verwöhnte ihn eine Nacht lang und er genoss, was sie ihm gab. Irgendwann gegen Morgen klingelte sein Telefon und sie machte sich einen Spaß daraus, für ihn ranzugehen und dem Anrufer auf Russisch zu antworten.
Danach lachte sie lange und als er sie fragte, meinte sie nur, dass am anderen Ende der Leitung eine Frau ein Lied gesungen habe.

Noch waren seine Gedanken vom Alkohol vernebelt und er lachte mit ihr. Doch als er später am Morgen allein in seinem zerknautschten Bett erwachte, fiel ihm siedend heiß ein, dass ihn nur eine Frau nachts anrufen würde – Celia.

Panisch begann er nach seinem Handy zu suchen und als er es schließlich neben seinem Nachttisch fand, wusste er intuitiv, dass das rote Blinklicht ihm heute keine guten Nachrichten bringen würde.

Er hatte drei Anrufe erhalten und sie lauteten alle drei auf dieselbe Nummer, die er auswendig wusste.

In der ersten Nachricht hatte sie sich bei ihm entschuldigt, weil sie glaubte, ihn mit ihrem Schweigen verletzt zu haben. Sie sei enttäuscht gewesen, dass sie ihn nicht über den Jahreswechsel bei sich haben konnte, doch sei das kein Grund, ihn zu beschuldigen, versicherte sie ihm, und dass fehlendes Geld für sie kein Problem sei, das sie nicht verstehen könne. Hauptsache sei doch, dass er seine Kunst liebe und an sie dächte.

Dann, in der zweiten Nachricht, hatte sie ihm Frohe Weihnachten wünschen wollen und dann erst daran gedacht, dass das Jolkafest ja noch gar nicht so weit war.

Von der dritten Nachricht, die Darja unterbrochen hatte, waren nur ein paar Takte geblieben.

„C'est la belle nuit de Noël
La neige étend son manteau blanc
Et les yeux levés vers le ciel
A genoux les petits enfants
Avant de fermer les paupières
Font une dernière prière …“


Dann war die Russin ans Telefon gegangen und hatte ihr geantwortet …

Eine weitere Nachricht gab es nicht.

Lange starrte Patrice das kleine Gerät in seiner Hand an, bevor er es wütend auf den Fußboden warf und der schwarze Kunststoff in hunderte kleiner Teile zersplitterte.

Zwei, drei Mal trat er noch nach den Einzelteilen, bevor er begriff, dass er soeben den einzig möglichen Kontakt zu Celia zerstört hatte. Nun würde er sich zunächst ein neues Handy beschaffen müssen, bevor er irgendetwas erklären konnte und je mehr Zeit verstrich bis zu einem Gespräch, um so unwahrscheinlicher würde es sein, dass sie ihm Gelegenheit gab, mit ihr noch einmal zu sprechen.



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Der Abend verlischt,
der Beifall verwischt
die Verbeugung, den Schweiß und die Tränen.
Die Löwen vergessen
den Käfig beim Fressen
und schütteln den Mond aus den Mähnen.


Die Show geht viel weiter,
als der Kunde begreift,
dein Kopf ist ein flüsterndes Zimmer.
Ein müder Vampir,
der sich Schminke abschleift,
und die Sonne macht alles noch schlimmer.

aus "Akrobat" von Heinz Rudolf Kunze




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Hecktisch verließ Patrice das Hotel und nahm die nächste U-Bahn in die Innenstadt, bevor er begriff, dass es Sonntag war und er keine Chance auf ein neues Handy bekommen würde.
Gewiss hätte er sich von jedem seiner Kollegen ein Telefon ausleihen können, doch in seiner Panik dachte er nicht daran.

Niedergeschlagen, frustriert und von sich selbst enttäuscht kehrte er ins Hotel zurück.
Später, bei der Probe, geschah es das erste Mal, dass er ungenau sprang und in die Fangseile fiel. Atemloses Schweigen folgte dieser Fehlleistung.

Es war schließlich Connelly, der ihn mitnahm und zur Rede stellte.
Renard selber war viel zu sehr am Boden zerstört, als dass er vor einem Gesprächspartner Schweigsamkeit bewahren konnte.

Das Grinsen im Gesicht des Iren, als er ihm sein Handy reichte und den Raum verließ, würde er noch lange vor seinem inneren Auge sehen.

Renard war Artist, Sportler, Akrobat und er hatte begnadet ruhige Hände. Doch als er nun den zehnstelligen Code mit der 0331 am Anfang eintippte, zitterten ihm die Finger.

„Geh ran! Geh ran!“ bat er sie in Gedanken, doch der Ruf verlor sich im Nichts.

Später behauptete Patrice oft, dass es dieses Erlebnis gewesen sei, das ihm die Augen über sein derzeitiges Leben geöffnet habe, über die Nichtigkeit und die Bedeutungslosigkeit seiner so vergänglichen Kunst.

Es waren diese Zweifel, die begannen, ihn Nacht für Nacht den Schlaf zu rauben.
Celia ging in den folgenden Tagen nicht ans Telefon, so oft er auch versuchte, sie zu erreichen. Der leere Ruf ins Nichts wurde zur traurigen Gewohnheit, wenn er allabendlich hoffte, sie möge endlich abheben.

Die Show lief weiter, von Erfolg zu Erfolg, seine Nummer war Routine, doch der Applaus hatte seinen Zauber verloren und war einer neuen Bitterkeit gewichen.

Sie jubelten nicht ihm zu, nicht dem Patrice Renard, den er zu verkörpern wünschte. Sie bewunderten den Fliegenden Holländer, die Fantasiefigur, die der Ire Connelly mit Hilfe seines akrobatischen Könnens geschaffen hatte.

Das Jolkafest kam und mit ihm zehn Tage spielfreie Zeit.
Renard hielt es nicht mehr länger aus.
Er bat Connelly um Urlaub, erhielt diesen schließlich auch, da der Ire durchaus verstand, dass es für die Show besser wäre, wenn der Holländer einen klaren Kopf behielt.

Für einen irrsinnig hohen Preis buchte Renard sein Flugticket nach Paris und achtzehn Stunden später stand er vor der Tür zu Celias Wohnung.

Sie war zuhause und öffnete ihm.

Die Stunden, die dem Moment folgten, an dem er vor Erleichterung aufatmete, weil sie ihre Tür nicht vor ihm verschlossen hielt, veränderten den Akrobaten für immer.

Es gab Dinge im Leben, die nicht für ein Spiel taugten. Seine Beziehung zu Celia, der Gedanke, ein glücklicher, liebender Mann zu sein, hatte seine Unschuld verloren.
Es gelang ihm, das zu retten, was ihm wichtig war.

Trotzdem verlor er mehr, als jene sinnlose Nacht wert war. Celia akzeptierte, dass ihm ein Fehler unterlaufen war, dass eine Nacht mit einer fremden Frau keine Bedeutung haben mochte, glaubte ihm auch, als er ihr erneut versicherte, dass er sie liebte.

Dennoch war in ihr eine neue Vorsicht ihm gegenüber erwacht. Er konnte ihr wehtun. Das hatte sie nun verstanden.

Was am Ende blieb, waren acht intensiv gelebte Tage und Nächte, in denen sie ihrer Beziehung eine neue Tiefe gaben.

Als Renard zurück zur Show flog, glaubte er mit ruhiger Gewissheit an seine Zukunft. Er hatte sich nun selbst eine Frist von zwei Jahren gesetzt, in denen er noch Shadows of Moon begleiten wollte. Danach sollte für ihn Schluss sein. Er würde sich nicht an Körper und Seele verschleißen, wie es Connelly einmal formuliert hatte.

Patrice Renard wollte ein anderes Leben, mehr als kurzlebigen Applaus und Jubel. Der Akrobat würde Trapeze und Stricke hinter sich lassen und zu seinen ursprünglichen Plänen zurückkehren. Ein Sportlehrer wollte er sein und mit Celia zusammen in Paris leben, seiner Heimat.
Zwei Jahre würden auch für Celia ausreichend sein, um ihren Abschluss zu machen, ihr Studium zu beenden. Sie würden eine gemeinsame Chance haben.



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Akrobat
Du hast sie gesehn
Die Gaukler und Seelenverkäufer.

Akrobat
Du kannst sie verstehn
Die heimlichen Sünder und Säufer.

Akrobat
Hoch oben im Zelt
Du hast immer dein Bestes gegeben.

Akrobat
Was kostet die Welt ?
Du zahlst mit dem letzten Schluck Leben.

aus "Akrobat" von Heinz Rudolf Kunze




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Das gerade neu begonnene Jahr lief in den folgenden Monaten wie ein Uhrwerk an Renard vorbei. Inzwischen sah er seine Kunst als Arbeit an, sein Training als die geforderte Leistung, die Auftritte als seinen Job.

Connelly lachte über ihn, wenn er von seinen Gedanken erzählte, doch im Stillen gab er dem Akrobaten recht. Die Show pragmatisch zu sehen, mochte für die Seele eines Mannes gesund sein. Noch nie war dem Iren bisher ein derartig disziplinierter Artist begegnet.

Dennoch tat ihm der Franzose auch leid. Inmitten des bunten, lebensfrohen Volks der Show hob sich der neue Denker einsam ab.

Den Erfolgen in Moskau folgten Gastspiele in Peking und Soul. Als sie im Herbst nach Tokio übersiedelten und der Trapezkünstler immer stiller wurde, je weiter er sich von Frankreich entfernte, überreichte ihm Connelly eines Abends ohne große Worte ein Ticket.

„Hol sie dir für zwei Wochen her, wenn du schon nicht zu ihr kannst“, riet er dem überraschten Renard, schlug ihm wohl auch freundschaftlich auf die Schulter und ging grinsend davon.

Dass ein solches Privileg unerhört war, dass es vollkommen aus dem Rahmen fiel, warum hätte Patrice sich darüber Gedanken machen sollen?
Er konnte Celia bei sich haben, was die Anderen darüber dachten, war nicht sein Problem.

Sie kam knapp drei Wochen später und er war glücklich.
Die wenigen gemeinsamen Tage kosteten sie bis zur letzten Neige aus und erst, als sie längst wieder im Flieger nach Paris saß, fiel dem Akrobaten auf, dass sich die Gemeinschaft der Künstler beinahe geschlossen von ihm distanzierte.

Er hatte etwas bekommen, was man ihnen nicht zugestehen wollte. Connelly hatte ihn vor allen anderen vorgezogen, ihn gar ausgezeichnet.
Hinter der vorgehaltenen Hand nannte man ihn schon „des Alten Lieblingssohn“.

Brian Connelly schließlich entschuldigte sich bei ihm.
Im Nachhinein hätte die langjährige Erfahrung des Maestros mit dem fahrenden Volk ausreichen müssen, um vorauszusehen, wohin sein Geschenk an Renard führen musste.

Doch er mochte den Franzosen und hatte nicht lange darüber nachgedacht, bevor er ihm den Flugschein besorgt hatte.
Dem Akrobaten selber war das Ganze nicht viel mehr als ein Schulterzucken wert. Er hatte, und das wusste Connelly, längst Pläne für die Zeit nach der Show gemacht. Wenn sie ihn jetzt mieden, würde der Abschied noch einfacher sein.

Und dann, erneut kurz vor dem Jahreswechsel kam Celias Anruf, der alles noch klarer erscheinen ließ.

Seit ihrer Rückkehr aus Tokio war es ihr wieder und wieder übel gewesen, hatte sie sich übergeben müssen und viel zu viel geschlafen.
Zuerst hatten sie beide an eine Reiseinfektion gedacht, einen Virus, einen tropischen Keim, doch nun stand sicher fest, dass etwas ganz anderes diese Veränderungen verursachte.

Celia war schwanger.

Hätte man Renard ein Jahr zuvor gesagt, dass er sich bei dem Gedanken, Vater zu werden, freuen würde, er hätte dem Redner einen Vogel gezeigt und wäre lachend davon gegangen.
Doch nun war es so und auf eine unerklärliche, ruhige Art war Patrice glücklich.
Celia, ein Kind, das alles kam ihm so richtig vor, dass er keinen Platz für Zweifel offen ließ.

Diese unschuldige Freude über eine Begebenheit ganz außerhalb der Show brachte ihn auch den Kollegen wieder näher. Vielleicht war er etwas sonderbar, aber doch kein so übler Typ, gar kein so übler Kerl.

Wenn sie ihn darum gebeten hätte, vielleicht wäre Renard sofort bei Shadows ausgestiegen. Doch so war Celia nicht. Sie wusste, dass er den Abschluss brauchte, fühlte sich auch stark genug, noch eine Zeitlang auf ihn zu warten.

Also schloss er sich wie geplant der Nordamerikatournee an. New York, Las Vegas. In Vancouver würde er Shadows of Moon dann endgültig verlassen und nach Paris heimkehren. Sie telefonierten, mailten und weil es Celia und dem Kind gut ging, fühlte sich auch Renard zufrieden und glücklich.



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Sie brauchen dich sehr,
der Mensch wird am liebsten belogen.
Du brauchst sie nicht mehr.
Du hast dich beim Salto verflogen.

aus "Akrobat" von Heinz Rudolf Kunze




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Die Geschichte des Akrobaten Patrice Renard beginnt und endet in jener blauen Stunde, die jeden Artisten vor und nach dem Auftritt tagtäglich wieder auf ´s Neue ereilt.

In jener letzten, einsamen blauen Stunde saß Patrice allein in seinem Mobil Home in Vancouver und ließ die vergangenen drei Jahre mit all ihren Bildern und Erinnerungen an seinem inneren Auge vorbeiziehen.

Alles begann in Paris. Paris, jene Stadt, in der er aufgewachsen war und die er liebte wie seine Heimat.
Alles begann in Paris und nun endete es auch dort. Für Celia, für Celia und sein Kind, das er nie kennengelernt hatte.

Die Show war gut gelaufen heute, wie immer.
Zwei, drei Verbeugungen, Applaus, Hochrufe, dann hatte er die Manege verlassen.

Nur, um von Connelly abgefangen zu werden, der ihn mit ungewöhnlich ernstem Blick zu sich gerufen hatte.

Was dann kam, blieb für Renard wie ein Traum, wie eine Welt hinter einem dicken Nebel, ein Trugbild.

Der Ältere hatte ihn hinsetzen lassen und dann von einem Anruf gesprochen. Es habe Komplikationen gegeben, wurde ihm gesagt.

Bei wem, hatte er wissen wollen, was habe sich kompliziert.

Connelly hatte ihn einen Moment lang nur angestarrt, bevor er antworten konnte.
Doch Renard verstand ihn kaum.

Ein Treppensturz sei die Ursache gewesen, ein Riss in der Gebärmutter. Sie sei schließlich allein zuhause gewesen. Wer hätte da den Notarzt rufen können?

Schicksal wäre so etwas. Ihn träfe keine Schuld.

Connelly habe es schon vor dem Auftritt gewusst, doch das hätte ja auch nichts mehr geändert, nicht wahr?

Es dauerte lange, bis Renard verstand, was ihm der Ire sagen wollte.
Doch auch dann fand er keine Antwort.
Er war ein Meister des Trapezes, nicht der großen Worte.

Irgendwann war er aufgestanden und einfach gegangen. Er hatte sich vor den Spiegel in seinem Wohnmobil gesetzt und langsam und sorgfältig die Schminke abgewischt, bis er sein eigenes Gesicht sah.

Lange starrte er dem Mann vor sich in die Augen, doch er erkannte sich selbst nicht mehr wieder.

Erinnerungen kamen hoch und eine davon wurde immer mächtiger. Noch einmal sah er sich mit Celia hoch oben in der Manege, fühlte, wie sie sich an ihm festklammerte und mit ihm flog.

„Ich danke dir, Patrice, und ich liebe dich.“

Als sich der Akrobat nun erhob, geschah es wie in Trance.
Vorsichtig legte er das Kostüm ab und zog seine einfache Trainingskleidung an, wie er sie auch damals getragen hatte.

Als er die Manege betrat, waren die Lichter bereits gelöscht.

Er war allein.

Doch er kannte sich hier aus, dies war sein Platz, der Ort der kurzlebigen Erfolge, des Applauses, der Ort seiner Einsamkeit am Himmel der Zeltkuppel.

Sorgfältig stellte er den einzelnen Spot ein, der die Nummer des Fliegenden Holländers beleuchtete. Er legte den Sicherungsgurt um, hängte den Karabiner ein und stieg langsam und bedächtig nach oben.
Noch einmal überblickte er die Weite der jetzt leeren Arena, bedachte, wo er stand und wie er hierher gelangt war. Dann löste er das Trapez aus seiner Halterung, puderte seine Hände gründlich mit Talkum und musterte noch einmal mit Kennerblick all jene Stricke und Seile, die zum Leben seiner letzten drei Jahre gehört hatten.

Es gab dem nichts mehr hinzuzusetzen.

Renard war Artist, Sportler, Akrobat und er hatte begnadet ruhige Hände.
Als er jetzt den Karabiner öffnete und das Sicherungsseil nach unten warf, zitterten seine Finger nicht.

Noch einmal rief er sich jenes Gesicht ins Gedächtnis, das ihm alles bedeutet hatte, dann ergriff er das Trapez und schwang sich hinaus in die dunkle Weite der Zeltkuppel.

Schweigend glitt der Akrobat durch die Luft, kontrollierte den Flug, kontrollierte sich.

Erst am höchsten Punkt, dort, wo die Bewegung in ihr Gegenteil umschlagen musste, ließ er los.

Es gab keine Salti mehr, es gab kein Fangnetz.
Patrice Renard war in den letzten Sekunden seines Lebens vollkommen frei.

 

 

Impressum

Texte: Das Urheberrecht des Textes liegt bei der Autorin mit Ausnahme des Liedtextes "Acrobat" von Heinz Rudolf Kunze - im Text entsprechend hervorgehoben.
Bildmaterialien: Covergestaltung Sophie André unter Verwendung von: „Munich - High trapeze act - 6879“ von Jorge Royan - Eigenes Werk. Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 über Wikimedia Commons
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

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